EinE SEEfahrt, die ist lustig, eine See- fahrt, die ist
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EinE SEEfahrt, die ist lustig, eine See- fahrt, die ist
Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist…schön wär’s. Denn immer öfter verschwinden Passagiere spurlos von Kreuzfahrtschiffen. Die Aufklärungs quote ist gering, die Reedereien wiegeln ab: Wer über Bord geht, sei selbst schuld. Buchen tatsächlich Selbstmörder verstärkt Seereisen? Text felix hutt 66 Fotos: Jean gaumy/Magnum Photos/Agentur Focus, bruce davidson/magnum photos/Agentur Focus Lost! Und ewig lockt der Hochglanzprospekt: dramatischer Abendhimmel, Zweisamkeit, vielleicht noch einen Sundowner an Deck der „QE2“ V or dem eurasischen Restaurant in Seattle-Bellevue liegt Laub, auf der anderen Straßenseite macht der Microsoft-Campus Feierabend. Son Michael Pham, 53, sitzt vor einer Currysuppe und weint nicht. Gefühle zeigen bedeutet für den gebürtigen Vietnamesen Schwäche zeigen. Seine Krawatte ist korrekt gebunden, das Hemd weiß, die Fingernägel so akkurat geschnitten wie die Haare. Er wolle die Geschichte seiner Eltern ausführlich erzählen, damit man das Ausmaß ihres Verschwindens verstehe, er wolle die Bedeutung des Meeres für seine Familie erklären und wa rum aus ihm, dem Pazifisten, ein Kämpfer gegen die Kreuzfahrt industrie geworden ist. „Schauen Sie, ich habe drei Telefone“, sagt Pham, „ein Geschäfts-, ein Privattelefon und eins, das ich nie ausmache. Das ist für die anderen Opfer. Es klingelt oft.“ Wie am 1. Januar 2007. Ein Anruf aus Hamburg, eine verzweifelte Stimme: Die Mutter sei verschwunden, einfach so, was könne man machen, was sei da bloß passiert? Sabine L., 62, ihr Mann Ludwig L., 73, und ein verwandtes Ehepaar besteigen am 17. Dezember 2006 die „Queen Elizabeth 2“ in Southampton zu einer zweiwöchigen Kreuzfahrt. Er ist Kaufmann im Ruhestand, sie Hausfrau, die gern reitet und Golf spielt. Die L.s haben zwei gesunde und erfolgreiche Söhne. Über Malaga und Gibraltar geht es nach Lanzarote, wo sie Weihnachten feiern. Das Quartett aus dem Hamburger Stadtteil Wellingsbüttel ist gesellig, spielt abends häufig mit Engländern Bridge. Meistens gewinnt Sabine L. Morgens geht sie im Pool schwimmen, ihr Mann schläft dann noch ein bisschen, bevor man sich beim Frühstück wiedertrifft. Am Samstag, dem 30. Dezember, macht die „QE2“ Stopp auf Madeira. Sabine L., die gerade Oma von Zwillingen geworden ist, kauft Geschenke. Später wird ihre Geldbörse gestohlen, was ihre Laune nicht trübt. Beim Abendessen freut sie sich mit ihrem Mann auf das morgige Silvester, ihr erstes auf See. Sie wollen ausgeruht sein, gehen um kurz vor Mitternacht schlafen, in Kabine 5167 auf Deck 5. Ludwig L. schläft tief, ob seine Frau in der Nacht noch einmal aufsteht oder in der Früh zum Schwimmen geht, bekommt er nicht mit. Sabine L. wird nie mehr gesehen. In den letzten vier Jahren sind 37 Menschen von Kreuzfahrtschiffen verschwunden. Die Dunkelziffer liegt höher, viele Vermisste werden nicht gemeldet. Der letzte Fall ereignet sich in der Nacht des 29. Oktober 2007 in der Ägäis vor Griechenland, als eine Frau aus Bad Honnef, die mit ihrem Mann auf der „Costa Atlantica“ reist, verschwindet. „Weg von Deck“, das klingt wie ein TV-Krimi, ist es aber nicht. In der Realität fehlen Täter und Happy End. Offiziell weiß niemand, ob die Vermissten ertrunken sind, ermordet wurden, sich umgebracht haben oder noch leben. Auch