Form-vollendet Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign ist einer der

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Form-vollendet Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign ist einer der
Gran Torino
Text
Uwe Hans Werner
Aus dem Handgelenk: Mal zarte, mal harte Linien – mit flinken Strichen
werden die Konturen eines neuen Fahrzeugs zu Papier gebracht.
Fotos
Myrzik und Jarisch
Form-vollendet
Mit der Turiner Edelschmiede Italdesign
ist einer der weltweit erfolgreichsten Automobildesigner Italiens
unter das Dach von Audi gekommen.
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Dialoge Technologie
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Dialoge Technologie
Moncalieri, Via Achille Grandi, etwa
20 Kilometer südlich von Turin: Das
Domizil von Italdesign liegt inmitten eines ausgedehnten
Gewerbegebiets. Ein stattlicher Gebäude­komplex in einer
gepflegten Gartenanlage – versteckt hinter hohen Zäunen
und Gittern, die Zufahrt gesichert mit elektrisch schlie­
ßen­den Toren. Hier, in diesen gut abgeschirmten Werk­
stätten und Ateliers, arbeiten über 800 Menschen: kreative Köpfe, geschickte Zeichner und CAD-Experten, For­
men- und Mo­dell­bauer, aber auch Automobil-Handwerker
– Me­tall­be­ar­beiter und Mecha­niker, Elektroniker, Sattler
und Schreiner. Spezialisten für alles, was man braucht, um
ein komplettes Auto herzustellen. „Wir sind wie eine kleine
Autofabrik“, sagt Giorgetto Giugiaro, Senior-Chef und
Gründer des Turiner Unternehmens.
IDG – Italdesign Giugiaro – ist eine der bedeutendsten und erfolgreichsten Designschmieden im internationalen Automobilgeschäft. In den 45 Jahren ihres
Be­stehens sind dort über 200 Fahrzeugmodelle aller bekannten Marken entstanden – als Show- und Concept-Cars
oder als Serienfahrzeuge. Zählt man die Produktions- und
Stückzahlen der Hersteller zusammen, so sind von Giugiaro
insgesamt wohl mehr als 50 Millionen Autos auf die Stra­
ßen gekommen: vom zweisitzigen Supersport­wagen über
das sparsame Familienauto bis hin zum martialischen Off­
roader, zum Multivan oder zur exklusiven Luxuslimousine
– in Auftrag gegeben von Herstellern aus Europa, Asien
und den USA.
Trotz seiner 74 Jahre ist Giorgetto Giugiaro
noch fast jeden Tag in seinem Büro. Denn obgleich IDG vor
knapp zwei Jahren von Audi übernommen wurde und seither die Last der Geschäftsführung auf mehreren Schultern
ruht, ist und bleibt der jung gebliebene Grandseigneur
Kopf und Gesicht des Unternehmens. Gepflegtes weißes
Haar, blaue Anzughose, ein weißes, langärmliges Hemd,
braunes Designer-Schuhwerk: Er wirkt aristokratisch, als
er uns entgegentritt, verkörpert ganz den italienischen
Gentleman. „Benvenuto“, sagt er freundlich lächelnd und
heißt uns mit einem kräftigen Händedruck willkommen.
Gemeinsam mit Giugiaro begeben wir uns auf einen Rund­
gang und das Sightseeing durch seine Welt: die Firma mit
ihren Ateliers und Produktionshallen, die schier endlose
Galerie der im Lauf von Jahrzehnten erschaffenen DreamCars, die Stadt Turin mit einigen der für ihn wichtigen An­
laufsta­tionen und Plätzen.
