Jan Hemming Multiparadigmatische Musik Antrittsvorlesung
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Jan Hemming Multiparadigmatische Musik Antrittsvorlesung
Jan Hemming Multiparadigmatische Musik Antrittsvorlesung gehalten am 8.11.2006 an der Universität Kassel. […] Damit zum Inhaltlichen. Auch wenn die Idee einer „mulitiparadigmatischen Musik“ noch aus meinen Studienjahren stammt, möchte ich Sie hier keineswegs mit verblichenen Errungenschaften vergangener Tage langweilen. Erst jetzt, im zurückliegenden Sommersemester, war es mir nämlich möglich, zum Konzept gehörige Forschungen erstmals zu realisieren. Gerne nutze ich also die Gelegenheit, Ihnen heute auch einen Einblick in meine Arbeitsweise zu ermöglichen: konkret die Realisation kleiner und mittlerer Forschungsvorhaben in Anbindung an Lehrveranstaltungen. Zuvor möchte ich aber einige generelle Überlegungen anstellen, die mein Selbstverständnis als Professor für Musikwissenschaft im Allgemeinen, und als Professor für systematische Musikwissenschaft im Besonderen betreffen. Auch die systematische Musikwissenschaft befindet sich nach einem Generationenwechsel im Wiederaufbau, und eine neue Standortbestimmung ist dringend geboten. Abbildung 1: Schema nach (Adler 1885) 1 Vielen von Ihnen dürfte das Schema von Guido Adler aus dem Jahr 1885 bekannt sein, wo dieser erstmals eine Aufteilung der Musikwissenschaft in einen historischen und einen systematischen Bereich vorgenommen hat. Kaum zu glauben eigentlich, dass diese Unterscheidung – wenig später ergänzt durch den Bereich der Musikethnologie – bis heute Bestand hat. Sie ist z. B. von Belang, wenn es um Stellenausschreibungen, die fachpolitische Ausrichtung der Musikwissenschaft oder um das Erteilen von Lehrbefugnissen im Rahmen von Habilitationsverfahren geht. Allerdings eignen sich die von Adler verwendeten Begriffe „historisch“ und „systematisch“ kaum für definitorische Eingrenzungen der jeweiligen Gebiete, denn selbstverständlich arbeitet ein Historiker genau so wenig unsystematisch wie ein Systematiker ahistorisch – um es einmal konziliant auszudrücken. Adler erreicht seine Aufteilung stattdessen durch eine Auflistung beteiligter Unterdisziplinen. Vielleicht ist dies der Grund für die Langlebigkeit seines Schemas – die graduelle Aktualisierung von Inhalten und der dazugehörigen Begrifflichkeit im Verlauf der letzten 121 Jahre hat an keiner Stelle nennenswerten Widerspruch hervorgerufen. Heutzutage charakterisiert man systematische Musikwissenschaft etwa durch Auflisten der Gebiete Akustik, Instrumentenkunde, Musiktheorie, Kulturtheorie, Musikästhetik sowie Musikpsychologie und Musiksoziologie – Inhaltlich bilden die beiden zuletzt genannten Gebiete übrigens meinen eigenen Arbeitsschwerpunkt. Ohne auf das Schema von Guido Adler nun vertieft eingehen zu wollen möchte ich aber noch darauf hinweisen, dass hier auch das Gebiet der Musikästhetik der systematischen Musikwissenschaft zugeschrieben wurde. Dies ist möglicherweise die einzige tatsächlich umstrittene Zuordnung, denn selbstverständlich erfordert das Gebiet der Ästhetik eine fundierte historische Perspektive. Just auf diesen Aspekt möchte ich am Ende dieses Vortrages noch einmal zurückkommen. Im Zusammenhang der Konzipierung eines Lehrbuchs 1 für systematische Musikwissenschaft gemeinsam mit meinen Kollegen Wolfgang Auhagen aus Halle an der Saale und Andreas Lehmann aus Würzburg wurde deutlich, das eine Definition der systematischen Musikwissenschaft durch eine Auflistung der beteiligten Gebiete nur bedingt erreicht werden kann. Einen spezifischen Sinn erlangt systematische Musikwissenschaft vor allem dann, wenn sie perspektivisch und methodisch als komplementär zur historischen Musikwissenschaft verstanden wird. Dies möchte ich Ihnen nun anhand eines alternativen Schemas veranschaulichen, das ich auf Anregung des Anglisten Jürgen Meyer entworfen habe 2. 1 2 erschienen als (Auhagen, Busch, & Hemming 2011) aktualisierte Version erschienen in (Hemming 2012) 2 Abbildung 2: Musik zwischen Text und Kontext Im Mittelpunkt des Schemas und banaler Weise auch der Arbeit jedes Musikwissenschaftlers steht selbstverständlich die Musik, die ich hier mit einem kleinen rechteckigen Kasten veranschaulicht habe. In einem kulturwissenschaftlichen Verständnis wird Musik dabei als „Text“ bzw. als „in Klang realisiertes Bedeutungsgefüge“ bezeichnet. Warum dies sinnvoll ist wird sofort deutlich, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass Musik nicht nur an und für sich existiert, sondern stets in einem Kontext stattfindet, den ich als „umgebenden soziokulturellen Raum“ charakterisieren möchte. Sehr oft beinhaltet die wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik eine Analyse des in Klang realisierten Bedeutungsgefüges im Zentrum des Schemas. In methodischer Hinsicht wird dies als Bereich der werkimmanenten Analyse von Musik bezeichnet. Nicht so fern sind übrigens die Tage, als die werkimmanente Analyse als primäre, wenn nicht gar ausschließliche Aufgabe der Musikwissenschaft angesehen wurde. Eine erhebliche Skepsis gegenüber dem umgebenden soziokulturellen Bereich ist auch heute noch zu vermerken, insbesondere wenn es um die Beschäftigung mit populärer Musik geht. In der nächsten Folie wird aber zunächst dargestellt, auf welche Aspekte bzw. Parameter einer Musik sich die werkimmanente Analyse beispielsweise richten könnte – dies wären etwa 3 Melodie, Harmonie, Rhythmus sowie musikalische Motive oder die formale Anlage der Musik. Für Kunstmusik wären zudem Fragen der stilistischen Konsistenz oder der zu Grunde liegenden Kompositionstechnik relevant, während im Bereich populärer Musik Aspekte wie Sound, Groove oder Eingängigkeit zu berücksichtigen wären. Nähert man sich Musik hingegen aus dem umgebenden soziokulturellen Raum, kann dies in dem hier vorgestellten Modell entlang vier globaler Achsen oder Perspektiven erfolgen. Der vielleicht