in Phoenix, Arizona, fehlt jemand. Kendall Carver, 76, glaubt nicht an die Mär vom Meer, das seine Tochter verschluckt haben soll, ohne dass jemand etwas mitbekommen hat. Für den Rentner ist klar, dass sie ermordet und über Bord geworfen wurde. Ihr Schmuck fehlt, sie ist nicht der Typ für einen Selbstmord. Ihm geht es darum, seiner Liebe Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dafür kämpft der ehemalige Ver 68 sicherungspräsident einen Kampf, den er nicht gewinnen wird: „Ich werde diese Industrie nicht verändern, aber wenn ein Mensch weniger stirbt, habe ich viel erreicht. Die hätten nie gedacht, dass ein Opfer so weit gehen würde wie ich. Dass jemand für die Wahrheit Hunderttausende von Dollar ausgibt“, sagt Carver. Das Schicksal habe sich mit ihm schlicht den Falschen ausgesucht. Paradise Valley, Tal des Paradieses, nennen die Millio näre und Milliardäre ihre Enklave am Camelback Mountain. Hier, wo die Sonne immer vom Himmel brennt, haben sich auch Carol und Ken Carver ihr Haus gebaut. Doch wie im Paradies fühlen sie sich nicht, sagen sie, eher wie in der Hölle. Die Carvers haben eine große Auffahrt vor ihr Haus gesetzt und Kakteen eingepflanzt. Es gibt einen Pool und vier Gästezimmer, für ihre vier erwachsenen Töchter. Das der ältesten, Merrian Carver, wurde schon länger nicht mehr benutzt. „Sie kommt wieder“, sagt Carol Carver, bevor sie das Büro im ersten Stock verlässt. „Sie ist tot“, sagt Ken Carver und weint. A m 1. September 2004 ruft seine Enkelin Rachel in Phoenix an. Rachel lebt bei ihrem Vater in London. Merrian Carver ist geschieden, was später reichen wird, um sie in die Selbstmordschublade zu stecken. Sie habe ihre Mama seit zwei Tagen nicht erreichen können, das Handy sei immer aus. Ken Carver weiß, dass etwas nicht stimmt, fliegt nach Boston, verschafft sich Zugang zu den Bankdaten seiner Tochter. Eine Überweisung zeigt, dass sie eine Kreuzfahrt bezahlt hat, für einen Trip auf der „Mercury“ der Celebrity Line, die der Reederei Royal Carib bean Cruise Line (RCCL) gehört. Die letzte Reise von Merrian Carver geht von Seattle nach Vancouver, die beliebte „Alaska Cruise“. Carver ruft bei RCCL an, die ihm nach drei Tagen bestätigen, dass Merrian Carver an Bord gewesen sei, aber nach der zweiten Nacht ihre Kabine nicht mehr benutzt habe. Das letzte Mal sei sie am 27. August 2004 gesehen worden. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Passagiere nicht in ihre Kabinen zurückkehren, es gäbe viele Affären auf den Schiffen. Ob seine Tochter am Ziel in Vancouver von Bord gegangen sei, könne RCCL nicht sagen. Und es sei leider auch nicht möglich, mit dem Steward oder der Security zu sprechen, die Videos seien längst überspielt. Für Ermittlungen sei das FBI zuständig. Ken Carver alarmiert das FBI und engagiert eine große Detektei in Boston. Er schickt private Ermittler auf das Schiff, die werden vom Risk Management der RCCL empfangen. Jede Kreuzfahrtgesellschaft hat ein Risk Management oder Care Team, das möglichen Schaden abwenden, Angehörige beruhigen und stille Lösungen finden soll. Aber Carver beruhigt sich nicht, er reicht Klage ein. Am 16. Januar 2005, viereinhalb Monate, nachdem seine Tochter das letzte Mal gesehen wurde, darf Carver nach einem Gerichtsbeschluss mit dem Steward sprechen, der für die Kabine von Merrian Carver zuständig war. Der Steward sagt, dass er seinem Supervisor Merrian Carver bereits nach zwei Tagen vermisst