Form-vollendet Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign ist einer der
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Form-vollendet Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign ist einer der
Gran Torino Text Uwe Hans Werner Aus dem Handgelenk: Mal zarte, mal harte Linien – mit flinken Strichen werden die Konturen eines neuen Fahrzeugs zu Papier gebracht. Fotos Myrzik und Jarisch Form-vollendet Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign ist einer der weltweit erfolgreichsten Automobildesigner Italiens unter das Dach von Audi gekommen. 126 Dialoge Technologie 127 Dialoge Technologie Moncalieri, Via Achille Grandi, etwa 20 Kilometer südlich von Turin: Das Domizil von Italdesign liegt inmitten eines ausgedehnten Gewerbegebiets. Ein stattlicher Gebäudekomplex in einer gepflegten Gartenanlage – versteckt hinter hohen Zäunen und Gittern, die Zufahrt gesichert mit elektrisch schlie ßenden Toren. Hier, in diesen gut abgeschirmten Werk stätten und Ateliers, arbeiten über 800 Menschen: kreative Köpfe, geschickte Zeichner und CAD-Experten, For men- und Modellbauer, aber auch Automobil-Handwerker – Metallbearbeiter und Mechaniker, Elektroniker, Sattler und Schreiner. Spezialisten für alles, was man braucht, um ein komplettes Auto herzustellen. „Wir sind wie eine kleine Autofabrik“, sagt Giorgetto Giugiaro, Senior-Chef und Gründer des Turiner Unternehmens. IDG – Italdesign Giugiaro – ist eine der bedeutendsten und erfolgreichsten Designschmieden im internationalen Automobilgeschäft. In den 45 Jahren ihres Bestehens sind dort über 200 Fahrzeugmodelle aller bekannten Marken entstanden – als Show- und Concept-Cars oder als Serienfahrzeuge. Zählt man die Produktions- und Stückzahlen der Hersteller zusammen, so sind von Giugiaro insgesamt wohl mehr als 50 Millionen Autos auf die Stra ßen gekommen: vom zweisitzigen Supersportwagen über das sparsame Familienauto bis hin zum martialischen Off roader, zum Multivan oder zur exklusiven Luxuslimousine – in Auftrag gegeben von Herstellern aus Europa, Asien und den USA. Trotz seiner 74 Jahre ist Giorgetto Giugiaro noch fast jeden Tag in seinem Büro. Denn obgleich IDG vor knapp zwei Jahren von Audi übernommen wurde und seither die Last der Geschäftsführung auf mehreren Schultern ruht, ist und bleibt der jung gebliebene Grandseigneur Kopf und Gesicht des Unternehmens. Gepflegtes weißes Haar, blaue Anzughose, ein weißes, langärmliges Hemd, braunes Designer-Schuhwerk: Er wirkt aristokratisch, als er uns entgegentritt, verkörpert ganz den italienischen Gentleman. „Benvenuto“, sagt er freundlich lächelnd und heißt uns mit einem kräftigen Händedruck willkommen. Gemeinsam mit Giugiaro begeben wir uns auf einen Rund gang und das Sightseeing durch seine Welt: die Firma mit ihren Ateliers und Produktionshallen, die schier endlose Galerie der im Lauf von Jahrzehnten erschaffenen DreamCars, die Stadt Turin mit einigen der für ihn wichtigen An laufstationen und Plätzen. Torino, dieses einst überschaubare Städtchen am Po, das die Savoyer 1563 zur Hauptstadt ihres Staates machten und zu einer herrschaftlichen Residenz entwickelten, wurde von den damaligen Hofarchitekten und Bau meistern auf dem Reißbrett entworfen: ein barocker Stadt kern mit prachtvollen Straßen, Kolonnaden und Plätzen, mit wunderbaren Palästen, Theatern und Kirchen. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein wachte eine eigene Stadtbe hörde über die Geschlossenheit des Ensembles. Auch deshalb vermittelt die Innenstadt bis heute ein nahezu idealtypisches architektonisches Bild. Außerhalb Italiens verbindet man mit Turin vor allem das Bild einer grauen Industrie- und Autostadt, eng mit dem Unternehmen und der Marke Fiat verbunden. Kaum einer kennt die mondänen Seiten der Alpenmetro pole, die stets auch im Wettstreit mit dem bedeutenden Nachbarn Mailand steht – und das nicht nur, wenn es um Fußball geht. Man ringt um die Vormacht als Zentrum der Mode, als Kulturhauptstadt, als Metropole wirtschaftlicher Prosperität. In beiden Städten sind bedeutende Ver treter des weltweit geschätzten italienischen Designs zu Hause – in Milano eher die der Haute Couture und der Mö belindustrie, in Torino jene des Automobils: Bertone, Pinin farina, Ghia – und Italdesign Giugiaro. Schon früh wird Turin für Giorgetto Giugiaro zum Mittelpunkt seines Lebens. Mit 14 Jahren übersiedelt er aus seiner Heimatregion im südlichen Piemont hierher und besucht die Kunstschule – abends nimmt er zusätzlich Unterricht in Technischem Zeichnen. Turin ist heute seine Stadt, durch die er stolz flaniert, in der er seine gewohnten Gänge macht, seine besonderen Ecken hat, wo man ihn kennt, schätzt und grüßt – beim Cappuccino im Caffè Torino an der Piazza San Carlo, als Stammkunde beim benachbarten Herrenausstatter Olympic oder als Besucher eines der zahlreichen Museen. In diese Stadt wurde er nicht hineingeboren, doch in ihr ist er buchstäblich groß geworden. Giugiaros Geschichte ist die einer zielstrebigen Karriere, geprägt von glücklichen Zufällen, von Begegnun gen mit wichtigen Menschen und Förderern und von einer disziplinierten Arbeit am eigenen Erfolg: 1955, gerade erst 17-jährig, entdeckt Dante Giacosa, der Chefkonstrukteur von Fiat, das junge Talent und holt ihn in seine Firma. Für Giugiaro, der sich nie sonderlich für Autos interessiert, sondern als Kind viel lieber mit Zeichenstift und Malkasten beschäftigt hat, ein atemberaubender Schritt. In der De signabteilung des internationalen Fahrzeugherstellers kommt er erstmals mit dem Automobilbau in Berührung: „Das war für mich wie Universität.“ In einem großen Team darf er zunächst zwar nur Teile zeichnen und noch keine eigenen Autos entwerfen, doch dazu kommt es – unter den Fittichen von Giuseppe „Nuccio“ Bertone – schon wenige Jahre später. Er macht den 22-jährigen Giugiaro zum Chef seines neugeschaffenen Design-Centers, nachdem er Wer ke des jungen Zeichners in einer Ausstellung gesehen hat. Entwürfe aus der Feder Giugiaros werden nun als Showund Concept-Cars verwirklicht, und die ersten allein von ihm gestylten Fahrzeuge gehen in Serie: Alfa Romeo 2600 Sprint, Simca 1000, Fiat 850 Spider, BMW 3200 CS oder die Sprint-Version der legendären Alfa Giulia. 1 Expertenblick: Giugiaro stimmt jede Ecke und Kante ab. 2 Feingefühl: Auch beim Interieur müssen die Linien stimmen. 3 Sportsgeist: Auch in der Firma ist der passionierte Mountainbiker viel mit dem Fahrrad unterwegs. Mit dem Entwurf des ersten VW Golf, 1974, erzielten Giorgetto Giugiaro und IDG den Durchbruch im inter- nationalen Automobilgeschäft: Ein bis dahin beispielloses Design sollte prägend für eine ganze Epoche und für eine eigene Fahrzeugklasse werden. Als „OneBox-“ oder „Folded-Paper-Design“ wurde der Stil mit den aufgeräumten Formen, den messerscharfen Kanten und den kraftvollen Linien in der Fachwelt ein geordnet: schnörkellose Sachlichkeit. 1 Gestaltung ist für Giorgetto Giugiaro Mittel zum Zweck. Er sieht sich vor allem der Logik des Produktes verpflichtet: „Form follows function“ – Fahrer und Passagiere dürfen nicht zum Sklaven ihres Fahrzeugs werden. Insofern ist Design für ihn vor allem eine mathematische Vision, die das umsetzt, was Funktionalität und Nutzen fordern: klare Abmessungen mit klaren Proportionen und einer dimensionalen Logik, die sich immer auf den Menschen bezieht. 