am nächsten liegende Zugang ist der der Produktion. Vereinfacht gesagt stellt man sich die Frage, aus welchen Kontextbedingungen der beteiligten Komponisten die zu thematisierenden Werke jeweils hervorgegangenen sind. In Betracht kommen hier die biographische Situation ebenso wie die – marxistisch ausgedrückt – zur Verfügung stehenden Produktionsmittel. Niemand wird heute mehr bestreiten, dass es einen Unterschied macht, ob man zu Hause allein mit dem Bleistift vor einem Notenblatt sitzt, oder ob man etwa die Möglichkeiten einer multimedialen Produktionsumgebung eines zeitgenössischen Studios zur Verfügung hat. All dies sollte gleichsam dialektisch berücksichtigt werden, bevor die vorab charakterisierte Analyse des in Klang realisierten Bedeutungsgefüges im Zentrum des Modells erfolgen kann. Analog hierzu kann und sollte selbstverständlich auch der Bereich der Rezeption der in Frage stehenden Kunstwerke einbezogen werden. Wie wirkt die Musik eigentlich auf den Hörer? Auf welche – zumeist medial vermittelte Weise – gelangt die Musik überhaupt zum Hörer? Welche Rolle spielt die beteiligte Musikindustrie, die ja angeblich in der Lage ist, über Hit oder Flop zu entscheiden? Und welche Zusammenhänge lassen sich aufzeigen zwischen dem Alltagesleben der Hörer und der jeweils bevorzugten Musik? All dies sind Fragen, mit denen sich die Rezeptionsforschung beschäftigt und zu denen teilweise sehr interessante Teilantworten vorgelegt werden können. Die dritte Achse schließlich führt den Aspekt der Zeit bzw. der Historizität von Musik in das Modell ein. Auch ohne Kenntnis ihrer Produktions- oder Rezeptionsbedingungen steht keine Musik jemals für sich allein, sondern ist – salopp ausgedrückt – eng an den jeweiligen Zeitgeist gebunden. Gemäß dieser Sichtweise kann eine Musik oftmals nicht aus sich selbst heraus begriffen werden, sondern nur in Kenntnis und im Zusammenhang mit anderen historischen Erscheinungsformen. Ohne Zweifel ist die historische Sichtweise nach wie vor das bestimmende Paradigma musikwissenschaftlichen Arbeitens insgesamt. Aus diesem Grund möchte ich sie hier etwas ausführlicher thematisieren. Wo sie engagiert betrieben werden, sind musikwissenschaftliche Forschung und Lehre normalerweise in der Lage, ein überaus konsistentes und ebenso faszinierendes Bild der Musikgeschichte zu zeichnen, das von der Antike über das Mittelalter und die nachfolgenden Jahrhunderte direkt in die Moderne hineinreicht. Im Verständnis poststrukturalistischer Theoretiker wie Jean François Lyotard oder Jacques Derrida würde diese Darstellungsform als 4 Narrativ bzw. als „große Erzählung“ (Lyotard 1986) ausgewiesen. Bestandteile dieses Narrativs sind üblicherweise parallel verlaufende Rationalisierungs- und Emanzipationsbestrebungen im Fortgang der Musikgeschichte (Weber 1921). So hat man Grundlagen der Musiktheorie bereits in der Antike als Proportionenlehre dargestellt und im Verlauf des Mittelalters verschiedene Verständnisse davon entwickelt, welche musikalischen Intervalle als konsonant oder dissonant aufzufassen seien. Nachdem sich im 17. Jahrhundert die Erkenntnis durchsetzte, dass sich unser Tonsystem nicht auf reinen Schwingungsverhältnissen begründen lässt, wurde die gleichschwebend temperierte Stimmung erfunden. Dies wäre ein Beispiel für die beschriebenen Rationalisierungstendenzen – zu dem Preis, dass nun alle Intervalle ein bisschen verstimmt klingen erkaufte man sich die Möglichkeit, alle zwölf möglichen Dur respektive Molltonarten nun gleichberechtigt nebeneinander verwenden zu können. Die Ihnen allen bekannte Umsetzung dieses Prinzips finden wir in J.S. Bachs Zyklus mit dem Originaltitel „Das Wohltemperirte Clavier. oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia“ (Bach 1722). Musikgeschichte lässt sich also beispielsweise verstehen als Geschichte einer immer weiter fortschreitenden Emanzipation der Dissonanz (Dahlhaus [1968] 1978). Gemäß dieses Narrativs ist es also eine geradezu logische Konsequenz, dass Arnold Schönberg und andere im frühen 20. Jahrhundert eine Methode der „Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen“ (Schönberg [1935] 1976) entwickelten. Wem die dazugehörigen Resultate als abstrakt und unverständlich erscheinen, dem gibt der Musikhistoriker den Rat, diese Musik aus ihren geschichtlichen Zusammenhängen zu begreifen. Dies funktioniert ausgesprochen gut - nimmt man sich die hierfür erforderliche Zeit, fällt irgendwann der Groschen, um es noch einmal leicht verständlich zu sagen. In der Tat ist das Studium der Musikwissenschaft vielerorts genau so angelegt, dass es nach und nach zu einem vertieften Verständnis der Musik des 20. und des 21. Jahrhunderts führt – so habe ich es in Berlin übrigens auch selbst erlebt. Dabei lässt sich das beschriebene Narrativ auch auf andere musikalische Parameter ausweiten. Gängige Darstellungen thematisieren üblicherweise die Gestaltung der musikalischen Form um die zentrale Achse der SonatenHauptsatzform, wie sie sich während der Epoche der Klassik herausgebildet hat. Hierzu gehören die Exposition einer oder mehrerer Themen, deren entwickelnde Variation in der Durchführung, sowie eine Rückführung in Reprise und Coda. Die Auseinandersetzung mit all diesen Gestaltungsprinzipien und ihren möglichen Durchbrechungen ist für große Teile der Musik des 20. Jahrhunderts weiterhin maßgeblich, und üblicherweise beruft man sich dann auf Beethoven, der viele dieser Formprozesse in seinem Spätwerk vorweggenommen habe (Karger 2006). Auf dieses Narrativ wird später zurückzukommen sein. Wenden wir uns jetzt zunächst noch einmal dem Schema zu. Wie dargelegt versucht die historische Musikwissenschaft gegenwärtige und vergangene musikalische Phänomene vor allem aus ihrer Geschichte und ihren Entwicklungen heraus zu verstehen – grundsätzlich werden hier mehr oder 5 weniger lange Zeiträume resp. Längsschnitte in Betracht genommen. Vorherrschend ist also eine