gemeldet habe. Der Supervisor habe ihm ge- sagt, er solle seinen Job machen und die Sache vergessen. Am Ende der Kreuzfahrt habe der Steward gefragt, was er denn mit den Sachen von Merrian Carver aus ihrer Kabine machen solle? Der Supervisor habe gesagt, er kümmere sich darum. K en Carver schreibt einen Brief an den Vorstand von RCCL, es gehe um das Leben seiner Tochter – keine Reaktion. Einer von seinen Detektiven findet eine interne E-Mail vom Schiff, in der steht, dass dieser „Vorfall“ geräuschlos zu beseitigen sei. Als Ken Carver den Supervisor sprechen möchte, findet er heraus, dass ihn RCCL sofort nach der Kreuzfahrt nach Griechenland versetzt hat. Als er ihn dort ausfindig machen lässt, sagt man Carver, er habe kein Recht, in Griechenland zu forschen, er solle den Mann in Ruhe lassen. Seine Versuche, etwas über den Verbleib seiner Tochter herauszufinden, werden bekämpft wie ein Verbrechen. Hinter den Brillengläsern von Ken Carver sammeln sich Tränen der Wut. Immer wenn er weint an diesem Nachmittag, versagt ihm die Stimme, als hätten seine Stimmbänder einen Sensor für Fassungslosigkeit. „Warum“, flüstert er, „warum betreiben sie dieses ganze cover-up, wenn es Selbstmord gewesen sein soll? Das macht doch keinen Sinn!“ Das macht es für Kreuzfahrt-Experten wie Ross Klein, Soziologieprofessor an der Universität Neufundland in Kanada, schon lange nicht mehr. Für ihn sind Merrian Carver oder Sabine L. Lateralopfer einer Industrie, die sich der Giganto manie verschrieben hat. Der Boom startet Mitte der 70er-Jahre in den USA und erobert von dort aus die Welt. Damals läuft die TV-Serie „Love Boat“, die mehr als 50 Millionen Zuschauer pro Folge vor die Bildschirme holt. Ein Herr namens Ted Arison revolutioniert die gediegene Kreuzschifffahrt, indem er seine Carnival-Schiffe zu „Fun Ships“ macht, einer Art Disneyland zu See, mit Themen restaurants, Wasserrutschen, Casinos, Diskotheken und Theater. Aus Klasse wird Masse, das Geschäft nicht mehr allein mit dem Ticketpreis, sondern vor allem mit dem Konsum an Bord und bei den Aufenthalten gemacht. Nach dem 11. September 2001 kommt ein weiterer Aufschwung, viele Touristen halten Kreuzfahrten für die sicherere Alternative zum Fliegen. Mit circa 15 Millionen Passagieren per anno ist die Kreuzfahrtindustrie heute die am schnellsten wachsende Tourismussparte der Welt. Die Carnival Corporation von Micky Arison, 58, Ted Arisons Sohn, beherrscht dabei mehr als 50 Prozent des Marktes. Sie besteht aus 12 Gesellschaften und Reedereien, unter anderem Cunard, Aida, Holland America, Princess Cruises und Costa. Arison ist Stammgast in der Forbes-Top-100-Liste der Reichsten der Welt. Als Hobby hält er sich den NBA-Verein Miami Heat mit Shaquille O’Neal. Carnival erwirtschaftet im Jahr 2006 einen Überschuss von 2,3 Milliarden Dollar. Der Gegenspieler ist die Royal Caribbean Cruise Line, der unter anderem die „Freedom of the Seas“ und die „Voyager of the Seas“ gehören. RCCL dominiert circa 30 Prozent des Marktes, ihr Chef heißt Richard D. Fain. Carnival und RCCL regieren zusammen über mehr als 80 Son Michael Pham verlor seine Eltern Hue Pham und Hue Tran 2005 auf dem Kreuzfahrtschiff „Destiny“. Die Familie war 1975 auf einem Contai nerschiff vor dem Vietnamkrieg geflüchtet. „Können Sie mir erklären, warum das Meer erst das Leben meiner Eltern retten sollte, um es ihnen 30 Jahre später wieder zu nehmen?