c - Didaktische Analyse von Musik

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c - Didaktische Analyse von Musik
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Verbindliche Unterrichtsinhalte im Fach Musik für das Abitur 2014
I. Musik im Spannungsfeld gesellschaftspolitischer Entwicklungen:
Komponieren als Ausdruck der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen
und künstlerischen Konventionen
Der Komponist an der Schwelle zum bürgerlichen Zeitalter
- Ludwig van Beethoven: Sinfonie Nr. 3, 1. Satz
- Franz Schubert: Der Wanderer
Musik als Zeugnis gesellschaftspolitischen Engagements
- Kurt Weill: Ballade von der Seeräuberjenny
- Jimi Hendrix: Star Spangled Banner
- Public Enemy: Fight The Power
Im Leistungskurs zusätzlich:
- Hans Werner Henze: El Cimarrón
Im Leistungskurs zusätzlich:
Musikalisch-künstlerische Auseinandersetzung mit existentiellen Fragen
- Sofia Gubaidulina: Violinkonzert „In tempus praesens“ (2007)
II. Ästhetische Kategorien musikalischer Komposition:
Musik zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit
Reduktion und Konzentration
- Arnold Schönberg: op. 19.2 und 19.6
Rückbesinnung und Traditionsbezug
- Igor Strawinsky: Pulcinella-Suite, Ouvertüre
- Sergei Prokofjew: Sinfonie Nr. 1, 1. Satz
Sachlichkeit und Realismus
- Alexander Mossolow: Die Eisengießerei op. 19
Im Leistungskurs zusätzlich:
- Paul Hindemith: Kammermusik Nr. 1, Finale 1921
3/3
Adaption und Integration
- Béla Bártok: Wie ein Volkslied, Mikrokosmos Nr. 100
Im Leistungskurs zusätzlich:
- George Antheil: A Jazz Symphony
III. Neue Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten:
Auswirkungen neuer Technologien auf musikalische Gestaltung
Elektronische Komposition als Überwindung traditionellen Materialdenkens
- Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge
Elektronik Pop als Ideengeber für Hip Hop und Techno
- Kraftwerk: Trans Europa Express (Album: Trans Europa Express. Kling
Klang/EMI 1977)
- Numbers (Album: Computerwelt. Kling Klang/EMI 1981)
DJing und Sampling in Techno und House als Ausgangspunkt elektronischer
Tanzmusik
- Steve “Silk” Hurley: Jack Your Body (Album: The Real Classics Of Chicago 2.
ZYX 2003)
- Underground Resistance: Final Frontier (Album: Final Frontier. MP3Download, 2001)
Im Leistungskurs zusätzlich:
Fusion als technische und künstlerische Öffnung im Jazz
- Miles Davis: Miles Runs The Voodoo Down (Album: Bitches Brew, 1970)
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Materialien zum Zentralabitur Musik 2014 NRW
Teil c
Verbindliche Inhalte
Möglicher unterrichtlicher Kontext
Webern: op 27, 1. Satz
Brahms: Intermezzo op. 116, Nr. 5
Stockhausen: Studie II
Elektronische Komposition als Überwindung traditionellen
Materialdenkens
Erfreue dich, Himmel
- Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge
Steve Reich: Piano Phase
OO-YA! Mustapha Tetty Addy –master drummer from Ghana
Jean-Michel Jarre: Oxygène
Elektronik Pop als Ideengeber für Hip Hop und Techno
- Kraftwerk: Trans Europa Express (Album: Trans Europa
Express. Kling Klang/EMI 1977)
- Numbers (Album: Computerwelt. Kling Klang/EMI 1981)
DJing und Sampling in Techno und House als Ausgangspunkt
elektronischer Tanzmusik
- Steve “Silk” Hurley: Jack Your Body (Album: The Real
Classics Of Chicago 2. ZYX 2003)
- Underground Resistance: Final Frontier (Album: Final
Frontier. MP3-Download, 2001)
Im Leistungskurs zusätzlich:
Fusion als technische und künstlerische Öffnung im Jazz
- Miles Davis: Miles Runs The Voodoo Down (Album: Bitches
Brew, 1970)
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Anton Webern: Variationen für Klavier op. 27 (1936), 1. Satz
Die normale Notation gibt Musik hinsichtlich ihres räumlichen und zeitlichen Verlaufs sehr unpräzise wieder:
Die Takte sind unterschiedlich breit, die Abstände zwischen den Sechzehntelimpulsen also ungleich. Schlimmer ist es noch mit den
Tonhöhen: Das f’ im 1. Takt der rechten Hand liegt z.B. viel höher als das g’ im 2. Takt der linken Hand. In T. 4 (l. H) erscheint das
gis’ wegen des Schlüsselwechsels viel tiefer als es in Wirklichkeit ist.
Um die räumlich-zeitliche Struktur angemessen abzubilden, muss man die Noten in ein 11-Linien-Raster (= 2 fünflinige Zeilen mit
einer gedachten c’-Hilfslinie) bringen:
Jetzt kann man die Strukturen exakt abbilden:
Im Grafikprogramm stellt man die einzelnen Schichten auf verschiedenen Ebenen dar. Im Unterricht kann man dasselbe durch
übereinander gelegte Folien (overlay) erreichen.
Die Zahlen zeigen den zwölftönigen Reihenablauf:
Grundreihe (rot): r. H. (T. 1-3) Töne 1→6, dann l. H. (T. 4-7) Töne 7→12
Krebs der Grundreihe (braun): l. H. (T. 1-4) Töne 12→7, dann r. H. (T. 5-7) Töne 6→1.
In der Mitte von T. 4 ist die vertikale Spiegelachse: wenn man hier die Folie faltet, sind beide Seiten deckungsgleich.
Löst man die Ebene ab, sieht man die Struktur:
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Diese Darstellungsform zeigt, wie Webern mit Spiegelungen und Überkreuzungen arbeitet und wie er dabei die Reihenstruktur mit
der ‚Gestalt’, der wahrnehmbaren Form des Stückes, verbindet. Die Reihen selbst bleiben zwar nicht wahrnehmbare Substrukturen –
so wie man dem Kölner Dom die komplexen Konstruktionsprinzipien auch nicht direkt ‚ansieht’ -, aber die Figuren, denen sie
eingeprägt sind, sind sehr wohl wahrnehmbar. Das wird deutlich, wenn man die Reihenstruktur so abbildet, dass die das ganze Stück
bestimmenden Zweiton-Einton-Gruppen (als ‚Dreiecke’) sichtbar werden:
Man sieht: Spiegelungen und Überkreuzungen bestimmen in vielen Varianten auch die Formdetails. Und man kann sie – mindestens
teilweise – auch hören. Es wäre ein völlig falsches Verständnis von Weberns Musik, wenn man sie – wie es in der seriellen Phase der
50er und 60er Jahre üblich war – als rein konstruktive Hirnmusik ansähe. Webern selbst hat sich der klassisch-romantischen
Tradition verpflichtet gefühlt.1 Sein op. 27 lässt sich wie ein Stück von Brahms hören:2
Johannes Brahms: Intermezzo op. 116 Nr. 6
http://www.youtube.com/watch?v=7HZdSxVjgi4
Und es ist genau wie dieses Ausdrucksmusik. Konstruktion und Ausdruck sind in der Musik keine Gegensätze. Das zeigt nicht nur
der Bericht Peter Stadlens (s. Anm. 2). Von Schönberg übernimmt Webern die Unterscheidung zwischen der Art, wie ein Stück
gemacht ist und dem, was es ist. Beides ist gleich wichtig. Für den Interpreten (und den Hörer) allerdings ist das Zweite wichtiger.
Damit wird die Machart, die Konstruktion nicht abgewertet. Sie ist unverzichtbar für den Komponisten, wenn er seinem Werk innere
1
"Ich sprach von der Ausbildung der Melodie, der Begleitung. Man suchte Zusammenhänge in der Begleitung zu schaffen, thematisch zu arbeiten,
alles aus Einem abzuleiten und so den engsten - größten - Zusammenhang herzustellen. Und nun ist alles aus dieser gewählten Folge von zwölf Tönen
abgeleitet, und auf dieser Basis spielt sich wie früher das Thematische ab. Aber - der große Vorteil ist der, dass ich das Thematische viel freier
nehmen kann. Denn mir ist der Zusammenhang vollkommen gewährleistet durch die zugrunde liegende Reihe. Es ist immer Dasselbe, und nur die
Erscheinungsformen sind immer andere. - Das hat etwas Nahverwandtes mit der Auffassung Goethes von den Gesetzmäßigkeiten und dem Sinn, der
in allem Naturgeschehen liegt und sich darin aufspüren lässt. In der »Metamorphose der Pflanze« findet sich der Gedanke ganz klar, dass alles ganz
ähnlich sein muss wie in der Natur, weil wir auch hier die Natur dies in der besonderen Form des Menschen aussprechen sehen. So meint es
Goethe…“
Aus: Anton Webern: Der Weg zur neuen Musik (Vorträge von 1932/33), hg. von Willi Reich, Wien 1960, S. 43 und 60.
2
'Wenn er sang und schrie, seine Arme bewegte und mit den Füßen stampfte beim Versuch, das auszudrücken, was er die Bedeutung der Musik
nannte, war ich erstaunt zu sehen, dass er diese wenigen, für sich allein stehenden Noten behandelte, als ob es Tonkaskaden wären. Er bezog sich
ständig auf die Melodie, welche, wie er sagte, reden müsse wie ein gesprochener Satz. Diese Melodie lag manchmal in den Spitzentönen der rechten
Hand und dann einige Takte lang aufgeteilt zwischen linker und rechter. Sie wurde geformt durch einen riesigen Aufwand von ständigem Rubato und
einer unmöglich vorherzusehenden Verteilung von Akzenten. Aber es gab auch alle paar Takte entschiedene Tempowechsel, um den Anfang eines
»neuen gesprochenen Satzes« zu kennzeichnen... Gelegentlich versuchte er, die allgemeine Stimmung eines Stückes aufzuzeigen, indem er das quasi
improvisando des ersten Satzes mit einem Intermezzo von Brahms verglich, oder den Scherzocharakter des zweiten mit der Badinerie von Bachs
h-moll-Suite, an die er, wie er sagte, bei der Komposition seines Stückes gedacht hatte. Aber die Art, in der dieses aufgeführt werden musste, war in
Weberns Vorstellung genau festgelegt und nie auch nur im geringsten der Stimmung des Augenblicks überlassen... Nicht ein einzigesmal berührte
Webern den Reihenaspekt seiner Klaviervariationen. Selbst als ich ihn fragte, lehnte er es ab, mich darin einzuführen - weil es, sagte er, für mich
wichtig wäre, zu wissen, wie das Stück gespielt wird, nicht wie es gemacht worden ist."
Brief vom 16. 10. 1937. Aus dem Englischen übersetzt von Walter Kolneder in seinem Buch: Anton Webern, Köln 1961, S. 128/129.
Peter Stadlen hat Weberns op. 27 am 27. 9. 1937 uraufgeführt. Webern hat mehrere Wochen lang viele Stunden mit ihm an dem Werk gearbeitet.
1979 hat Stadlen bei der Universal Edition (Nr. 16845) Wien eine interessante Neuausgabe des Werkes mit den Interpretationsvorstellungen Weberns
herausgebracht.
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Stimmigkeit und Gültigkeit über den konkreten Anlass hinaus geben will. Auch der Kölner Dom verdankt sich ja nicht einer locker
mal so hingeworfenen Entwurfszeichnung.
Es ist unmöglich, alle Feinheiten des Stückes zu beschreiben und zu verbalisieren. Das Bemühen um das Sichtbarmachen von
Strukturen und Gestalten führt aber zu Ergebnissen, die etwas von der Schönheit der Form und der feinen Differenzierung des
Ausdrucks vermitteln.
Dazu einige wenige Gedanken:
Man sieht, wie in den obigen vier Zeilen die Anfangsgestalt (T. 1-7) auf vielfältige Weise ’variiert’ wird. Auf die zarte, pp gespielte
Eingangsversion folgt eine sehr komprimierte, ineinander gestauchte zweite. Der strukturellen Verdichtung entspricht eine
Intensivierung des Ausdrucks. Indizien sind die Anhebung der Lautstärke (p) und der Wegfall der atmenden Pause in dem Mitte. Die
3. Version mit ihrem Forte-Beginn gleicht einem Ausbruch nach dem Stau. Das Gleichgewicht geht verloren. Die von der
Spiegelungsstruktur her vorgesehene Rückkehr zu den Ausgangstönen wird hier hinsichtlich der Tonorte zwar beibehalten, aber
durch die Oktavversetzung des letzten Glieds gleichzeitig konterkariert. Es entsteht insgesamt eine fallende Linie, die Resignation
andeuten könnte. Dynamisch entspricht dem das Diminuendo. Die 4. Version ist der zweiten fast genau gleich. Die Wiederholung
stellt den Versuch dar, das Gleichgewicht zurück zu gewinnen. Der Unterschied zur 2. Version ist die wieder gewonnene Pause in
der Mitte. Dafür musste der vorhergehende Teil noch stärker gestaucht werden. Die Pause ist im Zusammenhang mit dem Ritardando
wieder ein ‚sprechendes’ Ausdruckmoment: ein Atemholen vor der zarten Schlussgeste.
Damit ist das Stück nicht „erklärt“, so dass weitere oder andere Überlegungen und Erfahrungen überflüssig wären. Der Sinn solcher
Bemühungen, die sich angesichts der Komplexität der Musik und des Rezeptionsvorgangs immer nur auf Teilstücke und Teilaspekte
beziehen können, ist es, Neugier zu wecken, offenes Verhalten zu befördern. Es wird in der Musik ja nicht anders sein als beim
Kölner Dom. Das Hören eines Vortrags oder die Lektüre eines Aufsatzes über die zahlensymbolisch und theologisch verschlüsselten
Proportionen dieses Bauwerks wird wahrscheinlich doch ein neues und intensiveres Sehen zur Folge haben.
http://www.youtube.com/watch?v=OH9caJMOzwE
„Aber Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet“; Weisheit Salomon 11,20
“Gott geometrisiert fortwährend“; Platon 427 - 347 v. C.
“Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben“; Galileo Galilei 1564 - 1642
“Die Geometrie ist vor Erschaffung der Dinge gleich ewig wie Gott selbst und hat ihm die Urbilder geliefert für die
Erschaffung der Welt“; Johannes Kepler 1571 - 1630
Zit. nach http://www.kurtjauch.ch/index.php?option=com_content&task=view&id=14&Itemid=27
In unserer Zeit entdeckt man dieses uralte Wissen um die vollkommene Ordnung der Natur wieder in den Fraktalen:
vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Fraktal
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Stockhausen: Studie II (1954), 1. Partiturseite (von Stockhausen nachträglich erstellt)
http://www.youtube.com/watch?v=hXqvBvOXV3U
Übertragung des Anfangs in Noten (Hans Martin Stroh3):
Die Zahl 5 bestimmt die ganze Struktur:
Die 81 Tonhöhenlinien (= Sinustöne) im Frequenzbereich von 100 – 17200 Hz stehen im konstanten Intervallverhältnis von 25√5 (=
1,0665). Das liegt minimal neben dem Halbtonabstand der gleichschwebend temperierten Stimmung (12√2 = 1,06).
Alle Tongemische (= Rechtecke) bestehen aus 5 Sinustönen
Es gibt 5 verschiedene Tongemische von unterschiedlicher Höhe: I: die jeweils nächsten Sinustöne, I: die jeweils übernächsten usw. Das
ergibt insgesamt 193 verschiedene Tongemische.
Die Tongemische bilden Gruppen von 1 bis 5 Einzelgemischen.
Jede Periode besteht aus 5 unterschiedlichen Tongemischen.
5 Perioden bilden eine Textur.
Das Stück besteht aus 5 Texturen.
Die Tondauern sind im Mittelbereich der Partitur angegeben. Auch sie folgen seriellen Zahlenfolgen.
Im unteren Bereich der Partitur sind die Dynamikkurven angegeben.
Magisches Quadrat4 (im antiken Pompeji gefunden):
R
O
T
A
S
O
P
E
R
A
T
E
N
E
T
A
R
E
P
O
S
A
T
O
R
von unten gelesen:
Der Sämann (= Schöpfergott) Arepo (unbekanntes Wort, Krebs von opera, Chiffre für den unbekannten Gott) hält durch seine Mühe die
Räder (= Gestirne, Planeten). Dasselbe ergibt sich, wenn man von rechts nach links liest. Es handelt sich also um ein vierfaches
Palindrom. Die Zahl 5 ist in diesem uralten 5x5-Quadrat ebenso form- und strukturbestimmend wie in Stockhausens Studie II.
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Zur Soziologie der elektronischen Musik, Zürich 1975, S. 92
ausführliche Analyse http://www.decemsys.de/sator/satorqu.htm
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Karlheinz Stockhausen: Studie II (1954)
Für den Unterricht reduzierte grafische Verlaufsskizze
grau: Tongemisch I
gelb: Tongemisch II
grün: Tongemisch III
blau: Tongemisch IV
rot: Tongemisch V
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Die Zahl 5 bestimmt die gesamte Struktur des Stückes:

Stockhausens Partitur umfasst 81 Höhenlinien (= Sinustöne) im Frequenzbereich von 100 – 17200 Hz. Sie stehen im konstanten
Intervallverhältnis von 25√5 (= 1,0665), in Hertzzahlen also 100 107 114 121 129 usw. Diese Abstände liegen minimal
neben dem Halbtonabstand der gleichschwebend temperierten Stimmung (12√2 = 1,06). Die Sinustöne treten an die Stelle der
(aus Teiltönen zusammengesetzten) Töne in der traditionellen Musik.

5 Sinustöne bilden ein Tongemisch. Das Tongemisch entspricht in der traditionellen Musik dem Akkord.

Es gibt 5 Arten von Tongemischen. In der Grafik erscheinen sie als verschiedenfarbige Rechtecke:
I
II
III
IV
V




(grau):
(gelb):
(grün):
(blau):
(rot):
nebeneinander liegende Sinustöne,
die jeweils übernächsten Sinustöne,
z. B.:
z. B.:
z. B.:
z. B.:
z. B.:
100
100
100
100
100
107
114
121
129
138
114
129
147
167
190
121
147
178
217
263
129
167
217
280
362
Die Tongemische bilden 5 Gruppen: Gruppen aus 1, 2, 3, 4 oder 5 Tongemischen.
5 (verschiedene) Gruppen bilden eine Periode. In der 1. Periode am Anfang folgen z. B. aufeinander: Zweier–, Vierer-, Fünfer-,
Dreier- und Einer-Gruppe. Dabei gehören diese Gruppen jeweils auch einer anderen Tongemisch-Art (I, II, III, IV, V) an.