Torino, dieses einst überschaubare Städtchen
am Po, das die Savoyer 1563 zur Hauptstadt ihres Staates
machten und zu einer herrschaftlichen Residenz entwickelten, wurde von den damaligen Hofarchitekten und Bau­
meistern auf dem Reißbrett entworfen: ein barocker Stadt­
kern mit prachtvollen Straßen, Kolonnaden und Plätzen,
mit wunderbaren Palästen, Theatern und Kirchen. Bis weit
ins 19. Jahrhundert hinein wachte eine eigene Stadt­be­
hörde über die Geschlossenheit des Ensembles. Auch deshalb vermittelt die Innenstadt bis heute ein nahezu idealtypisches architektonisches Bild.
Außerhalb Italiens verbindet man mit Turin vor
allem das Bild einer grauen Industrie- und Autostadt, eng
mit dem Unternehmen und der Marke Fiat verbunden.
Kaum einer kennt die mondänen Seiten der Alpenmetro­
pole, die stets auch im Wettstreit mit dem bedeutenden
Nachbarn Mailand steht – und das nicht nur, wenn es um
Fuß­ball geht. Man ringt um die Vormacht als Zentrum der
Mode, als Kulturhauptstadt, als Metropole wirtschaftlicher Prosperität. In beiden Städten sind bedeutende Ver­
treter des weltweit geschätzten italienischen Designs zu
Hause – in Milano eher die der Haute Couture und der Mö­
belindustrie, in Torino jene des Automobils: Bertone, Pinin­
farina, Ghia – und Italdesign Giugiaro.
Schon früh wird Turin für Giorgetto Giugiaro
zum Mittelpunkt seines Lebens. Mit 14 Jahren übersiedelt
er aus seiner Heimatregion im südlichen Piemont hierher
und besucht die Kunstschule – abends nimmt er zusätzlich
Unterricht in Technischem Zeichnen. Turin ist heute seine
Stadt, durch die er stolz flaniert, in der er seine gewohnten
Gänge macht, seine besonderen Ecken hat, wo man ihn
kennt, schätzt und grüßt – beim Cappuccino im Caffè Torino
an der Piazza San Carlo, als Stammkunde beim benachbarten Herrenausstatter Olympic oder als Besucher eines der
zahlreichen Museen. In diese Stadt wurde er nicht hineingeboren, doch in ihr ist er buchstäblich groß geworden.
Giugiaros Geschichte ist die einer zielstrebigen
Karriere, geprägt von glücklichen Zufällen, von Begeg­nun­
gen mit wichtigen Menschen und Förderern und von einer
disziplinierten Arbeit am eigenen Erfolg: 1955, gerade erst
17-jährig, entdeckt Dante Giacosa, der Chef­kon­strukteur
von Fiat, das junge Talent und holt ihn in seine Firma. Für
Giugiaro, der sich nie sonderlich für Autos interessiert,
sondern als Kind viel lieber mit Zeichenstift und Malkasten
beschäftigt hat, ein atemberaubender Schritt. In der De­
sign­abteilung des internationalen Fahr­zeug­her­stellers
kommt er erstmals mit dem Automobil­bau in Be­rüh­rung:
„Das war für mich wie Universität.“ In einem großen Team
darf er zunächst zwar nur Teile zeichnen und noch keine
eigenen Autos entwerfen, doch dazu kommt es – unter den
Fittichen von Giuseppe „Nuccio“ Bertone – schon wenige
Jahre später. Er macht den 22-jährigen Giugiaro zum Chef
seines neugeschaffenen Design-Centers, nachdem er Wer­
ke des jungen Zeichners in einer Ausstellung gesehen hat.
Entwürfe aus der Feder Giugiaros werden nun als Showund Con­cept-Cars verwirklicht, und die ersten allein von
ihm gestylten Fahrzeuge gehen in Serie: Alfa Romeo 2600
Sprint, Simca 1000, Fiat 850 Spider, BMW 3200 CS oder
die Sprint-Version der legendären Alfa Giulia.
1
Expertenblick: Giugiaro stimmt jede
Ecke und Kante ab.
2
Feingefühl: Auch beim Interieur
müssen die Linien stimmen.