“ Am 30. Dezember 2006 verschwand Sabine L. auf der „Queen Elizabeth 2“. Für einen Selbstmord gibt es keinerlei Indizien: Die Hamburgerin war seit 40 Jahren glücklich verheiratet, kern gesund und gerade Großmutter geworden. Der Kapitän kondolierte dem Ehemann nicht einmal Seit drei Jahren kämpft Ken Carver gegen die Royal Caribbean Cruise Line und um die Wahrheit: Seine Tochter Merrian war im August 2004 von Bord der „Mercury“ verschwunden. Und mit ihr der gesamte Schmuck. Die Reederei legte sich auf Selbstmord fest – und behinderte die Recherchen des Vaters 69 70 Foto: jean gaumy/Magnum Photos/Agentur Focus, erich Hartmann/Magnum Photos/Agentur Focus „Bleiben sie ruhig“, sagt der Steward, „vielleicht hat Ihre Frau nach dem Schwimmen noch einen Spaziergang gemacht“ Prozent der Kreuzfahrtindustrie. Sie sind auch die einzigen Gesellschaften, die an der New Yorker Börse geführt werden. Die Bosse, Fain und Arison, pflegen ihre Rivalität mit Passion, überbieten sich seit Jahren mit neuen Ozeanriesen. So lässt Carnival gerade die „Pinnacle Class“ bauen, für mehr als 4000 Passagiere, während RCCL mit der „Project Genesis“ kontern wird, die gerade in Oslo gefertigt wird, 1,24 Milliarden Dollar kostet und Kapazität für 6400 Passagiere hat. Beide Schiffe sollen 2009 vom Stapel laufen, die „Project Genesis“ wäre das größte Kreuzfahrtschiff der Welt. Ein wichtiger Titel in einer Branche, in der Marketing alles ist, in der Fälle wie Sabine L. aus Hamburg-Wellingsbüttel nicht bekannt werden dürfen. Sabine L. ist seit einem Jahr verschwunden. Anfangs, so ein Familienmitglied der L.s, das seinen Namen nicht nennen möchte, wollte man nicht an die Öffentlichkeit. „Wir hatten mit der Verarbeitung genug zu tun.“ Aber das Verhalten von Cunard im Umgang mit dem Verschwinden des geliebten Menschen sei schlicht nicht nachzuvollziehen, weshalb man sich entschlossen habe, in Park Avenue zum ersten Mal darüber zu sprechen. Als Sabine L. um elf Uhr nicht zum Frühstück kommt, wundert sich ihr Mann und gibt dem Steward Bescheid, der ihn beruhigt. Vielleicht habe seine Frau nach dem Schwimmen noch einen Spaziergang gemacht. Da sie mittags immer noch nicht auftaucht, startet die „QE2“ eine Suche an Bord, einen halben Tag, nachdem Sabine L. das letzte Mal gesehen worden ist. Nach zwei Stunden dreht das Schiff um und fährt zurück, um im Meer nach ihr zu suchen. Am Nachmittag darf ihr Mann Ludwig L. einen Verwandten in Hamburg anrufen. Der verständigt sofort das Auswärtige Amt, die Polizei und die Seenotrettung in Bremen und ruft gegen 17 Uhr bei Cunard, zu der die „QE2“ gehört, in England an. Der Anruf landet in einem Callcenter, bei einer Frau, die weder von dem Vorfall etwas weiß noch dass die „QE2“ überhaupt zur CunardFlotte gehört. Es sei spät, und man möchte jetzt, am 31.12., nicht mehr gestört werden. Schließlich gelingt es, über eine andere Nummer mit der Rezeption an Bord verbunden zu werden, mit dem Kapitän könne man aber nicht sprechen, heißt es. An Bord ist die Suche abgeschlossen, die „QE2“ nimmt wieder Kurs auf Southampton. Das Silvester-Menü wird serviert, als wäre nichts passiert. Der Verwandte stellt das Haus in Wellingsbüttel auf den Kopf, sucht nach einem Anhaltspunkt für das Unglaubliche. Schaut die Post durch, in Akten und filzt alle E-Mail-Konten – nichts. Kein Hinweis, kein Abschiedsbrief. Sabine L. hat keine Lebensversicherung, keine Krankheiten und ist sehr stolz auf ihre erst kurz vor der Reise geborenen Enkel. Der