5 Perioden bilden eine Textur. In der Grafik werden sie durch schwarze römische Ziffern angezeigt.
Das Stück besteht aus 5 Texturen.
Die weiteren sehr komplizierten seriellen Ordnungssysteme in den verschiedenen Parametern bis hin zum Lautstärkeprofil können
mit Hilfe dieser Grafik nicht analysiert werden. Sie eignen sich auch nicht für den Unterricht in der Schule. Was die Grafik leisten
kann, ist etwas viel wichtigeres. Sie kann helfen bei der Beantwortung der Frage, wie denn aus einem solch rigiden seriellmathematischen Konstrukt ‚Musik’ im Sinne einer ästhetischen, wahrnehmbaren Klangform werden kann.
Die Grafik dient zunächst als Hörhilfe. Es bedarf einiger Übung, bis es gelingt, sie mitzulesen. Dadurch wird man auch vorsichtig
weggeführt von den ersten abwehrenden Assoziationen (‚jaulende Hunde’ u. ä.). Voraussetzung für differenzierte ästhetisches
Erleben ist ja, dass man überhaupt erst einmal etwas – relativ vorurteilsfrei – wahrnimmt.
Sie hilft auch beim Formhören / Formlesen und der Beantwortung grundlegender Fragen: Kann man etwas von den
Ordnungsprinzipien hören. Kann man z. B. die 5 Texturen hörend/lesend – wenigstens ansatzweise – unterscheiden? Hat der
Gesamtverlauf so etwas wie eine nachvollziehbare Form, einen Spannungsbogen? u. Ä.
Beschreibung und Deutung sind dabei eng miteinander verknüpft. Ein vorsichtiges Ergebnis könnte so aussehen:
FORMTEILE/TEXTUREN:
I: zur ‚Linie’ verbundene Einzel-Tongemische, lange Dauern, kleine Abstände
II: ‚Akkorde’ (= übereinander geschichtete Tongemische), kurze Dauern, kleine Abstände
III: ‚punktuelles’ Klangfeld aus Einzel-Tongemischen, sehr kurze Dauern, große Abstände, zerklüftet
IV: ‚Akkorde’, sehr lange Dauern, ‚weiter’ Klang, große Abstände
V: Elemente aus I-IV gemischt: ‚Reprise’/Zusammenfassung
Das Stück hat also eine sehr ausgeprägte Physiognomie, ein „Gesicht“ im Sinne einer abwechslungsreich konturierten und doch
geschlossenen ‚Klang-Gestalt’.
Im Gegensatz zur französischen „musique concrète“, die Klänge aus Natur, Technik und Umwelt mit Hilfe der Tonbandtechnik als
Material benutzte, beschränkt sich die Kölner Schule mit Herbert Eimert und Karlheinz Stockhausen auf synthetische Klänge, da sie
die totale Kontrolle über alle Parameter ausüben und unabhängig von vorgegebenen Strukturen und Bedeutungen sein wollten.
In seinem 1955/56 entstandenen „Gesang der Jünglinge“ öffnete sich Stockhausen für traditionelles musikalisches Material, die
menschliche Stimme. Um das Problem der Verbindung von Musik und Sprache im „Gesang der Jünglinge“ besser verstehen zu
können, soll es zunächst an einem herkömmlichen Lied mit einer vergleichbaren Textgrundlage aufgearbeitet werden.
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„Erfreue dich, Himmel“
T: Straßburg 1697, M: Augsburg 1669 und Bamberg 1691
Hubert Wißkirchen 06.03.2007
Was macht die Verbindung von Text und Musik so interessant, dass sie in allen Kulturen zum Kernstück musikalischer Gestaltungen
gehört? Sprechen und Singen sind genetisch sicherlich untrennbar miteinander verbunden. Noch bei den Griechen der Antike
bezeichnete der Begriff μουσική nicht die Musik im heutigen Sinne, sondern die Musenkunst, den Zusammenhang von Musik, Tanz
und Poesie. Die spätere Spezialisierung der Sprache und der Musik wurde immer auch als ein partieller Verlust empfunden: Der
Musik fehlt nun weitgehend die Mitteilungsfunktion und die Sprache hat viele Elemente der emotionalen und assoziativen
Differenzierung aufgegeben. Gesungen statt gesprochen wird also immer, wenn es um mehr geht als bloßen Informationsaustausch
und begriffliche Verständigung. Deshalb hat auch die Dichtung in stärkerem Maße ‚musikalische’ Elemente beibehalten als die
Alltagssprache. Das zeigt deutlich der Liedtext:
Erfreue dich, Himmel, erfreu - e dich, Erde
           
erfreue sich alles, was fröhlich kann werden.
         
Auf Erden hier unten, im Himmel dort droben:
          
den gütigen Vater, den wollen wir loben.
         
Als bloße Mitteilung in der Alltagssprache (Prosa) könnte dieser Text so aussehen:
„Die Erde, der Himmel und alles, was dazu fähig ist, soll sich freuen. Und auch wir wollen den gütigen Vater loben.“
Wenn man diesen schriftlich fixierten Prosa-Text stumm liest, versteht man, worum es geht. Er vermittelt aber auch etwas, was über
das Denotative (konkret ‚Bezeichnende’) hinausgeht. Begriffe wie „Himmel“, „sich freuen“, „gütiger Vater“ lösen bestimmte
Konnotationen (‚Mitbezeichnetes’) aus, z.B. Gefühle und Assoziationen (Freude, Geborgenheit, Vorstellungen von der Größe und
Schönheit des Kosmos u. Ä.). Allerdings sind solche Anmutungen sehr subjektiv. Ein religiöser Mensch wird anders reagieren als ein
nicht religiöser, ein Mensch, der unter seinem Vater gelitten hat, anders als einer, der einen liebevollen Vater hatte.
Wenn man den Prosatext spricht bzw. hört, verstärken sich solche Konnotationen - und sie sind weniger subjektiv. Die Art, wie der
Text gesprochen wird (laut, leise, gehetzt, schnell, langsam, hoch, tief, begeistert, mitreißend …), setzt konkretere und intersubjektiv
ähnliche Vorstellungen in Gang. Diese musikalischen Elemente der gesprochenen Sprache bezeichnet man mit dem Begriff Prosodie
(„Bei-Gesang“). Man spricht auch von der Sprachmelodie, die sich vergleichbar der gesungenen Melodie im Tonraum und in der Zeit
bewegt, allerdings nicht mit festen, sondern mit gleitenden Tonhöhen.
Der Liedtext will aber mehr. Das zeigt seine ungewöhnliche Form: das dreimalige „erfreue“ (Anapher) vermittelt das Gefühl
übersprudelnder Freude. Das (chiastische, überkreuzte) Wiederholen der Begriffe Himmel - Erde und „oben“ -„unten“ verstärkt die
Raumkonnotationen. Die Reime sind ein zusätzliches klangmagisches Mittel, das die Wahrnehmung von der bloßen Erfassung der
‚Vokabeln’ zu einem ganzheitlicheren Eingestimmtwerden lenkt. Der rhythmische Fluss der Versfüße und Verse trägt das Ganze,
verwandelt es in eine strömende Bewegung, die den Sprecher und Hörer hinausführt aus der realen in eine transzendente Sphäre.
Die Musik verstärkt all diese Komponenten noch einmal:
Singen
Beim Singen wird die individuelle Sprachmelodie ersetzt durch eine musikalische Melodie, in die – bei einem Gemeinschaftslied jeder einzelne einstimmt. Er wird so Teil eines größeren Ganzen, das mehr ist als er selbst. Das gilt - in spezifischer Form und bei
verschiedener inhaltlicher Füllung - für Fußballfangesänge wie für Kirchenchoräle.
Takt
Der Dreiertakt (6/4-Takt = zwei ¾-Takte) ist keine gerade Linksrechts-Bewegung wie der ‚marschierende’ 2/4- oder 4/4-Takt. Die
Bewegung wird durch den zusätzlichen 3. Schritt (man denke an den Wechselschritt beim Walzertanzen) sozusagen angehalten oder
‚aufgehoben’, es entsteht ein Gefühl des Schwebens.
Man kann das leicht körperlich nachvollziehen indem man die folgende Vierertakt-Version des Liedes ‚marschiert‘
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
und anschließend die originale Dreier-Version im
Walzerschritt tanzt.
Beim Singen in der Kirche – speziell beim Sanctus - stimmt
der Mensch ein in den Lobgesang der himmlischen
Heerscharen und der ganzen Schöpfung, wozu auch der
Liedtext auffordert. Das ist etwas anderes als eine private
Gefühlsäußerung.
Rhythmik und Periodik
Die markanten punktierten Rhythmen geben dem strömenden Versfluss eine spezielle Charakteristik (‚Freude’) und tänzerischen
Schwung. Die immer gleich oder ähnlich repetierten Muster (Rhythmen – ρυθμός meint das Ebenmaß der Bewegung -, Phrasen,
Perioden und Strophen) bewirken ein anderes Zeitgefühl als das bei einem Prosatext der Fall ist. Diesen durchläuft man sozusagen
linear vom Anfang bis zum Ende, während beim Singen des Liedes ein zyklisches Zeitgefühl vorherrscht. Das einfachste Indiz dafür
ist die Art, wie wir den Zeitablauf, die Folge der Impulse, in der Musik erleben und ‚zählen’: nicht als linear weiterlaufende Folge,
sondern als kreisende Muster, in unserem Beispiel z. B. als
345612345612
345612345612
345612345612
345612345612
Dieses System entspricht sowohl dem Kreissystem des Tanzens, bei dem sich bestimmte Schrittfolgen periodisch wiederholen, als
auch dem Verssystem des Gedichtes. Versus (lat.) heißt ja Wendung und meint die Wiederkehr der Muster nach dem Zeilenumbruch.
Der ursprüngliche Zusammenhang mit dem Tanzen wird aufbewahrt in dem Begriff Versfuß.
Die Strophenform der Musik (die immergleiche Wiederholung der Melodie) versetzt in eine zyklische Zeit, die die ‚meditative’ Mitte
finden lässt, auf den auch die vielen Worte des Textes eigentlich zielen, denn die Aufzählung der vielen Einzelheiten ist Symbol der
umfassenden Fülle. Nicht der Sensus der Einzelbegriffe, sondern der Scopus, die Sinnmitte des Textes, bildet das Ziel solchen
Sprechens. Im Singen gelingt das ganz von selbst.
Musikalische Raumdisposition
Die den Text prägenden räumlichen Konnotationen bestimmen auch die Melodie. Sie nutzt dabei die durch die Tonleiter gegebene
tonräumliche Vorordnung:
ab
auf
auf
ab
(auf)/ab
ab
auf
ab
Die Melodie bewegt sich zunächst so, dass der untere Raum b-f’ und der obere Raum f’-b’ klar einander gegenübergestellt werden.
Der Kontrast wird verstärkt durch die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen (anfangs abwärts, dann über eine längere Strecke
aufwärts). In der Strophenmitte pendelt sich die Melodie auf dem Dominant- und Achsenton f’ ein, mit dem sie auch begonnen hatte.
Die (auch harmonische) Dominantspannung mündet in den neu ansetzenden Melodiebogen. Dieser wiederholt in etwa die bisherige
Entwicklung, allerdings auf einem höheren Niveau: tiefster Ton ist jetzt d’, höchster d’’. Die Raumkonnotationen werden dabei
intensiviert: Nach einem (nun längeren) Abstieg erfolgt ein (ebenfalls längerer) Anstieg, der sogar die bisherige obere
Tonraumgrenze spektakulär durchbricht, um dann den oberen Grundton b’ als Schlusston anzusteuern. Die Melodie spiegelt also
nicht nur das „Unten“-Oben“ des Textes, sondern in ihrem Gesamtverlauf vor allem den Vorgang der ‚Erhebung’. Und das trifft
genau den Scopus (Gesamtsinn, Kerngedanken) des Textes, der eine Paraphrase des Psalms 148 ist:
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Psalm 148
1 Halleluja! Lobt den Herrn vom Himmel her, / lobt ihn in den Höhen:
2 Lobt ihn, all seine Engel, / lobt ihn, all seine Scharen;
3 lobt ihn, Sonne und Mond, / lobt ihn, all ihr leuchtenden Sterne;
4 lobt ihn, alle Himmel / und ihr Wasser über dem Himmel!
5 Loben sollen sie den Namen des Herrn; / denn er gebot, und sie waren erschaffen.
6 Er stellte sie hin für immer und ewig, / er gab ihnen ein Gesetz, das sie nicht übertreten.
7 Lobt den Herrn, ihr auf der Erde, / ihr Seeungeheuer und all ihr Tiefen,
8 Feuer und Hagel, Schnee und Nebel, / du Sturmwind, der sein Wort vollzieht,
9 ihr Berge und all ihr Hügel, / ihr Fruchtbäume und alle Zedern,
10 ihr wilden Tiere und alles Vieh, / Kriechtiere und gefiederte Vögel,
11 ihr Könige der Erde und alle Völker, / ihr Fürsten und alle Richter auf Erden,
12 ihr jungen Männer und auch ihr Mädchen, / ihr Alten mit den Jungen!
13 Loben sollen sie den Namen des Herrn; / denn sein Name allein ist erhaben, / seine Hoheit strahlt über Erde und Himmel.
14 Seinem Volk verleiht er Macht, / das ist ein Ruhm für all seine Frommen, / für Israels Kinder, das Volk, das ihm nahen darf.
Halleluja!
Vers 13 („…sein Name allein ist erhaben, / seine Hoheit strahlt über Erde und Himmel“) fasst die vorausgehenden beiden Textblöcke
(1 – 6: lobt ihn in den Höhen / 7 -12: lobt den Herrn, ihr auf der Erde) zusammen („Erde und Himmel“) und überhöht das Gesagte
mit der Vorstellung des erhabenen, alles vorher Genannte überragenden Gottes. Die erste Strophe des Kirchenliedes entspricht
ziemlich genau diesem Psalmvers, wenn auch die Rede vom „gütigen Vater“ eine inhaltliche Akzentverschiebung vom
alttestamentlichen Herrschergott zum neutestamentlichen „Vater unser“ bedeutet.
Dazu passt genau, dass der höchste, nur einmal vorkommende Melodieton (d’’) genau auf das „den“ trifft. Das ist ein Zeichen dafür,
dass Gott die ‚höchste’ Stelle einnimmt. Es ist aber auch eine wunderbare rhetorische Geste: d e n – und keinen anderen! – wollen
wir preisen.
Allerdings ist das der einzige deutliche Synchronpunkt zwischen Text und Musik in diesem Lied. Dass es nicht mehr sind, liegt
daran, dass der Text einer älteren, schon bestehenden Melodie unterlegt ist, die Melodie also nicht auf diesen Text hin komponiert
worden ist. Der Textdichter kann, wenn er den Text mit Blick auf diese Melodie geschrieben hat - was ich nicht weiß - diesen
Synchronpunkt bewusst arrangiert haben, es kann sich aber auch um einen Zufall handeln. Geht man näher an das Lied heran und
betrachtet die Wort-Tonbeziehungen im einzelnen, ist man fast geschockt: Der Bewegungszug nach unten (zum absoluten Tiefton
des Liedes) trifft auf „Himmel“, und die hohe Tonlage auf „Erde“.
Müsste es nicht umgekehrt sein? Also so:
Die ganze Melodie könnte dann ‚richtigerweise’ so aussehen:
Man könnte sogar denken, dass bei dieser ‚richtigen’ Fassung im 2. Teil der Vorgang der ‚Erhebung’ noch deutlicher erfahrbar wird.
Dagegen könnte man einwenden, dass bei der durchgehenden Synchronisierung von Text und Musik, wie man sie aus MickeyMouse-Filmen kennt, die Vorstellungen zu sehr an den äußeren Details, den konkreten Textbildern, haften bleiben und nicht so
intensiv in den intendierten meditativen Bereich vordringen, der der menschlichen Anschauung nicht zugänglich ist. Die stetige
Verdopplung à la Mickey Mouse wirkt auch leicht aufdringlich-didaktisch und kann somit negativ ablenken.
Es ist bei Strophenliedern per se unmöglich, eine Melodie zu finden, die zu allen Textstrophen in gleicher Weise passt. Je mehr die
Melodie sich auf Einzelheiten einer Strophe einlässt, umso weniger passt sie zu anderen. Wichtig aber ist es, dass das Gesamtkonzept
der Melodie zum Scopus des Textes passt. Und das ist im vorliegenden Fall durchaus gegeben.
10
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Karlheinz Stockhausen: Gesang der Jünglinge (1955-56)
In seinem Gesang der Jünglinge benutzt Stockhausen ein ähnliches Loblied aus dem Alten Testament (Daniel 3,51-90):
Preiset (Jubelt) den (m) Herrn, ihr Werke alle des Herrn –
lobt ihn und über alles erhebt ihn in Ewigkeit.
Preiset den Herrn, ihr Engel des Herrn –
preiset den Herrn ihr Himmel droben.
Preiset den Herrn, ihr Wasser alle, die über den Himmeln sind –
preiset den Herrn, ihr Scharen alle des Herrn.
Preiset den Herrn, Sonne und Mond –
preiset den Herrn, des Himmels Sterne.
Preiset den Herrn, aller Regen und Tau –
preiset den Herrn, alle Winde.
Preiset den Herrn, Feuer und Sommersglut –
preiset den Herrn, Kälte und starrer Winter.
Preiset den Herrn, Tau und des Regens Fall –
preiset den Herrn, Eis und Frost.
Preiset den Herrn, Reif und Schnee –
preiset den Herrn, Nächte und Tage.
Preiset den Herrn, Licht und Dunkel –
preiset den Herrn, Blitze und Wolken.
Stockhausen vertont diesen Text nicht im herkömmlichen Sinne, sondern baut die sprachlichen Elemente als musikalisches Material
in eine elektronische Komposition ein. Er sieht aber ganz klar viele Elemente, die in der obigen Analyse von „Erfreue dich, Himmel“
offengelegt wurden, in ähnlicher Weise:
Karlheinz Stockhausen:5 (Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen 1957)
Primär handelt es sich im Text um 3 Worte (preiset den Herrn), die ständig wiederholt und in deren Zusammenhang allerlei Dinge
aufgezählt werden. Es ist klar, dass man diese Aufzählung beliebig fortsetzen oder auch nach der ersten Zeile abbrechen sowie Zeilen
und Worte permutieren kann, ohne den eigentlichen Sinn zu ändern: »alle Werke«. Der Text kann also besonders gut in rein
musikalische Strukturordnungen integriert werden (vor allem in die permutatorisch-serielle) ohne Rücksicht auf die literarische
Form, auf deren Mitteilung oder anderes. Es wird mit den ‚Jünglingen‘ an ein kollektives Gedankengut erinnert: taucht irgendwann
das Wort >preist< auf und ein andermal >Herrn< — oder umgekehrt —, so erinnert man sich eines schon immer gekannten
sprachlichen Zusammenhangs: die Worte werden memoriert, und dabei geht es vor allem darum, dass sie überhaupt und wie sie
memoriert werden, und sekundär um den Inhalt im einzelnen; die Konzentration richtet sich auf das Geistliche, Sprache wird rituell.
