Inge Vahle Textil Textur Text

Transcrição

Inge Vahle Textil Textur Text
phie- und zeitgebundene Schwerpunkte in ihrem
reichen künstlerischen Schaffen. Diese Publikation,
die anlässlich des 100-jährigen Geburtstages der
Künstlerin erscheint, setzt sich damit auseinander
und kommt dadurch in Berührung mit der jüngeren
Kunstgeschichte Europas.
Zahlreiche Abbildungen der einzelnen Werkgruppen und vertiefende Texte einer
kompetenten Autorenschaft wollen die ungewöhnliche Qualität des Lebenswerkes von Inge Vahle auf
Inge Vahle Textil Textur Text
Inge Vahle (1915 Krevese, Altmark – 1989 Darmstadt) entwickelt im Laufe der Jahrzehnte biogra-
Inge Vahle
Te x t i l Te x t u r Te x t
fundierte Weise vergegenwärtigen.
Der Ausgangspunkt ihres Schaf-
Z e i c h n u n g , M a l e r e i , Te x t i l a r b e i t e n , O b j e k t e , I n s t a l l a t i o n e n , Te x t e
fens ist, wie sie selbst sagt, das „Erfahrungsfeld
Natur“. Es wird in der Kindheit tief aufgenommen
und bleibt der Künstlerin ein Leben lang Orientierung. Die abstrakten Formfindungen der 1950-er
Jahre über die Formen der Natur, ihre spannungsvolle Verschränkung mit den traditionellen inhaltlichen Themen bis hin zum schriftlichen Spätwerk –
immer ist die Achtung und die Liebe vor der Größe
und den Gesetzen der Natur spürbar. Dabei kommt
die persönliche Emanzipation ihr gegenüber nicht
zu kurz.
Zeichnungen, Malerei, Glasfenster an vielen Kirchen, Mosaike, textile Objekte,
Wandteppiche, eine Rauminstallation und die mit
einer Ringbindung versehenen eigenen Publikationen, die „Ringbücher“, spannen den vielfältigen
Bogen über Inge Vahles vielseitige inhaltliche und
technische Könnerschaft.
Herausgegeben von Christiane Klein
Collage aus den Ringbüchern, 30 x 21 cm, um 1975
Inge Vahle
Textil Textur Text
Herausgegeben von Dr. Christiane Klein
1. Auflage 2015
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung des Herausgebers
Texte von
Reinhart Büttner
Javier Sanchez Clemente
Dr. Paul Hirsch
Prof. Dr. Heinz Kimmerle
Dr. Christiane Klein
Daniel Kremer
Andreas Romero
Barbara Schmid
Fredrik Vahle
Inge Vahle
Gouache auf Papier, 61 x 74 cm, signiert rechts, um 1950
Fotos
Liselotte Armin, Ute Döring (Textile Arbeiten), Sylvia Gerspach, Okolo Jan,
Dr. Christiane Klein, Daniel Kremer, Thomas Robbin (St. Stephanus, GelsenkirchenBuer), Günther Schreckenberg
Gestaltung
Müller-Stoiber + Reuss
Schutzgebühr 18 Euro
ISBN 978-3-00-051021-2
Zu beziehen über den Buchhandel und über das
Kulturinstitut Atelierhaus Vahle, 64287 Darmstadt, Schumannstraße 11
Tel. +49 6151 75121
[email protected]
www.atelierhaus-vahle.de
Titel: Gouache auf Papier, 56 x 78 cm, um 1950,
2. Umschlagseite: Fenster in der Stephanuskirche Gelsenkirchen-Buer
Inhalt
Jochen Partsch . . . . . . . . . . . . . . . . . Grußwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Christiane Klein . . . . . . . . . . . . . . . . . Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Stendaler Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Fredrik Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen an meine Mutter
und ihr künstlerisches Werk . . . . . . . . . . . . . . . 12
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die 1950er-Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
Javier Sanchez Clemente . . . . . . . . . Vergangenheit einer Illusion . . . . . . . . . . . . . . . 32
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Collagen um 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilleben und Abstraktionen 1960-1980 . . . . . . 42
Andreas Romero . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Grund und Inge Vahle
Wiederaufbau von Darmstadt . . . . . . . . . . . . . . 54
Barbara Schmid . . . . . . . . . . . . . . . . Evangelische Stephanuskirche