Anruf bei Cunard in den USA landet wieder in einem Callcenter, der Verwandte lässt sich nicht abwimmeln, hat nach eineinhalb Tagen eine Vizepräsidentin am Apparat, die sich verständnisvoll zeigt. Sie glaube nicht an Selbstmord, weil in 14 von 15 Fällen, die ihr bekannt seien, ein Abschiedsbrief hinterlassen worden wäre. Da das Schiff so alt sei, habe man nur im Casino und bei den Shops Kameras, das tue ihr sehr leid. Später stellt sich heraus, dass im Prospekt, der den Kabinen beiliegt, hervorgehoben wird, dass die „QE2“ sogar im Maschinenraum Kameras habe. Cunard erklärt, man habe alles getan, was man habe tun können, die Ermittlungen übernehme die Polizei in Southampton. Als das Schiff am 1. Januar in Southampton einläuft, geht Ludwig L. ohne seine Frau von Bord. Niemand, nicht der Kapitän oder ein Offizier, verabschiedet sich von ihm, der mit seiner Frau seine Liebe und den Rest seines Lebens verloren hat. Die L.s sind seit 40 Jahren in erster Ehe verheiratet. Die Polizei verhört Ludwig L., die Sachen seiner Frau werden einbehalten. Dann fliegt er nach Hause. Die „QE2“ fährt nach vier Stunden weiter nach New York. O wen Davies, der bei der Polizei in Southampton mit dem Fall betraut ist, sagt, dass man noch ermittle, aber man natürlich auch viel mit anderen Fällen zu tun habe. In Hamburg untersucht die Mordkommission unter anderem die komplette Krankenakte von Sabine L. Ergebnis: keinerlei Anzeichen, die auf psychische oder physische Probleme schließen lassen. Was ist mit Sabine L. passiert? „Natürlich gibt es die Möglichkeit eines Selbstmordes, auch wenn ich dies für sehr unwahrscheinlich halte“, sagt der Verwandte, wahrscheinlicher sei ein Unfall oder ein Verbrechen. „Egal wie schlimm es ist, was passiert ist, ich möchte es einfach wissen.“ Das Ungewisse sei das Grausame, das lasse einen nicht schlafen und mit der Sache abschließen. Park Avenue fragt bei Ingo Thiel nach, der für die PR von Cunard in Deutschland verantwortlich ist, um Details über den Vorfall zu erfahren. Man solle sich nicht zum Anwalt der Familie aufspielen. Die Sache sei für die Reederei abgeschlossen, die Behörden in Southampton jetzt dafür zuständig. Man habe Hubschrauber aus Portugal, Flugzeuge aus Irland kommen lassen, und die „QE2“ sei umgedreht. Man solle sich mal vorstellen, was das alles gekostet habe. Sabine L. kann sich umgebracht haben. Merrian Carver und die anderen Vermissten auch. Dagegen spricht: Es gibt einfachere Suizid-Methoden. Und die Sicherheit an Bord der Ozeanriesen ist fragwürdig. Um herauszufinden, wie die Kreuzfahrtgesellschaften ihre schwimmenden Vergnügungsstädte und deren Passagiere schützen, schickt Park Avenue einen Fragebogen an Carnival, RCCL, Hapag Lloyd, Aida und Color Line, möchte unter anderem wissen: Wie viele Sicherheitsleute sind auf ihren Schiffen? Wie sind sie ausgebildet? Wie schützen sie ihre Passagiere vor terroristischen Anschlägen? Woher kommt die Crew? Wo wird sie ausgebildet, wie bezahlt und wer überwacht sie? Trotz mehrfacher Nachfrage antworten nur zwei: Aida und Hapag Lloyd schicken E-Mails, in denen sie ihre Kreuzfahrtschiffe lobpreisen, für die Sicherheit sei gesorgt, nähere Angaben könne man nicht machen. Auch zu Herkunft, Bezahlung und Ausbildung der Crew kommt nichts. Terry Dale, der Präsident der Cruise Lines International Association (CLIA), die ihren Sitz in Miami, der Hauptstadt der Kreuzfahrtindustrie, hat, sagt: „Das Sicherheitspersonal besteht aus ehemaligen Soldaten, die gut ausgebildet sind. Die Sicherheit der Passagiere hat für die Industrie höchste Priorität.