Karlheinz Stockhausen:6 (Programmtext für die Uraufführung im WDR-Konzert Musik der Zeit am 30. 5. 1956)
Die Arbeit an der elektronischen Komposition GESANG DER JÜNGLINGE ging von der Vorstellung aus, gesungene Töne mit
elektronisch erzeugten in Einklang zu bringen: sie sollten so schnell, so lang, so laut, so leise, so dicht und verwoben, in so kleinen
und großen Tonhöhenintervallen und in so differenzierten Klangfarbenunterschieden hörbar sein, wie die Phantasie es wollte, befreit
von den physischen Grenzen irgendeines Sängers. So mussten auch sehr viel differenziertere elektronische Klänge komponiert
werden als bisher, da gesungene Sprachlaute wohl das Komplexeste an Klangstruktur darstellen – in der weiten Skala von den
Vokalen (Klängen) bis zu den Konsonanten (Geräuschen) – und also eine Verschmelzung aller verwendeten Farben in einer
Klangfamilie nur dann erlebbar wird, wenn gesungene Laute wie elektronische Klänge, wenn elektronische Klänge wie gesungene
Laute erscheinen können. Die gesungenen Klänge sind an bestimmten Stellen der Komposition zum verständlichen Wort geworden,
zu anderen Zeitpunkten bleiben sie reine Klangwerte, und zwischen diesen Extremen gibt es verschiedene Grade der
Wortverständlichkeit. Einzelne Silben und Worte sind dem Gesang der Jünglinge im Feuerofen (3. Buch Daniel) entnommen. Wo
immer also aus den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott.–
Ebenso wesentlich wie ein so neues Erlebnis musikalischer Sprache ist auch das Folgende: In dieser Komposition wird die
Schallrichtung und die Bewegung der Klänge im Raum erstmalig vom Musiker gestaltet und als eine neue Dimension für das
musikalische Erlebnis erschlossen. Der GESANG DER JÜNGLINGE ist nämlich für 5 Lautsprechergruppen komponiert, die um die
Hörer im Raum verteilt sein sollen. Von welcher Seite, von wie vielen Lautsprechern zugleich, ob mit Links- oder Rechtsdrehung,
teilweise starr und teilweise beweglich die Klänge und Klanggruppen in den Raum gestrahlt werden, das alles wird für dieses Werk
maßgeblich.
Stockhausen: Musik und Sprache III (1957):7
Der ‚Gesang der Jünglinge‘ ist in 6 ganz zusammenhängenden Texturen komponiert. Diese Formgliederung spürt man nun daran,
dass in jeder dieser längeren Texturen ‚preist‘ oder ‚jubelt‘ in Beziehung zu den Worten ‚den Herrn‘ ganz verständlich zu hören ist.
Das schafft Zusammenhang und überbrückt große Zeiträume. ....
In der Komposition sollten nun gesungene Töne zusammen mit elektronisch erzeugten in ein gemeinsames Klangkontinuum
eingeschmolzen werden: sie sollten so schnell, so lang, so laut und so leise, so dicht und verwoben, in so kleinen und großen
Tonhöhen- und Klangfarbenproportionen hörbar sein, wie die gewählte musikalische Ordnung es wollte.
http://www.youtube.com/watch?v=3XfeWp2y1Lk
5 K.H. Stockhausen: Texte zu eigenen Werken und zur Kunst Anderer. Aktuelles, Band 2, Köln 1964, S. 58ff.
6
7
http://www.festivaldemayo.org/fcmj2008/maz20.pdf
Frühjahr 1957, Vortrag bei den Darmstädter Ferienkursen. Zit. nach: K. Stockhausen: Texte zu eigenen Werken, zur Kunst Anderer, Aktuelles, Band
2, Köln 1964, S. 58ff.
11
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Grafische Veranschaulichung der ersten Minute: 8
sphärische Klänge:
punktuelles Klangfeld (Feuer?)
Tongemische ('Àkkorde`)
einzelne Tonpunkte
technische Manipulation der
Knabenstimme (extreme Höhe,
räumliche Ferne, 'körperloser' Klang =
"Engelsstimme"?)
Engelsmusik:
vgl. altklassische Polyphonie
(z. B. Ockeghems "Deo gratias mit 9
4stimmigen Chören9)
http://www.youtube.com/watch?v=1Ll
WhXNu_us
Ewigkeitssymbol ('lange Dauer')
8
9
Bozzetti, Elmar: Analyse in: Werkanalyse in Beispielen, Bosse-Verlag, Regensburg 1986, S.403
http://www.youtube.com/watch?v=1LlWhXNu_us
12
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
http://www.youtube.com/watch?v=3XfeWp2y1Lk
Textur
Zeit
Text
Merkmale (Stockhausen a.a.O.)
I
0‘0“
In der ersten Textur hört man in der Ferne (nach 10,5“) noch
undeutlich ‚jubelt‘.
II
1‘02“
III
2‘52“
IV
5‘15,5“
Preiset (Jubelt) den(m) Herrn, ihr Werke alle
des Herrn —
lobt ihn und über alles erhebt ihn in
Ewigkeit.
Preiset den Herrn, ihr Engel des Herrn —
preiset den Herrn ihr Himmel droben.
Preiset den Herrn, ihr Wasser alle, die über den
Himmeln sind —
preiset den Herrn, ihr Scharen alle des Herrn.
Preiset den Herrn, Sonne und Mond —
preiset den Herrn, des Himmels Sterne.
Preiset den Herrn, aller Regen und Tau —
preiset den Herrn, alle Winde.
Preiset den Herrn, Feuer und Sommersglut —
preiset den Herrn, Kälte und starrer Winter.
V
6‘22“
Preiset den Herrn, Tau und des Regens Fall —
preiset den Herrn, Eis und Frost.
Preiset den Herrn, Reif und Schnee —
preiset den Herrn, Nächte und Tage.
In der fünften Textur (ab 6‘22“), klingt mehrstimmig aus
großer Entfernung (bei 6‘52,5“) ‚Herrn preiset‘, dann ‚preiset
den Herrn‘ (bei 7‘20,5“ und bei 7‘51“).
VI
8‘40“
Preiset den Herrn, Licht und Dunkel —
preiset den Herrn, Blitze und Wolken.
In der sechsten Textur (ab 8‘40“) singt, in großem
Melodiebogen, eine Solostimme (bei 8‘42“) ‚jubelt dem
Herrn‘ und (bei 8‘51“) ‚preist‘, dann (bei 10‘50“) ‚ju -----belt‘.
In der zweiten Textur (ab 1‘02“) hört man, zunächst chorisch,
‚dem Herren jubelt‘, und bald darauf (nach 1‘8,5“ und nach
1‘58,5“) ganz nah, mit Solostimme, ‚preiset den Herren‘.
In der dritten Textur (ab 2‘52‘1) mit Solostimme ‚preiset den
Herrn‘.
In der vierten Textur (ab 5‘15,5“) singen viele Stimmen in
Akkorden ‚den Herrn preiset‘ (noch einmal bei 5‘46,5“).
Hans Peter Reutter:10
Im Prinzip wurde das Studio auf die Bedürfnisse der Komponisten zugeschnitten. Im Gegensatz zu Schaeffer arbeitete Eimert eher
puristisch: Er verwendete keine konkreten Geräusche, sondern schuf sich sein Tonmaterial selber mit Sinustongeneratoren und
Filtern – also mit reinen Schwingungen ohne Obertönen bzw. aus Klangrauschen, aus dem bestimmte Spektren herausgefiltert
wurden. In seinen ersten Arbeiten folgte Stockhausen diesen Vorgaben: seine zwei elektronischen Kompositionen I und II aus den
Jahren 1953 und 54 bauen ihre Klänge aus übereinandergeschichteten Sinustönen (also wenn man will, künstlich er-zeugten
unharmonischen Obertonspektren) und ihren Manipulationen: Schnitten, Überblendungen, Bandgeschwindigkeitsänderungen etc.
Gleichzeitig sind es keine reinen Klangexperimente, denn natürlich organisiert Stockhausen das Material streng seriell und zum
ersten Mal ist es ihm möglich, auch die Klangfarben (also die Sinustonschichtung) und die räumliche Zuordnung genau
mitzukomponieren.
Diese abstrakte Kompositionsweise schien ihm aber nicht genug zu sein und er strebte einer „Semantisierung“ der Klänge zu – auch
wenn seine Texte dieser Zeit das Gegenteil beteuern, aber wie gezeigt, war das Idealbild der Nachkriegszeit der kühle,
wissenschaftliche Ingenieur. Diesem Bild wollte Stockhausen wohl entsprechen und nach den Schrecken des Krieges hatte diese
Form der Abspaltung von den Gefühlen sicher auch etwas Therapeutisches. Sein nächster elektronischer Kompositionsplan war
ambitionierter als alles bisher Dagewesene: Sprach- und elektronische Klänge sollten gleichberechtigt nebeneinander stehen, ja sogar
mehr als das: stufenlos ineinander übergehen.
Dazu ließ er einen 12jährigen Knaben einzelne Phrasen oder gar Silben eines Textes aus den Apokryphen zum Buch „Daniel“ des
alten Testamentes einsingen, die als einzelne Schnipsel (im wahrsten Sinne des Wortes, denn eine Silbe ist nicht mehr als ein
Tonband-schnipsel!) erst im Studio zu einem musikalischen Ganzen zusammengefügt wurden. Stockhausen berichtet von dem
chaotischen Zustand im Studio zwischen Tonbandrollen und vom Klemmbrett herunterhängenden oder auf dem Boden liegenden
Schnipseln. Mehr als einmal ging die Arbeit mehrerer Tage verloren und die Fertigstellung zog sich über Jahre hin! Angeblich hätte
auch das Stück länger gehen können, aber irgendwann sei der Uraufführungstermin festgelegt worden – wobei diese Aussage eher
mit Vorsicht zu genießen ist. Sie wurde retrospektiv auf den „Gesang“ aufgepfropft, als Stockhausen die Idee der „Offenen Form“
formulierte. Das Stück selber erscheint nicht nur gefühlsmäßig sehr abgerundet. Der Lobgesang entstammt der recht bekannten
Legende der drei jüdischen Jünglinge, die sich weigerten, eine babylonische Götzenstatue anzubeten und deswegen in einen
Feuerofen gesteckt wurden. Im Ofen sangen und lobpreisten sie Gott und entkamen wundersamerweise unversehrt.
Hans Peter Reutter:11
Aber nicht genug der musikalischen und technischen Komplexität: zusätzlich zu allen klanglichen Formideen kommt eine räumliche
hinzu, die mit den damaligen technischen Möglichkeiten kaum realisierbar war. In der ursprünglichen Konzeption war das Stück für
5 Laut-sprechergruppen gearbeitet (Lautsprechergruppen wohl nur aus dem Grunde, weil die da-mals verwendeten Wattzahlen noch
nicht qualitativ oder lautstärkemäßig für eine Saalbeschallung mit 5 Einzellautsprechern ausreichten). Da noch keine
Mehrspurtonbänder verwendet wurden, mussten fünf Tonbandmaschinen synchronisiert werden – ein anfälliges und damals kaum
lösbares technisches Vorgehen. Von diesen 5 Klangquellen waren nun vier um das Publikum herum, die fünfte über dem Publikum
postiert (wenn da nicht biblische Assoziationen aufkommen bei Knabengesängen aus der Höhe…). Genau wie die Klänge war nun
auch die Positionierung der Klänge organisiert: ihre Zuordnung in ihre Richtung, aber auch ihr Wandern im Raum. Das war damals
sicherlich faszinierend anzuhören und machte bestimmt auch die Sterilität der Aufführung ohne live musizierende Interpreten wett.
10
11
http://www.satzlehre.de/themen/stockhausen.pdf
http://www.satzlehre.de/themen/stockhausen.pdf
13
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Und der andere Teil der Faszination hat mit dem Sujet selbst zu tun: Kaum ein anderes Werk der Tonbandkomposition hat einen
derart nachvollziehbaren universellen Charakter: technische Mittel und hörbarer „Inhalt“ (Lobpreis, Errettung aus Not) bilden eine
untrennbare und auch für des Deutschen nicht mächtige Hörer nachvollziehbare Einheit.
Stockhausen selbst legt in seinen Werkkommentaren keinen großen Wert auf die strukturelle Seite, lediglich zum sechsten Teil hat er
eine Analyse veröffentlicht, die den seriellen Charakter offen legt. Es gibt auch keine Partitur des Tonbandwerkes, lediglich das
Modulationsschaltbild.... Stockhausen gesteht in dem Artikel aus dem Jahre 1964 unumwunden den religiösen Charakter der Musik
ein: „Wo immer…aus den Klangzeichen der Musik für einen Augenblick Sprache wird, lobt sie Gott. …[Die Musik wird verstanden]
als Vorstellung jener umfassendsten ‚globalen’ Struktur…, in die alles einbezogen ist.“ Das zeigt: Bei aller Nüchternheit, mit der
Serialismus betrieben und beschrieben wurde, liegt ihm ein manchmal religiös motivierter Kern zugrunde: Das „Alles ist verschieden
und doch eins“ muss nicht nur technisch verstanden werden…
http://www.youtube.com/watch?v=FszVjp1F5rY
Wismeyers Kritik (s. u.) beruht auf rigiden (fast fundamentalistischen) Voreinstellungen. "Verständlichkeit des Textes" ist eine
Forderung, die z. B. auf dem Tridentiner Konzil gegen die polyphone Musikpraxis erhoben wurde, die aber nie ein ausschließendes
Kriterium in der musikalischen Praxis darstellte. Die "Wiedergabe des Wortes" ist auch nicht "die einzige Aufgabe der Stimme",
dagegen sprechen die vielen sehr differenzierten nonverbalen Äußerungen des Menschen - vom schreienden Baby über den
wortlosen gregorianischen Jubilus bis zum scat-Gesang (vgl. auch den Text von Augustinus). Die Ablehnung technischer Verfahren
bei der Produktion von Musik lässt sich angesichts der Fülle technischer Manipulationen in der Geschichte des Instrumentenbaus
nicht rechtfertigen. Viele weitere Einwände folgen dem primitiven Muster: Das gab's bisher nicht, deshalb darf man das auch heute
nicht machen.
Augustinus: Enarratio in Psalmum 99:12
Quid est in iubilatione canere? Intelligere, verbis
explicare non posse quod canitur corde. Etenim illi
qui cantant, sive in messe, sive in vinea, sive in
aliquo opere ferventi, cum coeperint in verbis
canticorum exsultare laetitia, veluti impleti tanta
laetitia, ut eam verbis explicare non possint, avertunt
se a syllabis verborum, et eunt in sonum iubilationis.
Iubilum sonus quidam est significans cor parturire
quod dicere non potest. Et quem decet ista iubilatio,
nisi ineffabilem Deum? Ineffabilis enim est, quem
fari non potes: et si eum fari non potes, et tacere non
debes, quid restat nisi ut iubiles; ut gaudeat cor sine
verbis, et immensa latitudo gaudiorum metas non
habeat syllabarum?
12
Was bedeutet: in der Iubilatio singen? Mit dem Verstand nicht erfassen, mit
Worten nicht ausdrücken zu können, was im Herzen gesungen wird. Auch
jene nämlich, die – sei es bei der Ernte, sei es im Weinberg oder bei
anderen erhitzenden Tätigkeiten – singen, beginnen zunächst mit
Liedertexten in Freude auszubrechen, dann aber, als ob sie von solcher
Freude erfüllt wären, dass sie sie durch Worte nicht darzulegen
vermöchten, wenden sie sich von den Silben der Wörter ab, und dem Klang
der Iubilatio zu. Ein Iubilum ist ein gewisser Laut, der bedeutet, dass das
Herz etwas hervorbringt, was zu sagen nicht möglich ist. Und wem sollte
eine solche Iubilatio gebühren, wenn nicht dem unaussprechlichen Gott?
Unaussprechlich nämlich ist Er, den du nicht zu sagen vermagst, und wenn
du Ihn nicht sagen kannst, und nicht schweigen darfst, was bleibt dir als zu
jubeln, als würde das Herz sich freuen ohne Worte, und die maßlose Weite
der Freuden kein Silbenmaß kennen?
http://home.arcor.de/olins/ison/glossolalie.htm
14
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
NZfM 1957/2, S. 136f.: DIE SINGSCHULE. Mitteilungsblatt des Verbandes der Singschulen e. V.
SCHRIFTLEITER: LUDWIG WISMEYER, MÜNCHEN 27, MAUERKIRCHERSTR. 43, TEL. 483060
Wider die Natur!
Die Zeit schreitet scheinbar immer rascher voran, mit ihr das hier organische, dort gewaltsame Suchen nach neuen Mitteln, in der
Musik Neues auszusagen.
Die traditionellen Instrumente gelten schon seit einiger Zeit nicht mehr viel. Neue Klangwerkzeuge und Klangerzeuger sind entdeckt
worden: die Musiker sind mit den Physikern und Mathematikern einen Bund eingegangen. Musik wird im Ton-Laboratorium
geboren - ohne Musikinstrumente, ohne Musiker, ohne Dirigenten. Triumph der technischen Musik (oder der musikalischen
Technik?): die elektronische Musik.
Sie ist eine Büchse der Pandora; denn keiner ahnte eigentlich, was aus diesen Klangerzeugern, diesen Elektronenröhren, den
dazugehörigen Tonbändern und Lautsprechern, zuletzt herauskommen würde. Man sprach aber von nie gehörten Farben, von
Zwischenstufen der Dynamik, von der überschrittenen Tongrenze (die das Geräusch einbezieht), ja von der Musik, die direkt aus der
Natur und ihren geheimnisvollen Wellen und Strahlen herkommt.
Die Ergebnisse, die ersten und folgenden, die zu hören waren und sind, zeitigten zuerst verhältnismäßig harmlose Klangspiele, über
deren Vielfalt man staunte. Dann begannen aber die Köpfe der Komponisten (in Wahrheit kom=ponieren sie = setzen zusammen!) zu
arbeiten, zu ordnen und alle technisch möglichen Finessen und Raffinessen anzuwenden. Von vorne, von rückwärts, aufgereiht und
wiederholt, multipliziert und diminuiert, über- und nebeneinandergeschichtet ergab sich nun ein Rechenspiel von ungeheurer
Präzision: denn hier ist die Technik dem Musiker tausendmal überlegen, da die errechnete Dauer einer Note z. B. technisch auf den
kleinsten Genauigkeitsgrad exakter dargestellt werden kann als durch einen Geiger etwa. Auch die Geräusch- und Klangvarianten
steigerten sich. Es kam auch manch originelles Stück zum Vorschein.