3
Sportsgeist: Auch in der Firma ist
der passionierte Mountainbiker viel mit
dem Fahrrad unterwegs.
Mit dem Entwurf des ersten VW Golf, 1974, erziel­ten
Giorgetto Giugiaro und IDG den Durchbruch im inter­-­
na­tionalen Automobilgeschäft: Ein bis dahin beispielloses Design sollte prägend für eine ganze Epoche
und für eine eigene Fahrzeugklasse werden. Als „OneBox-“ oder „Folded-Paper-Design“ wurde der Stil mit
den aufgeräumten Formen, den messerscharfen Kanten und den kraftvollen Linien in der Fachwelt ein­
geordnet: schnörkellose Sachlichkeit.
1
Gestaltung ist für Giorgetto Giugiaro Mittel zum
Zweck. Er sieht sich vor allem der Logik des Produktes
verpflichtet: „Form follows function“ – Fahrer und
Passagiere dürfen nicht zum Sklaven ihres Fahrzeugs
werden. Insofern ist Design für ihn vor allem eine
mathematische Vision, die das umsetzt, was Funktionalität und Nutzen fordern: klare Abmessungen mit
klaren Proportionen und einer dimensionalen Logik, die
sich immer auf den Menschen bezieht.
2
„Design soll kein Kunstwerk sein“, erklärt Giugiaro.
„Im Gegensatz zur Kunst geht man nicht über die Logik
hinaus. Einsteigen, aussteigen, sich hinsetzen auf
kleinstem Raum – der Reiz liegt in der Reduzierung auf
das Wesentliche.“
Auch außerhalb der Automobilsparte hat Italdesign
vielen bekannten Industrieprodukten eine Form
ge­­-ge­ben. So zeichnet das Unternehmen etwa für die
Ge­staltung von Pendolino-Zügen für Fiat/Alstom,
Kaf­fee­­automaten von Faema oder die legendären
Ka­me­ra-­Bodys der Nikon-F- und D-Reihe verantwortlich. Kurios im großen Reigen dieser Auftragsar­­bei­­­­ten: das Styling eines kleinen Portionsfläschchens der
­Sanbitter-Limonade von San Pellegrino oder der
De­signer-Nudel „Marille“ für den italienischen Hersteller Voiello/Barilla.
Design muss gefallen, muss den Geschmack der Zeit
treffen: „Man darf nie in Gefahr kommen, dass das
Produkt nicht verstanden wird“, betont Giugiaro. „Und
es soll das Leben vereinfachen.“ Trotzdem bleiben
die hedonistischen Verführungen, das Streben nach
Genuss und sinnlicher Erfüllung, auch für ihn nicht
völlig außen vor: „Natürlich wollen wir mit einem Auto
auch mal angeben, natürlich ist es immer auch ein
wenig Spielzeug für die Selbstdarstellung.“ Doch gerade darin liegt für den Designer ein reizvoller Ziel­
konflikt, mit dem er gerne spielt: Freude und Lust contra M
­ äßigung zugunsten der ­Vernunft.
3
Zusammen mit Sohn Fabrizio (47), der seit 1990
im Un­ternehmen ist und seit 16 Jahren mit in der Geschäftsleitung sitzt, hat Giorgetto Giugiaro IDG zu
einem zukunftsfähigen Entwicklungspartner der Auto­
mobilindustrie geformt. Bis heute ist der 74-Jährige
Gallionsfigur von IDG geblieben – hochdekortierte
Ikone des internationalen Automobildesigns. 1999
wurde er zum Designer des Jahrhunderts gewählt,
2002 in die Automotive Hall of Fame aufgenommen.
Perfezione
Wir sind wie eine kleine Autofabrik, wir haben alles, um ein
komplettes Fahrzeug herzustellen.