“ 71 Sicherheit wird an Bord aus Kostengründen kleingeschrieben An der Suppe hat Son Michael Pham nur genippt, vor dem Verschwinden seiner Eltern sei er ein ganz guter Esser gewesen, sagt er. Der Vorteil, den Pham hat: Die Suizidtheorie, die die Kreuzfahrtindustrie bei Verschwundenen immer anbringt, funktioniert im Falle seiner Eltern nicht, dafür ist ihre Geschichte zu beeindruckend: Am 30. April 1975, dem letzten Tag des Vietnamkrieges, fällt Saigon in die Hände der Kommunisten. Das Todesurteil für Hue Pham, einen General, seine Frau Hue Tran, eine Englischlehrerin, und ihre fünf Kinder. Die Phams sind Jesuiten, proamerikanisch. Der Vater bindet sich die Tochter, Son Michael seinen Bruder, einen Krüppel, auf den Rücken, und sie fliehen. Im Hafen von Saigon springen sie auf ein Containerschiff. Ohne Wasser und Lebensmittel legt das Schiff ab, irrt zwei Wochen auf dem Pazifik umher, bevor es von der US Air Force entdeckt wird. Über die Philippinen kommen die Phams in ein Flüchtlingscamp nach Amerika und werden von einer christlichen Gemeinde in Chicago adoptiert. „Mein Vater musste als Eisenbahnarbeiter auf den Knien Schienen reinigen, meine Mutter an der Kasse im Supermarkt arbeiten, aber das war alles egal, wir waren endlich frei“, sagt Son Michael Pham und macht eine Pause. Die nächste Frage formuliert er, als wäre es ein Diktat. „Können Sie mir erklären, warum das Meer erst das Leben meiner Eltern retten sollte, um es ihnen 30 Jahre später wieder zu nehmen?“ Dann bestellt er ein Bier; die einzige Gefühlsregung an diesem Abend in Seattle, sonst trinke er nie. Die Phams fassen schnell Fuß, etablieren sich, sie kennen sich aus mit dem Überleben. Im Ruhestand ziehen die Eltern nach Westminster, Orange County, in Kalifornien, in eine Siedlung mit anderen Vietnamesen. Im November 2004 erfüllt sich Son Michael Phams größter Wunsch: Seine Eltern wollen im Herbst 2005 zum ersten Mal seit 30 Jahren nach Vietnam reisen, in ihre Heimat. Sie wollen dort ihre Goldene Hochzeit feiern. Z uvor sollen sie es sich noch so richtig gut gehen lassen. Zum Muttertag schenken Son Michael und seine Schwester Sheryl den Eltern eine Kreuzfahrt. Mit Sheryl, deren Tochter und einer Freundin besteigen Hue Pham, 71, und seine Frau Hue Tran, 67, am Sonntag, dem 9. Mai 2005, in San Juan, Puerto Rico, das Kreuzfahrtschiff „Destiny“, das Carnival gehört. Zu fünft beziehen sie eine Kabine. Am Donnerstagabend, das Schiff nimmt Kurs auf Aruba, wollen sie zum Dinner, anschließend eine Varieté-Vorführung sehen. Die anderen schauen noch fern. Es ist der 12. Mai 2005, 19.20 Uhr. Das Ehepaar Pham wird nie mehr gesehen. Um kurz vor Mitternacht klingelt das Telefon in der Kabine. Front Desk, man habe da etwas für sie. Sheryl Pham geht zur Rezeption, ein Steward gibt ihr ein Plastiksäckchen, darin die Sandalen ihrer Eltern und der Geldbeutel der Mutter. Das habe man an Deck gefunden. Am nächsten Morgen bekommt Son Michael Pham einen Anruf seiner Schwester: Die Eltern sind verschwunden. Die Crew habe vier Stunden gewartet, bevor die Küstenwache alarmiert worden sei, das Fotos: bw photoagentur, intertopics/landov(2), agentur Bischoff So sieht die höchste Priorität in der Praxis aus: Das Ehepaar Brich* bucht drei Tage, Kiel–Oslo und zurück, auf der „Color Fantasy“ der Color Line