Boshafte Zungen allerdings behaupten, dass in Wahrheit die Klangfarben gar nicht so abwechslungsreich seien und dass mancher
Organist auf einer Wurlitzer- (= Kino-) Orgel schon ähnliche Geräusche und Klänge - allerdings mehr als lustigen Effekt bei
Begleitung von Micky-Mouse-Filmen - hervorgebracht hätte. Wie gesagt, das sind die boshaften Zungen, von denen eine kürzlich die
elektronische Musik eine Mammut-Micky-Mouse-Music nannte.
Vorerst sei also hier abgewartet, was weiter aus den Laboratorien kommt, die freilich in einem nicht zu leugnenden Stolz auf die
Novität ihre „Werke für fünf Kanäle“ z. B. bereits als fertige Opera in die Konzertsäle der Musica viva in München schicken.
Für Hörspiele, Bühnenmusiken, Filmillustration freilich tun sich schon allerlei Möglichkeiten auf, die auszubauen der Mühe wert
erscheint.
So weit - so gut!
Doch was geht die Singschulen und ihre Arbeit solches Erfindertum an? Es geht auch sie an und alle, die in der menschlichen
Stimme die erste und edelste Äußerung musikalischen Tuns erkennen und pflegen.
Nicht genug nämlich mit den neuen Klanggebilden, die der Ton-Techniker zu erzeugen vermag, geht die elektronische Musik
nämlich daran, die menschliche Stimme in ihren Bereich einzubeziehen. Beispiel: Karlheinz Stockhausens „Gesang der Jünglinge“.
Den Text zu diesem elektronischen Opus liefert der Prophet Daniel, das Material für die Klangmontage eine Knabenstimme. Das
Wort „Knabenstimme“ weist die Berechtigung dafür aus, dass sich die Leute, die mit Kinderstimmen dauernden Umgang haben und
ihre Gesunderhaltung propagieren, mit diesem Werk befassen. „Es kam dem Komponisten nicht auf eine Verständlichkeit des Textes
an“, wird zum „Gesang der Jünglinge“ vorbemerkt. Wir fragen, warum dann eine Stimme, deren einzige Aufgabe die Wiedergabe
des Wortes ist, überhaupt bemühen? Resultat: abgerissene Wortfetzen, gelallte Silben, amputierte Sätze, die in ein Stammeln
übergehen oder von dem Dröhnen und Prasseln der Lautsprecher“musik“ erdrosselt werden. Da Daniel nicht nur von einem Jüngling
berichtet, Stockhausen aber diese Jünglinge allesamt durch den einen Knaben vertreten lässt, wird dessen - übrigens bereits in der
Mutation befindliche - Stimme eben per Tonband vervielfältigt, übereinander kopiert, über die verschiedenen Kanäle der rings im
Saal aufgebauten Lautsprecher geführt, so dass das Bild der Verzerrung, der Widernatur und der Vergewaltigung ein wie von
Hohlspiegeln in alle Dimensionen vergrößertes und vermehrtes Bild wirkt. So wirkt es nämlich: der Knabe schreit in allen Tonhöhen,
er reiht manchmal ein paar an Singen erinnernde Töne aneinander, er spricht, er murmelt, stöhnt und jault.
Und hier scheiden sich die Geister endgültig! Es ist eine Perversion, eine Gabe des Schöpfers, der Natur, unter dem Vorwand des
Wortes „Musik“ zu missbrauchen. Es ist nicht nur scheußlich und unästhetisch anzuhören, sondern es ist ein Vergehen gegen das
Ethos der Schöpfung und der in ihr verborgenen musikwirkenden Kräfte. Es ist auch weder lächerlich noch traurig, sondern eine
Gefahr von endloser Tragweite, weil unter dem Deckmantel eines pervertierenden "Schöpfer"tums und "Erfinder"geistes“ eine
Zerstörung am Werke ist, die zuletzt vor nichts mehr haltmacht.
Ludwig Wismeyer
vgl. dazu (‚Atombombenmusik‘) Reaktionen des damaligen Publikums:
http://www.youtube.com/watch?v=glvaTNMM_Ds
Bilder zur Uraufführung und Materialien
http://www.youtube.com/watch?v=TYZBvt5RRZw
15
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Steve Reich: Piano Phase for two pianos or two marimbas (1967)
Steve Reich:13
"Ich bin an wahrnehmbaren Prozessen interessiert. Ich möchte den Verlauf des Prozesses in der Musik von Anfang bis
Ende hören können. Um intensives und detailliertes Zuhören zu erleichtern, sollte ein musikalischer Prozess extrem
graduell verlaufen. [...]
Ich kenne keine Strukturgeheimnisse, die man nicht hören kann. Wir alle verfolgen gemeinsam den Prozess, weil er
ganz durchhörbar ist, und einer der Gründe für solche Durchhörbarkeit ist seine extrem graduelle Entfaltung.
Von einer Verwendung versteckter struktureller Prozeduren in der Musik habe ich nie viel gehalten. Selbst wenn alle
Karten offen auf dem Tisch liegen und jeder hört, was sich in einem musikalischen Prozess nach und nach abspielt, gibt
es immer noch genügend Geheimnisse aufzuspüren. Solche Geheimnisse sind die unpersönlichen und unbeabsichtigten
psycho-akustischen Nebenerscheinungen des absichtsvoll konzipierten Prozesses: etwa Nebenmelodien, die man bei
repetierten Melodiemodellen wahrnehmen kann, [...].
[...] winzige Details beginne ich wahrzunehmen, wenn ich ununterbrochen aufmerksam zuhören kann, und ein
gradueller Prozess fordert meine ununterbrochene Aufmerksamkeit heraus. Mit "graduell" meine ich extrem graduell:
einen Prozess, der sich ganz langsam und allmählich vollzieht."
http://www.youtube.com/watch?v=JW4_8KjmzZk
http://www.youtube.com/watch?v=qKXy1FPTdvg
Das Stück basiert auf dem Phasing-Verfahren: eine einzige Formel wird endlos wiederholt ("periodic music", Patternmusik, heute
könnte man auch an Sampling denken).
In Phase 1 (Takt 1) soll sie 4x, in Phase 2 12x, in Phase 3 16x, in Phase 4 16x gespielt werden usw.
Komplexität erreicht das Stück durch minimale Phasenverschiebungen zwischen den beiden Pianisten. In Phase 3 beschleunigt
Pianist II ganz minimal, so dass er zu Beginn der Phase 4 ein Sechzehntel hinter Pianist eins zurückliegt. In ähnlicher Weise
entwickelt sich das ganze Stück weiter. Es entsteht eine äußerst komplexe, in sich bewegte Klangfläche, die aber wegen der vielen
Phasenverschiebungen nicht statisch wirkt, sondern immer Neues hervorbringt ("process music"). Wechselnde Zwei- oder
Dreitonmotive tauchen - wie bei einem Glockengeläut - auf, überlagern sich mit anderen Motiven und verschwinden wieder in der
vielfältig changierenden Fläche.
Phil Glass (anlässlich der Aufführung seines Zyklus "Music in 12 Parts", in dem aus der Überlagerung einer permanent wiederholten Melodiefigur
mit ähnlichen Melodiefiguren neue Muster entstehen):
"Wenn feststeht, dass nichts im üblichen Sinne 'passiert' und dass statt dessen die graduelle 'Vermessung' musikalischen Materials die
Aufmerksamkeit des Hörers herausfordern kann, mag er vielleicht eine neue Art Aufmerksamkeit entdecken, eine, in der weder
Gedächtnis noch Vorwegnahme (die psychischen Maximen der barocken, klassischen, romantischen und modernen Musik) eine
Rolle spielen. Es wäre zu hoffen, dass dann Musik frei von dramatischen Strukturen, als ein pures Klangmedium, als 'Gegenwart'
wahrgenommen wird."14
Vorbilder für seine minimal music fand Steve Reich in der Kreuz- und Polyrhythmik der ghanaischen Musik.
In dem Musikbeispiel "OO-YA!" aus Ghana spielen die beiden Oberstimmen (l. und 2. St.) parallel zwei Rhythmen, die dauernd
wiederholt werden, also eine starre Zeitmusterkette bilden. Das repetierte Muster stellt das Zeit-Maß des Stückes, europäisch
gesprochen: seinen Takt dar, denn die Länge des Musters entspricht einem 4/4-Takt. Auch die 1. und 2. Trommel spielen parallel und
im 4/4-Takt jeweils ein rhythmisches Motiv. Erstaunlich ist nun, dass diese beiden Schichten, die Aufschlagglocken und die
Trommeln, nicht parallel, sondern kreuzrhythmisch versetzt gespielt werden. Die Trommeln setzen nämlich zwischen der 3. und 4.
Taktzeit, also auf "3 und" ein. So entsteht ein für europäische Ohren kaum durchhörbares kompliziertes rhythmisches Gewebe.
Gegen dieses gleichmäßig durchlaufende akustische Ornamentband opponiert die Haupttrommel (3.Tr.). Sie setzt in bestimmten
Abständen ein und spielt rhythmisch frei, nicht im gleichen Takt wie die anderen Instrumente. Dadurch entsteht eine
polyrhythmische Struktur, d. h. eine Überlagerung verschiedener Rhythmen mit unterschiedlicher Teilungsweise.
13
14
Musik als gradueller Prozess, 1968. Zit. Nach dem Booklet der Drumming-LP, p. 1974, DG 27 40 106
Aus dem Programmheft "Meta-Musik-Festival", Berlin 1974. Zit. nach Peter Michael Hamel: Durch Musik zum Selbst, Kassel 1980, S. 167 f.
16
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
OO-YA! Mustapha Tetty Addy –master drummer from Ghana
Klangausschnitt 0-1:30)
Transkription von Claus Raab. Aus Musik fremder Kulturen, (Hrsg. Rudolph Stefan), Mainz 1977, S. 99. Schallplatte LLST 7250
17
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Jean Michel Jarre
Stefan Woldach:15
Als Student des Pariser
Konservatoriums ließ
sich Jarre von den Kompositionen Schönbergs,
Vareses und
Stockhausens inspirieren,
bevor er an das Pariser
Zentrum für elektronische
Musik wechselte, um sich
im studentenbewegten
Frankreich Ende der 60er
Jahre mit anderen
Kommilitonen der damals
noch verschmähten
Gattung der
elektronischen Musik zu
widmen.
„Wir verstanden Musik
nicht nur als Noten und
Harmonien, sondern vor
allem als Sound. Das
Konzept war damals noch
völlig neu. Wir haben
einfach nur Geräusche
von der Straße gesammelt
und Songs daraus gemacht.“ Als 1976 sein
Album „Oxygene 1-7“
erschien, wurde er von
den Medien zur
„Persönlichkeit des Jahres“ gekürt, sein Album
als „französische
Revolution in der
Rockmusik“ gefeiert.
Jarre gelang der Sprung
an die Spitze der
internationalen Charts.
Über eine Million
Menschen besuchten sein
Open-air-Konzert auf
dem Pariser Place de la
Concorde.
Weltruhm erlangte er vor
allem durch seine
ungewöhnlichen Produktionen, wie die
multimedialen Abenteuer
zum 50. Geburtstag der Nasa oder die Arbeiten zum Frankreichbesuch von Papst Johannes Paul II. Ob am Matterhorn oder auf dem
Roten Platz in Moskau, überall brach Jarre Besucherrekorde. Dafür ernannte ihn die Unesco zum „Botschafter für Toleranz und
Jugend“.
Jarre, der „Neugier und Humor“ zu den erstrebenswertesten menschlichen Eigenschaften zählt, vergleicht seine Musik gerne mit
Malerei, der er sich in seiner wenigen Freizeit widmet: „Ich habe die gleiche Herangehensweise an Musik wie ein Maler an seine
Kunst“, erklärt der jung gebliebene Lyoner, „ein Stück beginnt mit einer Skizze, die sich dann langsam immer weiterentwickelt. Ich
schätze künstlerische Evolution.“ Diese bewies Jarre unlängst, als er zu seinem letzten Album Diskjockeys aus aller Welt zu
Remixen einlud. So sieht sich der Musiker, der am 24. August 50 wurde, noch lange nicht am Ende seines künstlerischen Weges.
„Ich liebe David Lynch“, meint er, „sein Film ,Lost Highway‘ funktioniert ein wenig wie meine Musik: Es gibt keinen definierten
Anfang und kein Ende. Deshalb würde ich meine Arbeit auch mit einem Lost Highway (verlorene Autobahn) vergleichen.“
http://www.youtube.com/watch?v=rD8dZGffkzQ
http://www.youtube.com/watch?v=26YtKNsosYI (Analyse, Synthesizer Roland SH-101)
http://www.youtube.com/watch?v=Qa3hHQr6xvI (Analyse von Nr. 2)
http://www.youtube.com/watch?v=hw2AhwbBbaQ Rhythmusmaschine Korg Keio Minipops 7, die bei "Oxygéne" eingesetzt wurde
15
Kölnische Rundschau 4. 9. 1998
18
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Friedrich Neumann:16
Unter den vielen Cover-Versionen alter Hits, befindet sich zur Zeit in der Hitparade auch ein äußerst erfolgreiches Techno-Remake
des Synthesizer-Klassikers „Oxygene IV“ von Jean-Michel Jarre. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass es keineswegs Zufall ist,
dass ausgerechnet ein Discjockey sich für dieses Stück interessiert, um davon eine Techno-Version zu produzieren. Natürlich spielt
die eingängige und erfolgssichere Melodie dabei eine große Rolle, aber ganz nebenbei erhellen sich so auch die Ursprünge von
Techno, einer Musikgattung, die man so gern für absolut neu hält und nicht selten sogar mit Hip-Hop und Dancefloor in einen Topf
wirft. Es wird deutlich, dass Hip-Hop und Techno, trotz gelegentlicher klanglicher Parallelen, grundverschiedenen Ursprungs sind.
Wo aber kommt Techno her?
Techno ist nicht einfach plötzlich dagewesen, sondern nur der momentane Stand einer Entwicklung, die in den späten 60er Jahren
begann. Zu dieser Zeit erschütterten Studentenunruhen, Hippiebewegung und Rockmusik in Westeuropa und den USA die
kleinbürgerliche Welt festgefahrener Normen und Wertvorstellungen. Auf der Suche nach musikalischen Ausdrucksformen, die von
der Norm abweichen, entdeckten Musikgruppen und Komponisten die Elektronik als kreatives Klangmedium. Der New-Yorker
Transsexuelle Walter Carlos - später Wendy Carlos - interpretierte auf dem soeben entwickelten Moog-Synthesizer Bachs
Brandenburgische Konzerte und verschaffte sich damit weltweite Aufmerksamkeit. In Köln taten sich die beiden
Experimentalmusiker und Stockhausen-Schüler Holger Czukay und Irmin Schmidt mit dem Rock-Gitarristen Michael Karoh und
dem Jazz-Drummer Jaki Liebezeit zusammen und schufen unter dem Gruppennamen Can eine Verbindung aus Elektronik, Rock,
Avantgarde und Jazz, die sie zu einer der im Ausland bekanntesten deutschen Gruppen werden ließ. Im selben Jahr formierten sich in
Berlin Tangerine Dream und in Düsseldorf Kraftwerk. Beide Gruppen spielten ausschließlich mit elektronischen bzw. elektronisch
stark verfremdeten Instrumenten. Im Gegensatz zu W. Carlos ging es ihnen nicht um die Imitation klassischer Naturinstrumente wie
vielleicht Geige oder Flöte, sondern um die Kreation vollkommen neuer und andersartiger Klänge. Dazu gehörte auch die
Möglichkeit, musikalische Abläufe und Instrumentalparts zu automatisieren. Der daraus resultierende Maschinen-Sound fand dann
seine Entsprechung in Titeln wie „Computerliebe“, „Roboter“ oder „Radioaktivität“. Als makaberen Höhepunkt organisierten sie
1978 eine Konzerttournee, bei der sie gleichzeitig in Paris und New York auftraten. Sie ließen sich auf der Bühne von robotisch
gesteuerten Puppen vertreten und mischten sich unerkannt unters Publikum. Der Berliner Klaus SchuIze erarbeitete sich Mitte der
70er Jahre ein Konzept, seinen gesamten Maschinenpark im Live-Konzert wie eine Begleit-Band spielen zu lassen - damals eine
futuristische Sensation, heute musikalischer Alltag.
Eine Sonderstellung nimmt dabei der Franzose Jean-Michel Jarre ein. Er war der erste Elektroniker, dem ein riesiger Charterfolg
gelang. Mit dem Stück „Oxygene IV“ verschaffte er sich 1976 weltweite Bekanntheit, spülte gewaltige Geldmengen in sein
Portemonnaie und handelte sich unter seinen - sicherlich auch ein bisschen neidischen - Zunftkollegen Schelte als
kommerzversessener musikalischer Weichspüler ein. Wie kein anderer vor ihm verstand es der Franzose, Musiktechnologie auf
allerhöchstem Niveau mit geschmackvollen und eingängigen Melodien zu verbinden.
Eine Besonderheit war auch die Tatsache, dass Jarre alle Instrumente einer Langspielplatte allein im Mehrspurverfahren eingespielt
hatte, was zuvor nur sehr wenigen Musikern wie z. B. Mike Oldfield („Tubular Bells“) oder W. Carlos („Switched on Bach“)
gelungen war. Auch Jarre hatte nicht vor, mit Synthesizern bekannte Instrumente mehr oder weniger gut zu imitieren. Sein Ziel war
es, neue und eigenständige Klänge zu kreieren und eine Musik zu schaffen, die mit herkömmlichen Instrumenten gar nicht
realisierbar war. So hört man elektronische Schlaginstrumente, perlende Sequencer-Arpeggios, Sphärenklänge oder Geräuschhaftes.
Mit dem Einzug des Computers in die Musikwelt in der Mitte der 80er Jahre setzt sich die Linie bei der Schweizer
Computer-Popgruppe Yello fort. Avantgarde, Pop und Elektronik rücken hier nicht nur eng zusammen, sondern sind in der typischen
Yello-Mischung immer auch tanzbar. Computer machen es plötzlich möglich, auch ohne Instrumentalausbildung gute musikalische
Ergebnisse zu erzielen, und eröffnen dadurch plötzlich dem „Nicht-Musiker“ den Weg ins Tonstudio. Discjockeys, die bislang darauf
angewiesen waren, im vorhandenen Musikrepertoire das zu finden, was die Tanzenden in Bewegung hält, sind auf einmal in der
Lage, selbst Musik zu produzieren und sie exakt den Erfordernissen der Diskothek anzupassen. Als Instrumente kommen dabei
natürlich ausschließlich Synthesizer und Sampler in Betracht, denn nur sie lassen sich per Computer fernsteuern. Damit ist Bezug zu
den Synth-Pionieren in klanglicher Hinsicht hergestellt. Er verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass analoge Synthesizer von
Vorgestern in der Techno-Szene zu den begehrtesten Geräten gehören. Oberheim-, Moog- und Roland-Synthesizer, auf denen schon
Tangerine Dream, j. M. Jarre und W. Carlos spielten, sind in jeder aktuellen Techno-Produktion zu hören.
