Die Entstehungsgeschichte des Lesebaums

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Die Entstehungsgeschichte des Lesebaums
Die Entstehungsgeschichte des Lesebaums
Großbritannien, 80-er Jahre
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Roderick Hunt, Lehrer und Vize-Schulleiter, hat einen kleinen Sohn, der Schwierigkeiten mit dem
Lesenlernen hat und nicht gerne liest.
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Hunt selbst findet die in der Schule verwendeten Materialien für den Leseunterricht nicht gut. Er
entwickelt ein eigenes Konzept und schreibt erste Bücher. Der renommierte Verlag Oxford University Press hat Interesse an Hunts Konzept. Er erhält den Auftrag, ein entsprechendes „reading
scheme“ (systematisch aufgebautes Buchprogramm für den Leseunterricht) zu entwickeln.
Hunt plant ein Programm, das für die Kinder ansprechend, interessant und motivierend ist. Es würde von den Kindern und ihrer Alltagswelt ausgehen, damit sie ihre eigenen Erfahrungen mit dem
Gelesenen verknüpfen könnten. Es würde sich nicht primär auf Wörter und Buchstaben konzentrieren, sondern ganze Geschichten in den Vordergrund stellen. Der Gedanke dahinter war, dass Kinder einfache Geschichten verstehen können, auch wenn sie noch nicht lesen können und dass sie
sich in die Hauptfiguren hineinversetzen und vorausahnen können, was als Nächstes geschehen
wird.
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Roderick Hunt kommt mit dem Zeichner Alex Brychta zusammen, der ebenfalls für Oxford University Press arbeitet. Die beiden bilden ein perfektes Team mit denselben Ideen und mit demselben
Humor. Sie arbeiten zusammen.
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1986 erscheinen die ersten Bücher des „Oxford Reading Tree“. Hunt verfasst außer den Geschichten auch das Lehrerhandbuch „Teacher’s Guide“.
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Hunt nennt sein Programm „Reading Tree“. Im „Teacher’s Guide“, der 1986 zusammen mit den
ersten Büchern des Programms veröffentlicht wird, schreibt er: „Das Programm hat seinen Namen
von seiner baumartigen Struktur. Seine verschiedenen Äste wurden konzipiert, um den verschiedenen Bedürfnissen und unterschiedlichen Entwicklungsgeschwindigkeiten junger Kinder gerecht zu
werden.“
Großbritannien, 2006
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Der Oxford Reading Tree ist groß geworden, d.h. er hat im Laufe der Zeit in der Senkrechten immer
mehr Lesebenen dazubekommen. Ihm sind viele Äste und Zweige gewachsen: Verschiedene
Buchreihen auf derselben Leseebene (Buchreihen mit neuen Geschichten, spezielle Buchreihen
zum zusätzlichen Üben, Buchreihen mit Reimen und Gedichten, Rollenspiel, Sachbücher und viele
ergänzende Materialien wie Arbeitshefte, Spiele, interaktive CDs etc.).
Er wird stetig weiterentwickelt und in Teilen überarbeitet, z.B. wurden ganze Buchreihen von Alex
Brychta neu illustriert.
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Der ORT ist eines der erfolgreichsten und beliebtesten Leseprogramme der Welt; in Großbritannien
in über 75% der Schulen vertreten.
Sultanat Oman, 90-er Jahre
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Während eines mehrjährigen Auslandsaufenthalts der Familie im Sultanat Oman besuchen die zwei
Kinder von Ursula Rothenhöfer, einer promovierten Pädagogin, dort eine britische Grundschule.
Rothenhöfer lernt durch ihre Kinder die hochdifferenzierte Arbeitsweise der britischen Grundschulen kennen und das Unterrichtsmaterial, das dort verwendet wird. Beides weckt ihr fachliches Interesse und sie beginnt, sich systematisch genauer zu informieren.