in Gelsenkirchen-Buer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeichnungen auf Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Daniel Kremer . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kultraum als Grenzerfahrung zwischen Leben
und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
Reinhart Büttner . . . . . . . . . . . . . . . . Ariadnefaden, Nabelschnur und Luftwurzel . . . 75
Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Textile Arbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
Paul Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Produktive Distanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Heinz Kimmerle . . . . . . . . . . . . . . . . Knotenpunkte in Inge Vahles ‚Ringbüchern’ . . . 84
Biographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Ausstellungen, Publikationen, Bibliographie Inge Vahle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Inhalt
3
Christiane Klein
Gedanken
Der im Rückblick auf ihre Kindheit in Krevese
zu
Inge
Vahles
Werk
–
e i n e m Te i l j ü n g e r e r Ku n s t g e s c h i c h t e
verfasste Text über die Mühle des Großvaters lässt eine Beobachtungsgabe erkennen, die tief in ihrem Leben verankert ist und sie kontinuierlich begleiten wird. Es sind viele Kleinigkeiten, die ihr auffallen
Anläßlich des 100 jährigen Geburtstages von Inge
und sich lückenlos zu einem atmosphärenreichen Gesamtbild fügen.
Vahle wird ihr gesamtes künstlerisches Werk vergegenwärtigt. Man
Man wird als Leser in die beschriebene Welt mit hineingenommen,
blickt auf ein Leben zurück, dessen roter Faden angebunden ist an die
darf teilnehmen und sich in ihr selbst orientieren. Es zeigt sich ein
vielgestaltige Kreativität der Künstlerin.
geschlossenes Weltbild aus der Sicht des Kindes, welches mit seinen
Beobachtungen innig verbunden ist.
Die Sprache Inge Vahles ist kraftvoll, die Beschreibungen sind voll feiner Verästelungen, und obwohl sie keinerlei Handlung beinhalten, bleibt ihre Geschichte äußerst spannend. Inge Vahle
beherrscht die Kunst des Schreibens. Die Form kann für sich
sprechen, sich vom Inhalt lösen und eigenständig bestehen. Logik
wird von ihr als Instrumentarium eingesetzt und nimmt den Leser
schwungvoll mit. Ihr Anliegen, sich einen Teil ihrer frühen Lebensgeschichte zu vergegenwärtigen, gehört zum inhaltlichen Teil, der jedoch
ohne die künstlerische Form ihrer Sprachfindung möglicher Weise auf
der Strecke bliebe.
Kunst bedeutet für Inge Vahle durch all ihre unterschiedlichen Lebensabschnitte Formfindung. Und die fällt recht unterschiedlich aus. Sie findet für ihre Zeit typische formale und inhaltliche
Schwerpunkte.
Es lässt sich ein großer Bogen spannen von der
ungewöhnlichen Beobachtungsgabe des Kindes Inge Vahle zu ihrem
Spätwerk, den „Ringbüchern“. Es ist in ihrem schriftlichen Spätwerk
nicht mehr das geschlossene Weltbild, welches farbenreich wiedergegeben wird, sondern es sind zerklüftete, zeitkritische Schrift-, Wortund Bildcollagen, die assoziativ, wie aus einer persönlichen Verletzung
heraus ihre Aussagen finden. Sie lassen sich nicht wie frühe Texte
flüssig und lustvoll lesen. Sie stören unser Bedürfnis nach einer folgerichtigen Abfolge erheblich und machen dadurch wachsam. Befasst
man sich mit diesem äußerst inspirierenden Spätwerk von Inge Vahle
näher, erfährt man viel über ihre Auf- Bruch-Stimmung. Nichts soll am
Gouache, 70 x 99 cm, signiert rechts unten, um 1940
6
Christiane Klein: Einführung
gewohnten Platz wiedergefunden werden. Welche Anstrengung hat
Kirchen. Es ist eine eigene Werkgruppe entstanden voll sensibel
die Künstlerin dabei auf sich genommen und mutet sie dem Leser
entwickelter, farblich reizvoller Formgefüge, die auf eine Anwendung
wiederum zu? Und warum? Die „Ringbücher“ sind in den späten
hin gedacht sind. Es gibt wenige Möglichkeiten einer Zuordnung von
1980er-Jahren entstanden und es scheint der Zeitabstand zur Gegen-
einem Entwurf zu einer Umsetzung.
wart gerade passend zu sein, um Faszination dafür zu empfinden.