Ein weiterer musikalischer Bezug besteht in der formalen Gestaltung der Musik. Im Techno wird genauso wie z. B. damals bei
„Oxygene“ patternorientiert gearbeitet, d. h. kurze ostinate Figuren wiederholen sich ständig. Der Grund dafür liegt in der
computertypischen Arbeitsweise. Es ist ein Kinderspiel, eine kurze Phrase von ein bis vier Takten in den Rechner einzugeben, auch
wenn es sich dabei um anspruchsvollste Rhythmen, sperrigste Melodien oder komplexe Arpeggios handelt. Das Tempo kann beliebig
hoch eingestellt werden, und die Loop-Funktion wiederholt das eingespielte Pattern fehlerfrei - notfalls bis zum Stromausfall.
Spätestens aber dann, wenn nicht bei jeder Wiederholung exakt dasselbe gespielt werden soll, wird die Arbeit am Rechner
unangenehm, denn dann muss jedes Event mühselig neu programmiert werden. So bleibt es in den meisten Fällen bei einer
patternbezogenen Arbeitsweise, bei der ein Pattern durch das zeitweilige Stummschalten einzelner Instrumente variiert wird. Genauso
wurde auch in den Anfangstagen der Synthesizermusik gearbeitet, denn die damaligen analogen Sequenzer erlaubten nur die Eingabe
weniger Tonschritte, so dass man sich zwangsläufig mit vielen Variationen desselben Patterns behelfen musste.
Ein weiterer Vorteil für den produzierenden Discjockey ist das computergenaue timing, denn auf der Tanzfläche ist rhythmische
Stabilität striktes Gebot. Aus diesem Grund hört man bei Musik, die zum Tanzen anregen soll, immer ein stark betontes Schlagzeug,
am liebstem mit durchgehender Vierviertel-Bassdrum und einer Hihat im off-beat - nicht ohne Grund ist das der klassische
Marschrhythmus.
Dass gleiche Arbeitstechniken zu ähnlichen Ergebnissen führen, ist deutlich zu hören, wenn man neue Techno-Produktionen mit
Elektronik-Stücken aus der 70er Jahren vergleicht:
„Roboter“ (Kraftwerk, 1978) - typisches Dance/Disco/Techno-Schlagzeug
„No Limit“ (2 Untimited, 1992) - ähnliches Schlagzeug wie Kraftwerk
„Cherokee Lane“ (Tangerine Dream) - Zu einem Sequencer-Pattern wird improvisiert
„Children“ (Robert Miles) - Techno-typischer Off-Beat-Bass; zu einem Sequencer-Pattern wird improvisiert.
16
Sauerstoff für die Musikwelt. Mit „Oxygene“‘ zu den Ursprüngen von Techno, in: MuB 3/97
19
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Jean-Michel Jarre
Jarre wurde am 24.8.1948 in Kyon als Sohn des Filmkomponisten Maurice Jarre (Dr. Schiwago) geboren. Er studierte
Literaturwissenschaft und Komposition und beendete beides mit akademischem Abschluss. Erste Erfahrungen mit elektronischer
Musik sammelte er bei Pierre Schaeffer in der Group Recherches Musicales. Nach diversen kleineren Film- und Werbemusiken
gelang ihm mit Oxygene IV ein Hit, der sich über sechsmillionenmal verkaufte. Auch wenn er diesen Erfolg nicht mehr wiederholen
konnte, blieb er ständig im Blick der Öffentlichkeit. Dazu trug sicher auch sein Hang zu ausgefallenen Großereignissen bei: Im Juli
1979 spielte er allein - umgeben von einer gewaltigen Licht- und Tontechnik - vor einer Million Menschen auf dem Place de la
Concorde in Paris. Weitere 100 Millionen Zuschauer verfolgten das Spektakel am Fernsehschirm. Einen Eintrag im Guiness Book of
Records bescherte ihm sein Auftritt vor 1,3 Millionen Menschen anlässlich der 150-Jahr-Feier der Stadt Housten in Texas. 1986 gab
er anlässlich des Papstbesuches in Lyon ein Konzert mit 60 Musikern und 120 Chorsängern vor der Kulisse der Fourvieres-Berge.
(Quelle: Graf/Rausch: Rockmusik-Lexikon)
20
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Kraftwerk: Trans Europa Express (Album: Trans Europa Express. Kling Klang/EMI 1977)
Video: http://www.youtube.com/watch?v=qBGNlTPgQII
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Rendezvous auf den Champs Elysees
Verlass Paris am Morgen mit dem TEE
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
In Wien sitzen wir im Nachtcafe
Direkt-Verbindung TEE
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Trans Europa Express
Wir laufen ein in Düsseldorf City
Und treffen Iggy Pop17 und David Bowie18
Motive
drums
Pascal Bussy:19
Auf der LP erscheint eine ganze Reihe von Namen, unter anderem .... Paul Alessandrini .... Er erklärt seine Beteiligung an
diesem Projekt: „Wir überlegten, wo wir zu Mittag essen könnten. Ich schlug 'Le Train Bleu' vor (ein Restaurant im ersten Stock des
Gare de Lyon-Gebäudes in Paris). Es liegt an einem Bahnhof, von dem aus Züge nach Lyon, Marseille, Italien, die Schweiz, den
Mittleren Osten und so weiter fahren. Ich wusste, dass Ralf und Florian diese Art von Restaurant sehr mochten. Maxime, Ralf,
Florian, meine Frau Marjorie und ich waren da. Wir redeten sehr viel und beobachteten die Züge, die man vom Fenster des
Restaurants aus abfahren sehen kann. Ich erinnere mich, dass ich sagte: ,In eurem Universum und für die Musik, die ihr macht, die so
eine Art elektronischer Blues ist, spielen Bahnhöfe und Züge eine große Rolle. Ihr solltet ein Lied über den Trans-Europa-Express
machen. Und deshalb werden Marjorie und ich auf der Hülle erwähnt. Bei Kraftwerk geht dem musikalischen ein intellektueller
Prozess voraus. Ihre Art Musik zu machen ist sehr ausgeklügelt, das Resultat aber eher minimalistisch. Das erinnert mich an so große
Maler wie Klee, Mondrian oder Picasso, die großartige Techniker waren, deren Arbeiten aber ebenfalls minimalistisch sind"20
Nachdem die Gruppe einmal damit begonnen hatte, sich intensiv mit dem Gedanken einer Konzept-LP auseinanderzusetzen,
sorgte sie dafür, dass die Präsentation des fertigen Produkts möglichst unkompliziert geriet, wie Ralf Hütter zustimmt: "Unsere
Musik ist ziemlich minimalistisch. Wenn man eine Idee mit nur einer oder zwei Noten 'rüberbringen kann, dann sollte man das
auch so machen, statt hundert oder mehr Noten zu spielen. Für unsere Musikmaschinen braucht man kein virtuoses Spiel, all die
Virtuosität, die wir brauchen, liegt in den Maschinen selber, deshalb konzentrierten wir uns darauf, unsere Arbeit auf einen ganz
21
geradlinigen Minimalismus auszurichten."
17
amerikanischer Sänger.1976 leitete er seine Auftritte mit Bandeinspielungen von Kraftwerk-Stücken ein.
britischer Sänger
19
Neonlicht. Die Kraftwerk Story, Berlin 2005, S. 90
20
Emil Schult: Interviewt von Pascal Bussy, Düsseldorf, 6. Juni 1992
21
Maxime Schmitt: Interviewt von Pascal Bussy, Düsseldorf, 20. August 1992
18
21
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Spiegel 24/1981:22
„In drei Jahren Bastelarbeit entstand im Düsseldorfer „Kraftwerk“-Maschinenraum, Studio-Name „Kling Klang“, die schlichte
Platten-Neuschöpfung. Dabei haben die Sound-Tüftler wohl kaum einen Schritt vor die Tür gemacht, um sich ihre anmutige Sicht der
Computertechnik nicht durch die trübe Industrielandschaft der nahen Umgebung verstellen zu lassen.
So konnten sie in der Abgeschiedenheit ihre einfache Blubber- und Piep-Rhythmen programmieren, schlichte Melodien zum raschen
Verzehr in Fahrstuhl und Disco, bierernst-einfältige akustische Illustrationen ihrer Computerwelt.
„Wir beschäftigen uns im Studio laufend mit der Speicherung von Tönen, mit der Programmierbarkeit von Musik, mit
Computerisierung“, erläutert der Kraftwerker Ralf Hütter die Tätigkeit der Maschinen-Musikanten, die in ihrer Klausur ein bisschen
zu Fachidioten gereift zu sein scheinen.
„Die Gesellschaft wird völlig vom Computer durchdrungen. So ergibt es sich für uns, dass wir gar kein anderes Thema haben
können“, sagt Hütter.
Für Musiker, die noch im Übungsraum und im Konzert ihren Schweiß vergießen und sich nicht damit zufriedengeben, Klänge per
Knopfdruck zu erzeugen, haben die altväterlichen Kling-Klang-Bastler nur Verachtung übrig: „Bei uns schwitzt keiner wegen
körperlicher Anstrengung. Bei uns transpiriert man höchstens, weil einem heiß oder kalt wird vor nervlicher Anstrengung.“
Der Einfluss der Düsseldorfer Maschinen-Musiker auf die Entwicklung der populären elektronischen Musik ist dabei unbestritten.
Rockstars wie David Bowie oder Disco-Fabrikanten wie Giorgio Moroder zehren von den versponnenen „Kraftwerk“-Pioniertaten,
und vor allem die jüngste Generation von New-Wave-Musikern, die synthetische Klänge mit denen konventioneller Instrumente
mischen, sind inspiriert von den skurril-verbissenen deutschen Experimentierern.“
David Toope:23
Kraftwerk hatten es ... geschafft, in alle Marktsegmente der amerikanischen Musikkultur einzudringen, von „Easy Listening" bis
„R&B". Bam24 erinnert sich an ihren Einfluss:
»Ich kann mir vorstellen, dass Kraftwerk gar nicht wissen, wie wichtig sie für die schwarzen Massen '77 waren, als ihr „TransEurope Express" rauskam. Ich dachte sofort: das ist eine der irrsinnigsten und besten Platten, die ich je gehört habe. Ich sagte mir,
entschuldige die Ausdrucksweise, was für eine bediente Scheiße! Alle waren verrückt danach. Als sie mal rüberkamen und eine Show
im Ritz gegeben haben, haben sie vielleicht begriffen, wie groß sie hier sind. Sie mussten vier Zugaben geben und die Leute wollten sie
immer noch nicht weglassen. Einfach toll, diese Gruppe zu sehen. Was Computer und das Zeugs alles können! Die haben zum Beispiel
Taschenrechner genommen, irgendwas dazugetan und sie wie Musikinstrumente gespielt. Das war funky. Irgendwann sah man
Telephone, Drucktastenmodelle. Sie sind echte Meister im Umgang mit all diesen industriellen Gerätschaften.«
Dabei sind Kraftwerk ja nun eigentlich wirklich die denkbar unwahrscheinlichste Gruppe, um eine solche Wirkung auf junge Schwarze
auszuüben: vier Schaufensterpuppen im Anzug, die kaum je einen Muskel bewegten, wenn sie spielten. Aber sie waren die erste Band,
die versuchte, so etwas wie die rhythmische Raffinesse schwarzer Tanzmusik ausschließlich mit Computern zu erreichen. Und sie waren
eine Freude für Kinder, die bereits im Zeitalter der Mikrochips und deren Alltagsgeräuschen aufgewachsen waren. ...Die LP-Fassung
von „Trans-Europe Express" ist extrem lang: 13 Minuten und 32 Sekunden. Klar, daß diese Version mit ihrer unheimlichen
Atmosphäre, ständigen Veränderungen im Aufbau bei einem absolut gleichmäßigen Beat und seine Vocoder-verfremdeten Stimmen
bei den B-Boys zum Klassiker wurde. Bambaataa pflegte Reden von Malcolm X und anderen Ministern der Nation Of Islam
drüberzulegen oder Martin Luther King und Flash tat etwas für ihn noch ungewöhnlicheres: „Trans-Europe Express" war eine der
wenigen Platten, die er einfach in ihrer ganzen Länge durchlaufen ließ, ohne zu mischen oder zu scratchen oder sonstwie zu
manipulieren: „`Trans Europe Express war ein Platte, bei der man nicht viel machen konnte, sie mischte sich sozusagen ganz von
alleine. Ruh dich aus, rauch 'ne Zigarette, geh' aufs Klo!"
Für seinen Tommy-Boy-Nachfolger von „Jazzy Sensation" benutzte Afrika Bambaataa Elemente aus „Trans-Europe Express" —
insbesondere das rhythmische Gefühl und die einfache Melodienlinie —, fügte Ideen aus Kraftwerks „Numbers" und „Super Sperm" von
Captain Sky hinzu. ...
„The Mexican" konnte man auf einem Euro-Disco-Album hören, das auf West End Records erschienen war, Bombers. Dieser 12
Minuten-Mix mit seinen äußerst langen Percussion-Breaks wurde vom Gitarristen Alan Shacklock mit „Ergänzungen" versehen. Ein
Mann, der die Hauptfigur bei der englischen ProgRock-Band Babe Ruth war, die schon 1972 eine schlaffe Tanzversion von „For A
Few Dollars More" gemacht haben. Bambaataa mischte nun die beiden Versionen mit Kraftwerk. Alle hatten die Spannung einer
Konfrontation gemeinsam, bei der eine melodramatische, isolierte Melodie auf einen Beat trifft. Und das war letztlich auch das Prinzip
von „Planet Rock": denn so hieß schließlich die Platte, die bei dieser Frankensteinartigen Züchtung entstand.
Geisenhanslüke:25
Kraftwerk waren nicht nur von Futuristen wie El Lissitzky oder Majakowski inspiriert. Ihre Lust an der Provokation gründete in
Fluxus und Performance-Kunst. Der Rest der Welt verstand. Bald wurden die germanisch-genau hämmernden Synthie-Linien
weiterverarbeitet, zu Disco, HipHop, Techno und anderen elektronischen Körpermusiken. Wenn die selbst ernannten »Arbeiter der
Stirn« heute ihre Konzerte mit der Mensch-Maschine beginnen, brandet der Jubel wie beim Gitarrenriff eines Rock-’n’-RollGassenhauers.
Pascal Bussy:26
Viele Musiker und Künstler der Avantgarde hatten lange Zeit versucht, die Geräusche und Bilder der Industrielandschaft in ihre
Kunst zu integrieren. Die Dadaisten und Futuristen der zwanziger und dreißiger Jahre hatten großen Wert darauf gelegt, alltägliche
Geräusche und Bilder in ihre Kunst einfließen zu lassen, um sich von der Welt der etablierten Galerien abzugrenzen. In den
Sechzigern versuchten viele der amerikanischen Avantgarde-Komponisten, alle nur erdenklichen Geräusche in ihre Musik
einzubeziehen und sie dann neu zu definieren. Je häufiger sie dies jedoch versuchten, desto elitärer und „gekünstelter" geriet es.
Irgendwie hatten sie es geschafft, die Töne zu marginalisieren, so dass sie lediglich denjenigen, die „Bescheid wussten", akzeptabel
erschienen, von der breiten Masse jedoch als exzentrisch oder einfach als nicht anhörbar galten.
Bei dem Album Trans-Europa-Express, und hier insbesondere beim Titelsong, hatte man einen Weg gefunden, um Industrie- und
Verkehrsgeräusche diszipliniert und stromlinienförmig so umzuwandeln, dass sie die Struktur von Popsongs erhielten. Wie Warhol
22
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14338286.html
Rap Attac. African Jive bis Global HipHop, London 1991, S. 151-152
24
Afrika Bambaataa, ein New Yorker Hip-Hop-DJ
25
Ganz dein Diener, DIE ZEIT, 18.05.2006
26
Neonlicht. Die Kraftwerk Story, Berlin 2005, S. 95
23
22
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
die Popart-Bewegung in ein paar simplen Bildern eingefangen hatte, so hatte auch Kraftwerk das Wesen der elektronischen Musik
mit ihrem sparsam eingesetzten Synthesizer-Sound eingefangen. Titeln wie Trans-Europa-Express gelang es, die Erinnerung an
Geschwindigkeiten oder Maschinen hervorzurufen, ohne dabei komplizierte mechanische oder maschinenähnliche Konzerte zu
schaffen. Die Kunst Warhols war auf den Massengeschmack ausgerichtet, und auch Kraftwerk wagte den Versuch, „industrieller"
Musik den Rahmen von Popmusik zu geben, um sie nicht nur einigen elitären Avantgarde-Fans zugänglich zu machen.
Bis dato war Trans-Europa-Express sicherlich die eindrucksvollste LP von Kraftwerk, voller Zielstrebigkeit und einprägsamer
Melodien, ganz anders als Autobahn und deren Vorgänger, bei denen der Eindruck entstand, es handele sich hierbei im Grunde
genommen um ein einziges Stück, umrahmt von einigen mehr oder weniger überflüssigen Titeln. Auch wurde sie nicht erdrückt von
den avantgardistischen Klängen, wie es bei Radio-Aktivität der Fall gewesen war. Der Zusammenhang ist bei der LP klar ersichtlich,
die Gesangszeilen sind deutlich und entschlossen intoniert, die Melodien einfach und eingängig.
Trans-Europa-Express verkaufte sich ein wenig besser als Radio-Aktivität; die Platte erreichte 1977 die Position 119 in den US-Charts.
Die Popularität der LP erhielt durch den Disco-Boom, der New York erreicht hatte, großen Auftrieb.
Andy Warhol: BMW M1 art car 1979
http://www.seriouswheels.com/1970-1979/1979-BMW-M1-Art-Car-by-Andy-Warhol-Side-1024x768.htm
Formübersicht:
Es-Moll
aaaaccb
ae
ae
a
addaddaddadda
ae
\
c-Moll
(b)
ccdd
ccdd
cacadd
ccdd
b r eak
dr
‫׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀׀‬
dr:
a:
d:
c und e:
Die drums ahmen die Geräusche einer fahrenden Dampflokomotive nach, allerdings nicht so realistisch wie in Honeggers
"Pacific 231".
Quartenfanfare. Ähnlich wie die 'Hymne' in Mossolows Eisengießerei vermittelt sie ein Gefühl von Erhabenheit und
Glorifizierung der industriellen Maschinenwelt.
Das rhythmisch prägnante Motiv greift die Quarte aus a auf.
Die vokalen Partien sind mit Hilfe eines Vocoders technisch manipuliert.