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Durch die Erfahrung mit den eigenen Kindern, aber auch durch Stellungnahmen von Lehrerinnen
fällt ihr das Leseprogramm „Oxford Reading Tree“ besonders positiv auf. Als Pädagogin kann sie
erkennen, welches Potential in diesem Konzept und entsprechenden Materialien steckt und sie ist
überzeugt, dass dieses auch in Grundschulen in Deutschland sinnvoll eingesetzt werden kann, um
unterschiedlichen Schülern gerecht zu werden, um das Deutsch-Lernen von Kindern mit anderer
Muttersprache zu unterstützen, um das Lesen zu fördern und Kinder mit Büchern vertraut zu machen.
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Um von ihren Erfahrungen zu berichten, schreibt sie noch in Oman einen Bericht, den sie der Zeitschrift „Grundschule“ schickt.
Deutschland, 1999-2003
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Im Sommer 1999 kehrt Ursula Rothenhöfer mit ihrer Familie nach Deutschland zurück.
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Im Herbst 2001 erscheint ihr Beitrag über das individualisierte Lernen in britischen Grundschulen in
der Zeitschrift „Grundschule“ (Grundschule, Heft 11 November 2001).
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Zu dieser Zeit erlebt Deutschland den PISA-Schock. Es zeigt sich, dass insbesondere im Bereich
der Lesekompetenz große Mängel vorliegen. Wissenschaft wie Bildungspolitik stimmen darin überein, dass Deutschlands Schüler mehr individuelle Förderung brauchen. Aber wie kann man 30 Kinder in einer Klasse individuell fördern?
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Prof. Jürgen Baumert, Leiter des damaligen PISA-Konsortiums betont in einem Interview in der
ZEIT, wie wichtig ein Unterricht sei, „der Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen individuell
fördert.“ Und er setzt hinzu: „Hier gibt es gute Chancen, von anderen Ländern zu lernen.“ (ZEIT,
27.6.2002).
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Das Konzept des individualisierten Lernwegs, wie es der „Oxford Reading Tree“ bietet, wäre eine
solche Möglichkeit, vom Ausland zu lernen. Doch wie kann man das Konzept des ORT für deutsche
Schulen nutzbar machen?
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Es muss eine deutsche Ausgabe des Oxford Reading Tree geben. Rothenhöfer nimmt Kontakt auf
zu „Oxford University Press“ und erkundigt sich, ob der Verlag nicht vielleicht eine deutsche Ausgabe plane. Eine Reihe von telefonischen und persönlichen Kontakten findet statt. Bei „Oxford University Press“ ist man sehr interessiert, mit einem deutschen Schulbuchverlag zusammenzuarbeiten, der die deutsche Ausgabe erstellen und herausbringen würde.
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Noch ist kein Schulbuchverlag gefunden, der sich dieser Aufgabe annehmen will, aber Rothenhöfer
verliert dieses Ziel neben ihrer Tätigkeit als Dozentin nicht aus den Augen. Verschiedene Fachleute
ermutigen sie bei ihrem Bemühen, unter ihnen Prof. Olga Graumann, Leiterin des Instituts für angewandte Erziehungswissenschaft der Universität Hildesheim.
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Rothenhöfer entschließt sich, eine Grundschule zu suchen, an der eine deutsche Probeausgabe
eingesetzt und ausprobiert werden könnte. Oxford University Press unterstützt dieses Vorhaben
und bietet an, die benötigten Bücher und Arbeitsmaterialien für die Übersetzung und deutsche Bearbeitung zur Verfügung zu stellen.
Hannover, 2003
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Ursula Rothenhöfer trifft den Leiter der Fridtjof-Nansen-Schule in Hannover, Hermann Städtler, um
ihm ihre Idee vorzustellen und ihn zu fragen, ob seine Schule das Konzept ausprobieren würde.
Die Fridtjof-Nansen-Schule ist eine Grundschule in einem sogenannten Brennpunktgebiet und hat
einen sehr hohen Anteil an Schülern mit nicht-deutscher Muttersprache. Zugleich ist die Schule und
insbesondere der Schulleiter als engagiert und reformoffen bekannt. Eine gute Konstellation, um
das Konzept des Oxford Reading Tree in der Praxis auszuprobieren.