Die Arbeiten auf Papier der 1960er und 1970er-
Die Zeit ist gereift und das Glück, manch ein
Jahre haben die Leichtigkeit des absolut Gekonnten. Auf mittelgroßen
gekreuztes Wort entziffern zu können, ermutigt dran zu bleiben,
Formaten mischen sich erkennbare Themen, z. B. Stillleben mit der
weiter zu lesen und der Textur der Bücher ein Grundvertrauen zu
Abstraktion, wie sie bei der Erstellung von Glasfenstern angewendet
schenken.
wird. Es entstehen spannende, dichte, äußerst ästhetische Farb- und
Aus der gedachten Welt findet sie durch von ihr
Formgefüge in unterschiedlichen Techniken.
geschaffenen „Rauminstallationen" in die dinglich erlebbare Welt.
Eine sehr intensive Werkgruppe von Inge Vahle ist
Sie gehören ebenfalls zum ihrem Spätwerk. Es sind zwei kleine begeh-
in den 1950er-Jahren entstanden. Es sind Landschaften, Stillleben und
bare Räume, die sie in Kultorte zu verwandeln vermochte. Mit einer
Veduten. Die klassischen Themen erfahren durch sie eine individuell
Vielzahl von Materialien gestaltet die Künstlerin den Boden und alle
geprägte und dem Zeitgeist verbundene Umsetzung. Ähnlich wie in
Wände. Nur die Decke bleibt frei. Der Besucher wird von einer
den frühen Landschaftsbildern Giorgio Morandis setzt Inge Vahle
ungewohnten, dunklen, magischen Welt eng umschlossen. Er kann
dichte, sonore Farbflächen gegeneinander, um ihre Motive wieder-
sich dem Befremden überlassen, es auskosten, sich auf neue Wege
zugeben. Die Räumlichkeit verschwindet zugunsten der Komposition.
begeben, oder sich draus zurückziehen. Ein freundliches Mittelmaß
Die gegenstandgebundenen Flächen haben gleichzeitig ein Eigen-
wird seitens der Künstlerin nicht geboten.
leben durch ihre Abstraktion, was die Wahrnehmung besonders
Es gibt Künstler, die aus der Sicht des Betrachters
mitten in ihrem Schaffen aufgehört haben tätig zu sein. Dazu gehört
spannend macht. Gleichzeitig entstehen auch ganz abstrakte Arbeiten, bei denen oft leuchtende Farben bevorzugt werden.
z. B. Constantin Brancusi. Eine schwere Krise war die Folge davon.
Zu den ganz frühen Arbeiten gehören Portraits. Es
Eine solch schwierige Zeit dürfte Inge Vahle nach den großen
ist ein Genre, welches die Künstlerin ebenfalls beherrscht hat. In
Erfolgen, die sie bis in die späten 1970er-Jahre hatte, erlebt haben.
späteren Jahrzehnten wurde es nicht mehr Gegenstand der künstleri-
Sie wurde durch ihre großen textilen Arbeiten, die sie zunächst
schen Auseinandersetzung. Der Strich, die Zeichnung kommen in den
zusammen mit ihrem Mann Fritz Vahle erschuf, sehr bekannt, hatte
1970er-Jahren jedoch wieder intensiv zum Zug. Auf großen Formaten
internationales Renommee, ebenso durch ihre Wandinstallationen
werden mittels Strichen, Schraffuren organisch anmutende Formen
und Strickobjekte. Die Wollplastiken, die an der Decke befestigt
von großem ästhetischem Reiz erschaffen.
werden müssen, hängen beeindruckend in den Raum und sind
Durch alle Werkgruppen Inge Vahles hindurch
rundumansichtig. Es ist die Zeit, in der Inge Vahle an den zu der Zeit
bleibt der Naturbezug erhalten und spürbar. Sie haben die in frühen
wichtigen Biennalen und Triennalen für textile Kunst mit Fritz Vahle
Jahren erlebten und später reflektierten Landschaftseindrücke zum
teilnimmt und großen Erfolg hat.