Giorgetto Giugiaro
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Dialoge Technologie
Design soll
kein Kunstwerk sein
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Dialoge Technologie
Riduzione
Unermüdlich: Trotz seiner 74 Jahre ist Giorgetto Giugiaro noch
fast jeden Tag im Büro und arbeitet an seinem Zeichenbrett.
Einsteigen, aussteigen, sich hinsetzen auf kleinstem Raum –
der Reiz liegt in der Reduzierung auf das Wesentliche.
Giorgetto Giugiaro
Nach einem weiteren Wechsel zu Bertone-Kon­
kurrent Ghia wagt der junge Formenschöpfer 1967 schließ­
lich den Schritt in die Selbstständigkeit. Sein Traum ist
eine eigene Design- und Entwicklungs­schmiede, die mehr
kann und will, als im Studio die For­men künftiger Auto­
modelle oder Fahrzeug­genera­tionen festzulegen. Ziel und
Herausforderung liegen in der Schaf­fung eines professionellen Fullservice-Dienstleisters für die Auto­mobil­indus­
trie – kreative Schöpfung von der ersten Skizze über die
Konstruktionspläne bis hin zum Auf­bau funktionsfähiger
Vorserienfahrzeuge, Kosten­kalku­lation und Vorschläge
zur Herstellungslogistik inklusive.
Gemeinsam mit dem befreundeten Ingenieur
Aldo Mantovani geht er 1968 damit an den Start. Eine geniale Verbindung, wie Giorgetto Giugiaro rückblickend ur­
teilt: Der stark nach außen wirkende Kreative findet mit
Mantovani eine ideale und befruchtende Ergänzung in
einem großen, gleichwohl unprätentiösen und eher nach
innen gerichteten Techniker und Konstrukteur. Das ist die
Geburtsstunde von Italdesign, bis heute eine der herausragenden Designwerkstätten dieser Welt, einer der ein­
fluss­reichsten Formenschöpfer des internationalen Auto­
mobilbaus. Viele der über 200 Modelle und Serien, die dort
entstehen und in den folgenden Jahren und Jahr­zehn­ten
auf die Straßen rollen, werden zu Klassikern oder erlangen
gar Kultstatus: Man denke an Fiat Panda, Lancia Delta,
Saab 9000, BMW M1, Alfasud, Fiat Punto oder Audi 80.
Von ganz besonderer Bedeutung für das junge
Unternehmen sind zunächst jedoch die großen Auftrags­
arbeiten für die Marke Volkswagen. Mit dem kantigen und
scharf geschnittenen Golf 1 gelingt nicht nur Italdesign
selbst der Durchbruch im internationalen Geschäft, er hilft
auch dem VW-Konzern beim Übergang aus der Käfer-Ära
in die Neuzeit des Automobilbaus. „Das wichtigste Auto
meiner Laufbahn“, erinnert sich Giugiaro. Mit ihm wird bei
Volkswagen nicht nur technologisch und wirtschaftlich ein
völlig neues Fahrzeugkonzept geschaffen, die geglückte
Ablösung des kugeligen Dauerläufers durch ein betont
eckiges Raumwunder sichert die Zukunft von Unter­neh­
men und Marke. Unterstützt wird diese grundlegende Neu­
ausrichtung durch die erfolgreiche Einführung weiterer
neuer Produktlinien, die bis heute Gültigkeit haben: Passat
und Scirocco stammen aus jener Zeit und kommen – wie
der erste Golf – aus den Ateliers von Italdesign in Torino.