2 „Design soll kein Kunstwerk sein“, erklärt Giugiaro. „Im Gegensatz zur Kunst geht man nicht über die Logik hinaus. Einsteigen, aussteigen, sich hinsetzen auf kleinstem Raum – der Reiz liegt in der Reduzierung auf das Wesentliche.“ Auch außerhalb der Automobilsparte hat Italdesign vielen bekannten Industrieprodukten eine Form ge-geben. So zeichnet das Unternehmen etwa für die Gestaltung von Pendolino-Zügen für Fiat/Alstom, Kaffeeautomaten von Faema oder die legendären Kamera-Bodys der Nikon-F- und D-Reihe verantwortlich. Kurios im großen Reigen dieser Auftragsarbeiten: das Styling eines kleinen Portionsfläschchens der Sanbitter-Limonade von San Pellegrino oder der Designer-Nudel „Marille“ für den italienischen Hersteller Voiello/Barilla. Design muss gefallen, muss den Geschmack der Zeit treffen: „Man darf nie in Gefahr kommen, dass das Produkt nicht verstanden wird“, betont Giugiaro. „Und es soll das Leben vereinfachen.“ Trotzdem bleiben die hedonistischen Verführungen, das Streben nach Genuss und sinnlicher Erfüllung, auch für ihn nicht völlig außen vor: „Natürlich wollen wir mit einem Auto auch mal angeben, natürlich ist es immer auch ein wenig Spielzeug für die Selbstdarstellung.“ Doch gerade darin liegt für den Designer ein reizvoller Ziel konflikt, mit dem er gerne spielt: Freude und Lust contra M äßigung zugunsten der Vernunft. 3 Zusammen mit Sohn Fabrizio (47), der seit 1990 im Unternehmen ist und seit 16 Jahren mit in der Geschäftsleitung sitzt, hat Giorgetto Giugiaro IDG zu einem zukunftsfähigen Entwicklungspartner der Auto mobilindustrie geformt. Bis heute ist der 74-Jährige Gallionsfigur von IDG geblieben – hochdekortierte Ikone des internationalen Automobildesigns. 1999 wurde er zum Designer des Jahrhunderts gewählt, 2002 in die Automotive Hall of Fame aufgenommen. Perfezione Wir sind wie eine kleine Autofabrik, wir haben alles, um ein komplettes Fahrzeug herzustellen. Giorgetto Giugiaro 128 Dialoge Technologie Design soll kein Kunstwerk sein 129 Dialoge Technologie Riduzione Unermüdlich: Trotz seiner 74 Jahre ist Giorgetto Giugiaro noch fast jeden Tag im Büro und arbeitet an seinem Zeichenbrett. Einsteigen, aussteigen, sich hinsetzen auf kleinstem Raum – der Reiz liegt in der Reduzierung auf das Wesentliche. Giorgetto Giugiaro Nach einem weiteren Wechsel zu Bertone-Kon kurrent Ghia wagt der junge Formenschöpfer 1967 schließ lich den Schritt in die Selbstständigkeit. Sein Traum ist eine eigene Design- und Entwicklungsschmiede, die mehr kann und will, als im Studio die Formen künftiger Auto modelle oder Fahrzeuggenerationen festzulegen. Ziel und Herausforderung liegen in der Schaffung eines professionellen Fullservice-Dienstleisters für die Automobilindus trie – kreative Schöpfung von der ersten Skizze über die Konstruktionspläne bis hin zum Aufbau funktionsfähiger Vorserienfahrzeuge, Kostenkalkulation und Vorschläge zur Herstellungslogistik inklusive. Gemeinsam mit dem befreundeten Ingenieur Aldo Mantovani geht er 1968 damit an den Start. Eine geniale Verbindung, wie Giorgetto Giugiaro rückblickend ur teilt: Der stark nach außen wirkende Kreative findet mit Mantovani eine ideale und befruchtende Ergänzung in einem großen, gleichwohl unprätentiösen und eher nach innen gerichteten Techniker und Konstrukteur. Das ist die Geburtsstunde von Italdesign, bis heute eine der herausragenden Designwerkstätten