Parallel dazu entstanden zahlreiche Entwürfe für
textile Arbeiten und für Glasfenster an öffentlichen Gebäuden und
Ausgang, die in den folgenden Lebensabschnitten kraftvolle Übersetzungen in eine neu geschöpfte Formensprachen und Monumentalität
finden.
Christiane Klein: Einführung
7
Gouache auf Papier, 53 x 75 cm, 1930er-Jahre
Oben: Gouache auf Papier, 57 x 70 cm, 1930er-Jahre
Links: Gouache auf Papier, 61 x 58 cm, signiert rechts unten, 1930er-Jahre
Mischtechnik auf Papier, 41 x 41 cm, signiert rechts unten, Mitte 1930er-Jahre
Vorfrühling, Gouache auf Papier, 41 x 50 cm,
signiert „I. Giessler“ rechts unten, 1930er-Jahre
Inge Vahle: Die Stendaler Zeit
9
Fredrik Vahle:
ihre Kinderporträts und Landschaftsbilder, die manchmal etwas süd-
Erinnerungen
an
meine
Mutter
und
ihr künstlerisches Werk
französisch anmuteten und in vielen Stendaler Wohnzimmern hingen.
Sie hatte ihre Abiturarbeit über van Gogh geschrieben. Als wir dann
nach langen Jahren in Stendal in den „goldenen Westen“ übersiedel-
Dies ist ein sehr persönlicher Beitrag und keine
ten, begann eine Zeit intensiver Zusammenarbeit mit meinem Vater,
objektive Beschreibung des Lebenswerkes meiner Mutter. Ich hoffe
den meine Mutter auf der Kunstakademie in Düsseldorf kennen
aber trotzdem, dass es ein wenig zur Klärung und Würdigung ihrer
gelernt hatte. Es entstanden großformatige Bildteppiche und Mosaike,
künstlerischen Arbeit besonders in ihren letzten Lebensjahrzehnten
zum Teil für öffentliche Gebäude, Schulen, Sparkassen, Kirchen. Als
beitragen wird.
Künstlerehepaar Vahle erhielten sie große Anerkennung, Kunstpreise
Eigensinn und künstlerische Veranlagung schienen
und Einladungen auf internationale Ausstellungen. Es mag damit
ihr schon früh bewusst geworden zu sein. In der Windmühle ihres
zusammenhängen, dass „die Kinder aus dem Haus waren“: Jedenfalls
Großvaters außerhalb des Dorfes Krevese in der Altmark fand sie
begannen meine Eltern etwa ab Mitte der sechziger Jahre zuneh-
dafür einen geeigneten Ort. Dieses Monstrum aus knarrender Beweg-
mend, eigene Wege zu gehen. Mein Vater war als Kunstpädagoge in
lichkeit und holzgefügter Mühlentechnologie faszinierte sie und sie
Dortmund und später in Pforzheim sehr erfolgreich und hielt sich auch
erlebte es mit allen Sinnen. Mit Begeisterung erkundete sie das Innen-
nach seiner Pensionierung die Sommermonate über in seinem Domizil
leben der Windmühle, nahm spielerisch und intensiv „Witterung“ zu
auf der Insel Fehmarn auf. Meine Mutter „blieb zu Hause“ und begann
komplexen Mustern und Strukturen auf. Dieses frühe Form-, Farben-
in ihrer Bildteppich-Arbeit eigene Wege zu gehen und erhielt nun als
und Strukturempfinden, beispielhaft erlebt in der für das Kind mon-
eigenständige Künstlerin ebenfalls viel Resonanz. Trotzdem, „Schu-
strösen und faszinierenden Windmühle des Großvaters, hat sie Zeit
ster, bleib bei deinem Leisten“ war nicht ihre Sache. Beide suchten
ihres Lebens behalten. In der künstlerischen Arbeit ihrer letzten
immer wieder nach neuen Wegen, auf denen künstlerische Werke in
Lebensjahrzehnte kommt es noch einmal deutlich zum Ausdruck. Da
sehr unterschiedlichen Richtungen entstanden, z. B. die Metallbilder
gibt es reliefartige Bildteppiche, Horchmaschinen und großformatige
meines Vaters. Interessanterweise wurde für beide die Arbeit im
Arbeiten, die wie Träume von archaisch-mythischen Aggregaten und
Medium der Sprache immer wichtiger. Mein Vater begann, Erinne-
Maschinerien aus kultisch-schamanischen Objektwelten anmuten.