„Immer wenn ich einem meiner ‚Kinder‘ begeg­
ne, dann freue ich mich darüber, was aus ihnen geworden
ist“, berichtet Giorgetto Giugiaro beim Spaziergang entlang der Via Po. „Meistens erkenne ich aber auch gleich die
kleinen Unzulänglichkeiten, die sich damals im Ent­ste­
hungsprozess ergeben haben.“ Giugiaro gilt als ein schwer
zufriedenzustellender Perfektionist – kritisch vor allem
gegen sich selbst. Bei seinen Produkten kennt er alle Stär­
ken, alle Schwächen, weiß, an welcher Stelle nachgegeben
wurde und wo Kompromisse zu schließen waren. Fehlende
Zeit, zu hohe Kosten, Gewicht, technologische Zwänge,
Sicherheitsaspekte: alles Faktoren, die eine Gestaltung
mitbestimmen und die selten zu einem Idealentwurf führen: „Es gibt immer etwas, was man hätte besser machen
können“, gesteht der Designer.
Tatsächlich scheint er seinen eigenen Ansprü­
chen nur bei einem einzigen der vielen Serienfahrzeuge
wirklich nahe gekommen zu sein: beim Fiat Panda von
1980. An dem gibt es für ihn bis heute wenig auszusetzen.
Mit den Augen der damaligen Zeit betrachtet, ist dieses
Auto für ihn „wie eine Jeans“ – ein perfekt gestalteter Ge­
brauchsgegenstand, minimalistisch in Form und Ausse­
hen, dessen besondere Ästhetik im bedingungslosen Aus­
druck der Funktionalität liegt. „Bei diesen Ab­mes­sun­gen“,
schmunzelt Giugiaro, „kann man eigentlich nichts Bes­
seres erreichen.“
Zum Aperitivo um die Mittagszeit sitzen wir an
der zentralen Piazza Castello im Barratti & Milano, einem
der eleganten Kaffeehäuser der Stadt. Dort serviert man
kleine Appetizer und erfrischenden Prosecco. Das prickelnde Getränk löst die Zunge: Zeit, auch über Privates zu plaudern. Giugiaro berichtet von einer Gemäldeausstellung,
die er in seiner Heimatstadt Garessio zu Ehren des ver­
storbe­nen Vaters vorbereitet, erzählt von Freizeit­akti­vi­
täten und von persönlichen Neigungen. Beim Studium der
Spei­se­­karte schließlich kommt das Gespräch auf italienisches Essen, auf besondere Weine, auf die Spezialitäten
des Landes.
Als Hobbykoch betätigt sich Signor Giugiaro
zwar eher selten, aber mit Spaß. So fuhr er eigens in die
Trüffelmetropole Alba, um sich an einem Kochwettbewerb
zu beteiligen – mit „Penne Vodka“, der italienischen Vari­
ante eines wohl ursprünglich russischen Nudel­gerichts.
Im Topf werden der Speise neben den Teigwaren gekochte
Kartoffelscheiben, Tomatenpüree, Käse, Butter und viel
Schnaps sowie kleine Stückchen der kostbaren weißen Pilz­
­knolle beigegeben. Damit versuchte er die Jury zu beeindrucken – allerdings mit geringem Erfolg, wie er amüsiert
erzählt. Dafür gelingt es ihm umso mehr, unser Inter­esse
an dem Rezept zu wecken. Wort- und gestenreich erklärt
er uns die Zutatenliste und die Zubereitung: Der Meister
schneidet, rührt und schüttelt, bewegt die Töpfe und Pfan­
nen, fächert Luft und Dampf und gibt uns ganz das Gefühl,
mit ihm zusammen dicht am Herd zu stehen. Die Be­we­
gungen kommen aus dem Handgelenk – hingebungsvoll
und virtuos, so als führe er einen Bleistift am Zeichenbrett.
Dort haben wir ihn in seinem Büro Stunden zu­
vor beobachtet, als er mit wenigen – mal zarten, mal harten – Strichen flink die Konturen eines neuen Fahrzeugs aufs
Papier zauberte. Schnell entsteht eine markante Silhouette
Minimalismo
Mit den Augen der damaligen Zeit betrachtet, ist der Panda
für mich wie eine Jeans.
Giorgetto Giugiaro
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Dialoge Technologie
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Kraftvoll: Mit dem Concept-Car Brivido sorgte Giugiaro
auf dem Genfer Automobilsalon 2012 für Furore.