diachrone Perspektive. Das hierzu gehörige Methodenrepertoire habe ich nur sehr grob gerastert in das Schema aufgenommen. Hierzu gehören selbstverständlich die philologische Basisarbeit an den Quellen, das Herstellen von Werkeditionen, die Sicherung der Überlieferung sowie eine historische Einordnung gemäß einer Theorie musikalischer Gattungen und ihrer Klassifikation (Marx 2004). Wie bereits erwähnt ist hingegen umstritten, ob aus der historischen Perspektive auch legitime ästhetische Urteile hervorgehen können (Dahlhaus 1970). Demgegenüber konzentriert sich die systematische Musikwissenschaft tendenziell auf theoretisch oder experimentell komplexe Untersuchungen von Zeitpunkten bzw. Querschnitten bezogen auf den Forschungsgegenstand. Beispiele hierfür wären Messungen in einem Akustiklabor ebenso wie musikalische Analysen oder – und dieser Bereich hat in den letzen Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung gewonnen – empirische Forschungen vor allem in den Bereichen der Musiksoziologie und Musikpsychologie. Gelegentlich trifft man auf die Aussage, systematische Musikwissenschaft thematisiere überdauernde, beständige Aspekte von Musik, während die historische Musikwissenschaft mit den veränderlichen Aspekten befasst sei. Diese Darstellung ist aus meiner Sicht eine zu grobe Vereinfachung. Bezogen auf das oben genannte Bespiel beinhaltet sie etwa die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts widerlegte Ansicht, die Frage nach Konsonanz oder Dissonanz ließe sich naturwissenschaftlich ein für alle mal beantworten. Um es mit Adorno zu sagen, selbstverständlich hat auch die Wahrheit in der systematischen Musikwissenschaft einen Zeitkern. Wo erforderlich muss hier also stets die historische Perspektive einbezogen werden. Umgekehrt gilt auch für die historische Musikwissenschaft, dass sie ggf. auf ein empirisch erweitertes Methodenrepertoire zugreifen sollte. Beispiele hierfür sind etwa historiometrische Untersuchungen zu Biographie, Karriere und Repertoire einzelner Künstler, wie sie kürzlich vorgelegt wurden. In der schematischen Darstellung veranschaulicht die Achse von links oben nach rechts unten also den systematischen gegenüber dem historischen Zugang nicht im Sinne einer Ausschließlichkeit, sondern im Sinne der jeweils vorherrschenden Perspektive. Noch einmal vereinfacht ausgedrückt sind es meistens die Historiker, die in der beschriebenen Weise philologisch und editorisch arbeiten, während sich meistens die Systematiker des großen Fundus quantitativer und qualitativer Methoden bedienen, die etwa von Psychologie, Soziologie oder Ethnologie bereitgestellt werden. So ergibt sich automatisch eine größere Nähe der systematischen Musikwissenschaft zum interdisziplinären Arbeiten, was hier allerdings nicht wertend gemeint ist. Mit einem letzten Blick auf das Schema betrachten wir noch die Kombinationen jeweils benachbarten Achsen bzw. Perspektiven. Aus einer Verbindung der Achse der Produktion mit der historischen Perspektive entsteht so z. B. das Ihnen allen bekannte Paradigma Leben und Werk des musikhistorischen 6 Arbeitens. Verbindet man hingegen die Achse „Rezeption“ mit der historischen Perspektive wird das Projekt einer Sozialgeschichte der Musik ersichtlich. Aus einer Verbindung der systematischen Perspektive mit der Achse der Rezeption entsteht die beschriebene interdisziplinäre, meistens empirische Rezeptionsforschung. Zu guter Letzt lenkt die Überlagerung der systematischen Perspektive mit der Achse der Produktion den Blick auf den Bereich kultureller Praxis, welche am treffendsten mit kulturwissenschaftlichen Theorien zu beschreiben wäre. Aber wo bitteschön hätte in diesem Modell die Musikethnologie Ihren Platz? Soll hier etwa eine Restitution des Adlerschen Ansatzes erfolgen, wo Musikethnologie noch unter ihrer damaligen Bezeichnung „Musikologie“ ein Randdasein fristete? Praktisch lassen sich diese Fragen in der vorgelegten Schematisierung nicht beantworten – ich möchte daher an Ihre Imaginationskraft appellieren. Wie auch immer man Musikethnologie definieren könnte – eine zentrale und zugleich banale Erkenntnis lautet, dass musikalische Praktiken gebunden sind an ihre jeweiligen geografischen Orte. Um die Musikethnologie also in das Schema aufzunehmen, müssen wir es in unserem Kopf dreidimensional werden lassen. Es ginge dann also um eine Musikedition in Indien ebenso wie um eine Publikumsbefragung bei einer Veranstaltung westafrikanischer Trommler. Ganz zu schweigen von dem gigantischen Projekt einer Weltgeschichte der Musik, welches uns als Aufgabe im 21. Jahrhundert möglicherweise noch bevorsteht… Damit aber zurück zum Boden der Tatsachen und der nun schon mehrfach versprochenen Forschungsergebnisse. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist eine kleine Forschungsarbeit zur Formwahrnehmung bei elektronischer Musik, an deren Realisation und späterer Publikation (Gerlach & Hemming 1993) ich im Rahmen einer studentischen Projektgruppe beteiligt war. Es ging um die Wahrnehmung musikalischer Formprozesse bei zeitgenössischer, elektronischer Kunstmusik. Ein beliebtes Argument der Kritiker elektronischer Kompositionen ist der Vorwurf, dass hier oftmals keine verbindliche Form erkennbar sei (Schmidt 1992). Genau dieser Frage haben wir uns am Beispiel des achtminütigen Titels „Aquatisme“ des französischen Komponisten Bernard Parmegiani angenommen (Parmegiani 1982). In einer experimentellen Versuchsanordnung wurden unsere Probanden mit einem Klingelknopf ausgestattet und aufgefordert immer dann zu drücken, wenn sie der Meinung seien, ein neuer Abschnitt habe begonnen. Darüber hinaus wurden die Versuchspersonen gebeten, auf einem Begleitfragebogen den Prozess des Hörens im Nachhinein möglichst genau zu beschreiben. Aufgrund dieser Darstellungen wurde in der Auswertung eine Unterscheidung in eine primär analytische, primär assoziative oder primär emotionale Hörweise getroffen. 