dieser Welt, einer der ein flussreichsten Formenschöpfer des internationalen Auto mobilbaus. Viele der über 200 Modelle und Serien, die dort entstehen und in den folgenden Jahren und Jahrzehnten auf die Straßen rollen, werden zu Klassikern oder erlangen gar Kultstatus: Man denke an Fiat Panda, Lancia Delta, Saab 9000, BMW M1, Alfasud, Fiat Punto oder Audi 80. Von ganz besonderer Bedeutung für das junge Unternehmen sind zunächst jedoch die großen Auftrags arbeiten für die Marke Volkswagen. Mit dem kantigen und scharf geschnittenen Golf 1 gelingt nicht nur Italdesign selbst der Durchbruch im internationalen Geschäft, er hilft auch dem VW-Konzern beim Übergang aus der Käfer-Ära in die Neuzeit des Automobilbaus. „Das wichtigste Auto meiner Laufbahn“, erinnert sich Giugiaro. Mit ihm wird bei Volkswagen nicht nur technologisch und wirtschaftlich ein völlig neues Fahrzeugkonzept geschaffen, die geglückte Ablösung des kugeligen Dauerläufers durch ein betont eckiges Raumwunder sichert die Zukunft von Unterneh men und Marke. Unterstützt wird diese grundlegende Neu ausrichtung durch die erfolgreiche Einführung weiterer neuer Produktlinien, die bis heute Gültigkeit haben: Passat und Scirocco stammen aus jener Zeit und kommen – wie der erste Golf – aus den Ateliers von Italdesign in Torino. „Immer wenn ich einem meiner ‚Kinder‘ begeg ne, dann freue ich mich darüber, was aus ihnen geworden ist“, berichtet Giorgetto Giugiaro beim Spaziergang entlang der Via Po. „Meistens erkenne ich aber auch gleich die kleinen Unzulänglichkeiten, die sich damals im Entste hungsprozess ergeben haben.“ Giugiaro gilt als ein schwer zufriedenzustellender Perfektionist – kritisch vor allem gegen sich selbst. Bei seinen Produkten kennt er alle Stär ken, alle Schwächen, weiß, an welcher Stelle nachgegeben wurde und wo Kompromisse zu schließen waren. Fehlende Zeit, zu hohe Kosten, Gewicht, technologische Zwänge, Sicherheitsaspekte: alles Faktoren, die eine Gestaltung mitbestimmen und die selten zu einem Idealentwurf führen: „Es gibt immer etwas, was man hätte besser machen können“, gesteht der Designer. Tatsächlich scheint er seinen eigenen Ansprü chen nur bei einem einzigen der vielen Serienfahrzeuge wirklich nahe gekommen zu sein: beim Fiat Panda von 1980. An dem gibt es für ihn bis heute wenig auszusetzen. Mit den Augen der damaligen Zeit betrachtet, ist dieses Auto für ihn „wie eine Jeans“ – ein perfekt gestalteter Ge brauchsgegenstand, minimalistisch in Form und Ausse hen, dessen besondere Ästhetik im bedingungslosen Aus druck der Funktionalität liegt. „Bei diesen Abmessungen“, schmunzelt Giugiaro, „kann man eigentlich nichts Bes seres erreichen.“ Zum Aperitivo um die Mittagszeit sitzen wir an der zentralen Piazza Castello im Barratti & Milano, einem der eleganten Kaffeehäuser der Stadt. Dort serviert man kleine Appetizer und erfrischenden Prosecco. Das prickelnde Getränk löst die Zunge: Zeit, auch über Privates zu plaudern. Giugiaro berichtet von einer Gemäldeausstellung, die er in seiner Heimatstadt Garessio zu Ehren des ver storbenen Vaters vorbereitet, erzählt von Freizeitaktivi täten und von persönlichen Neigungen. Beim Studium der Speisekarte schließlich kommt das Gespräch auf italienisches Essen, auf besondere Weine, auf die Spezialitäten des Landes. Als Hobbykoch betätigt sich Signor Giugiaro zwar eher selten, aber mit Spaß. So fuhr er eigens in die Trüffelmetropole Alba, um sich an einem Kochwettbewerb zu beteiligen – mit „Penne Vodka“, der italienischen Vari ante eines wohl ursprünglich russischen Nudelgerichts. Im Topf