Reederei; „mit Autodeck, mit Spa und Fitnesscenter, Einkaufspromenade, Aqualand, Golf simulator und acht verschiedenen Restaurants“, wie es auf der Homepage steht. Ein Casino gibt es für die 2750 Passagiere auch, und einen „Adventure Planet“. Tolles Angebot, denken sich die Brichs und kaufen im Internet zwei Tickets à 99 Euro. Am 4. November 2007 stehen sie in der Halle am Kai, um die Tickets abzuholen. Da Frau Brich keinen Pass dabeihat, geht Herr Brich allein an den Schalter. Er legt den Reservierungsausdruck vor und bekommt die zwei Tickets. Er muss weder sich noch seine Frau mit einem Ausweis oder Pass identifizieren. Vor der Brücke befindet sich eine kleine Schranke wie in der Pariser Metro, die sich öffnet, als sie ihre Tickets hineinschieben. Es gibt keinen Metalldetektor und kein Röntgengerät, niemand kon trolliert Mäntel oder Koffer. Pünktlich um zwei legt das Schiff ab. Hätte Herr Brich statt seiner Frau einen Terroristen, Gangster oder Drogendealer mitgenommen, niemand hätte es bemerkt. Am nächsten Morgen um neun Uhr Ankunft in Oslo. Das Ehepaar Brich verlässt das Schiff, ihr Gepäck bleibt an Bord. Wäre in ihrem Koffer eine Bombe, dann, ja, was dann? „Die Leute gehen auf ein Schiff und denken: Wenn was passiert, rufe ich die Polizei. Aber auf See gibt es keine!“, schreibt Charles Lipcon in seinem Buch „Unsafe on the High Seas“. Der Anwalt aus Miami ist mit Mandaten von Kreuzfahrt opfern reich geworden. Auf seiner Website cruisebruise.com werden die Listen der Vorfälle täglich länger. Er berät nicht nur Angehörige von Vermissten, sondern auch Frauen, die von Crew-Mitgliedern vergewaltigt, und Passagiere, die an Bord krank wurden und keine ausreichende medizinische Versorgung bekamen. „Auf einem Schiff mit einer Kapazität von 2500 Passagieren gibt es durchschnittlich einen Sicherheitschef, der acht Sicherheitsoffiziere beaufsichtigt, die in Schichten arbeiten, sodass nie mehr als vier auf einmal on duty sind.“ Für den Experten ist klar, dass die Vermissten Opfer von Verbrechen wurden, deren Ursache das Personal ist. Die BBC-Dokumentation „The Price of Fun“ deckte letztes Jahr auf, dass niedere Angestellte wie Barkeeper, Zimmermädchen oder Schiffswarter meist aus Dritte-Welt-Ländern kommen. Um einen Job auf See zu ergattern, kaufen sie sich mit bis zu 2 000 Dollar ein, unter der Hand. Obwohl die Kreuzfahrtgesellschaften versichern, dass ihre Angestellten ausgeruht sind, arbeiten die meisten 18 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, bis zu zehn Monate am Stück. Ihr Verdienst ist oft nicht höher als 50 Dollar im Monat. Sie sind auf Trinkgelder angewiesen und müssen davon ihre Familien ernähren. Diese Crew betreut Gäste, die viel Geld mitbringen, in Abendroben dinieren und Schmuck ins Casino ausführen. Erste Welt prallt auf Dritte Welt, die einen lassen es krachen, die anderen rackern ums Überleben. Die einen schlafen in feinen Suiten, die anderen in Kojen unter Deck, zu denen der Zutritt verboten ist. Und wenn etwas passiert? „Für die Sicherheit an Bord ist allein die Reederei verantwortlich“, sagt Volker Schellhammer vom Bundesamt für Seeschifffahrt in Hamburg. Schiff sei einfach weitergefahren. Auch über die Lautsprecher habe man keine Durchsage machen wollen, es sei schon spät gewesen, man habe die anderen Passagiere nicht wecken wollen. Nach 13 Stunden sei die Suche für beendet erklärt worden. Son Michael fliegt nach Westminster, findet kein An