7 Gerlach, Julia & Hemming, Jan (1993): Ein Experiment zur Formwahrnehmung bei elektronischer Musik. Jahrbuch Musikpsychologie, 10, S. 68 Abbildung 3: Folie Gerlach & Hemming Die Resultate zeigt das folgende Diagramm, in dem die Anzahl der Abschnittsmarkierungen durch analytische Hörer nach oben und die der assoziativen Hörer nach unten abgetragen wurde. An den fünf nummerierten Stellen deutlich erkennbar sind die fast synchronen Segmentierungen durch analytische wie durch assoziative Hörer. Empirisch nicht von Belang sind die in der Stichprobe nur vereinzelt anzutreffenden Hörer mit primär emotionalem Zugang. In einem nächsten Auswertungsschritt haben wir uns die Frage gestellt, ob die vorgefundenen Markierungen einen musikalischen Sinn ergeben. 8 Bernard Parmegiani: Aquatisme, aus: La création du monde, INA/GRM 1982-84 Hörpartitur 0:00-2:00 Min. Abbildung 4: Hörpartitur Aquatisme Zu diesem Zweck wurde in mühevoller Kleinarbeit eine Hörpartitur des gesamten Stückes erstellt, der Versuch also, das Gehörte grafisch abzubilden. Anhand der ersten Seite dieser Hörpartitur haben Sie nun Gelegenheit, die ersten 60 Sekunden des Stückes kennen zu lernen. Aufgrund der nun auch grafisch ersichtlichen Stimmwechsel etwa zum Zeitpunkt 0:30 Sekunden sind wir zu der Ansicht gelangt, dass die just an dieser Stelle erfolgten Abschnittsmarkierungen de facto eine Entsprechung des musikalischen Verlaufs abbilden. Ohne Ihnen dies hier im Einzelnen vorführen zu wollen, lassen sich vergleichbare Entsprechungen auch für die verbleibenden Abschnittsmarkierungen aufzeigen. In aller Kürze wiedergegeben lauten die Schlussfolgerungen aus diesem Experiment: 1. Es findet auch bei elektronischer Musik eine musikalische begründbare Formwahrnehmung statt 2. Für die Erfassung der Form spielt es keine Rolle, ob eine primär analytische oder primär assoziative Hörweise angewendet wird. Anders ausgedrückt: ein analytischer Zugang bewirkt gegenüber dem assoziativen keine stärkere Differenzierung des Hörens. 9 Die Ergebnisse sind damit in zweierlei Hinsicht von Belang. Sie ermöglichen – wenn auch in geringem Maße – die ästhetische Aufwertung der elektronischen Musik, wenn man – wie in der Analyse musikgeschichtlich bedeutsamer Werke üblich – das Vorhandensein einer nachvollziehbaren formalen Gestaltung als ästhetisch wertvoll ansieht. Und sie widersprechen der in der Musikwissenschaft im Prinzip seit Mitte des 19. Jahrhunderts anzutreffenden Vorstellung vom Primat des analytischen Hörens. Besonders pointiert wurde diese Ansicht durch Theodor Wiesengrund formuliert, in seiner Charakterisierung des Expertenhörers in der Einleitung in die Musiksoziologie aus dem Jahr 1962/63: „Der Experte selbst wäre, als erster Typus, durch gänzlich adäquates Hören zu definieren. Er wäre der voll bewusste Hörer, dem tendenziell nichts entgeht und der zugleich in jedem Augenblick über das Gehörte Rechenschaft sich ablegt. Wer etwa, zum erstenmal mit einem aufgelösten und handfester architektonischer Stützen entratenden Stück wie dem zweiten Satz von Weberns Streichtrio konfrontiert, dessen Formteile zu nennen weiß, der würde, fürs erste, diesem Typus genügen. Während er dem Verlauf auch verwickelter Musik spontan folgt, hört er das Aufeinanderfolgende: vergangene, gegenwärtige und zukünftige Augenblicke so zusammen, daß ein Sinnzusammenhang sich herauskristallisiert. Auch Verwicklungen des Gleichzeitigen, also komplexe Harmonik und Vielstimmigkeit, faßt er distinkt auf. Die voll adäquate Verhaltensweise wäre als strukturelles Hören zu bezeichnen. Sein Horizont ist die konkrete musikalische Logik: man versteht, was man in seiner freilich nie buchstäblich-kausalen Notwendigkeit wahrnimmt. Ort dieser Logik ist die Technik; dem, dessen Ohr mitdenkt, sind die einzelnen Elemente des Gehörten meist sogleich als technische gegenwärtig, und in technischen Kategorien enthüllt sich wesentlich der Sinnzusammenhang.“ (Adorno [1962,1968] 1973) Wir werden auch das hier beschriebene Streichtrio in Kürze kennen lernen und uns am Nachvollziehen der Ausführungen üben können. Und damit zum aktuellen Versuchsdesign. Gegenüber den nur rudimentären Möglichkeiten der beschriebenen Klingelknöpfe wurde am Center for Music Research der Florida State University ein Gerät entwickelt, das ein Erfassen des musikalischen Verlaufs in wesentlich differenzierterer Weise ermöglicht. Es handelt sich um das „Continuous Response Digital Interface“, kurz CRDI, eine Apparatur, die aus einem Interface sowie einer Anzahl von Stellrädern besteht. Eine deutsche Bezeichnung dieses Geräts müsste in etwa Schnittstelle zur Erfassung kontinuierlicher Rückmeldungen lauten. 10 Abbildung 5: Folie: CRDI-Dial Jede Versuchsperson bekommt ein eigenes Stellrad zugewiesen und hat damit die Möglichkeit, Änderungen im musikalischen Verlauf – entsprechend einer zuvor erteilten Höranweisung abbilden zu können. Mit der hier sichtbaren Skala negativ – positiv könnte beispielsweise der Grad des aktuellen Gefallens einer Musik wiedergegeben werden. Dies kommt in der Präferenzforschung zur Anwendung, wenn die Bewertung einer Musik auf einer Zeitachse abgebildet werden soll, um auch die dazugehörigen Gründe in der musikalischen Struktur aufzeigen zu können. 