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dossier Spurwechsel P R OTO KO L L E Kompromisse gehören zum Leben. Man richtet sich ein, ist zufrieden, meistens, und manchmal richtig glücklich. Und doch gibt es Augenblicke, die alles auf den Kopf stellen. Fünf Frauen erzählen, wie sie plötzlich wussten: Ich will mein Leben ändern! protokolle Sibylle Royal Katharina Middendorf, 33, hat mit ihrem Mann den europäischen Yogastil Nivata entwickelt. Die beiden erwarten ihr zweites Kind 78 Dezember 2011 „ Ich lebe jetzt viel bewusster“ „Mein 30. Geburtstag: Lauter Freunde und Kollegen um mich herum – und ich fühlte mich dennoch wie ein Fremdkörper auf meiner eigenen Party in der Loftwohnung über den Dächern Berlins. Ich spürte an diesem Abend ganz genau, dass sich mein Leben verändern wird, auch wenn ich nicht wusste, wohin mich das führen würde. Und ich ahnte, dass Julian, mein neuer Yogalehrer, eine Rolle dabei spielen würde. Er hatte gerade all seine Sachen verkauft, um nach Indien zu gehen. Wie er an diesem Abend an meiner Küchentür lehnte, strahlte er eine unglaubliche Freiheit aus. Ich war fasziniert von ihm und von dem, was er vorlebte.Seit 2005 war ich Kreativ-Direktorin in einer Designagentur und musste auf Knopfdruck Ideen produzieren. Als Ausgleich zu diesem Stressjob begann ich zu joggen. Ich zog immer alles schnell und perfekt durch, also trainierte ich für den Marathon. Beim Laufen spürte ich eine Ruhe in meinem Kopf, die ich sonst nicht kannte. Endlich Stille. Ein großartiges Gefühl! Zum Dehnen ergänzte ich das Training um Yoga. Und merkte schnell, wie gut es mir tat. Ich schloss die Augen und war kurz darauf ganz bei mir. Immer häufiger ersetzte ich das Laufen durch Yoga. Denn äußerlich war mein Leben voller Impulse, aber in mir drin nichts als Leere. Ich suchte nach Antworten, las philosophische Texte und verstand nichts. Der protestantische Glaube meiner Mutter war mir zu einengend. Yoga dagegen macht keine Vorschriften, gibt stattdessen greifbare Antworten. Im Jetzt sein, bewusst leben – das fühlte sich stimmig an. Wenn auch nicht für meinen damaligen Freund. Ende 2007 trennten wir uns. Mit dem Geburtstagsfest drei Monate später feierte ich den Abschied von meinem alten Leben. Julian und ich wurden in dieser Nacht ein Paar. Er fragte mich, ob ich mit ihm nach Indien käme. Ich sagte Ja. Es mag verrückt klingen, aber wenn man einmal begriffen hat, worum es wirklich geht, sind die Konsequenzen einfach. Ich kündigte, verkaufte alles. Manche Freunde sahen in Julian den Teufel, der mich zu diesem extremen Schritt verführt hätte. Aber das stimmt nicht. Yoga hat mir die Augen geöffnet für das, was in mir ist. Julian hat mich auf diesem Weg begleitet. Zwei Jahre lebten wir in Indien. Ich machte eine Ausbildung zur Yogalehrerin bei einem spirituellen Meister. Zurück in Berlin gründeten Julian und ich den europäischen Yogastil Nivata. Ganz gleich, ob ich heute Schüler unterrichte oder mit unserer Tochter spiele: Spiritualität ist wie ein Klangteppich, der unter allem liegt, was ich jetzt tue. Das schenkt mir Halt und Gelassenheit.