Harmonisch beschränkt sich das Stück auf den Wechsel von es-Moll- und c-Moll-Klang.
Das Stück hat einen wesentlich geringeren Komplexitätsgrad als Mossolows "Eisengießerei".
Die Form ergibt sich aus einer additiven Montage der kurzen, häufig wiederholten Elemente.
Diese strukturelle Analyse wird dem Stück nicht ganz gerecht, weil das wichtige Element des Sounds nicht differenziert in den Blick
genommen wird. Dazu wären eigene - auch praktische - Übungen erforderlich.
Mercedes Bunz:27
Mit ihrem Album “Mensch-Maschine” (1978) vollenden Kraftwerk schließlich die Umstellung des Subjekts von Menschen auf
Maschinen. Während “Radio-Aktivität” zunächst die Technik als autonomes Feld mit eigenem “Wesen” aufgerufen hat, übernimmt
dieses Feld jetzt die Rolle der Menschen. Mit der von Kraftwerk gesungenen Textzeile “Wir sind die Roboter” rufen die Künstler
sich selbst als Maschinen auf. Sie assimilieren sich und tauchen schließlich visuell auf Bühne und in Videos als Roboterpuppen auf,
deren Performance an Schlemmers entpersonifiziertes Theater erinnert. Das traditionelle Autoren-Modell, bei dem Musikinstrumente
von guten Musikern “beherrscht” werden, wird umgekehrt. Die Instrumente werden nicht mehr als Verlängerung der Autoren
begriffen, im Sinne von Marshall McLuhans Entwurf der technischen Medien als “extension of man”. Die Musiker von Kraftwerk
erklären sich zur Verlängerung der Maschinen.
Kraftwerk bricht folglich das traditionelle Verständnis von Technik als Gegensatz des Menschlichen nicht auf, sondern verkehrt es in
sein Gegenteil. Der Mensch verschwindet als fehlerhafte Wetware in die Technik hinein, das autonome Subjekt geht vom Menschen
in die Technik über. Sie wird zum neuen Subjekt erklärt. Der Entwurf eines autonomen Subjekts wird folglich nicht gebrochen,
sondern vertauscht. Das autonome Subjekt wandert vom Menschen in die Technik.
27
http://www.mercedes-bunz.de/theorie/mensch-maschine/
23
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Kraftwerk: Numbers (Album: Computerwelt. Kling Klang/EMI 1981)
Live Computerwelt 1981: http://www.youtube.com/watch?v=wdOX2mnMeUQ
Zahlen mit einem Vocoder erzeugt
vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Vocoder
24
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Steve “Silk” Hurley: Jack your body Original Mix 1986
http://www.youtube.com/watch?v=ZaHUK5GnDgE
Video Chicago house
http://www.youtube.com/watch?v=mQcg-dRg5h4
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body..
Jack
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja jack jack your body
Jack ya, jack, jack ya, jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body
Jack, jack, ja ja jack your body..
Melodie (Originalmix 1986):
Bassriff (Originalmix 1986):
Variante
Das ganze Stück beruht auf der pentatonischen Leiter. Andere Töne kommen nur selten vor (z.B. in der Variante des Bassriffs). Der Text ("Fordere
bzw. hebe deinen Körper") suggeriert in seiner variantenreichen Endlosrepetition, dass es hier in erster Linie um Körperstimulation geht.
25
Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
http://www.google.de/#hl=de&cp=23&gs_id=y&xhr=t&q=Jack+your+body+die+zeit&pf=p&sclient=psyab&source=hp&pbx=1&oq=Jack+your+body+die+zeit&aq=f&aqi=&aql=&gs_sm=&gs_upl=&bav=on.2,or.r_gc.r_pw.,cf.osb&fp=ef230700b529304
c&biw=1058&bih=740
Jack your Body!
Wo und wie kann man Ekstase downloaden?
In seinem berühmten Aufsatz „Zum Begriff der Geschichte“ beschreibt Walter Benjamin ein Ereignis der Julirevolution von 1830 in
Paris. Dort soll es sich zugetragen haben, dass zur gleichen Zeit, aber unabhängig voneinander, auf die Turmuhren der Stadt
geschossen wurde. Eben dieser Akt des Anhalten-Wollens, des Außer-Kraft-Setzens von Zeit versteht Benjamin als revolutionäres
Bewusstsein, das das Kontinuum von Geschichte aufsprengen will. Wichtig ist dieser Verweis, weil die Geschehnisse um eben jene
Revolution immer wieder als Manifestationspunkt der Moderne herangezogen werden, und die Frage nach dem Modernen durchzieht
auch Christoph Hinterhubers Arbeit. Benjamins Sicht auf das revolutionäre Bewusstsein soll hier mit einem Blick eine nicht allzu
weit zurückliegende Zeit der frühen 1990er-Jahre beleuchten. Eine Zeit, in der sich eben jene Moderne, deren Ursprung Benjamin
in seinem Aufsatz beschreibt, noch einmal als Sieger im Wettlauf zweier Blöcke verstehen darf, Mauern fallen und der Siegeszug des
Westens noch unaufhaltsam erscheint. In dieser Zeit entfaltet sich eine Jugendkultur, deren Bindeglied eine Musik ist, die es vermag,
das Zeitkontinuum zumindest temporär auszuhebeln. Zumeist findet dies im Rahmen einer Clubkultur statt, in der die Grenzen des
einzelnen Musikstücks auf Tage und das Körperliche als auf den gesamten verfügbaren Raum ausweitbar erscheinen. Angesichts der
asketisch-minimal wirkenden Malereien von Christoph Hinterhuber in seiner Ausstellung mit dem Titel „Futurist“ in der Galerie
Thoman mag es schwer vorstellbar erscheinen, dass diese zu einem ekstatischen Moment aufrufen, ja, diesen sogar in sich bergen.
Denn das ist es ja, was eine Überwindung des Zeitkontinuums sein muss: durch und durch ekstatisch! Allen zu spät
Geborenen bleibt scheinbar nur ein wehmütiger Blick zurück in die Zeit, als man auf Turmuhren schoss, um dem ewigen Dilemma
der Zeit zu entrinnen. Doch halt! Die Bilder von Hinterhuber scheinen Erlösung zu versprechen: ES KÖNNTE EWIG
WEITERGEHEN, BUMM BUMM BUMM. Die Vertaktung von Zeit und Geld zum einzig vorstellbaren Raum scheint zumindest in
temporären autonomen Zonen aufgehoben. Der Künstler, der hier in sehr kontrollierter und analytischer Manier seine Bilder
anfertigt, entspricht so gar nicht den Klischeevorstellungen eines Künstlers als Zeremonienmeister, der in ekstatischer und
überschäumender Manier seine Werke anfertigt. Andererseits sind viele der in der Ausstellung zu sehenden Arbeiten gespickt mit
Verweisen auf genau den: Der Plattenspieler als Instrument des modernen Zeremonienmeisters, den DJ. In Bronze gegossen, seiner
Funktion beraubt, erscheint er als Zitat aus einer längst vergangen Zeit – oder ist es Ewigkeit? Hinterhuber mixt sich hier als Meister
durch verschiedene Zeitströme, so lange bis zur Verwirrung ein Moment der Klarheit, von Zeitlosigkeit, von ewiger Gegenwart
eintreten mag.
JACK YOUR BODY, eine Reminiszenz an eine Zeit, die die Nachgeborenen nur als Remix kennen: als Ausruf des Chicago House
und Mitauslöser des aufkommenden Acid House in Großbritannien. In Christoph Hinterhubers Werk ist das immer mehr als nur das
Eine: Es ist weder eine wehmütige, nostalgische Reminiszenz noch eine politische Botschaft, sondern eben beides: Aufruf zur
Entgrenzung des eigenen Körpers und Erinnerung an die kraftvollen, ungelenken Beats des Chicago House. Zurück zum Thema der
Moderne. Der Triumph des ekstatischen, von Benjamin beschriebenen Aktes ausgeschalteter Zeit ist schnell eine Auffassung von
Gegenwart als bloßem Übergang, als Kontinuum, aus getakteter Zeit gewichen. Benjamin schrieb dazu in seinem Aufsatz von 1939:
„Ein Geschichtsbewusstsein, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leisesten Spuren zu geben scheint.“
THE FUCK SIDE OF MODERNITY, sagt Hinterhuber und könnte sich damit in eine Tradition von Künstlerbildern, die das
Janusgesichtige der Moderne bearbeiten, einreihen:
„Der Schlaf der Vernunft birgt Ungeheuer“ von Franciso Goya etwa könnte als Anführer in einer solchen Reihe genannt werden. Die
Frage nach Bedeutungen verfolgt Hinterhuber unermüdlich und fertigt mit dem monumentalen DOWNLOAD eine Wandmalerei an,
die in ihrer eigenen Opulenz eben jenen körperlosen Vorgang unaufhörlich paraphrasiert. Noch weiter: Im Rahmen der Ausstellung
nimmt sie den Platz der Frage ein. Der Frage, wo und wie wir Ekstatisches beziehen, ja herunterladen können. Einen Weg scheint
Hinterhuber aufzuzeigen: „JJJack your Body!“
L.A. Schwazer
Peter Wicke:28
In den New Yorker Gay-Clubs tauchte MDMA29 Mitte der siebziger Jahre auf, und Levan war einer der ersten D Js, der seine Musik-Mixtur
ganz auf die Wechselwirkung von Klang, Chemie und Bewegung abstellte. Er ging mit fast wissenschaftlicher Gründlichkeit vor, um die
Wirkung der verschiedenen Klangregionen auf die Tänzer zu erkunden. Dabei fand Levan immer neue Tricks, mit denen er aus den Scheiben
herausholte, was an Energie in ihnen steckte. Das Design der nach seinen Wünschen zusammengestellten und ständig vervollkommneten
Wiedergabeanlage im »Paradise Garage« erlangte Berühmtheit. Er erschloss ein noch unbekanntes Terrain, auf dem Rhythmus, Klang und
Körper eine Symbiose eingingen, die zwischen dem Bewusstsein der Tänzer und ihren Körpern einen Keil trieb. Gleichsam neben sich stehend
und doch bei sich seiend entdeckten sie den Körper als eine Ressource, dessen Energien durch Musik wie durch einen Transformator in die Höhe
getrieben werden konnten. Der Journalist Frank Owen beschrieb rückblickend die Wirkung von Levans virtuosem Spiel mit den Reglern: »Im
Bann von Levans betäubendem Mix schienen die Leute menschliche Grenzen zu überschreiten. Männer krochen auf Händen und Knien und
heulten wie Hunde, während andere sich verrenkten und herumsprangen, als könnten sie fliegen. Nach einem 2.4stündigen ununterbrochenen
Marathon stand eine erschöpfte Menge vor Levans DJ-Pult und bettelte >Mach weiter !‹.«326
Levan war nicht der einzige, aber ohne Zweifel der beste unter den New Yorker DJs, die aus den Gay-Clubs ein kulturelles Laboratorium
der Zukunft machten, aus dem die wichtigsten musikalischen Neuerungen der folgenden Jahre kommen sollten. »Die fast religiöse
Intensität der Atmosphäre in den schwarzen Gay Clubs in New York schuf eine ideologische Blaupause, die seither — ob bewusst oder
unbewusst — in jeder Dance-Kultur. angewandt worden ist. Es war eine Euphorie, die aus der Not geboren worden war: Als Schwarze
waren sie von den wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen des Mainstream-Amerika ausgeschlossen, als Homosexuelle waren sie aus
seinem moralischen Universum ausgeschlossen, als schwarze Homosexuelle war es ihnen sogar verwehrt, ihre Identität in ihrem eigenen
Umfeld auszuleben. Das führte zu einer mächtigen, unterdrückten Frustration, die ihr Ventil in den Clubs fand, dem einzigen Ort, wo sie
wirklich sie selbst sein und ihre Wünsche ohne Angst und Verklemmtheit ausleben konnten. Die Energie, die dort explodierte, war von
daher enorm: das Zusammengehörigkeitsgefühl ebenfalls. Das Konzept von Einheit und Zusammenhalten, das sich später in allen Club28
29
Von Mozart zu Madonna, Leipzig 1998, S. 268-279
ein Amphetamin, bis in die 1980er Jahre identisch mit der Droge Ecstasy
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Kulturen finden würde, nahm in diesen Clubs, unter dem Einfluss einer unterdrückenden Umwelt, seinen Anfang; zusammengeschmiedet
durch die Drogen, die sie nicht nur noch weiter von der allgemeingültigen amerikanischen Realität entfernten, sondern auch zu ihrem
exaltierten Geisteszustand beitrugen. Der Club wurde zu Kirche, Schlafzimmer und Familie in einem. ... Die schwarzen homosexuellen
Tänzer wurden in doppelter Hinsicht unterdrückt. Sie hatten nur noch sich selbst, herrliche Sünden und die blinde Hoffnung auf
Errettung.«
Levan hatte eine Formel gefunden, die rasch Schule machen sollte. Nicht nur die Symbiose von Bewegung, Klang und Körper ebnete den
Weg in ein neues Zeitalter. Auch der von ihm kultivierte Umgang mit den Hit-Produktionen der Industrie, die in seinen artistischen Mixturen
zum bloßen Material für eine subversive Form des Lustgewinns umgearbeitet wurden, wies den Weg in die Zukunft. Der Schritt lag nahe,
auf diesem Weg die Kontrolle über die Musikproduktion zumindest ein Stück weit zurückzuerobern. Nicht aus New Yorks Nachtklub-Areal
entlang des Broadway, sondern aus den sozialen Problemregionen der innerstädtischen Wohngebiete in der Bronx und South Bronx drangen
schon kurze Zeit später neue, auf diesem Weg weiterführende Töne aus den Diskotheken. Scratching hieß die Technik, mit der die DJs aus
der Schallplatte ein Instrument des Musizierens machten. Was aus einem kulturellen Prozess destilliert worden war, um es, als Ware
verpackt, in ihn hinein zurückzuverkaufen, wurde in der Bronx in diesen Prozess wieder re-integriert. Ein Konsumprodukt verwandelte
sich in ein Produktionsmittel. Durch Zwischenlegen einer Filzscheibe waren die Platten auf dem laufenden Teller beweglich gemacht. So
konnten sie angehalten und mit der Hand rhythmisch hin und her bewegt werden, wodurch aus der Musik heraus ein rhythmisiertes
Geräusch entstand, das jederzeit durch Loslassen der Platte wieder in Musik übergehen oder zu einer auf einem weiteren Plattenspieler
laufenden Platte hinzugemischt werden konnte. Diskjockeys wie Kool DJ Herc oder Afrika Bambaataa entwickelten ein ausgesprochen
virtuoses Spiel mit den Plattentellern. Darüber legten sie eine »Rap« — von englisch für »quasseln« — genannte Schnellsprechpraxis, die
die Partyfröhlichkeit der Disco-Nummern in eine zornige und aggressive kulturelle Ausdrucksform umschmolz. Damit wurde den
Jugendlichen aus den sozialen Randzonen der Gesellschaft wieder eine Stimme gegeben. Scratching und die immer ausgefeilteren
Mischtechniken der DJs erzeugten einen Soundtrack zu den Raps, der originell und flüchtig blieb — eine DJPerformance, die in der
Augenblicklichkeit des Moments lebte, und an der man teilhaben musste, weil sie nicht in Warenform zu pressen war. Selbst die in diesem
Stil bald schon auf dem Markt erschienenen Platten enthielten nur ein Rohmaterial, aus dem die DJs erst Musik machten. Kool DJ Herc,
der zu deri Pionieren dieser Technik gehörte, hat ein Grundmuster geprägt, das sein DJ-Kollege Afrika Bambaataa mit den Worten
beschreibt: »Er nahm Musik wie Mandrill oder Fencewalk, Disco-Scheiben, deren Breaks einen entsprechenden Funky-Rhythmus hatten,
wie etwa die Incredible Bongo Band in ihrem »Apaches und er ließ diesen Rhythmus endlos laufen, indem er von einem Plattenteller auf
den anderen überblendete, wo die gleiche Platte noch einmal lag und den Break oder ein Schlagzeug-, Conga- oder Bongo-Solo noch
einmal einspielte, während alles darauf wartete, dass es weiterging. Die Leute tanzten immer wilder und wilder, weil sie dachten, jeden
Moment geht es weiter. Und wenn der Sänger dann endlich wieder einsetzte, hoben sie förmlich ab.«328
Aus der finstersten Ecke der Bronx, der South Bronx, kam auch Frankie Knuckles, der zeitweise Larry Levan an den Reglern im
»Paradise Garage« assistiert hatte, bevor er 1977 nach Chicago ging, um hier im »Warehouse«, einer Lagerhalle an der inneren
Southside, Platten aufzulegen. Er erinnert sich: »Es war eine hauptsächlich schwarze, hauptsächlich schwule Szene, sehr soulig, sehr
spirituell. Für die meisten Leute, die dort hingingen, war das wie die Kirche. Das gab's nur an einem Tag in der Woche: Samstag nacht,
Sonntag morgen, Sonntag nachmittag. In der Anfangszeit, zwischen '77 und '81 waren die Parties unheimlich intensiv — sie waren immer
intensiv —, aber das Feeling damals war einfach total echt, glaube ich.« 329 Nicht zuletzt durch ihn erhielt der Club, von seinen Anhängern
schlicht »The House« genannt, einen so legendären Ruf, dass eine Musikrichtung danach benannt wurde House Music — und Knuckles
den Beinamen »Godfather of House« erhielt. Während die New Yorker Szene ganz darauf konzentriert war, den Hit-Singles der Industrie
ihren Produktstatus zu nehmen, sie zu demontieren und aus dem isolierten Material etwas Kreatives und Neues zu machen, begannen sich
in Chicago kleine Labels darauf zu spezialisieren, den Diskjockeys schon entsprechend vorgemischtes Material auf Tonträgern zu liefern.