rungen, Anekdoten, philosophische Reflexionen, Landschaftslyrik und
Diese Tendenz lässt sich bis in den riesigen Wortbildteppich ihrer Ring-
sprachexperimentelle Gedichte zu Papier zu bringen und in einer
bücher weiterverfolgen.
Reihe von Büchern in einem kleinen Verlag zu veröffentlichen, ver-
Ihre zeichnerisch-malerischen Fähigkeiten wurden
schenkte sie gern rundherum, las selbst daraus vor und freute sich
ebenfalls früh gefördert. Mein Großvater Otto Gießler malte selbst ab
über die Resonanz, die er dafür erhielt. Er hatte seinen Freundeskreis,
und zu und zog mit meiner Großmutter von Krevese nach Stendal,
seinen Stammtisch, wo so etwas immer gut ankam. Das Vorwort zu
auch, um der einzigen Tochter den Besuch einer höheren Schule zu
seiner Erstveröffentlichung, auch sein umfangreichstes Buch, „Das
ermöglichen, wo sie dann die Kunstlehrerin Suse Hübner kennen lern-
Wasser kam den Fischen zuvor“, schrieb der Darmstädter Lyriker Karl
te, die wir Kinder damals „Tante Suse“ nannten und deren mit Kunst
Krolow, mit dem wir in unserer ersten Darmstädter Zeit im Alexandra-
und Büchern vollgestopftes Wohnzimmer uns faszinierte. Tante Suse
weg, in der „neuen Künstlerkolonie“, in einem Haus gewohnt hatten.
war wohl ihre große Förderin. Später fand sie dann gute Resonanz für
Die nachfolgenden Bücher waren dann eher schmale Bändchen, die
12
Fredrik Vahle: Erinnerungen an meine Mutter und ihr künstlerisches Werk
Collage aus den
Ringbüchern,
30 x 21 cm, um 1975
14
Fredrik Vahle: Erinnerungen an meine Mutter und ihr künstlerisches Werk
Gouache auf Papier, 50 x 68 cm, signiert rechts unten, 1951
Gouache auf Papier, 65 x 77 cm, signiert rechts unten, um 1950
Inge Vahle: Die 1950er-Jahre
19
Javier Sánchez Clemente
gen schufen, die mit dem Teppich eine vergleichbare abstrakte Gestal-
Vergangenheit einer Illusion
tung gemeinsam haben, zu der ein großer Halbkreis, bzw. Kreis
Zu einer Reihe von Collagen von Inge Vahle und ihrer Beziehung zu
gehört. Es könnte sich bei den Collagen, die zum Teil von Inge Vahle
einem Teppich von Fritz Vahle
unterschrieben und durch das handschriftliche Wort Entwurf gekenn-
Einleitung
zeichnet sind, um Entwürfe für den Teppich handeln. An diesem hat
Die Natur. Wie kann man sie heute darstellen?
das Künstlerehepaar vermutlich zusammen gearbeitet,1 obwohl in
Diese Frage könnten sich Fritz und Inge Vahle gestellt haben, als sie
einem Katalog die Autorschaft des Teppichs ausschließlich Fritz Vahle
den Wandteppich „Terra incognita“ (1968) und eine Reihe von Colla-
zugeschrieben wird.2 Zwischen den Collagen und dem Teppich kann
32
Javier Sánchez Clemente: Vergangenheit einer Illusion
Seite links: Collage, 42 x 57 cm, um 1970,
rechts: Terra incognita, Wandteppich, 3,25 x 4,75 m, 1968, Auschnitt (Privatbesitz)
trotz ihrer ähnlichen Gestaltung ein Formgegensatz festgestellt werden,
der zu der Annahme unterschiedlicher Autoren zu passen scheint.