“ Dezember 2011 79 Foto: Espen Eichhöfer Mein Wendepunkt dossier Spurwechsel „Wir fanden am anderen Ende der Welt unser Zuhause“ „Schlagartig erkannte ich: Ich fühle mich sexuell von dieser Frau angezogen“ „Als ich im Zug saß, hatte ich endlich Ruhe und Zeit. Das erste Mal seit Monaten ohne die Kinder, ohne Job, Haushalt, Mann. Ich träumte vor mich hin – und ertappte mich dabei, wie ich wieder an sie dachte. An ihre schönen Augen, ihr sanftes Wesen. Ich fand die Lehrerin meines Sohnes schon länger anziehend, Claudia Hempel, 52, ohne dass mir bewusst war, warum. Wann Ärztin, wohnt mit wohl der nächste Elternabend sein würde? ihrer LebensgefährUnd dann urplötzlich: Warum willst du tin in Leipzig sie so unbedingt wiedersehen? Es war, als ob ich schlagartig aufwachte und erkannte: Du fühlst dich sexuell von ihr angezogen. Du willst sie als Frau! Über Sexualität war in meiner Familie nie geredet worden. Ich hatte mit Anfang 20 geheiratet, Kinder bekommen, war in der Kirche engagiert. Homosexualität? So etwas kam in dieser Welt nicht vor. Nach außen hin führten mein Mann und ich ein tolles Leben. Dabei stritten wir oft. Ich fühlte mich häufig von ihm alleingelassen, weil er beruflich viel unterwegs war. Als ich aus dem Zug stieg, war ich total aufgewühlt. Von dem Kongress habe ich so gut wie nichts mitbekommen. Ich brauchte Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, mich selbst neu zu sehen – nach all den Jahren, die ich heterosexuell gelebt hatte! Ich sortierte alle Begegnungen in meinem Leben neu, stellte fest, dass es schon vorher Frauen gegeben hatte, in die ich wohl verliebt gewesen war. Einerseits war es erleichternd, dieser Sehnsucht, die immer in mir gesteckt hatte, einen Namen geben zu können. Andererseits war mir sehr bewusst, dass sich die Beziehungen zu Freunden und Familie verändern würden. Trotzdem: Ich wollte diese Frau kennenlernen. Als ich sie anrief, machte sie mir freundlich klar, dass sie kein Interesse hatte, mit mir einen Kaffee zu trinken. Kurz darauf kam unerwartet unser früheres Kindermädchen zu Besuch. Seit ihrer Hochzeit hatten wir nichts von ihr gehört. Jetzt war sie geschieden und so, wie sie mich anschaute, ahnte ich, dass sie lesbisch war. Mit ihr verbrachte ich zum ersten Mal eine Nacht mit einer Frau. Plötzlich war Sex für mich sinnlich erfahrbar. Erfüllend. Ich wusste, ich konnte nie wieder zurück. Meine Kinder waren damals erst zehn und zwölf, doch sie standen zu mir, genau wie Freunde, die mir wichtig waren. Aber mein Mann reagierte fürchterlich, versuchte mir die Kinder wegzunehmen. Das tat weh, dennoch fühlte ich mich erstmals wohl in meiner Haut, spürte zum ersten Mal, dass alles richtig war. Seit elf Jahren lebe ich nun mit meiner zweiten großen Frauenliebe zusammen und bin sehr glücklich.“ „‚Du solltest das zu deinem Beruf machen‘, sagte meine Freun- dass mir etwas fehlte – bis zu diesem Abend. Ich war jetzt 38. Wollte ich wirklich für den Rest meines Lebens das Gleiche din im November 2004 zu mir. Monat für Monat erzählte ich machen? Ein weiterer Aufstieg, ohne ins Ausland zu wechseln, bei unserem Rommé-Abend von meinen Abnehmerfolgen. war nicht möglich. Warum also nicht das, was mir selbst so Wie einfach es sei, mit Weight Watchers gesund zu kochen, und dass es sich großartig anfühle, wieder Jeans zu tragen. Im guttat, anderen vermitteln und daraus einen Beruf machen? Sommer hatte mir der Spiegel im fiesen Licht einer Umkleide- Meine Freundin hatte recht! Mit jedem Kilo weniger stieg mein Selbstbewusstsein. 