Im Rückwärtsgang nach unten

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Im Rückwärtsgang nach unten
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Im Rückwärtsgang nach unten
Für seine Küche ist das Land am Gotthard
weiss Gott nicht berühmt in der Welt.
Wenns ums Essen geht, hiess das erste
Gebot in Uri viele Jahrhunderte lang nicht
«Koche gut!», sondern «Verschwende
nichts!» Wer Nahrungsmittel verschwendet, wird der Sage nach bös bestraft: mit
lebendig gewordenen Puppen, die einem
die Haut vom Leib schneiden, oder mit
Ungeheuern, die ganze Landstriche verwüsten. Wer einfach nur schlecht kocht,
bleibt ungestraft. Aber Sage war gestern.
Heute ist schöne neue Welt. Mit Kochkunst auf allen Sendern. Mit exquisiten
Zutaten in allen Auslagen. Mit einem
Gourmet in jedem Menschen. Und dieser
Gourmet gebietet auch dem Land am
Gotthard: Koche gut!
Wie weit es Uri in dieser Disziplin schon
gebracht hat? Wissen wir nicht. Vielleicht
müssten wir dazu die vereinten Kritiker
der Gastro-Bibeln von Michelin und GaultMillau befragen. Wollen wir aber nicht.
Lieber gehen wir selber hinaus ins Land.
Drei Gasthäuser und ihre Köche nehmen
wir uns vor, und zwar von oben in Uri bis
ganz unten. «Obä-n-appä», wie man so
sagt. Ach ja, und natürlich machen wir es
so wie unser grosses Vorbild, der allseits
gefürchtete Gastrokritiker Anton Ego aus
dem köstlichen Animationsfilm «Ratatouille». Will heissen: Wir ordern kein fixes
Menü, wir ordern Perspektive. Sollen uns
die Köche auftischen, wonach sie gerade
Lust haben. Wir schauen ihnen bei der
Arbeit zu und sind dankbar für das Ergebnis. Keine Kritik. Das Einzige, was in die
Pfanne gehauen werden soll, sind die
Zutaten.
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Beginnen wir also oben, oben in Andermatt. Auf 1447 Metern über Meer, im
Luxushotel The Chedi Andermatt, kocht
Dietmar Sawyere. Mit 15 Gault-MillauPunkten ist der gebürtige Schweizer der
aktuell höchstdekorierte Koch im Urnerland. Jetzt steht er in der asiatisch-orientalischen Küche von «The Restaurant» und
dämpft einen Crevettenknödel. Knapp und
konzentriert, kein Handgriff zu viel und
keiner zu wenig. Den Knödel serviert er
später zu Kalb aus Andermatt und Kaviar
aus dem Tropenhaus Frutigen. Die Verbindung von Ost und West zeichnet nicht nur
das Gericht aus, nicht nur das Hotel The
Chedi Andermatt insgesamt, sondern auch
Dietmar Sawyere. Mit 16 Jahren startete
er seine Karriere als Chef de Partie im
Londoner Savoy Hotel. Nach zwei Jahren
wechselte er in gleicher Position zu Michel
Bourdin in das The Connaught Hotel in
London, wo er 1982 zum Young Chef of
the Year gewählt wurde. Es folgten Stationen in Neuseeland, Hongkong und Bangkok. 1988 ging Dietmar Sawyere nach
Australien, wurde Executive Chef im «The
Regent of Melbourne». 1993 eröffnete er
in Sydney sein eigenes Restaurant, das
«Fourty One». Es wurde in den folgenden
Jahren mit Auszeichnungen überhäuft.
Dann, nach mehr als drei Jahrzehnten im
Ausland, kehrte Dietmar Sawyere zurück
in die Schweiz. «It’s a nice place to grow
up», sagt er. Ein schöner Ort zum Aufwachsen. Zusammen mit seiner australischen Frau und den drei Kindern im Alter
von fünf, neun und zwölf Jahren wohnt
Dietmar Sawyere zurzeit in Beckenried.