Das Ergebnis einer genaueren Betrachtung dieser Werke zum Teil
vorwegnehmend, kann gesagt werden, dass der fragmentarische
Charakter der Collagen auf den Verlust der Einheit zwischen Mensch
und Natur hindeutet, während die sehr einheitliche Form im Fall des
Teppichs eine zeitlose Einheit zwischen Mensch und Natur zu symbolisieren scheint. Dass nur der Teppich zu Lebzeiten der Künstler ausgestellt und verkauft wurde, ist ein Zeichen dafür, dass dieser damals
als künstlerisch wertvoller als die Collagen angesehen wurde. Die
Ausstellung der Collagen in der Stephanskirche in Gelsenkirchen
anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Geburt von Inge Vahle, im
Jahr 2015, zeigt dagegen, dass heute auch die Aktualität und der Wert
dieser Collagen anerkannt werden.
zeitig.3 Die Oberfläche einfach als Oberfläche, der Gegenstand
(Gemälde oder Teppich) einfach als Gegenstand wird von der im strengen Wortsinn abstrakten Kunst präsentiert. Demnach kann man die
D e r Te p p i c h
Aber kann man die Natur durch die abstrakte,
Natur abstrakt gar nicht darstellen.
Man könnte den Teppich „Terra incognita“ als Werk
gegenstandslose Kunst darstellen? Schließt die Abstraktion nicht
der abstrakten Kunst betrachten. Die Konturen der geometrischen
sowohl die Mimesis oder Nachahmung der Natur als auch überhaupt
Textilfragmente, die Fritz und möglicherweise auch Inge Vahle zusam-
die illusionistische Darstellung von Figuren aus? In traditionellen zwei-
mennähten, um diesen Teppich zu gestalten, entsprechen nicht den
dimensionalen Kunstgattungen wie der Malerei und der Tapisserie,
Konturen natürlicher Dinge und nicht einmal irgendwelcher wahr-
und zu einem großen Teil auch in Werken der sogenannten „gegen-
nehmbarer Figuren. Die Oberfläche des Teppichs lässt keine Figur
standslosen“ Kunst (die in solchen Fällen diesen Namen zu Unrecht
erkennen.4 Seine Formen stehen nebeneinander, keine scheint vor
trägt), nimmt man Figuren wahr, deren Kontur sich von einem Hinter-
bzw. hinter einer anderen zu stehen, sie alle sind zum Hintergrund
grund abhebt. Unabhängig davon, ob die Figuren etwas Natürliches
geworden. Auf diese Weise behält die Teppichoberfläche ihre
nachzuahmen versuchen oder nicht, schafft diese Figur-Grund-Bezie-
Opazität, die im Fall von Figuration verloren ginge. Dieser Umstand
hung zumindest eine minimale illusionistische Tiefe, einen minimalen
ermöglicht, dass das Werk als ein einheitliches Ganzes wahrgenom-
imaginären Raum, der im Gegensatz zur eigentlich platten und
men wird. Insofern diese illusionistische Bildwirkung ausbleibt, nimmt
undurchsichtigen Oberfläche der Leinwand bzw. des Teppichs wahr-
man diesen Teppich in seiner Materialität, als wirkliches, dreidimen-
genommen wird. Man kann die Leinwand bzw. den Teppich entweder
sionales Objekt wahr. Tatsächlich hat er sein eigenes Volumen und
als dreidimensionales, flaches und undurchsichtiges Objekt oder als
seine stoffliche Textur, welche seine Gegenständlichkeit betonen und
illusionistische Öffnung wahrnehmen, aber nicht als beides gleich-
dadurch den Illusionismus der traditionellen Kunst überwinden.