18 Kilo in acht Monaten. Mit jedem kabine gnadenlos jedes Kilo zu viel gezeigt. Noch am selben Weight-Watchers-Treffen wurde die Idee konkreter. ‚Mach es, Tag ging ich zu meinem ersten Weight-Watchers-Treffen. bevor du irgendwann einer vertanen Chance Seitdem hörte meine Kartenrunde gedulhinterhertrauerst‘, riet mir mein Mann. dig meinen leidenschaftlichen Vorträgen zu. Im Sommer 2005 begann ich die AusbilZwei der Frauen zogen inzwischen mit. Und dung zum Weight-Watchers-Coach. Schon der beiläufige Rat meiner Freundin sollte ein paar Monate später stand ich vor einer eizum Auslöser für meinen Neustart werden. genen Gruppe und spürte: Das ist es, was dir Mit 16 Jahren hatte ich mich entschieimmer gefehlt hat! Du kannst Menschen mitden, Schneiderin zu werden wie meine Mutreißen, ihnen helfen, ein neues Lebensgefühl ter, und mich bald nach der Lehre auf Qualizu bekommen. Heute leite ich als selbststäntätssicherung spezialisiert. Ich kontrollierte diger Coach zehn Treffen und bilde mich für meinen Arbeitgeber die Produkte von ständig weiter. Meine Entscheidung habe ich Zulieferern. 22 Jahre lang! Dafür saß ich jenie bereut. Ich lerne so viel Neues und das ist den Monat bis zu 5000 Kilometer im Auto. das, was mich wirklich bereichert!“ Im Arbeitstrott hatte ich gar nicht bemerkt, Sylvia Heitkemper, 44, ist 80 Dezember 2011 Weight-Watchers-Coach und lebt mit ihrem Mann in Castrop-Rauxel Fotos: Privat „ Am ersten Tag im neuen Job wusste ich: Genau das hat dir immer gefehlt!“ Nadine Lötscher, 32, betreibt mit ihrem Mann ein Restaurant in Neuseeland. Sie haben einen dreijährigen Sohn „Ich lag schon im Bett, als Stefan anrief. ‚Ich muss dich unbedingt sprechen‘, sagte er. Damals war er noch mein Verlobter. Er klang ernst, bedrückt. Ich war mit einem Schlag hellwach: ‚Was ist passiert?‘, fragte ich. ‚Nadine, ich habe es satt hier. Lass uns noch dieses Jahr heiraten und nach Neuseeland gehen!‘ Im ersten Moment fühlte ich mich überrollt, obwohl Neuseeland unser Traum war. 2002 hatten wir dort zusammen in der Hotellerie gearbeitet, um Auslandserfahrung zu sammeln. Wir verliebten uns beide in dieses lässige Land mit seinen freundlichen Menschen. Die Natur, die Städte, alles ist noch etwas wilder, nicht so akkurat wie in Deutschland. Und die Temperaturen sind so angenehm, dass man fast die ganze Zeit in Flipflops herumlaufen könnte. Die Idee, nach Neuseeland zurückzukehren, schwebte immer im Raum. Aber jetzt sofort? Ich arbeitete in dem Schweizer Städtchen Chur als Direktionsassistentin in einem Hotel, Stefan hatte erst zwei Monate zuvor eine neue Stelle als Koch in Lachen angenommen, anderthalb Stunden entfernt. Die würde es nicht mehr lange geben, erklärte er mir dann in dieser Augustnacht 2006 am Telefon. Im November werde das Hotel geschlossen. Schon wieder einen neuen Saisonjob suchen? Weiter zwischen unseren Arbeitsorten pendeln? Oder endlich ein eigenes Restaurant eröffnen? In Neuseeland, wo man – anders als in Europa – Erfolg haben konnte und trotzdem ein Leben haben könnte, und das, ohne sich auf Jahrzehnte zu verschulden. Vielleicht hatte ich in diesem Moment Angst vor meiner eigenen Courage. Und spontan erschreckte mich der Gedanke, unser Hochzeitsfest im Eiltempo zu organisieren. Aber nach dem ersten Schreck war ich vor allem eins: total aufgeregt. ‚Du hast recht, lass uns das machen!‘, sagte ich zu Stefan und spürte, wie ich mich wahnsinnig freute. Wir planten gerade unsere gemeinsame Zukunft, die nach großem Abenteuer klang. Ich war so aufgewühlt, dass ich die ganze Nacht kein Auge mehr zumachte, sondern To-do-Listen schrieb. Zwei Monate später haben wir geheiratet. Ein fröhlicher Tag, der auch ein bisschen traurig war, denn wir verabschiedeten uns von vielen Menschen, die uns wichtig sind. Im Januar 2007 landeten wir in Auckland. 