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Kurios: Im Auftrag von San Pellegrino gestaltete IDG ein
kleines Fläschchen für Sanbitter-Limonade.
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Klassisch: Auch Nikon-Kameras der F- und D-Reihe wurden
in Moncalieri designt.
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Visione
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Dialoge Technologie
Austausch: Gern besucht Giugiaro in Turin seinen
Freund, den Auktionator Alberto Bolaffi.
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Inspiration: Die Klarheit pharaonischer Kunst
fasziniert den erfolgreichen Designer.
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Wer mit offenen Augen durchs Leben geht, nimmt unbewusst viele Dinge
wahr – und bei der Arbeit kommt manches zurück.
Giorgetto Giugiaro
Integrazione
Wir sind jetzt Teil einer großen Familie. Aber natürlich behalten wir unsere
unabhängige kreative Seele.
Giorgetto Giugiaro
mit charakteristischen Merkmalen und Stil­elementen – ein
spontaner Wurf, wie er zu Beginn des Ent­stehungs­pro­
zesses eines Maserati Bora, des Ferrari GG50 oder eines
Alfa Romeo Brera gestanden haben mag.
Anregungen für neue Kreationen holt sich Giu­
giaro allerdings aus einer anderen Welt. Der gelernte Kunst­
­maler und begeisterte Porträtzeichner, der im häuslichen
Umfeld nicht eine Skizze von Automobilen verwahrt, gewinnt Inspiration vor allem bei Ausstellungs- oder Mu­
seumsbesuchen. Im Herzen Turins entführt er uns in die
Formenwelt der Ägypter, ins Museo Egizio in der Via Acca­
demia delle Science. Mit Eleni Vassilika, der Direk­torin,
fachsimpelt er dort gerne über die Klarheit der Kunst aus
pharaonischer Zeit. Mag sein, dass er die scharfkantige,
geometrisch geschnittene Architektur der Pyramiden im
Kopf hatte, als er damals die Umrisse des VW Golf oder des
Fiat Panda zeichnete.
„Wer mit offenen Augen durchs Leben geht,
nimmt unbewusst so viele Dinge wahr – und bei der Arbeit
am Zeichentisch kommt manches zurück“, erklärt Giu­
giaro, „ein Bild, ein Zitat, eine Vision.“ Er kopiert nichts,
ahmt nichts nach, aber er nimmt Gesehenes auf, verarbeitet es in seinen Skizzen. Das dürfte auch für die geschwungenen Linien des Jugendstils und die härteren Formen des
Art déco gelten. Neben Kunstwerken aus vergangenen
Jahrhunderten sammelt Giugiaro Druckgrafiken aus jener
Zeit. Im Auktionshaus von Alberto Bolaffi in der Via Cavour
stöbert er hin und wieder nach Arbeiten von ToulouseLautrec oder einem anderen stilprägenden Künstler dieser
Epoche. Und sofern der Chef bei seinen Besuchen selbst
zugegen ist, gibt es für die beiden Freunde immer Zeit für
einen Espresso und ein anregendes Gespräch. Oder Raum
für die Besichtigung der neuesten Exponate in Bolaffis
liebevoll zusammengetragener Privatsammlung zu Phä­
nomenen menschlicher Kommunikation.
Die entdeckten Freiräume bei unserem Bum­
mel durch das sommerliche Turin haben dem 74-jährigen
Automobildesigner sichtlich gefallen. Noch ist die Zeit, in
der er sich ihnen in vollem Umfang widmen könnte, aber
nicht absehbar. In Perioden des Wechsels und Wandels
wird der Senior bei IDG nach wie vor gebraucht. Es gilt, den
Übergang in die Welt eines Konzernunter­neh­mens zu begleiten und die Integration in den Audi-Verbund voranzutreiben. „Wir sind jetzt Teil einer großen Familie“, betont
Giugiaro. Da muss auch die eigene Rolle neu definiert werden: Mannschaftsspiel ist angesagt.