11 Abbildung 6: CRDI Hardware-Interface Die aktuelle Version des CRDI besteht aus einem Interface mit Anschlussmöglichkeiten für maximal 8 Stellräder. Die Position jedes Stellrads wird digital auf einer Skala von 0 bis 255 ausgelesen und via USB an einen Rechner übermittelt, auf dem die dazugehörige Steuerungssoftware läuft. Zur vereinfachten Auswertung werden alle Messdaten in einer Tabelle festgehalten, die später z. B. mit EXCEL geöffnet werden kann. 12 Abbildung 7: CRDI Software-Interface Der lang gehegte Wunsch, einmal selbst mit dem CRDI arbeiten zu können, konnte im Zuge meiner Berufung an die Universität Kassel erfüllt werden. Während das Interface allein für unter 100 Dollar zu haben ist, schlagen die einzelnen Stellräder mit jeweils dem doppelten Betrag zu Buche. Wirklich Sinn macht aber nur eine vollständige Versuchsanordnung mit allen acht Stellrädern. da nur so mit vertretbarem Aufwand eine nennenswerte Anzahl von Probanden zu untersuchen ist. Hilfreich war dabei die unmittelbare Nachbarschaft der Fachrichtung Musik zu den Uni-Werkstätten, die ebenfalls am hiesigen Standort Heinrich-Plett-Straße angesiedelt sind. Ich habe also nur ein Original-Stellrad erworben. Die verbleibenden sieben wurden in Zusammenarbeit der Elektronikmit der Metallwerkstatt in kurzer Zeit und zu einem günstigen Preis nachgebaut. So ist es möglich, die Musica Practica – das an mein Büro angrenzende Musik- und Notenarchiv – bei Bedarf in ein musikpsychologisches Versuchslabor zu verwandeln. 13 Abbildung 8: Foto der Versuchsanordnung Nun möchte ich Ihnen zunächst einen Blick auf die Primärdaten ermöglichen, die mit dieser continuous response Anordnung erhoben werden können. Die Höranweisung zu diesem Beispiel lautete: „Auf der Skala vor Ihnen haben Sie die Möglichkeit, positive oder negative Emotionen abzubilden. Sind Sie der Musik gegenüber neutral eingestellt, lassen Sie den Zeiger bitte in der Mittelstellung. Bei negativen Gefühlen drehen Sie den Zeiger bitte nach links und bei positiven Gefühlen nach rechts. Versuchen Sie bitte dabei, Änderungen im musikalischen Verlauf möglichst genau zu entsprechen!“ Das Musikbeispiel ist die volkstümliche Fuchsgraben-Polka von Karel Vacek. 14 Fuchsgraben-Polka - emotionale Höranweisung 250 200 150 100 Vp66 Vp67 Vp68 Vp69 Vp70 Vp71 50 0: 00 0: 05 0: 10 0: 15 0: 20 0: 25 0: 30 0: 35 0: 40 0: 45 0: 50 0: 55 1: 00 1: 05 1: 10 1: 15 1: 20 1: 25 1: 30 1: 35 1: 40 1: 45 1: 50 1: 55 2: 00 2: 05 2: 10 2: 15 2: 20 2: 25 2: 30 2: 35 2: 40 2: 45 0 Abbildung 9: Bsp. und Animation Fuchsgraben-Polka An der Legende auf der rechten Seite können Sie erkennen, dass an diesem Versuchsdurchlauf insgesamt 6 Personen teilgenommen haben. Nach ungefähr fünf Sekunden haben sich diese im aktuellen Stück orientiert und beginnen mit der Betätigung der Stellräder. Bei drei Versuchspersonen löst diese Musik offenbar heftige negative Emotionen aus – die Kurve wandert nach unten. Die anderen drei Personen reagieren auf die Musik mit – wenn auch nicht mit ganz so deutlichen – positiven Emotionen. Im Verlauf des Stücks geht die Intensität der positiven wie auch der negativen Emotionen erkennbar zurück. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass die späteren Abschnitte des Stücks emotional neutraler gehalten sind – ich würde aber eher für einen Gewöhnungseffekt plädieren. Insgesamt sollte man bei der Interpretation der Primärdaten bzw. der Einzelkurven eher vorsichtig sein. 15 Versuchsdesign Musikbeispiele 1 Beethoven – Klaviersonate Nr. 23 f-moll, I. Satz (Ausschnitt) 5:06 2 Keith Jarrett – Köln Concert, Part I (Ausschnitt) 5:41 3 Philipp Glass – Floe 5:59 4 Slipknot – Wait and Bleed 2:27 5 Karel Vacek – Fuchsgraben-Polka 2:50 6 Bernard Parmegiani – Aquatisme, aus: La création du monde 5:00 7 Balinesisches Gamelan 5:40 8 Anton Webern – Streichtrio op. 20, II. Satz 6:05 Höranweisungen • 1 assoziativ 2 emotional 3 analytisch 4 motorisch • • für jedes Stück wurden Durchläufe mit jeder Höranweisung vorgemommen n=83 Versuchspersonen getestet wurden überwiegend Studierende der Musik Abbildung 10: Versuchsdesign Neben der emotionalen wurde eine assoziative, eine analytische sowie eine motorische Höranweisung gegeben. Das konkrete Design der Untersuchung wurde im zurückliegenden Sommersemester gemeinsam mit den Studierenden in einer Lehrveranstaltung entwickelt, die übrigens als Pflichtbestandteil „Praxis des musikwissenschaftlichen Arbeitens“ der neuen modularisierten Studienordnung gewertet werden konnte. Neben den bereits erwähnten Stücken von Parmegiani, Webern und Vacek wurden fünf weitere Titel in die Untersuchung einbezogen. Dabei handelt es sich um einen Ausschnitt aus dem ersten Satz der Klaviersonate op. 57 von Beethoven (Appassionata), einen Ausschnitt aus dem improvisierten Jazz-Klavierstück „Köln Concert“ von Keith Jarrett, einen Minimal-Music-Titel von Philip Glass, einen Nu-Metal Titel der amerikanischen Band Slipknot sowie um eine Komposition für balinesisches Gamelan. Es wurden absichtlich Stücke ausgewählt, welche die Hörer möglicherweise polarisieren – in der Hoffnung auf deutliche Resultate bei den Messdaten. Zumindest im Fall der Fuchsgraben-Polka scheint dies gelungen zu sein. Die acht Titel wurden mit den vier Höranweisungen überkreuzt, so dass für jedes Stück Erhebungen mit jeder Höranweisung durchgeführt wurden. Vorgesehen waren jeweils zwei Durchläufe, so dass pro Erhebung zwischen 6 und 16 Versuchspersonen erreicht wurden. Insgesamt beläuft sich die Zahl der Probanden auf n=83. Eine Einschränkung der Untersuchung – auch das sollte ich an dieser Stelle erwähnen – besteht allerdings darin, dass überwiegend 16 Studierende der Musik getestet wurden. Aber schauen wir uns jetzt einige der weiteren Auswertungsschritte an. Denkbar ist zunächst, aus den Einzelwerten der Versuchspersonen Mittelwerte zu bilden und damit Durchschnittskurven des Verlaufs zu erstellen. Am vorliegenden Beispiel wird aber auch die Problematik genau dieser Vorgehensweise deutlich, da sich die Werte teilweise gegenseitig neutralisieren. Dennoch habe ich für Sie die entsprechende Durchschnittskurve einmal berechnet. Fuchsgraben-Polka: Mittelwerte der emotionalen Höranweisung 250 200 150 Ø emotional 100 50 2:50 2:45 2:40 2:35 2:30 2:25 2:20 2:15 2:10 2:05 2:00 1:55 1:50 1:45 1:40 1:35 1:30 1:25 1:20 1:15 1:10 1:05 1:00 0:55 0:50 0:45 0:40 0:35 0:30 0:25 0:20 0:15 0:10 0:00 0:05 0 Abbildung 11: Durchschnitt Fuchsgraben-Polka emotional Dieselben Berechnungen lassen sich nun auch für die anderen drei Höranweisungen durchführen. 