werden der Speise neben den Teigwaren gekochte Kartoffelscheiben, Tomatenpüree, Käse, Butter und viel Schnaps sowie kleine Stückchen der kostbaren weißen Pilz knolle beigegeben. Damit versuchte er die Jury zu beeindrucken – allerdings mit geringem Erfolg, wie er amüsiert erzählt. Dafür gelingt es ihm umso mehr, unser Interesse an dem Rezept zu wecken. Wort- und gestenreich erklärt er uns die Zutatenliste und die Zubereitung: Der Meister schneidet, rührt und schüttelt, bewegt die Töpfe und Pfan nen, fächert Luft und Dampf und gibt uns ganz das Gefühl, mit ihm zusammen dicht am Herd zu stehen. Die Bewe gungen kommen aus dem Handgelenk – hingebungsvoll und virtuos, so als führe er einen Bleistift am Zeichenbrett. Dort haben wir ihn in seinem Büro Stunden zu vor beobachtet, als er mit wenigen – mal zarten, mal harten – Strichen flink die Konturen eines neuen Fahrzeugs aufs Papier zauberte. Schnell entsteht eine markante Silhouette Minimalismo Mit den Augen der damaligen Zeit betrachtet, ist der Panda für mich wie eine Jeans. Giorgetto Giugiaro 130 Dialoge Technologie 4 Kraftvoll: Mit dem Concept-Car Brivido sorgte Giugiaro auf dem Genfer Automobilsalon 2012 für Furore. 5 Kurios: Im Auftrag von San Pellegrino gestaltete IDG ein kleines Fläschchen für Sanbitter-Limonade. 6 Klassisch: Auch Nikon-Kameras der F- und D-Reihe wurden in Moncalieri designt. 4 7 5 8 6 Visione 132 Dialoge Technologie Austausch: Gern besucht Giugiaro in Turin seinen Freund, den Auktionator Alberto Bolaffi. 7 Inspiration: Die Klarheit pharaonischer Kunst fasziniert den erfolgreichen Designer. 8 Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, nimmt unbewusst viele Dinge wahr – und bei der Arbeit kommt manches zurück. Giorgetto Giugiaro Integrazione Wir sind jetzt Teil einer großen Familie. Aber natürlich behalten wir unsere unabhängige kreative Seele. Giorgetto Giugiaro mit charakteristischen Merkmalen und Stilelementen – ein spontaner Wurf, wie er zu Beginn des Entstehungspro zesses eines Maserati Bora, des Ferrari GG50 oder eines Alfa Romeo Brera gestanden haben mag. Anregungen für neue Kreationen holt sich Giu giaro allerdings aus einer anderen Welt. Der gelernte Kunst maler und begeisterte Porträtzeichner, der im häuslichen Umfeld nicht eine Skizze von Automobilen verwahrt, gewinnt Inspiration vor allem bei Ausstellungs- oder Mu seumsbesuchen. Im Herzen Turins entführt er uns in die Formenwelt der Ägypter, ins Museo Egizio in der Via Acca demia delle Science. Mit Eleni Vassilika, der Direktorin, fachsimpelt er dort gerne über die Klarheit der Kunst aus pharaonischer Zeit. Mag sein, dass er die scharfkantige, geometrisch geschnittene Architektur der Pyramiden im Kopf hatte, als er damals die Umrisse des VW Golf oder des Fiat Panda zeichnete. „Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, nimmt unbewusst so viele Dinge wahr – und bei der Arbeit am Zeichentisch kommt manches zurück“, erklärt Giu giaro, „ein Bild, ein Zitat, eine Vision.“ Er kopiert nichts, ahmt nichts nach, aber er nimmt Gesehenes auf, verarbeitet es in seinen Skizzen. Das dürfte auch für die geschwungenen Linien des Jugendstils und die härteren Formen des Art déco gelten. Neben Kunstwerken aus vergangenen Jahrhunderten sammelt Giugiaro Druckgrafiken aus jener Zeit. Im Auktionshaus von Alberto Bolaffi in der Via Cavour stöbert er hin und wieder nach Arbeiten von ToulouseLautrec oder einem anderen stilprägenden Künstler dieser Epoche. Und sofern der Chef bei seinen Besuchen selbst zugegen ist, gibt es für die beiden Freunde immer Zeit für einen Espresso