Von dort kann er schnell mit der Seilbahn
hoch zur Klewenalp, zu seinem liebsten
Hobby, dem Skifahren. Von dort pendelt er
auch schnell nach Andermatt, zur Arbeit
im «The Chedi». Und was will er dort erreichen? Sterne von Michelin? Mehr Punkte
von Gault Millau? «Glückliche Gäste!»,
sagt der 52-jährige Spitzenkoch. «Das ist
alles, was am Ende zählt.» Dietmar Sawyere muss es wissen. Er stammt aus einer
Gastronomenfamilie. Schon der Vater war
Maître de Cuisine. Und bereits steht der
zwölfjährige Sohn – es ist gerade Zukunftstag – in der asiatisch-orientalischen
Küche, wo er dem Spitzenkoch zur Hand
geht. Dietmar Sawyere selber wollte
schon als kleines Kind Koch werden. «Ein
frühes Foto zeigt mich im Alter von drei.
Ich stehe am Herd und mache Rührei»,
sagt Dietmar Sawyere. «Ich glaube, es war
ganz gut.»
Runter gehts. Von Andermatt nach Wassen, vom «The Restaurant» zur Gourmetstube im Hotel Krone. «A la fine bouche»
heisst diese Stube vielsagend. Seit eineinhalb Jahren führt dort Damian Fry die
Kelle. Oder besser: die Pinzette. Tatsächlich. Mit einer langen Pinzette greift Damian Fry die frisch glasierten
Karottenwürfelchen aus dem Pfännchen,
um eins nach dem anderen auf einer halbmondförmigen Lage aus Kürbisfonds
fein säuberlich im Teller zu platzieren.
Schwarze Sepia-Gnocchi und violette
Marokko-Margeriten vollenden den Halbmond. Doch das Zentralgestirn auf dem
Teller ist – auf Senfsabayon und mit ein
wenig Kaviar – ein Filet vom Red Snapper.
Aus der nahen Reuss wurde dieser Fisch
bestimmt nicht gezogen. «Das Hauptaugenmerk liegt zwar auch in meiner
Küche bei regionalen Produkten; gute
Dinge gibt es aber auch andernorts auf
unserem schönen Planeten», meint
Damian Fry. Besonders gern mag er:
Stopfleber. Ein schlechtes Gewissen hat er
deswegen nicht. «Eine Zeit lang wohnte
ich bei meiner Tante in Frankreich», erzählt
der Koch. «Die Tante hatte eine Nachbarin,
und die Nachbarin hatte eine Gänsemast.
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Im «The Chedi Andermatt»
oben trifft Ost auf West, auch
auf dem Teller. Crevettenknödel mit Kalb aus Andermatt.
Jeden Abend watschelten die Gänse in
Einerreihe zum Stopfen. Besonders tierfreundlich war das nicht, trotzdem hatte
ich nie den Eindruck, die Gänse lebten
elend.» Ein elendes Tierleben bekomme
dem Teller ohnehin schlecht, meint Damian Fry. Daher arbeitet er am liebsten
mit Tieren aus freier Wildbahn. Dem Geschmack nach muss der Red Snapper auf
dem Teller also ein extrem freies Leben im
Atlantik geführt haben. Für solche Köstlichkeiten erhielt Damian Fry von Gault
Millau auf Anhieb 14 Punkte. Und er will
mehr. «15 könnten es schon sein», meint
der 36-Jährige. An der nötigen Erfahrung
fehlt es ihm nicht. Im Lauf seiner jungen
Karriere diente Damian Fry unter anderem
beim damals besten Koch der Deutschschweiz, bei Horst Petermann in der
«Kunststuben».
Zum ersten Mal allein gekocht hat Damian
Fry mit elf. Es war der Hochzeitstag der
Eltern. Gemischter Salat, Schweinskotelett
nach Walliser Art, Fruchtsalat. Als es um
die Lehre ging, wollte Damian Fry erst
Goldschmied werden. Doch dafür hätte
der junge Hospentaler nach Luzern gehen
müssen. Zu weit. Also ging er nur bis Andermatt, ins Hotel Monopol, um Koch zu
lernen – obschon ihm wegen der langen
Arbeitszeiten alle abgeraten hatten. «Die
Präsenzzeit ist wirklich sehr lang», sagt
Damian Fry heute. Von morgens früh bis
abends spät kommen für ihn und seine
Freundin, eine gelernte Köchin, manchmal
gut und gern 18 bis 19 Stunden zusammen. «Da gibt es kein Pardon.» Damian
Frys liebstes Hobby heisst denn auch
Schlafen. «Man ist immer erholt, wenn
man es gemacht hat.»