Javier Sánchez Clemente: Vergangenheit einer Illusion
33
Mischtechnik auf Papier, 61 x 90 cm, um 1960
42
Inge Vahle: Stilleben und Abstraktionen 1960-1980
Mischtechnik auf Papier, 78 x 101 cm, 1970er-Jahre
Inge Vahle: Stilleben und Abstraktionen 1960-1980
51
Barbara Schmid
Blick in die Stephanuskirche
G e b a u t e Tr a n s z e n d e n z
Die Evangelische Stephanuskirche in Gelsenkirchen-Buer
In Gelsenkirchen Buer steht die beeindruckende
evangelische Stephanuskirche. Bevor die Geschichte des Kirchenbaus
Der Beginn
In der zweiten Phase der Stadtentwicklung nach
erzählt wird, soll Inge Vahle zu Wort kommen, die Künstlerin der
dem zweiten Weltkrieg entsteht der neue Stadtteil in Buer mit der
Betonglasfenster, mit ihrer Vision zur gebauten Transzendenz: „Durch
Westerholter Straße. Neben der Errichtung zweier Gymnasien und
die Materialität des Glases und seine prismatischen Möglichkeiten,
einem Amtsgericht sowie der Verkehrserschließung beschreibt der
durch die Empfindung von besonderer Form und Farbe im besonde-
Bebauungsplan für diese Straße die Ausweisung von „Flächen für den
ren Raum vermag durchaus eine Verkündigung möglich zu sein und
Gemeinbedarf.“2 Damit war der zukünftige Kirchenstandort im neuen
eine eschatologische Heraushebung aus der Alltäglichkeit des
Stadtteil städtebaulich vorgegeben.
menschlichen Lebens. Farben vermögen ihre Bedeutung zu transzen-
Ursprünglich waren ein Gemeindezentrum mit
dieren in eine andere Sphäre des Seins, in der Unsichtbares und
Freiflächen, Kindergarten, Wohnungen für Erzieherinnen, Gemeinde-
Unhörbares sichtbar und hörbar wird.“1 Eindrücklich beschreibt Inge
schwestern und Pfarrvikar geplant. Unterstützung für die Planung des
Vahle ihre künstlerische Vision von Licht und Farbe für die Betonglas-
Bauvorhabens bekam die Kirchengemeinde von Dr. Paul Girkon3, der
wände der evanglischen Stephanuskirche in Gelsenkirchen-Buer.
von 1946 bis 1948 Leiter des Amtes für Kirchbau und kirchliche Kunst
Barbara Schmid: Evangelische Stephanuskirche in Gelsenkirchen-Buer
57
Installation von Inge Vahle im großen Raum
Daniel Kremer
Kultraum als Grenzerfahrung
Die Erzählung „Der Forscher“ von Gernot Böhme
z w i s c h e n L e b e n u n d To d
aus dem Jahre 1982 handelt von der Begegnung und Gesprächen des
Gedanken zur Rauminstallation von Inge Vahle
skeptischen Ich-Erzählers mit einem rätselhaften Biologen, der eine
Inge Vahle erforschte ästhetische Strukturen der Natur und setzte
schaft bzw. Pseudowissenschaft unterteilt nicht mehr zwischen
diese in eine verschlüsselte Kunstsprache um.