Damit konnten der in New York von DJs wie Larry Levan vorangetriebenen Symbiose aus Rhythmus, Klang, Körper und Bewegung
völlig neue Dimensionen erschlossen werden. Knuckles hatte irgendwann 1978/79 damit begonnen, die Mixe komplexer zu machen,
indem er sich zu Hause auf Band Material zurechtmischte, das er als Grundtrack laufen ließ, während er an den Reglern und Plattentellern
dann live Schicht um Schicht darüber legte. Das hatte es zwar auch in New York schon gegeben, aber dort blieb der Bezug auf die SingleHits der Industrie und das Vorführen, was man mit Kreativität daraus machen kann, der entscheidende Kick. Knuckles dagegen zerlegte
das Ausgangsmaterial am Tonband bis zur völligen Unkenntlichkeit, isolierte mit der Schere Klänge und montierte mit Klebeband aus
ihnen perkussive Strukturen, die durch den Schnitt hinter jedem Ton einen knalligen, elektrisierenden Charakter erhielten. Isolierte und
herausgeschnittene Passagen, in der Regel eintaktige Phrasen, fügte er zu Endlosschleifen, • Loops, aneinander, die durch ihren repetitiven
Charakter ebenfalls eine hauptsächlich motorische Wirkung hatten. Die Welt der Klänge wurde von Grund auf neu durchforscht, um ihnen
rhythmische Effekte und motorische Energien abzugewinnen, die die Tänzer in den Diskotheken in frenetische Bewegung umsetzten. Der
herkömmliche Song, der bis dahin nahezu unangefochten im Zentrum der Popmusik gestanden hatte, verschwand als Muster und
Konzept gänzlich aus dieser Musik, und mit ihm wurde eine bestimmte Konzeption des Musikmachens und Musikhörens außer Kraft
gesetzt. Die Stücke hießen nun Tracks. Der Begriff kommt aus der Kinematographie und bezeichnete ursprünglich die neben dem Bild
aufbelichtete Tonspur, davon abgeleitet auch die auf Tonträger veröffentlichte Filmmusik — das Sound »track« -Album — und im
Kontext der Musikproduktion das technische Dasein eines Musikstücks — man spricht von einer bestimmten Anzahl »Tracks« auf
einem Tonträger. Seine Verselbständigung als Bezeichnung für die Stücke betonte den Charakter des Halbfabrikats — entscheidend ist
die zum Erlebnisraum gewordene Veranstaltung in ihrer Gesamtheit, das Event, und nicht die isoliert genommene Musik. Voi allem aber
unterstrich es das Technische und technisch Generierte an der so bezeichneten Musik. Mit der Lösung vom Modell des Songs eröffneten
sich Perspektiven für völlig neue Klangkonzepte, die nicht mehr in den traditionellen Kategorien von Strophe und Refrain gedacht
waren. An die Stelle der Gliederung des musikalischen Ablaufs in jeweils abgeschlossene Abschnitte trat nun ein Flussmodell mit
kontinuierlich sich aufbauenden und abbauenden Spannungen. Kettenartige Reihungen von Einzelelementen ließen einen
kontinuierlichen Klangstrom entstehen, den die manisch pulsierenden Rhythmusmuster vorantrieben. Die Organisation des klanglichen
Ablaufs folgt dabei Vorstellungen, die um Begriffe wie Level, Loop, Plateau und Linie gebildet sind.
Wichtige Anregungen hierfür kamen aus Detroit, wo etwa zur selben Zeit Technikfreaks wie Juan Atkins und der sich »3070«
nennende Richard Davis, die unter dem Namen Cybotron Platten aufnahmen, an einem neuartigen Electro-Sound bastelten. Atkins
erinnerte sich der Anfänge: »Wir nahmen zwei Exemplare derselben Platte und machten auf den Plattentellern dann alles mögliche damit,
schickten sie durch den Flanger*, ließen sie rückwärtslaufen, eben irgendwelche verrückten Sachen, die den Aufnahmen etwas mehr Pep
gaben. Irgendwann strickten wir dann unterschiedliche Platten stapelweise zu zwanzigminütigen und längeren Mixen zusammen. Dabei
arbeiteten wir hauptsächlich mit Überblendungen; das war noch, bevor Scratching und all die anderen Sachen aufkamen. Wir haben auf
Band gemischt, lediglich mit einem Kassettenrekorder und der Pausentaste.«30 Während in den Gay-Clubs von New York und Chicago
30
elektronisches Effektgerät zur Spektralmodulation des Klangs auf der Basis zeitabhängiger Phasenverschiebungen
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Disco Music die Plattform für den Aufbruch in ein neues Zeitalter gestellt hatte, lieferte in Detroit afroamerikanischer Funk mit seinen
beweglichen springenden Basslinien das Rohmaterial für die bizarren Soundkreationen. Atkins sowie die beiden begeisterten Klubgänger
Derrick May und Kevin Saunderson transformierten die Produktionen von George Clinton, Parliament oder Funkadelic in eine Sciencefiction-Version, für die der von dem Zukunftsforscher Alvin Toffler in seinem einflussreichen Buch »The Third Wave« geprägte Begriff
»Techno« — Toffler hatte von »Techno-Rebellen«331 gesprochen, um die neuen Kreativitätsformen zu beschreiben — wie geschaffen
schien. Auf Musik wurde er aber erst nachträglich in England übertragen. Hier veröffentlichte Virgin Records 1988 ein Kompilationsalbum
mit Underground-Produktionen aus Detroit unter dem Titel »Techno! The New Dance School of Detroit« — und ein neues Modewort war
im Umlauf. In den USA firmierten die Klangbasteleien aus den Wohnzimmerlabors technikbegeisterter Subkultur-Aktivisten dagegen
schlicht als »Electro«. Vor allem das Dreieck Atkins, May und Saunderson schuf inmitten der niedergehenden Automobilmetropole Gebilde,
die den Eindruck erweckten, als wollten sie jene Zukunft in Klang erschaffen, die die Stadt insbesondere denen mit schwarzer Hautfarbe
verweigerte. Mechanisch und roboterhaft fügten sich auf ihren Platten, die jeder für sich unter Phantasienamen wie Reese (Saunderson) und
Rhythim Is Rhythim (May) oder Model 500 (Atkins) veröffentlichte, sequenzergenerierte Klangmuster aneinander, unter denen die knalligen
Rhythmen der Drum Computer donnerten. Vocoder-Stimmen und die »sägenden« Basslines des Analogsynthesizers gaben dem ElectroSound aus Detroit sein futuristisches Ambiente.
In der Club-Szene von Chicago wurde den sterilen Techno-Produktionen aus Detroit Leben eingehaucht. Die DJs transformierten die
avantgardistischen Klangexperimente in eine körperbezogene hyperkinetische Tanzmusik. Als Mitte der achtziger Jahre die Preise für
Synthesizer und Rhythmusmaschinen drastisch fielen, begannen immer mehr DJs, Rhythmustracks selbst herzustellen oder die
blubbernden Drum-Computer mit entsprechenden Patterns zu programmieren, die live in den Clubs eine Rhythmusunterlage für den Mix
lieferten. Zu einem entscheidenden Faktor hierbei sollte das 1984 mit Yamahas berühmten DX7 auch in der Musikproduktion
eingeleitete digitale Zeitalter werden. Buchstäblich über Nacht war damit der inzwischen auf beachtliche Dimensionen angewachsene
Maschinenpark zur elektronischen Klangerzeugung und -manipulation in Analogtechnik obsolet geworden. Als Elektronikschrott zu
Tiefstpreisen auf dem Markt gebracht, wurden die ausgemusterten Geräte in den Diskotheken umfunktioniert und zielten dort mitten ins
Zentrum des vegetativen Nervensystems der Tänzer. Insbesondere die von der Roland Corporation für den Massenmarkt entwickelten
Produktlinien erfreuten sich, nachdem ihre ohnehin schon moderaten Preise in den Keller gerutscht waren, bei den Club-D Js
außerordentlicher Beliebtheit. Regelrechten Kultstatus erhielt die TB-3o3 Bass Line von Roland, ein sequenzergesteuerter BassSynthesizer, der eine eingegebene Tonfolge speichern und endlos wiederholen konnte. Das Gerät war ursprünglich entwickelt worden,
um Bar- und Kneipenmusikern, insbesondere Gitarristen, die solo auftraten, eine Bassbegleitung zur Verfügung zu stellen. Die
Bassfiguren wurden zuvor in das Gerät eingegeben und waren dann auf Knopfdruck abrufbar. Zusammen mit der Rhythmus-Maschine
TR 6o6 vgn Roland stand für einen durchaus erschwinglichen Preis eine komplette elektronische Begleitband zur Verfügung. Der
einzige Nachteil: Der von Oszillatoren generierte und dann zurechtgefilterte Klang besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem
wirklichen Bass oder einem wirklichen Schlagzeug. Rolands TB-3o3 Bass Line hatte zudem ein derart kompliziert zu handhabendes
Design, dass das Gerät seine Bestimmung von vornherein verfehlte und schon kurze Zeit nach der Markteinführung in den Second Hand
Shops landete. Ohne jedes Display, das eine Kontrolle der Eingaben erlaubt hätte, und durch die Mehrfachbelegung der Knöpfe und
Regler war das Gerät am Markt vorbei konzipiert worden. Spuckte es tatsächlich die erwartete Bassfigur aus, dann klang sie
unangenehm synthetisch und irgendwie sägend und blubbernd. Genau das machte sie für die DJs so attraktiv. Neben dem verfremdeten
Klang verhalf nun gerade das archaische Design der TB-3o3 zu ihrem Kultstatus. So schwierig es damit war, Basspattern für einen ganz
bestimmten Song zu programmieren, um so überraschender waren die Effekte, wenn einfach nur daran herumgespielt wurde. Auf dem
integrierten Minikeyboard musste zunächst die Tonfolge eingegeben werden, bevor nach Wechsel in einen anderen Eingabemodus jedem
Ton ein rhythmischer Wert zugewiesen werden konnte. Das Umschalten in einen weiteren Eingabemodus erlaubte die Verteilung von
Akzenten und Slide-Effekten. Die einzige Möglichkeit, jedem Ton die richtigen Werte zuzuweisen, bestand im konzentrierten Mitzählen
— ein Verfahren, das ausgesprochen fehleranfällig und damit für Überraschungen immer gut ist. Nathan Jones, der als DJ Pierre Platten
auflegte und zusammen mit Herbert Jackson und Earl »Spanky« Smith unter der Bezeichnung Phuture 1986 das legendär gewordene
»Acid Tracks« gemixt hatte, beschrieb den Umgang der DJs mit dem Gerät: »Ich hatte die Roland TB-3o3 von einem gewissen Jasper
gekauft, um damit Basslines zu programmieren. Während ich also herauszufinden versuchte, für was welcher Knopf bestimmt war,
bemerkte ich die seltsamen Modulationen des Sounds, der bereits in der 303 programmiert war. ... Spanky, mit dem ich
zusaminenarbeitete, hatte ein paar Tage zuvor einen 15minütigen Drumtrack programmiert, zu dem ich dann eine Bassline suchte.
Während der Drumtrack lief, drehte ich an den oberen Knöpfen und probierte aus, was am besten passte. «332 Die Popularität der TB-3o3,
die Roland lange schon vom Markt genommen hatte, als die DJs sie ihrer angestaubten Schattenexistenz in den Second-Hand-Läden
entrissen, führte schließlich sogar dazu, dass sie in den neunziger Jahren in einer geklonten Ausführung von verschiedenen Herstellern
wieder zugänglich gemacht wurde.
Die TB-3o3 war ein Zwitterwesen, das, obwohl als ein elektronisches Gerät konzipiert, dem Musiker ein Höchstmaß an Kontrolle lassen
wollte. Deswegen war die Programmierung so schwierig und komplex. Und eben das machte sie schließlich so erfolgreich, wenn auch nicht
für den ursprünglich intendierten Zweck. Die dazugehörige Rhythmusmaschine TR-6o6, auch unter der treffenden Bezeichnung »Drumatix«
vermarktet, erlaubte dagegen nur das Abrufen vorgegebener Rhyhtmusmuster, die ebenso zickig wie veraltet waren. »Samba«, »Bossa« und
»Cha-Cha« hatten allenfalls einen Reiz für die Alleinunterhalter an den E-Orgeln. Das Gerät war und blieb ein Flop. Der Nachfolger TR-8o8
zog mit der Bezeichnung »Rhythm Composer« die Konsequenz. Er war im Unterschied zu den kurze Zeit später folgenden Geräten, die auf
digitalisierten Schlagzeug-Samples basierten, ebenfalls noch ein von Oszillatoren und Rauschgeneratoren gesteuertes Gerät, dessen
futuristischer Klang in 16 verschiedenen Grundsounds nur entfernt an ein richtiges Schlagzeug erinnerte. Aber er erlaubte das
Programmieren eigener Rhythmusmuster, von denen bis zu 32. gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden konnten. Damit war es
das ideale Gerät, um in den Clubs den Musik-Mixen der DJs einen komplexen Dauer-Beat zu unterlegen.
Techno House nannte sich der Stil, der — inspiriert von den avantgardistischen Experimenten in Detroit — Ende der achtziger Jahre von
Chicago aus die Jugendkultur zunächst in England und dann auch im übrigen Europa eroberte. Inzwischen waren selbstprogrammierte
Basslines und Rhythmuspatterns als Unterlage für die Musikmixturen der DJs zum Standard geworden. Veröffentlicht auf Chicagoer
Szene-Labels wie dem 1984 gegründeten Trax Records oder dem 1985 entstandenen DJ International, gelangten sie auf obskuren Wegen
binnen kurzer Zeit in die europäischen Clubs und Diskotheken und trugen das eigentümliche Gemeinschaftsgefühl, das sie auf der Basis
eines homoerotischen Körperbewusstseins allein mit Rhythmus und Klang erzeugten, in den heterosexuellen Mainstream der
Jugendkultur. Wie Fäden spannten sich die pulsierenden Klänge zwischen die Körper der Tanzenden, vernetzten sie, bis sie wie ein
einziger Organismus im Rhythmus der Musik vibrierten. Das Gemeinschaftsgefühl, das dabei produziert wird, ist im Unterschied zum
Gemeinschaftskult des Rock absolut unideologisch. Es ist körperlich und unkörperlich zugleich, denn die enorme Intensivierung des
Körpergefühls in der manisch vorangetriebenen Bewegung korrespondiert mit einer Entgrenzung des Körpers— der Aufweichung der
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Körpergrenzen wortwörtlich in Schweiß, Schwaden von künstlichem Nebel und ihrer Auflösung in den zuckenden Blitzen des
Stroboskops. Das englische »Tribe« ist der Szenebegriff, mit dem diese Gemeinschaftsform in einem futuristischen Science-fictionAmbiente aus High-Tech-Klängen und Laserlicht nicht von ungefähr begrifflich eingefangen wird. Es ist die Neuerfindung von
Gemeinschaft aus dem Urgrund des Körperlichen heraus, archaisch und futuristisch zugleich.
In England, wo die minimalistischen Produktionen aus den USA zusammen mit der Droge Ecstasy eintrafen, war es dieses neuartige
Gemeinschaftsgefühl, das in die Jugendkultur übersprang und den Schwerpunkt nun auf die Events, die hier »Rave« genannt wurden,
verlagerte. Die DJ-Produktionen aus Chicagoer Gay-Clubs wie JM Silks » Jack Your Body« oder Marshall Jeffersons »Move Your
Body« gerieten an ein jugendliches Publikum, das sie begeistert aufnahm und auf Massenparties in einen Kult der Glückseligkeit
umsetzte. »One nation under one groove« lautete die Parole, und die unaufhaltsame Renaissance der Hippie-Droge LSD fügte dem noch
eine ganz eigene Dimension hinzu. Veranstaltungen waren nun nicht mehr einfach nur der Rahmen für die Vorführung von Musik,
sondern wurden zur sorgfältig inszenierten Produktion einer körperorientierten Gemeinschaftserfahrung. Raves sind eine Organisation
von beweglichen Räumen aus taktilen, visuellen und klanglichen Komponenten, deren Fluchtlinien sich im gedachten Mittelpunkt jenes
vibrierenden Organismus schneiden, zu dem die tanzenden Leiber verschmelzen. Sie finden deshalb bevorzugt an solchen Örtlichkeiten
statt, die wie leerstehende Fabrikhallen oder häufig auch Freiflächen einem solchen Ambiente möglichst wenig Widerstand
entgegensetzen. Das Line-Up der DJs projiziert in die Ödnis einen kulturellen Raum, in dem die Körper wie Denkmale ihrer selbst in
zuckender Bewegung zur Ausstellung gelangen. Aus der Kleidung wurden ausgesuchte Ganzkörperverpackungen, stilvoll im Design,
schrill im Aussehen und bizarr in der Zusammenstellung. In der sich neu formierenden Jugendkultur der Raves und Raver begannen sich
die Linien bislang getrennt verlaufener Entwicklungen der Pop-Kultur zu kreuzen. Die multiplen Bilderwelten der PopVideos lieferten
jetzt die Codes, die auf der zum Experimentierfeld für musikalisch induzierte Körperkonstruktionen umfunktionierten Tanzfläche in ein
individuelles Körperdesign umgesetzt wurden. Video-Stars wie Madonna feierten im kalten Lichtdesign der Diskotheken nicht mit ihren
Songs, sondern vielmehr mit ihrem Outfit, das regelrecht zitiert wurde, ungeahnte Erfolge. Immer schneller lösten die rasch wechselnden
Inszenierungsmoden in Form von Kleidung oder unmittelbar auf den Körper aufgetragener Darstellungsmittel wie aufwendiges, einer
Bemalung ähnelndes Make-up, synthetische Haarfärbungen, skulpturenartige Frisuren und piercing einander ab.
Sampling, das Digitalisieren von bis dahin analogen Klängen, hatte inzwischen die Möglichkeiten der DJs, ihre eigenen Tracks zu
produzieren, enorm erweitert. Mit dem Aufkommen erschwinglicher Sampler war kein Stück Musik mehr davor sicher, gesampelt und
geloopt den immer komplexer werdenden Mixturen einverleibt zu werden. Entsprechende Sequenzer-Software und der Computer
erleichterten die individuelle Musikproduktion im Wohnzimmer-Studio. Aus dem grenzenlos gewordenen Musik-Recycling gingen
zunehmend Tracks mit einem durchaus eigenständigen Charakter hervor, die sich bald schon zu einem ebenso lebendigen wie obskuren
Sektor des Tonträgermarktes auswuchsen. Oft in Miniauflagen von nur wenigen hundert Stück in Eigenregie herausgebracht, lieferten
sie den DJs geeignetes Material zum Auflegen, das diese sich durch systematisches Abgrasen dieses Marktsegments zu höchst
individuellen Kollektionen zusammenstellten. Einmal etabliert, verzweigte sich diese DJ-Musik mit geradezu atemberaubender
Geschwindigkeit in stilistische Kategorien und Subkategorien. Was eben noch House Music geheißen hatte, nannte sich nun Acid House
und unterschied sich von Deep House, Hip House, Ambient House und Garage House, wurde um Gabber und Jungle ergänzt, die
ihrerseits zu Hardcore und Drum & Bass mutierten — und so weiter und so fort.