2008 eröffneten wir unser Restaurant ‚Pure‘, moderne europäische Küche, die super ankommt. Wir haben ein eigenes Haus mit einem Garten, können am nahen Strand Muscheln suchen oder an freien Tagen gemeinsam wandern gehen. In der Schweiz säßen wir immer noch auf gepackten Koffern, um von einer GastroStelle zur nächsten zu ziehen, oft Hunderte Kilometer getrennt. Vor drei Jahren kam in Auckland unser Sohn zur Welt – in unserem neuen Zuhause.“ 1/2 hoch Anzeige 100 x 275 mm dossier Spurwechsel „ Am Ende des Tages geht es nicht um Geld, sondern um Menschen!“ „Ich mischte mit im großen Spiel. Als Investor-Relations-Managerin einer Risikokapitalgesellschaft betreute ich die Millionen von sehr vermögenden Kunden. Manchmal glaubte ich, mit dieser illustren Runde unter einer Glasglocke zu leben. Mein Job war aufregend und schnell. Menschen hatten da zu funktionieren. Mit Ende 30 war ich total erschöpft und fiel fünf Wochen aus. Danach reduzierte ich auf vier Tage und handelte aus, dass ich zwischen den Firmensitzen in München und Tel Aviv pendeln durfte. Ich freute mich auf das fremde Land. Und ich dachte: ,Jetzt hast du den Weg gefunden, der dich zufrieden macht.‘ Heute weiß ich, es war ein Aufbruch in zwei Etappen und mein Körper schrieb den Zeitplan. Silvester 2009 stand ich in Tel Aviv auf dem Balkon, als plötzlich mein linkes Ohr taub wurde. Dazu kam dieser fiese Pfeifton, der nicht mehr wegging. Mein zweiter Hörsturz! Ich wusste, dass so etwas zu dauerhafter Taubheit führen konnte, und war wie gelähmt. Die Ärzte in der Notaufnahme verordneten absolute Ruhe. Ich, die sonst immer alles im Griff hatte, war ein Häufchen Elend. Es dauerte zwei quälend lange Tage, bis mir klar wurde, dass ich das hier nicht kontrollieren konnte. Ich weiß noch, wie ich in der Badewanne lag und laut zu mir selbst sagte: ‚Lass los! Das Leben wird dir eine Richtung zeigen.‘ Es war wie ein Versprechen an mich selbst. Kurze Zeit später war der Pfeifton im Ohr nur noch halb so laut. Inzwischen ist er weg. Die nächsten Tage versuchte ich, alle Ablenkungen auszublenden. Ich meditierte viel. Und ich fragte mich, wer ich eigentlich war? Welche Werte hatte ich? Hatte das, was ich tat, einen Sinn? Ich merkte, dass die Wertvorstellungen in meinem beruflichen Alltag gar nicht mehr zu dem passten, was ich privat leben wollte. Denn am Ende des Tages sollte Geld doch dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. Zu kündigen fiel mir trotzdem nicht leicht, denn ich war immer sehr auf Sicherheit bedacht. Aber als ich den Schritt getan hatte, fühlte ich mich befreit. Ich erfüllte mir einen Traum, reiste drei Monate bewusst planlos durch Neuseeland und schrieb ein Buch darüber. Seit April 2011 bin ich wieder in München. Zurzeit helfe ich ehrenamtlich zwei sozialen Projekten beim Fundraising, versuche mich mit dem Schreiben zu etablieren und mein Buch zu veröffentlichen. Und ich schaue nach einem neuen Job – am liebsten in einem Sozialunternehmen, um mein Wissen aus der Finanzwelt in einem sinnvollen Zusammenhang zu nutzen. Materielles kommt und geht. Viel wichtiger ist das, was uns am Herzen liegt.“ Was war der wichtigste Wendepunkt in Ihrem Leben? Tauschen Sie sich aus auf www.facebook.de/emotionmagazin Buchtipps finden Sie auf Seite 132 82 Dezember 2011 Foto: Fritz Beck Christina Möhrle, 45, Finanzexpertin, in München