und ein anregendes Gespräch. Oder Raum für die Besichtigung der neuesten Exponate in Bolaffis liebevoll zusammengetragener Privatsammlung zu Phä nomenen menschlicher Kommunikation. Die entdeckten Freiräume bei unserem Bum mel durch das sommerliche Turin haben dem 74-jährigen Automobildesigner sichtlich gefallen. Noch ist die Zeit, in der er sich ihnen in vollem Umfang widmen könnte, aber nicht absehbar. In Perioden des Wechsels und Wandels wird der Senior bei IDG nach wie vor gebraucht. Es gilt, den Übergang in die Welt eines Konzernunternehmens zu begleiten und die Integration in den Audi-Verbund voranzutreiben. „Wir sind jetzt Teil einer großen Familie“, betont Giugiaro. Da muss auch die eigene Rolle neu definiert werden: Mannschaftsspiel ist angesagt. „Natürlich behalten wir unsere unabhängige kreative Seele“, versichert der erfahrene Designer. Als weltweit anerkannter Automotive-Dienstleister will IDG innerhalb des Gesamtkonzerns als Engineering-Center wirken – mit der Entwicklung und dem Aufbau von Con cept-Cars, fahrbaren Prototypen und Kleinserien für alle 134 Dialoge Technologie Marken unter dem Dach der Volkswagen AG. Und als traditionsreiches italienisches Designatelier natürlich auch die Fortentwicklung der individuellen Formensprachen der einzelnen Marken mitgestalten. Dazu sollen in frühen Phasen der Fahrzeugentstehung auch Gestaltungsvari anten angeboten werden. Als internationale Plattform bleibt dem Unter nehmen die Messe in Genf, auf der IDG über mehr als 40 Jahre hinweg stets vertreten war. Mit einem eigenen Con cept-Car will man weiterhin alljährlich für Furore sorgen, um den Markt und den aktuellen Zeitgeschmack zu testen. Wie in diesem Jahr mit der aufsehenerregenden Studie des Brivido, die die Fachwelt mit viel Anerkennung quittierte. „Benvenuto Giugiaro“, hieß es 2012 auf dem Geneva Pal expo, „benvenuto“ – ein Willkommen für eine wirklich at traktive Audi-Tochter. Giorgetto Giugiaro und Italdesign 1938 Giorgetto Giugiaro wird in Garessio im südöstlichen Piemont geboren. 1955 1959 „Lehrjahre“ in der Designabteilung von Fiat in Turin. Nuccio Bertone holt ihn als Designchef in sein neues Design-Center. 1967 1968 Schritt in die Selbstständigkeit – Giugiaro gründet die Firma Italy Styling. Umfirmierung in Italdesign – Partner wird Konstrukteur Aldo Mantovani. 1974 Im Auftrag von Volkswagen entsteht der Golf 1 als Nachfolger des VW Käfer. 1990 1999 Sohn Fabrizio tritt in die Firma ein, ist seit 1996 Mitglied der Geschäftsleitung. Wahl zum Designer des Jahrhunderts. 2002 2010 Aufnahme in die Automotive Hall of Fame. Übernahme von 90,1 Prozent der Anteile durch Audi. Produkte Industriedesign Lagostina Atmosphere – Dampfdrucktopf Porzellan-Serie „Funé“ – Richard Ginori „Marille“ Pastanudel – Voiello/Barilla Daiwa G2-EX – Skistiefel Tecnica Inline-Skater „Bright red Soda“ (Sanbitter/San Pellegrino) Okamura C /P Baron – Ergomomic Chair Molten Official GL7 – WM-Basketball Nikon Kamera F3- 6, D1- 4, D800 Fiat /Alstom Pedolino ETR 460 ff Minuetto Regionaltriebzüge Lamborghini Tractors Seiko Speedmaster Beretta CX4 Storm G-Energy S-Synth Motor-Oil 9 Experten unter sich: In Turins Ägyptischem Museum fachsimpelt Giugiaro gerne mit der Direktorin. 10 Verkanntes Turin: Herrschaftliche Metropole mit prachtvollen Gebäuden, Straßen und Plätzen. 11 Benvenuto Audi: Auch im Kaffeehaus sind die Vier Ringe schon angekommen. 9 12 10 13 11 135 Dialoge Technologie Lebensart: Ein Cappuccino im Caffè Torino gehört zu jedem Stadtbummel. 12 Erfolgsmodell: Der Golf 1 ist die wohl wichtigste Designarbeit von IDG. 13