SZ-Archiv: A60579559

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SZ-Archiv: A60579559
Süddeutsche Zeitung
GESELLSCHAFT
Samstag, 27. Juni 2015
Bayern, Deutschland, München Seite 50
von michael neudecker
F
ernseher im Wohnzimmer, Fernseher im Schlafzimmer, Fernseher in der Küche, Fernseher sogar im Kinderzimmer, oh boy,
das ist America, nicht wahr? Oh
yes, sagt Donna Stevens, gebürtige Australierin, die gerade in New York lebt und arbeitet, praktischerweise als Fotografin,
und weil unsere Liebe zu der uns alltäglich
umringenden Technik eine dunkle Seite
hat, wie sie es formuliert, kam ihr dieser Gedanke: Kinder vor den Fernseher setzen,
im ganzen Raum kein Licht außer dem
Flimmern aus der Kiste, und dann Fotos
der Kinder von vorne. Herausgekommen
sind fantastische Bilder. Stevens nennt die
Sammlung „Idiot Box“.
Kinder sind keine Idioten, gewiss nicht,
aber selbst als liebende/r Mutter oder Vater muss man sagen: Es gibt Momente, da
kommt es einem so vor. Wenn Kinder vor
einem Fernsehgerät sitzen – und das tun
sie irgendwann fast alle –, dann schauen
sie immer so wie auf den Bildern von Donna Stevens: entzückt, entrückt, abwesend,
abgeknipst. So als säße ein Wirtstier auf ihrem Gehirn, das sie lahmlegt.
Ist das schlimm? Muss man sich Sorgen
machen? Aber nein.
Kinder haben die wunderbare Fähigkeit, sich ganz besonders auf eine bestimmte Sache zu fokussieren, sich gänzlich auf
sie einzulassen, so können sie sich in alles
mögliche reinsteigern. Das gilt für Bilderbücher und Märchen, in die sie eintauchen, vor allem aber für alles, was in Farbe
und Ton über einen Bildschirm hüpft. „Kinder gehen emotional stark mit Figuren aus
Geschichten mit, und Fernsehen ist das
stärkste Medium“, sagt Maya Götz, die Leiterin des Internationalen Zentralinstituts
für das Jugend- und Bildungsfernsehen
(IZI), eines von mehreren Forschungsinstituten, die seit vielen Jahren das Fernsehverhalten von Kindern und Jugendlichen
Guck
doch mal!
Lieblingsfernsehfiguren von Vorschulkindern (2013)
FOTOS: DONNA STEVENS; QUELLE: INTERNATIONALES ZENTRALINSTITUT FÜR DAS JUGEND- UND BILDUNGSFERNSEHEN (IZI), 2013
Nichts fesselt Kinder mehr
als der flimmernde Fernseher. Aber
bekommt man wirklich
viereckige Augen davon? Und wie
dumm macht Spongebob?
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nicht meinen, dass das Fernsehen hierzulande keinen größeren Einfluss auf das
Leben von Kindern hat. Dazu noch eine
Zahl aus einer wieder anderen Studie: Laut
einer repräsentativen Befragung vom vergangenen Jahr greifen 56 Prozent der deutschen Eltern als Erziehungsmaßnahme als
Erstes zur Strafe „Fernsehverbot“.
Für die meisten Kinder ist das tatsächlich eine unangenehme Strafe, sie lieben
ihre Fernsehhelden, vor allem, wenn es
sich um einen gelben Schwamm handelt.
Bei den Vorschulkindern wie auch den
Sechs- bis Zwölfjährigen liegt Spongebob
laut einer IZI-Untersuchung auf Platz eins;
bei den Sechs- bis Zwölfjährigen folgen danach die gelben Anti-Vorbilder Bart und
Homer Simpson und einige weibliche
Kunstfiguren namens Prinzessin Lillifee
oder Sally Bollywood, ehe auf Rang neun eine weitere männliche Kunstfigur auftaucht: Dieter Bohlen. Dieter Bohlen? „Kinder empfinden ihn als jemanden, der sagt,
was Sache ist, jemanden, von dem man lernen kann“, sagt Maya Götz. Es versteht sich
von selbst, dass sie „Kinder“ betont.