festgeschriebenen Kategorien: Es gibt beispielsweise einen großen
mysteriöse wissenschaftliche Theorie entwickelt hat. Diese Wissen-
68
Daniel Kremer: Kultraum als Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod
Beta-Bereich (Beta-Baum, Beta-Muscheln, Beta-
Alles verschwimmt zwischen Hieroglyphen und
Korallen und Beta-Steine). Der dünkelhafte Forscher
Geheimcodes der Spionagedienste. Assoziationen,
Links: „Geometrie der Natur“ von Inge Vahle, Mitte und rechts
Illustrationen zu Gernot Böhmes „Der Forscher“
behauptet, er habe das Alphabet der Natur und die
Erinnerungen und Vorstellungen überkommen den
damit verbundenen Strukturen bzw. Zeichnungen
Ich-Erzähler. Der Forscher vergleicht die Natur mit
In einem Aufsatz über strukturelle
entschlüsselt. Der Bahnbrecher ist der Auffassung,
einem Buch, aus dem jeden Tag eine Seite heraus-
Schönheit vergleicht Inge Vahle Ästhetik mit Ästen,
dass die Natur uns geheime Botschaften durch
gerissen wird. Was passiert, wenn wir die Natur
einem Prisma sowie Eis- und Schneekristallen. Wie
Chiffren und Zeichen zukommen lässt, die in eine
irgendwann nicht mehr verstehen? Inge Vahle
die Code-Bänder der Aminosäure müssen diese
waghalsige Theorie der Sprache der Natur und
übersetzte diese Erzählung in Zeichnungen und
Schriftzeichen übersetzt werden. Fachspezifische
in Buchstaben umgesetzt werden könne. Diese
fügte Worte hinzu. Diese Bilder funktionieren wie
Ausdrücke wie Dendritisch, Umeristem, Reverse
schwer zugänglichen, hellsichtigen Deutungen ver-
eine Geheimschrift voller kryptischer Zeichen und
Transkriptase, è – CRlture zeigen, dass sich Inge
stehen einige und andere nicht. Beispielsweise
Wortspiele. Analog zur Theorie des Forschers
Vahle akribisch mit naturwissenschaftlichen Thema-
bestehe nach dieser Lehre das Blatt aus drei
offenbart sie die Struktur eines Kohles mit der eines
tiken wie Genetik auseinandergesetzt hat. Diese
Kategorien und somit drei Buchstaben, nämlich den
Blattes und letztendlich mit der eines Steines. Sie
Beschäftigung widerspiegelt sich auch in ihrem
Adern, dem äußeren Rand und dem Stängel. Der
verweist auf den Brockhaus und auf die Kabbala.
Werk. Ferner spielen aber auch die Mythologie,
Forscher übersetzt ein Blatt in unsere menschliche
Mysteriöse Zeitangaben und Zahlen verwirren den
Ethik, Traumartiges und Architektur eine tragende
Sprache mit dem Wort „Krieg“.
Betrachter: There must be a link!1
Rolle in ihrem Kunstschaffen.2
Daniel Kremer: Kultraum als Grenzerfahrung zwischen Leben und Tod
69
Horchstation, sisalumwickelte Spulen, schwarze Modellteile aus Holz, 2,50 x 2,70 m, um 1980
78
Inge Vahle: Textile Arbeiten
Inge Vahle um 1965
80
Inge Vahle: Textile Arbeiten
Kataloge
Wir danken den Sponsoren:
1965
Mardi-Samedi, Galerie Facchetti, Paris
1969
Tvar 9, Artia, Prag
1972
„Woman structures“, Camden Arts Centre, London
1973
„International Biennal of Tapestry“, Lausanne
„Tapisserie in Deutschland nach 1945“, Ludwigshafen
1975/76
„Textile Objekte“, Kunstgewerbemuseum Berlin
Müller-Stoiber & Reuss, Werbeagentur
1976/77
„Textile Skulptur“, Studio Vista, London
Sparkasse Darmstadt
1978
„Design Sources for the Fiber artist“, Irene Waller,
Worcester/Massachusetts
„La nouvelle Tapisserie“, Verlag Bonvet, Genf
1993
„Inge und Fritz Vahle“, Kunsthalle Darmstadt
2015
Inge Vahle, „Textil Textur Text“, Darmstadt
Zeitschriften
1956
„Baukunst und Werkform“, Heft 9
1970
„Kunst und Handwerk“, Hamburg
1970
„Das Kunstwerk“, Verlag Kohlhammer, Stuttgart
1971
„Das Kunstwerk“, Verlag Kohlhammer, Stuttgart
1972
„Kunst und Kirche“, Münster
„Das Kunstwerk“, Verlag Kohlhammer, Stuttgart
1973
„Le Monde“, Paris
1974
„Kunst und Kirche“, Linz
1975
„Werk und Zeit“, Deutscher Werkbund, Frankfurt
1982
„Deutsche Architektur- und Ingenieur-Zeitschrift“,
Wiesbaden
1983
„Wechselwirkung“, Universität Bremen
Förderverein Atelierhaus Vahle e.V.
Fredrik Vahle
HEAG Kulturfreunde Darmstadt gGmbH
Kulturamt der Stadt Darmstadt