17 Fuchsgraben-Polka: Mittelwerte der Höranweisungen im Vergleich 250 200 150 Ø assoziativ Ø analytisch Ø emotional Ø motorisch 100 50 2:50 2:45 2:40 2:35 2:30 2:25 2:20 2:15 2:10 2:05 2:00 1:55 1:50 1:45 1:40 1:35 1:30 1:25 1:20 1:15 1:10 1:05 1:00 0:55 0:50 0:45 0:40 0:35 0:30 0:25 0:20 0:15 0:10 0:05 0:00 0 Abbildung 12: Durchschnittswerte Fuchsgraben alle Höranweisungen Die Kurven des emotionalen wie des motorischen Verlaufs scheinen sich auf den ersten Blick leicht zu ähneln, was durch eine Korrelationsberechnung aber nicht bestätigt wird. Völlig andersartige Verläufe zeigen auch die analytische und die assoziative Kurve. Aus diesem disparaten Bild lässt sich daher nicht entnehmen, welches die dem Stück möglicherweise am besten angemessene Hörstrategie wäre. Möglich wird dies erst durch eine weitere Überlegung, die ich Ihnen nun erläutern möchte. Wenn Sie noch einmal an den Versuch mit den Klingelknöpfen zurückdenken – eine formal korrekte Gliederung des Stücks wurde hier durch eine entsprechende Anzahl an Markierungen pro Zeiteineit erreicht. Der Gedanke pro Zeiteinheit ist dabei der Schlüssel für die entscheidende Transformation, der ich die vorliegenden CRDI-Daten unterziehen möchte. Anders gesagt geht es nun überhaupt nicht mehr darum, ob eine Gruppe von Hörern mehr oder wenige starke Emotionen empfindet oder mehr oder weniger starken Assoziationen ausgesetzt ist. Stattdessen interessiert mich allein das Ausmaß der Veränderungen, welches durch die jeweilige Hörstrategie erreicht wird. Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, ob die emotionalen Hörer häufiger die Stellung des Zeigers verändern als die motorischen, oder die analytischen, oder eben die assoziativen. Wenn Sie sich nun an Ihren Schul-Mathematikunterricht erinnern – die Änderungsrate eines Kurvenverlaufs lässt sich ausdrücken durch 18 die Steigung einer Tangente, die an der jeweiligen Stelle dem Kurvenverlauf angepasst wird. Ändert sich nichts am Kurvenverlauf – weil das Stellrad nicht betätigt wird – bleibt die Tangente waagrecht, Steigung gleich null. Steigen die Werte pro Zeiteinheit aber an, ergibt sich auch eine Tangente mit positiver Steigung und analog dazu eine Tangente mit negativer Steigung bei abfallenden Primärwerten. Ich bin also der Meinung, dass die jeweilige Steigung der Tangenten ein Maß liefert für die Differenziertheit des Hörens, welche mit der jeweils vorgegebenen Strategie erreicht werden kann. Dabei interessiert es allerdings nicht, ob die betreffende Steigung positiv oder negativ gerichtet ist – entscheidend ist, dass es eine Veränderung gibt. Leider liefert die entsprechende Transformation der Daten und eine sich anschließende grafische Darstellung aber ein Bild, das weitaus weniger anschaulich ist als die bisher gezeigten. Bleiben wir bei der Fuchsgraben-Polka: Fuchsgraben-Polka - Differenziertheit des Hörens 35 30 25 20 15 assoziativ analytisch emotional motorisch 10 5 0: 00 0: 05 0: 10 0: 15 0: 20 0: 25 0: 30 0: 35 0: 40 0: 45 0: 50 0: 55 1: 00 1: 05 1: 10 1: 15 1: 20 1: 25 1: 30 1: 35 1: 40 1: 45 1: 50 1: 55 2: 00 2: 05 2: 10 2: 15 2: 20 2: 25 2: 30 2: 35 2: 40 2: 45 0 Abbildung 13: Fuchsgraben-Polka, Differenziertheit des Hörens Sehr deutlich zu sehen sind hier hohe Änderungsraten gleich zu Beginn, welche durch die zuvor gezeigten recht extremen Einstellungen zum Zeitpunkt etwa 5 Sekunden erklärt werden – vor allem im Bereich Emotion und Assoziation. Ansonsten scheint hier vor allem das analytische Hören markante Gliederungen zu bewirken, was möglicherweise auf die gute Durchhörbarkeit des Stückes zurückzuführen ist. Darüber hinaus ist interessant, dass die sonstigen Untergliederungen des Stückes durch die jeweiligen Hörstrategien kaum zu 19 vergleichbaren Resultaten führen. Wie sieht dies nun im Fall der elektronischen Komposition von Bernard Parmegiani aus? Kann die im ersten Versuch beobachtete hohe Konsistenz analytisch respektive assoziativ begründeter formaler Untergliederungen durch das CRDI-Design repliziert werden? Parmegiani - Differenziertheit des Hörens 40 35 30 25 20 assoziativ analytisch emotional motorisch 15 10 5 0: 00 0: 10 0: 20 0: 30 0: 40 0: 50 1: 00 1: 10 1: 20 1: 30 1: 40 1: 50 2: 00 2: 10 2: 20 2: 30 2: 40 2: 50 3: 00 3: 10 3: 20 3: 30 3: 40 3: 50 4: 00 4: 10 4: 20 4: 30 4: 40 4: 50 0 Abbildung 14: Parmegiani, Differenziertheit des Hörens Die Antwort lautet auch in diesem Fall nein. Sie sehen in dieser Grafik die Markierungen aus dem ursprünglichen Versuch, welche auch durch die Hörpartitur begründet werden konnten. Aber weder die Ausschläge der analytischen Hörer noch die der assoziativen Hörer scheinen hier in der Nähe zu liegen oder gar konsistent zu sein. Sicher könnten hierfür Erklärungen gefunden werden, etwa in der Tatsache, dass die Hörstrategie im CRDI-Versuch ja vorgegeben war und nicht frei gewählt werden konnte wie im ersten Experiment. Ich möchte aber vielmehr der Frage nachgehen, ob die im CRDIVersuch durch die Bildung der Ableitung aus den ursprünglichen Kurven ermittelten Untergliederungen insgesamt keinen Sinn ergeben, oder ob sie doch musikalische begründet werden können. Zu diesem Zweck wenden wir uns nun dem von Adorno so trefflich charakterisierten zweiten Satz des Streichtrios von Anton Webern zu. Dieser ist nach Art der Sonaten-Hauptsatzform aufgebaut und enthält unter anderem die Formteile Einleitung, Exposition mit Wiederholung, Durchführung, Reprise und Coda. Ich habe die Formteile in die 20 zugegebenermaßen unübersichtliche Gesamtdarstellung der Differenziertheit des Hörens eingezeichnet. Bsp. 8: Anton Webern - Differenziertheit des Hörens 30 Exposition Wdh. Exposition Durchführung Reprise Coda 25 20 15 assoziativ analytisch emotional motorisch 10 5 0: 00 0: 10 0: 20 0: 30 0: 40 0: 50 1: 00 1: 10 1: 20 1: 30 1: 40 1: 50 2: 00 2: 10 2: 20 2: 30 2: 40 2: 50 3: 00 3: 10 3: 20 3: 30 3: 40 3: 50 4: 00 4: 10 4: 20 4: 30 4: 40 4: 50 5: 00 5: 10 5: 20 5: 30 5: 40 5: 50 6: 00 0 Abbildung 15: Webern gesamt, Differenziertheit des Hörens Dass sich auch hier kaum Entsprechungen der formalen Abschnitte zu den Ausschlägen, die die einzelnen Hörweisen bewirkt haben, aufzeigen lassen, liegt mit Sicherheit darin begründet, dass unsere Versuchspersonen eben nicht dem Anspruch des Experten Adornos genügen können. Dass die Ausschläge aber trotzdem nicht beliebig oder gar hinfällig sind, wird deutlich, wenn wir uns einem wesentlich kürzeren Abschnitt einmal detailliert zuwenden, der eigentlichen Exposition von T. 10 bis T. 73, oder in Zeitdauern ausgedrückt von 0:20 bis 1:36. 