Dass Dieter Bohlen dennoch so weit hinter dem seit mehr als zehn Jahren unangefochtenen Spitzenreiter Spongebob rangiert, liegt an der Art, wie die Serie über
den Schwammkopf konzipiert ist: Die Figur ist das idealtypische Kind, es will alles
richtig machen, Spaß haben und macht dadurch manches falsch. Spongebob hat den
liebenswürdigen, aber etwas dümmeren
Freund, den schwerfälligen Seestern Patrick Star, und die idealtypische Freundin,
das Eichhörnchen Sandy Cheeks, das dank
der Nasa in einem von einer Luftglocke umhüllten Baum unter Wasser leben kann
und einen Raumanzug braucht, wenn es
den Baum verlässt, was dazu führt, dass es
zwischen Spongebob und Sandy zwar zu einer geistigen, niemals aber einer körperlichen Nähe kommen kann. Ach so, die Serie
Jungen
Mädchen
Spongebob (11,1 %)
Bob der Baumeister (8,2 %)
Wickie (4,1 %)
Sandmännchen (3,6 %)
Benjamin Blümchen, Kikaninchen (3,1 %)
Prinzessin Lillifee (12,6 %)
Barbie (7,9 %)
Die Maus (5,3 %)
Benj. Blümchen, Pippi Langstrumpf (4,7 %)
Winnie Puuh, Kim Possible (3,2 %)
untersuchen. Deshalb ist es nur logisch,
dass ein Kind sich dem großen Flatscreen
gerne mal auf zehn Zentimeter nähert, die
in scharfem Ton gehaltenen Warnungen
(„Du kriegst noch viereckige Augen!“) ignorierend. Wobei, ignorierend stimmt hier
gar nicht, es muss vielmehr heißen: nicht
mitbekommend.
Den Augen schadet das Fernsehen dabei nur sehr bedingt, man blinzelt lediglich
seltener während des Fernsehens, deshalb
fließt weniger Tränenflüssigkeit, was zu
dem Gefühl führen kann, dass einem die
Augen brennen, wenn man zu lange vor
der Mattscheibe sitzt. Der Abstand zum
Bildschirm aber spielt da keine Rolle, auch
die Dauer des Fernsehkonsums nicht. Viel
spannender ist ohnehin die Frage, ob Fernsehen dumm macht, eine Frage, über die
man stundenlang diskutieren kann, mindestens, selbst die Wissenschaft hat
darauf noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden.
Weitgehend unumstritten ist, dass Fernsehen einem die Empathie rauben kann,
Kindern besonders: Je öfter und länger ein
Kind ohne Begleitung vor dem Fernseher
sitzt, desto schwerer tut es sich damit, sich
in andere einzufühlen. Denn mit einem
Fernseher kann man nun mal nicht sozial
interagieren, und die Figuren in Kindersendungen sind oft eindimensional, das ist in
Deutschland nicht anders als in Amerika.
Man darf es also ruhig bedenklich finden, dass in Amerika nach einer Untersuchung des unabhängigen Joan Ganz Cooney Centers von 2014 die Zwei- bis Vierjährigen täglich 80 Minuten fernsehen,
und es vielleicht sogar ein wenig erleichtert zur Kenntnis nehmen, dass die Zahlen
in Deutschland nicht ganz so drastisch
sind: Vorschulkinder kommen hier täglich
auf 43 Minuten. Aber man muss deshalb
spielt auf dem Meeresgrund, in der Stadt
„Bikini Bottom“. Für Erwachsene erschließt sich der Reiz dieser sonderbaren
Serie nicht sofort, aber sie ist von dem Meeresbiologen Stephen Hillenburg ja auch
für Kinder gemacht worden.
Stephen Hillenburg hat offensichtlich
verstanden, was Kinder wollen, wenn sie
fernsehen: Sie wollen Figuren, die ihren Alltag einerseits abbilden, andererseits aber
den Alltag leichter erscheinen lassen. Ein
schüchterner Junge zum Beispiel sucht
sich gerne Heldensendungen aus, mit Figuren wie dem schlauen und tapferen Wikinger Wickie etwa. Der ist wiederum ein gutes Beispiel dafür, was das Fernsehen mit
Kindern machen kann: eine harmlose Sendung, die, zum falschen Zeitpunkt konsumiert, Angst auslösen kann. Bei einer IZIStudie nahm mal ein Mädchen teil, das erzählte, es bekäme von Wickie Albträume.
Dann stellte sich heraus: Das Mädchen sah
die Sendung kurz vor dem Einschlafen.
Kurz vor dem Bett fernzusehen, ist
schlecht, darin sind sich die Forscher einig,
das gilt selbst für das Sandmännchen, das
unter den Lieblingssendungen bei Zweibis Dreijährigen mit Abstand auf Rang eins
liegt. In vielen Familien ist das Sandmännchen ein wichtiger Teil des Bettgehrituals,
allerdings kann es auch für unruhige Nächte sorgen, wenn es das Letzte ist, was das
Kind vor dem Einschlafen zu sehen oder
hören bekommt.
Die Drei- und Vierjährigen auf den
Fotos von Donna Stevens durften sich Cartoons aussuchen, die sie für das Shooting
anschauen wollten, die Sendungen dauerten zwischen zehn und 30 Minuten. Was
die Kinder wählten, weiß Stevens nicht
mehr, aber das war auch nicht so wichtig:
Die Aufnahmen fanden ja nicht vor dem
Bettgehen statt, sondern vormittags.
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