„Natürlich behalten wir unsere unabhängige
kreative Seele“, versichert der erfahrene Designer. Als
weltweit anerkannter Automotive-Dienstleister will IDG
innerhalb des Gesamtkonzerns als Engineering-Center
wirken – mit der Entwicklung und dem Aufbau von Con­
cept-Cars, fahrbaren Prototypen und Kleinserien für alle
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Dialoge Technologie
Marken unter dem Dach der Volkswagen AG. Und als traditionsreiches italienisches Designatelier natürlich auch
die Fortentwicklung der individuellen Formen­spra­chen
der einzelnen Marken mitgestalten. Dazu sollen in frühen
Phasen der Fahrzeugentstehung auch Gestaltungs­va­ri­
anten angeboten werden.
Als internationale Plattform bleibt dem Unter­
nehmen die Messe in Genf, auf der IDG über mehr als 40
Jahre hinweg stets vertreten war. Mit einem eigenen Con­
cept-Car will man weiterhin alljährlich für Furore sorgen,
um den Markt und den aktuellen Zeitgeschmack zu testen.
Wie in diesem Jahr mit der aufsehenerregenden Studie des
Brivido, die die Fachwelt mit viel Anerkennung quittierte.
„Benvenuto Giugiaro“, hieß es 2012 auf dem Geneva Pal­
expo, „benvenuto“ – ein Willkommen für eine wirklich at­
traktive Audi-Tochter.
Giorgetto Giugiaro
und Italdesign
1938
Giorgetto Giugiaro wird in Garessio
im südöstlichen Piemont geboren.
1955
1959
„Lehrjahre“ in der Designabteilung von Fiat in Turin.
Nuccio Bertone holt ihn als Designchef
in sein neues Design-Center.
1967
1968
Schritt in die Selbstständigkeit –
Giugiaro gründet die Firma Italy Styling.
Umfirmierung in Italdesign –
Partner wird Konstrukteur Aldo Mantovani.
1974
Im Auftrag von Volkswagen entsteht der Golf 1
als Nachfolger des VW Käfer.
1990
1999
Sohn Fabrizio tritt in die Firma ein,
ist seit 1996 Mitglied der Geschäftsleitung.
Wahl zum Designer des Jahrhunderts.
2002
2010
Aufnahme in die Automotive Hall of Fame.
Übernahme von 90,1 Prozent der Anteile durch Audi.
Produkte Industriedesign
Lagostina Atmosphere – Dampfdrucktopf
Porzellan-Serie „Funé“ – Richard Ginori
„Marille“ Pastanudel – Voiello/Barilla
Daiwa G2-EX – Skistiefel
Tecnica Inline-Skater
„Bright red Soda“ (Sanbitter/San Pellegrino)
Okamura C /P Baron – Ergomomic Chair
Molten Official GL7 – WM-Basketball
Nikon Kamera F3- 6, D1- 4, D800
Fiat /Alstom Pedolino ETR 460 ff
Minuetto Regionaltriebzüge
Lamborghini Tractors
Seiko Speedmaster
Beretta CX4 Storm
G-Energy S-Synth Motor-Oil
9
Experten unter sich: In Turins Ägyptischem Museum
fachsimpelt Giugiaro gerne mit der Direktorin.
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Verkanntes Turin: Herrschaftliche Metropole mit
prachtvollen Gebäuden, Straßen und Plätzen.
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Benvenuto Audi: Auch im Kaffeehaus sind die Vier
Ringe schon angekommen.
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Dialoge Technologie
Lebensart: Ein Cappuccino im Caffè Torino
gehört zu jedem Stadtbummel.
12
Erfolgsmodell: Der Golf 1 ist die wohl wichtigste
Designarbeit von IDG.
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