21 Webern - Differenziertheit des Hörens 14 12 10 8 6 assoziativ analytisch emotional motorisch 4 2 0: 20 0: 23 0: 26 0: 29 0: 32 0: 35 0: 38 0: 41 0: 44 0: 47 0: 50 0: 53 0: 56 0: 59 1: 02 1: 05 1: 08 1: 11 1: 14 1: 17 1: 20 1: 23 1: 26 1: 29 1: 32 1: 35 0 Abbildung 16: Webern 76 Sek, Differenziertheit des Hörens Wenn man dem musikalischen Verlauf in dieser Weise folgt, wird auf – wie ich meine – eindringliche Art und Weise deutlich, wie genau die Ableitungen der Originalkurven dann doch der Musik entsprechen: Kulminationstöne führen etwa zu emotionalen Reaktionen, oder Pizzicato-Passagen lösen Assoziationen aus. Variationen des Themas im Seitensatz oder in der Überleitung hingegen führen zu analytischen Ausschlägen, und Tempoänderungen bzw. Folgen kürzerer Notenwerte finden ihre Entsprechungen in der Motorik. Ähnliches möchte ich zuletzt am Beispiel der Klaviersonate Beethovens veranschaulichen. Auch hier handelt es sich formal betrachtet lediglich um die Exposition zweier Themen. 22 Beethoven - Differenziertheit des Hörens 25 20 15 assoziativ analytisch emotional motorisch 10 5 0 0:00 0:05 0:10 0:15 0:20 0:25 0:30 0:35 0:40 0:45 0:50 0:55 1:00 Abbildung 17: Beethoven, Differenziertheit des Hörens Aber auch weitere Details der musikalischen Gestaltung Beethovens finden ihre Entsprechung in den jeweiligen Kurven – so werden Sprünge in der Dynamik ebenso präzise nachgezeichnet wie der Wechsel primär virtuoser und primär thematischer Passagen. Ich erinnere auch noch einmal daran, dass es sich hier nicht um Reaktionen einzelner Hörer handelt, sondern stets Mittelwerte kleiner Gruppen der Stärke von 6-16 Personen wiedergegeben werden. Ich möchte hier also die Schlussfolgerung wagen, dass die aus den jeweiligen Hörstrategien hervorgegangenen Untergliederungen niemals sinnlos oder gar falsch sind; sie führen für sich genommen aber zu jeweils unterschiedlichen und eben nicht kohärenten Resultaten. 23 Multiparadigmatische Musik? … eine Musik, die sich mit mehreren Hörstrategien gleichermaßen gut und differenziert erfassen lässt… Abbildung 18: Definition der multiparadigmatischen Musik Ich bin nun der Ansicht, dass sich dieser Befund mit der Idee einer multiparadigmatischen Musik charakterisieren lässt. Multiparadigmatisch wäre eine Musik also dann, wenn Sie sich mit mehreren Hörstrategien gleichermaßen gut und differenziert erfassen ließe. Den Begriff Paradigma möchte ich dabei im Sinne Thomas Kuhns verwenden (Kuhn [1962/1969]1993). Er meint damit ein vorherrschendes Denkmuster zu einer bestimmten Zeit. Paradigmen spiegeln einen allgemein anerkannten Konsens über Annahmen und Vorstellungen wider, die es ermöglichen, für eine Vielzahl von Fragestellungen Lösungen zu bieten. Nach Kuhn ist ein Paradigma solange anerkannt, bis Phänomene auftreten, die mit der bis dahin gültigen Lehrmeinung nicht vereinbar sind. Zu diesem Zeitpunkt werden neue Theorien aufgestellt, die mit den existierenden Theorien teilweise koexistieren können, bevor sich eine neue Lehrmeinung möglicherweise durchsetzt und man vom Paradigmenwechsel spricht. Wichtig in Kuhns Definition ist auch die Vorstellung der nicht-Vereinbarkeit – Inkommensurabilität – der einzelnen koexistierenden Paradigmen. Genau dieses haben wir im vorliegenden Fall beobachtet: Rezeptionsparadigmen, die zu jeweils unterschiedlichen Resultaten führen, die für sich genommen aber legitim, differenziert sowie nachvollziehbar sind. Dies führt mich zuletzt zu einem stark vereinfachenden und doch sehr anschaulichen Schritt in der Auswertung der Daten. Ich abstrahiere jetzt vom 24 musikalischen Verlauf und bilde nur noch die Mittelwerte der Änderungsraten für die jeweiligen Hörstrategien und Stücke. Im nunmehr entwickelten Verständnis sind diese Ausdruck für die Differenziertheit des Hörens, welche insgesamt erreicht werden kann. Dabei übergehe ich die Absolutwerte und stelle Ihnen in der folgenden Grafik gleich die Verhältnisse der Ausdifferenzierung des Hörens dar, die mit den jeweiligen Strategien erreicht werden können. Differenzierungsleistungen der Hörstrategien im Vergleich Webern 20% Vacek 20% Glass 27% 28% 18% 31% 18% 36% 13% Jarrett 37% 12% 32% 18% 0% 10% 20% 28% 22% 21% 36% 42% 34% 30% 40% 50% assoziativ analytisch emotional motorisch 30% 19% 34% Parmegiani 38% 23% 12% 22% Gamelan 21% 26% Slipknot Beethoven 30% 23% 22% 60% 70% 80% 9% 90% 100% Abbildung 19: Differenzierungsleistungen der Hörstrategien im Vergleich Auf den ersten Blick können Sie erkennen, dass die Beispiele von Webern sowie von Vacek meiner Idee einer multiparadigmatischen Musik am nächsten kommen. Alle vier Rezeptionsparadigmen führen hier zu gleichermaßen differenzierten Untergliederungen. Ein Gegenbeispiel wäre das elektronische Stück von Parmegiani, für das sich zumindest die motorische Hörstrategie als kaum geeignet erweist. In meiner Interpretation ist dieser Befund allerdings lediglich ein Spiegel längst existierender Praktiken bzw. Realitäten beim privaten Hören, in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit, sowie auch der pädagogischen Praxis von Musik. Adornos Charakterisierung des Expertenhörers hat sich längst überlebt, da man Neue Musik eben auch emotional, motorisch oder assoziativ erfassen und genießen kann. Populäre Musik hingegen – für die im vorliegenden Experiment die Beispiele von Vacek, Slipknot und evtl. auch 