Als die rotierende Spirale der Schnellebigkeit 1989 mit dem »real existierenden Sozialismus« die ehernen Zeugnisse des Kalten Krieges
förmlich pulverisierte, kam es in den bunkerbewehrten Zwischenwelten entlang des Berliner Mauerstreifens zu einer Reanimierung der
futuristischen Klangexperimente des Detroit Techno. Die hier entstandene digitalisierte Variante gab den sich ausdifferenzierenden
Dancefloor-Stilen schon bald einen verbindenden Namen. Zugleich kam es im Umfeld der aufziehenden TechnoMusik zur fröhlichen
Auferstehung einer Idee, die in den Feuilletons gerade larmoyant begraben wurde. Unter dem Motto »Love, Peace and Unity« oder — in der
Comic-Variante der Graffiti-Künstler — »Arme und Beine aller Länder, vereinigt Euch !« quoll aus den Kellern, Bunkern und verwaisten
Werkhallen einstiger volkseigener Betriebsamkeit die Vision von der Raving Society, eine Kreuzung aus Kreativität, Utopie und Ironie mit
dem buchhalterischen Realismus von Sponsoren, die wie der US-Tabakgigant Reynolds (Camel) gerade dabei waren, Szene-Marketing zur
neuen Heilslehre zu erheben. Jürgen Laarmann, als Chef des Techno-Magazins Frontpage einer der erfolgreichsten Unternehmer der Ravewirtschaft und Szene-Guru, erklärte: »Wir wollen unseren Spass sofort und ohne Umwege. Wir wollen mehr erleben, die Farben riechen,
den Sound schmecken, die Dinge fühlen, die Wahrheit sehen, die Lügen nicht glauben und das tun, was uns wirklich interessiert. Toleranz,
Offenheit, Inspiration, Humor ..., Freude am Neuen und tiefe, inbrünstige Liebe zu dem und denen, die wir gutfinden, sind unsere
Charakterzüge. Wir setzen die zur Verfügung stehende Technik so ein, dass sie uns am meisten nützt ... Wir sehen in der Zukunft die
ravende Gesellschaft, die Gesellschaft, die begreift, was wir heute sagen. Die gesellschaftlichen Folgen sind unabsehbar und werden
mindestens so groß sein wie der gesellschaftliche Impact der Hippies auf die späten sechziger und siebziger Jahre. [—] Die ravende
Gesellschaft mit lauter glücklichen Leuten, die mit ihrer Identität und Funktion zufrieden sind, ... ist unser Ideal, dem wir
näherkommen. >Do what you want to do< ist ein Ideal der achtziger Jahre, das erst jetzt verwirklicht wird.« Aus der Perspektive der
für den Zigarettenhersteller Reynolds auf der Techno-Szene agierenden Marketingfirma Megacult hieß das dann kurz und bündig in
ein Aktionsprogramm übersetzt, »zusammen mit Techno weiterzugehen und zusammen größer zu werden«.
Und groß geworden sind sie, Reynolds vermutlich etwas größer als Techno, aber am Ende bestimmen sie beide das Bild einer Kultur,
die sich nur noch in einer einzigen Richtung zu denken und zu bewegen vermag. »Konsum« steht auf dem Schild in riesengroßen
Lettern, das anzeigt, wo es langgeht – Konsum von allem, was sich konsumieren lässt, der eigene Körper inklusive. Die Kinder der 68er
haben den Emanzipationsanspruch ihrer Eltern aufgegriffe und ganz nach deren Vorbild, nur ohne die idealistischen Phrasen von einst, in
einen hedonistischen Lebensstil umgesetzt. Zudem schufen sie sich mit den sequenzergenerierten Loops und computergesteuerten
Rhythmuspatterns einen angemessenen Soundtrack. Es ist das die schlimmste Form des Generationskonfliktes, wenn die Kinder die
Eltern nachahmen und dabei deren idealistischen Plunder in Ironie auflösen. Dass sich diese Generation mit der Berliner Love Parade
ausgerechnet in Form eines totalitären Massenaufzugs selber feiert, der als politisch gemeinte Demonstration vor allem an der
ausführlich diskutierten Höhe der Müllberge gemessen wird, die er hinterlässt, mag man als Sinnbild für den Wandel von Woodstock zu
Raveland entweder optimistisch oder pessimistisch sehen. Auf jeden Fall aber ist es ein deutlicher Fingerzeig darauf, dass nichts bleibt,
wie es war, und nichts ist, was bleibt, oder um es in der bildhaften Sprache der Fun-Generation zu formulieren, »The world raves on« –
mit wackelndem Popo und, für alle Fälle schon mal, mit Trillerpfeife im Mund.
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Underground Resistance: Final Frontier (Album: Final Frontier) 1991
http://www.youtube.com/watch?v=8MTM4p0Hx0o
Vorbilder: Public Enemy und Kraftwerk
Über den Schlagzeug-Rhythmen erscheint streckenweise eine sphärische Streicher-Klangfläche in Form einer ausgedehnt
zerfließenden, ametrischen Kadenz-Andeutung:
Der für 'klassische' Hörer erwartbare Leitton his
kommt aber nicht, und die Kadenz bleibt offen.
Mercedes Bunz:31
“Musik entsteht aus der Verbindung von Mensch und Maschine.” UR entwirft diese Verbindung als ein Science Fiction Szenario,
indem das Produkt dieser Verbindung, die Musik, als Waffe eingesetzt wird. Ziel dieses musikalischen und aggressiven Angriffs ist
nichts weniger als der Weltfrieden. Technik gilt UR folglich nicht als autonomes, eigenes Feld, sondern als Instrument, um in einem
Science Fiction Szenario, das als Metapher der Gegenwart entworfen wird, den Kampf aufzunehmen. Und es sind nicht die großen
Erfindungen und Entdeckungen der Wissenschaft, die hier als Waffe in Anschlag gebracht werden, es sind die musikalischen Geräte
selbst. Auf ihrer dritten Veröffentlichung “Final Frontier” EP wird die Drummaschine 808 der Firma Roland als “Bass Camp 808″
beschworen, gefolgt von dem Track “Entering Quadrant 5″.
Es sind jedoch nicht nur die Geräte, die in Anschlag gebracht werden. Der Eingriff auf die Medien erstreckt sich bis zur Schallplatte
selbst. Während für Kraftwerk das Vinyl Trägermedium von Musik und Label ist, wird das Vinyl bei UR nicht nur zum Träger von
Musik, sondern zum direkten Träger von schriftlichen Botschaften, die eingeritzt werden. Nicht nur aus finanziellen Gründen
verzichtet UR auf aufwendig gestaltete Cover und Poster, wie sie Kraftwerks Musik begleiten. Ihr Name ist Programm, denn ihre
visuelle Sichtbarkeit verschwindet von Covern und Labeln teilweise bis zur nahen Unsichtbarkeit. Auf “Waveform”, ihrer vierten
Veröffentlichung, findet sich der Plattenkäufer vor einem schwarzen Cover und einem schwarzen Label. Erst nach dem
Herausnehmen der Platte aus ihrer Hülle finden sich auf einer Seite ziemlich klein das Label, der Titel der E.P., die Tracknamen, eine
Telefonnummer, sowie die Message eingeritzt: “Life is a waveform”. Das Label betont außerdem seinen erklärten Ausnahmezustand,
sowie die besondere Funktion seiner Musik durch ungewöhnliche Cutting-Methoden: Eine Seite der E.P. ist rückwärts geschnitten,
d.h. der Plattenarm wird innen aufgesetzt und läuft nach außen. Immer wieder greift UR zu solchen außergewöhnlichen Techniken,
kritzelt in Zusammenarbeit mit ihrem Cutter Ron Murphy Botschaften an den Rand der Platten, bei dem UR-Sublabel “World Power
Alliances” von 1992 sogar auf die gesamte Rückseite:
“The World Power Alliance was designed to bring the worlds minds together, to combat the mediocre audio and visual programming
being fed to the inhabitants of earth, this programming is stagnating the minds of the people building a wall between races and world
peace. This Wall must be destroyed, and it will fall. By using the untapped energy potential of sound, the W.P.A. will smash this wall
much the same as certain frequencies shatter glass. Brothers of the Underground transmit your tones and frequencies from all
locations of this world and wreak havoc on the programmers. This is war! Long live the Underground.”
UR ruft auf, “das energetische Potential von Sound” zu programmieren, um feindliche Differenzen zwischen den Menschen zu
beseitigen. Musik als Waffe des Untergrunds: Das Zitat zeigt deutlich, dass für UR Musik eine Methode ist, Menschen zu
beeinflussen, indem sie eine geistige Wand zwischen ihnen errichtet, aber ebenso auch fähig ist, sie einzureißen. Während Kraftwerk
sich seit “Radioaktivität” auf Covern als zurückgenommene Kapelle entwerfen und damit dem traditionellen Modell von Musik als
Ausdruck des Künstlers ausweichen, verschieben UR nicht nur das traditionelle Modell von Musik, sondern ersetzen es durch ein
anderes. Aus einer Musik, die den Ausdruck des Autors bzw. der Maschinen abbildet, wird Musik, die vor allem als Funktion
verstanden wird.
Dieses Modell von Musik als Funktion hat weit reichende Effekte auf den Entwurf des Autors – beinahe könnte man sie als
Umsetzung von Foucaults Thesen “Was ist ein Autor?” bezeichnen. Indem UR Musik in ihrer Funktion als Waffe versteht, rückt in
ihrer Präsentation der Autor in den Hintergrund. UR verstellt die Rückführung der E.P.s und Tracks auf die Identität der einzelnen
Produzenten. Sie geben kaum Interviews, sondern lassen ihre Produkte sprechen. Auch bei einer Reihe von Live Sets, die 1992
durchgeführt werden, treten UR zum größten Teil maskiert auf: Jeff Mills fungierte am DJ-Desk dabei als Zentrum des Auftritts, an
zwei Keyboards rechts und links von ihm ein maskierter Mike Banks und Derwin Hall, während Rob Hood vor ihnen hinter einer
stilisierten Gasmaske rappt.
Die Identität des Autors ist nebensächlich. Ihre Verschleierung ist die logische Fortführung von URs Musik- und Technikverständnis:
Musik ist Effekt der Schnittstelle von Mensch und Maschine. Für UR ist der Künstler nicht alleinige Resource der Musik und hat
deshalb aus ihrem Mittelpunkt zu treten. Es ist nicht das autonome Subjekt Mensch, das die Geräte beherrscht und sein Selbst (oder
das der Technik) ungestört in der Musik ausdrückt. Es ist die Schnittstelle von Mensch und Maschine: Das Sortiment der Sounds, die
sie möglich macht, gekoppelt mit dem Können des Produzenten, der sich auf das User-Interface der Maschine einlassen muss. Das
wird auch in der Selbstbeschreibung von UR deutlich: UR-Künstler bezeichnen sich nicht als Musiker, sondern als Programmierer.
31
http://www.mercedes-bunz.de/theorie/mensch-maschine/
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Diese Umstellung eines Künstlermodells vom Musiker, der sich auf einem Medium ausdrückt, zum Programmierer, der mit einem
Medium arbeitet, verschiebt das autonome Subjekt nicht wie bei Kraftwerk vom Menschen in die Technik. Technik gilt UR als
Gegenüber, nicht als Gegensatz. Das autonome Subjekt wird nicht vom Menschen in die Technik verschoben, sondern verschwindet.
An seine Stelle tritt ein Modell, welches das Subjekt immer innerhalb eines spezifischen Horizonts entwirft. Musik hat ihren
Ursprung nicht mehr wie beim traditionellen Autorenmodell im Künstler, auch nicht wie bei Kraftwerk in der Maschine, sondern
wird ein Effekt von beiden.
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
Miles Davis: Miles Runs the Voodoo Down, aus: Bitches Brew (1969)
Trompetenpart (Miles)
blue notes: as(gis) und es (Doppelstufen 3 und 7)
Die freien Improvisationen entfalten sich über einem einzigen Akkord [F7(#9)] und in rigider Bindung an die entsprechende
Bluestonleiter in F. Hier wirken also Miles' langjährige Erfahrungen mit dem Modal Jazz nach. An keiner Stelle verlässt das Stück
diesen eng abgesteckten Raum. Darin hat es eine gewisse strukturelle Nähe zu Steve Reichs Minimalmusik. Dem entspricht auch,
dass das Stück kein 'Ziel' hat, sondern mit dem Fade out schließt.
Große Bewegtheit zeigt es dagegen - ganz anders als die Minimalmusik - hinsichtlich des Ausdruckverlaufs: neben den vielen
expressiven Klanggesten im Detail gibt es auch großformale Entwicklungen im Wechsel von Hektik und Ruhe.
Live am 27.10.1969 in Rom:
http://www.youtube.com/watch?v=kRo-qLOu2qM
http://de.wikipedia.org/wiki/Bitches_Brew
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Hubert Wißkirchen: Zentralabitur NRW Musik 2014, Teil c, Stand 15.04.2013
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre spürte Miles Davis, dass seine Band immer mehr in Routine erstarrte und dass angesichts so
spektakulär-virtuoser Rockmusiker wie Jimi Hendrix viele Jazzfans die Seiten wechselten. Nach dem Woodstock Festival 1969
beschloss er deshalb eine Fusion (Verschmelzung) von Jazz und Rockmusik.
Von der Rockmusik werden die elektrisch verstärkten Instrumente, die Gestaltung der rhythm section und die streckenweise
durchlaufenden Bassfiguren übernommen. Und Miles ließ seine Gitarre nun fast wie eine verzerrte Gitarre klingen.
Vom Jazz wird vor allem das das modale Musizieren beibehalten.
Der Titel "Huren-Bräu" sollte evtl. die Jazzkritiker provozieren, "indem er ihnen die 'Prostitutions'-Vorwürfe an seiner Person und
seiner 'musikalischen Entgleisung' durch Selbstironie vorwegnahm." 32
Arrigo Polillo (1975):33
Clive Davis, damals Präsident der Columbia, also der Plattenfirma, an die der Trompeter seit Jahren gebunden war, hat seinerseits
geltend gemacht, er habe seinen Vertragspartner auf einen neuen Weg gebracht. »Ich ermunterte Miles, eine neue Richtung
einzuschlagen. Es schien, dass Miles... eine von den anderen losgelöste Karriere machen konnte, während seine Musik dabei war,
sich zu entwickeln, und ich drängte ihn zum Kurswechsel, um sein Publikum zu vergrößern . . . Nach einer anfänglichen Explosion,
die ihn veranlasste, um Entbindung von seinen vertraglichen Verpflichtungen mit uns nachzusuchen, weil er nicht an Orten wie im
Fillmore spielen wollte — eine Verhaltensweise, die nur kurz dauerte und wunderbar typisch für Miles war —, rief er mich an, um
mir zu sagen, dass er bereit war, den neuen Kurs einzuschlagen, was sich im Endergebnis als sehr nützlich für ihn, für uns, für die
Leute und für die Musik erwiesen hat.«
Der praktische Nutzen des Anpassungsprozesses an den Geschmack des breiten Publikums war sofort einleuchtend: Während von
jedem seiner letzten Plattenalben nicht mehr als 25 000 Exemplare verkauft worden waren (John Hammond, ein weiterer Leiter der
Columbia, hat festgestellt, dass Davis ein Verlustgeschäft für die Firma geworden war), erreichte »Bitches brew« binnen weniger
Monate die Auflagenziffer von einer halben Million Kopien und verursachte damit eine Kettenreaktion, die Mitte der siebziger Jahre
noch nicht abgeschlossen war.
Andre Asriel:34
Die bemerkenswerten Richtungswechsel, die Davis von der Kritik teils angekreidet, teils als Verdienst angerechnet wurden, sind aber
nicht etwa in einer Haltlosigkeit seines persönlichen Stils als Improvisator begründet. Vielmehr ist Davis nach seinen Lehrjahren im
Bebop seiner kühlen, »einsamen«, modalen Spielweise, zumindest bis 1968, treu geblieben und hat sie stetig vervollkommnet.
Sobald er aber mit feinem Gespür merkte, dass sein Ensemble anfing, routiniert zu spielen, und sobald er die entsprechenden Reaktionen des »Marktes« registrierte, hielt er Ausschau nach anderen Musikern. So erwuchsen seine Richtungsänderungen vor allem aus
der Spannung zwischen seinem eigenen, mehr oder weniger unveränderten Stil und den neuen Spielweisen seiner wechselnden, meist
jüngeren Ensembles. »Birth Of The Cool«, Aufnahmen mit Gil Evans' impressionistischen Big Bands, seine Quintette, erst mit
Coltrane, dann mit Tony Williams, der ihm bis 1968 treu blieb, waren solche Marksteine auf seinem Weg.
In der zweiten Hälfte der sechziger Jahre, als der Rock einen großen Teil des vom radikalen Free Jazz abgestoßenen Publikums
aufzusaugen begann, bemerkte Davis, dass sein hervorragendes Quintett nicht mehr richtig »zog«. Er begann einmal mehr Ausschau
zu halten nach neuen, jüngeren Musikern mit zeitgemäßeren Vorstellungen. Vorsichtig tastete er sich an den elektrischen Sound
heran — mit zwiespältigem Erfolg.
... 1969 vollendete Davis diese seine vorläufig letzte radikale Richtungsänderung. »In A Silent Way« — eine Art elektrifiziertes
»Kind Of Blue« —, mit Hancock und Corea am el-p, Zawinul an el-p und org sowie McLaughlin (el-g), wird von LEONARD
FEATHER wie folgt charakterisiert:
»Die langen Stücke bieten traumartige >Kopf-Musik<, erweitert durch die harmonische Freiheit der Avantgarde der sechziger
Jahre.«
Auf »In A Silent Way« folgte »Bitches Brew«, jenes Album, das kraft seiner in glücklicher Stunde erzielten ungewöhnlichen
Prägnanz und Eigentümlichkeit zwar nicht als frühestes, aber als wirkungsvollstes, als auslösendes Vorbild des Fusion Jazz der
siebziger Jahre gilt.
»Bitches Brew« wurde von einer neuen »Mannschaft« eingespielt. Vom Quintett der sechziger Jahre blieb nur Wayne Shorter übrig.
Davis engagierte eine ganze Reihe von Musikern, von denen einige bereits damals zum Rock tendierten und die in den folgenden
Jahren wesentliche eigene Beiträge zur Fusionsmusik leisten sollten. Auf »Bitches Brew« ist bereits wenn man vom Fehlen der Orgel
und des Synthesizers absieht — das elektrische und rhythmische Inventar der Fusion im Einsatz: el-tp, el-p, el-g, el-bg und perc. Bis
hin zu »Bitches Brew« hörte man auf allen Aufnahmen einen mehr oder weniger unveränderten Miles Davis vor einem ständig dem
Zeitgeschmack entsprechend — veränderten Hintergrund. Nun aber wurde auch er selbst, wurde seine musikalische Individualität
erstmalig angetastet. BERENDT:
'Miles bläst seine Trompete nun oft mit Wah-Wah-Pedal über einen elektrischen Verstärker. Der reine, klare, >einsame<, immer ein
wenig traurige Ton des Miles Davis früherer Jahre ist dabei oft kaum mehr erkennbar ...«
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Jacek Brzozowski: Miles Davis musikalischer Werdegang bis 1970, München 2008, S. 20
Jazz. Geschichte und Persönlichkeiten, München 1975, S. 594
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Jazz. Aspekte und Analysen, Berlin 1985, S. 243 f.
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