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Hermann Städtler kann sich gut vorstellen, dass ein solches Konzept in seiner Schule nützlich sein
würde. Er sieht klar die Möglichkeiten, die darin enthalten sind und sagt nach eingehender Prüfung
der vorgestellten englischsprachigen Materialien und des Erprobungskonzepts seine Unterstützung
zu.
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Ursula Rothenhöfer beginnt mit der Übersetzung und deutschen Bearbeitung der Materialien für
das erste Erprobungsjahr. Neben der inhaltlichen Bearbeitung muss auch das technische Problem
des Drucks geklärt werden. In diesem Stadium ist eine digitale Bearbeitung nicht möglich. Also
werden die englischen Bücher manuell in deutsche Bücher verwandelt, d.h. deutscher Text wird
über den englischen geklebt, selbst bei den kleinen Textelementen, die innerhalb der Abbildungen
zu finden sind. Diese Vorlage wird sodann in der benötigten Anzahl farbig fotokopiert und gebunden.
Leider findet sich keine Möglichkeit der Finanzierung der Erprobung und insbesondere der Herstellung der Materialien durch eine Bildungsbehörde oder Bildungsinstitution. Das Projekt „Lesebaum“
ist in Gefahr.
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Hermann Städtler findet eine Lösung und rettet das Projekt: Die Fridtjof-Nansen–Schule übernimmt
selbst die Kosten für die Herstellung der Erprobungsmaterialien. Frau Rothenhöfer bringt ihre Arbeitsleistung weiterhin unentgeltlich ein.
Hannover, 2004-2006
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Im Schuljahr 2004/05 beginnen zwei erste Klassen der Fridtjof-Nansen-Schule mit ihren Lehrkräften
mit der Erprobung. Am Anfang steht eine Hospitation der Lehrkräfte der Erprobungsklassen in einer
britischen Grundschule in Hameln.
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Rothenhöfer übernimmt jeden Mittwochvormittag in den beiden Erprobungsklassen die Rolle einer
Lesehelferin, um möglichst intensiv in die Praxis einbezogen zu sein. Bei der Arbeit mit den Lesegruppen und den regelmäßigen Monatstreffen mit den beiden Lehrkräften erhält sie wertvolle Hinweise für die endgültige deutsche Fassung des Lesebaums, angefangen von kleinen Korrekturen
an der Übersetzung über unterrichtsorganisatorische Fragen bis hin zu Anregungen für das Lehrerbegleitmaterial.
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Im Sommer 2006 wird der Lesebaum schon fast zwei Jahre verwendet. Beide Lehrkräfte sind überzeugte Lesebaum-Lehrer geworden. Die Kinder in den Klassen haben gut lesen gelernt und lesen
alle gerne die Lesebaum-Bücher. Die Bücher spornen auch die schwächeren Schüler an zu lesen
und ihre Lesefertigkeiten zu verbessern.
Deutschland, 2006 + 2007
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Ursula Rothenhöfer hat sich entschlossen, die Sache mit dem deutschen Lesebaum selbst in die
Hand zu nehmen und einen Verlag zu gründen. Oxford University Press ist bereit, mit ihr zusammenzuarbeiten.
Im März wird in vier Bundesländern der erste Lesebaum-Katalog verschickt, ab Juni sind die Lesebaum-Materialien beim Lesebaum-Verlag Hannover erhältlich.
Gleich nach Verschicken des Katalogs gehen die ersten Bestellungen aus den vier zunächst mit
Katalogen versorgten Bundesländern ein. Im Laufe des Jahres kommen durch die Internet-Präsenz
des Lesebaum-Verlags auch Bestellungen aus andern Bundesländern und aus dem Ausland hinzu.
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Frühjahr 2007: Anfragen von Schulen gehen im Verlag ein: Wann gibt es neue Lesebaum-Bücher?
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Im Juni 2007 ist es soweit: das neue Programm erscheint: Es umfasst nun neun Buchreihen mit je
sechs Büchern sowie Arbeitsheften und Lehrermaterial. Damit stehen auf sechs Leseebenen Materialien für etwa die ersten beiden Lesejahre zur Verfügung.
Bei entsprechender Nachfrage soll das Programm jährlich ausgeweitet werden.
28.5.07