zeichen für einen Freitod. Er ruft bei Carnival an, die sagen, dies sei Sache der Behörden. Er ruft beim FBI an, die sagen, sie würden ihr Bestes tun. Selbstmord schließt Pham aus, spricht von rassistischen Kommentaren vor dem Verschwinden, von einem Angestellten, der in der Kabine geschnüffelt habe, will aber nicht spekulieren. „Ich sage mir immer: Mum und Dad waren zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Von Carnival bekommt er keine Hilfe. Mit Ken Carver gründet Son Michael Pham im Januar 2006 den Verein International Cruise Victims. Auf ihrer Website publizieren sie Vorfälle und geben Opfern Ratschläge. Sie haben eine Notfallnummer angegeben, zu Son Michael Phams Handy. „Schuld ist ein System, das von der Politik seit Jahrzehnten geduldet wird“, so Pham. Um die hohen Kosten für ihre Schiffe wieder reinzuholen, sparen die Kreuzfahrtlinien, wo sie nur können. Ihre Schiffe fahren unter Flaggen von Ländern wie Liberia, Panama oder den Bahamas. So umgehen sie enorme Steuerzahlungen und Arbeitsgesetze von Ländern wie Deutschland oder den USA. Sie engagieren billiges Personal und investieren in Werbung und Lobbyarbeit, um das Event und den romantischen Traum Kreuzfahrt zu propagieren. „Die Kreuzfahrtgesellschaften versuchen, Vorfälle unter den Teppich zu kehren, weil sie nichts mehr fürchten als schlechte Presse. Sie profitieren davon, dass die Angehörigen nicht wissen, an wen sie sich wenden sollen. Bei Vermissten heißt es immer: Es spricht viel für Selbstmord. In dieser In dustrie geht es um Milliarden, sie hat eine sehr effektive Lobby“, sagt Ken Carver. Viermal haben Carver, Son Michael Pham und ihre Leidensgenossen schon vor dem Kongress in Washington D. C. ausgesagt und einen Zehn-Punkte-Plan eingereicht, der die Sicherheit der Passagiere verbessern soll. Kleine Erfolge stellen sich ein: Ken Carver war bei Senator John Kerry, der fordert, dass unabhängige Sicherheitsleute verbindlich mit auf See müssen. Die Medien greifen das Thema auf, der Guardian in London berichtet, die L. A. Times, Son Michael Pham war bei Nancy Grace auf CNN. Ross Klein führt auf seiner Website cruisejunkie.com eine Statistik über die Opfer. Sein Buch „Cruise Ship Squeeze: The New Pirates of the Seven Seas“ deckt die Machenschaften der Kreuzfahrtindustrie auf. „Unsere einzige Chance ist die Öffentlichkeit. Wir stellen fest, dass die Big Player hier in Amerika Imageprobleme bekommen, weshalb sie ihre Schiffe häufiger nach Europa oder Asien schicken. Unsere Arbeit ist nicht umsonst“, sagt Carver. Seine Frau Carol, die in der Küche das Abendessen zubereitet, glaube immer noch, dass ihre Merrian wieder nach Hause kommt. Er wolle dabei helfen. Von Cunard hört die Familie L. nur noch einmal etwas. Per Post kommt ein Scheck über die Summe, die Sabine L. für ihren Traum der Kreuzfahrt bezahlt hat. Ihr Verschwinden ist, so die Logik der Linie, umsonst. Das längste Passagierschiff der Welt, die „Queen Mary 2“, gehört zum Kreuz fahrtkonzern des Amerikaners Micky Arison. Seine Carnival Corporation beherrscht 50 Prozent des Marktes und erzielte 2006 sage und schreibe 2,3 Milliarden Dollar: Überschuss Das größte Passagierschiff der Welt, die „Freedom of the Seas“, hält sich Arisons Landsmann und Konkurrent Richard D. Fain. Seine Royal Caribbean Cruise Line hat einen Marktanteil von 30 Prozent. Beide Gesellschaften werden an der New Yorker Börse geführt *Name von der Redaktion geändert 72 73