Kein Handgriff zu viel und keiner zu
wenig: Dietmar Sawyere.
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Die «Krone» in Wassen avanciert zur kleinen Kunststube.
Auf dem Teller strahlt die Sabayonsonne mit Red Snapper.
Vom Tiefschlaf zum geografischen Tiefpunkt unserer Reise. 478 Höhenmeter
und einen Gault-Millau-Punkt unter der
«Krone» liegt das Schlossrestaurant A Pro
in Seedorf. Erbaut wurde das malerische
Wasserschlösschen im Urner Reussdelta
vor mehr als vierhundert Jahren von Peter
A Pro. Dieser hatte es dank florierenden
Geschäften im Söldnerwesen zu ungeheurem Reichtum gebracht. Heute gehört das
Schlösschen dem Kanton, der es vor sieben Jahren als Gasthaus an René Gisler
und dessen Frau Cornelia verpachtet hat.
Zur Anlage gehört ein idyllischer Garten.
Dort wachsen wunderbare Blumen – nicht
nur schön zum Anschauen, sondern auch
gut zum Essen. René Gisler hält denn
auch eine blumige Kreation bereit: Tafelspitz vom Kalb mit Frischkäsemousse und
einem bunten Herbstsalat an Kürbisvinaigrette mit Blüten von Kapuzinerkresse und
Lavendel. Das Kalb verlebte sein Dasein
im Muotatal. «Beim Fleisch ist wichtig,
dass ich den Metzger und dessen Philosophie kenne», sagt René Gisler. Seine
eigene Philosophie heisst: Qualität, Kreativität und Gastlichkeit. Das sind auch die
Werte der Gilde, einer Fachvereinigung
etablierter Schweizer Gastronomen, zu
denen René Gisler mit Stolz gehört.
Kochen ist für den 56-jährigen Seedorfer
keine hehre Kunst, sondern solides Handwerk. Dieses Handwerk hatte er schon als
Kind lernen wollen. Auf der Suche nach
einer Lehrstelle landete er im Hotel Drei
Könige in Andermatt. Nach der Lehre folgten Stationen in Zug, Baden, Zürich, Andermatt und Altdorf. Immer waren es
Kleinbetriebe, so wie jetzt das Schlossrestaurant. Selbst bei Vollbetrieb stehen
höchstens drei Personen in der Küche.
Führt in seiner Küche Kelle und Pinzette:
Damian Fry.
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Im Schlossrestaurant A Pro
in Seedorf haben auch Blumen
Saison: Tafelspitz vom Kalb
mit buntem Herbstsalat.
«Der zeitliche Aufwand ist enorm», sagt
René Gisler. «Da braucht es viel Freude.»
Diese Freude zieht er aus den positiven
Rückmeldungen der Gäste. Nach getaner
Arbeit, spätabends, sitzt René Gisler dann
am liebsten still daheim. Mit einem Stück
Käse, einer Scheibe Brot, einer Wurst und
einem Glas Wein. Ganz gemütlich.
Ganz gemütlich verabschieden wir uns
nun auch aus dem Schlossrestaurant.
Unsere kleine Tour, «obä-n-appä» durch
die Urner Gastronomie, ist zu Ende, das
Menü gegessen, wenn auch in umgekehrter Abfolge der Gänge. Erst der Hauptgang in Andermatt, dann das Fischgericht
in Wassen und zuletzt die Vorspeise in
Seedorf. Der Gourmet in uns ist zufrieden.
Es wird gut gekocht im Land am Gotthard.
Solides Küchenkunsthandwerk mit schönen Perspektiven. Macht Lust auf ein
Dessert.
Christian Mattli
Solider Handwerker mit Willkommenskultur:
René Gisler.
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