25 Jarrett stehen können – bietet ihrerseits nicht nur dumpfe Stimulation, sondern ist ebenfalls offen für eine Vielzahl an Rezeptionsstrategien. Was aber möglicherweise einer Korrektur bedarf, ist das eingangs dargelegte Narrativ der Musikgeschichte als einer fortschreitenden Rationalisierung und Emanzipation, welche quasi automatisch in die musikalische Moderne führen. Mit dieser großen Erzählung kann bestenfalls noch das Geschehen auf aktuellen Festivals für zeitgenössische Kunstmusik erklärt werden. Der vielgestaltigen musikalischen Realität unserer multikulturellen und globalen Gesellschaft wird diese musikhistorische Darstellung nicht mehr gerecht. Diese Aussage mag als Beispiel dafür dienen, dass auch aus fast schon technokratischen musiksystematischen Forschungen Rückschlüsse musikhistorischer Art möglich und erlaubt sein sollten. Dies veranschaulicht das zuvor eingeführte komplementäre Verhältnis historischer und systematischer Zugangsweisen in der Auseinandersetzung mit Musik. Zum Schluss: Natürlich kommt es nicht darauf an, eine Musik mit den beschriebenen Verfahren künftig als multiparadigmatisch zu zertifizieren. Es wäre aber zu überlegen, inwiefern eine Vorstellung multiparadigmatischer Musik in den Diskurs der Musikästhetik aufgenommen werden sollte – egal ob dieser von Seiten der historischen, der systematische Musikwissenschaft oder gar gemeinsam geführt wird. Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich dazu einladen, die Vorstellung einer multiparadigmatischen Musik heute Abend mit nach Hause zu nehmen und sie sich auch persönlich zu Eigen zu machen. Reflektieren Sie doch einmal Ihren Umgang mit Musik und entscheiden Sie selbst, ob darin ebenfalls multiparadigmatische Rezeptionsstrategien anzutreffen sind. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit […]! 26 Abbildungen Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung Abbildung 1: Schema nach (Adler 1885)......................................................................... 1 2: Musik zwischen Text und Kontext ............................................................... 3 3: Folie Gerlach & Hemming ........................................................................... 8 4: Hörpartitur Aquatisme ............................................................................... 9 5: Folie: CRDI-Dial....................................................................................... 11 6: CRDI Hardware-Interface ......................................................................... 12 7: CRDI Software-Interface .......................................................................... 13 8: Foto der Versuchsanordnung .................................................................... 14 9: Bsp. und Animation Fuchsgraben-Polka ...................................................... 15 10: Versuchsdesign .................................................................................... 16 11: Durchschnitt Fuchsgraben-Polka emotional ............................................... 17 12: Durchschnittswerte Fuchsgraben alle Höranweisungen ............................... 18 13: Fuchsgraben-Polka, Differenziertheit des Hörens........................................ 19 14: Parmegiani, Differenziertheit des Hörens .................................................. 20 15: Webern gesamt, Differenziertheit des Hörens ............................................ 21 16: Webern 76 Sek, Differenziertheit des Hörens ............................................ 22 17: Beethoven, Differenziertheit des Hörens ................................................... 23 18: Definition der multiparadigmatischen Musik .............................................. 24 19: Differenzierungsleistungen der Hörstrategien im Vergleich .......................... 25 27 Literatur Adler, Guido (1885): Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft. Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft, 1 (1. Vierteljahr), S. 5-20. Adorno, Theodor W. ([1962,1968] 1973): Typen musikalischen Verhaltens, in: Einleitung in die Musiksoziologie. 12 theoretische Vorlesungen. In: Gesammelte Schriften; 14 (S. 178-198). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Auhagen, Wolfgang; Busch, Veronika & Hemming, Jan (Hrsg.) (2011): Systematische Musikwissenschaft. Laaber: Laaber (= Kompendien Musik; 9). Bach, Johann Sebastian (1722): Das Wohltemperirte Clavier oder Praeludia, und Fugen durch alle Tone und Semitonia, so wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend, als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend. Zum Nutzen und Gebrauch der Lehrbegierigen Musicalischen Jugend, als auch derer in diesem studio schon habil seyenden besonderem Zeitvertreib auffgesetzet und verfertiget von Johann Sebastian Bach. p. t: Hochfürstlich Anhalt-Cöthenischen Capel-Meistern und Directore derer Camer Musiquen. Anno 1722. Köthen: Manuskript Dahlhaus, Carl (1970): Analyse und Werturteil. Mainz u.a.: Schott (= Musikpädagogik. Forschung und Lehre; 8) Dahlhaus, Carl ([1968] 1978): Emanzipation der Dissonanz. In: Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik (S. 146-153). Mainz: Schott. Gerlach, Julia & Hemming, Jan (1993): Ein Experiment zur Formwahrnehmung bei elektronischer Musik. Jahrbuch Musikpsychologie, 10, S. 56-74. Hemming, Jan (2012): Systematische Musikwissenschaft: Eine Standortbestimmung. In: Knaus, Kordula & Zedler, Andrea (Hrsg.): Musikwissenschaft studieren. Arbeitstechnische und methodische Grundlagen (S. 151-160). München: Utz. Karger, Reinhard (2006): "Mein Handy spielt Beethoven". Oder: wie dem Komponisten die Zeit vergeht. Antrittsvorlesung gehalten am 10.5.2006 an der Universität Kassel. Verfügbar unter: http://www.reinhard-karger.de/text_4.pdf [19.5.2011]. Kuhn, Thomas S. ([1962/1969]1993): Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. 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