Hansen, Erik Fosnes: Das Löwenmädchen

Transcrição

Hansen, Erik Fosnes: Das Löwenmädchen
Belletristik
Schicksale
Sendker, Jan-Philipp: Das Flüstern
der Schatten
München: Karl Blessing 2007. 446 S.,
€ 20,60
Der 50-jährige Deutsch-Amerikaner Paul
lebt seit mehr als 30 Jahren in China. Nach
dem Tod seines Sohnes Justin und der
nachfolgenden Scheidung von seiner Ehefrau zieht er sich aus der Gesellschaft zurück. Er vertauscht die schillernde Kulisse
von Hongkong mit einer beschaulichen
Insel, wo er sich dem Gärtnern, Meditieren
und den Erinnerungen an Justin hingibt.
Nur zwei Menschen gelingt es, sein
Eremitendasein zu durchbrechen: Christine Wu, eine schöne und intelligente Frau,
deren Annäherungsversuche er nur zögernd erwidert, und Kommissar David
Zhang, ein scheuer Mann, der ein Bündel
Erinnerungen aus seiner Jugendzeit in der
Roten Armee mit sich schleppt. Pauls beschauliches Leben findet ein Ende, als eine
reiche Amerikanerin ihn bittet, ihr bei der
Suche nach ihrem verschwundenen Sohn
zu helfen. Paul gerät so in einen scheinbar
aussichtslosen Kampf gegen brutale Mafiabosse und korrupte Polizisten. Obgleich er
den letzten Halt zu verlieren droht, öffnet
sich ihm auch das Tor zu einem neuen,
selbstbestimmten Leben.
Dem Autor, der jahrelang als Asien-
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korrespondent tätig war, gelingt es dank
seiner Chinaerfahrung, das Alltagsleben
Chinas und Hongkongs detailgetreu zu
vermitteln. Daneben schildert er, eingebunden in einen Kriminalfall, das psychologisch feinsinnig dargelegte Schicksal
dreier Menschen, die einander auf vielfältige Weise verbunden und an einem Wendepunkt ihres Lebens abgekommen sind.
Irene Minainyo
Winton, Tim: Atem
Aus dem austral. Englisch übers.
München: Luchterhand 2008. 235 S.,
€ 17,50
Tim Winton gehört zu den erfolgreichsten
und produktivsten Schriftstellern Australiens. Für seine Arbeit als Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Essays, fürs
Fernsehen und Bühne adaptierten Romanversionen sowie Kinderbüchern wurde er
mehrfach ausgezeichnet.
In Atem wählt er einen sehr offenen,
nicht wertenden Zugang zu einem „Problem-Thema“. Die beiden Freunde Bruce
und Loonie waren schon als Kinder die
schwarzen Schafe ihres kleinen Ortes in
Westaustralien. Das ändert sich auch
nicht, als die beiden Halbwüchsigen das
Surfen als Ventil für ihre überschüssigen
Energien entdecken.
Waren es zuerst nur kleine Wetten,
zum Beispiel wer länger unter Wasser die
Luft anhalten konnte, so kommt mit dem
Wellenreiten ein neuer Faktor zum eh
schon wetteifernden Jugendverhalten dazu
– der Kick. Mit dem Surfen finden die beiden auch die Passion ihres Lebens; hier
können sie ihre Sucht nach Grenzen erweiternden Gefahrensituationen und der
süchtig machenden Hormonausschüttung
des Kleinhirnes umfassend befriedigen.
Der Sport bzw. ihr Konkurrenzverhalten macht die Freunde allerdings langsam
zu erbitterten Feinden und das „off board“.
Auslöser ist der Kampf um die Gunst eines
älteren Surfers, welcher zuerst beide unter
seine Fittiche nehmen will, dann aber nur
einen der beiden fördert. Als nur Loonie
protegiert wird und mit dem Surf-Guru um
die Welt reist, beginnt Bruce mit dessen
Frau ein Verhältnis, welches das Ende einer
Ära für alle Beteiligten einläutet.
Überzeugend schildert Winton, wie
man als anfälliger Charakter in ein Abhängigkeitsverhältnis rutschen kann – und
wie die „Coolness“ einer alternativen Lebensplanung irgendwann auch die Niederungen des betreffenden Lebensstils – Surftrips werden durch Drogenschmuggel finanziert – berührt.
Hermann Gamauf
Hansen, Erik Fosnes: Das Löwenmädchen
Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008. 395 S., € 20,60
Mit Das Löwenmädchen führt der in New York geborene Norweger Erik Fosnes Hansen auf drastische Weise vor Augen, wie
unsere Gesellschaft mit Außenseitern umgeht. In einer kalten Dezembernacht im Jahre 1912 kommt in einem Dorf in
Norwegen ein Kind zu Welt. Die Mutter stirbt bei der Geburt und der Vater möchte anfangs nichts mit dem Säugling zu tun
haben, zumal das Mädchen über und über mit hellem, seidigem Haar bedeckt ist. Ein seltener Gendefekt ist Schuld an Evas
Behaarung. Sie wird Zeit ihres Lebens damit leben müssen. Hausarzt und Apothekersgattin
helfen dem verbitterten Witwer. Doch vor der Öffentlichkeit wird das Kind versteckt – was
natürlich zu Spekulationen im Ort führt.
Abgeschottet von der Außenwelt erschafft sich das kleine Mädchen seine eigene Phantasiewelt. Evas einziger Vertrauter ist ein Funker, der ihr das Morsen beibringt und sie dadurch
aus der Enge ihres Zimmers befreit.
Mit dem Eintritt in die Schule verändert sich Evas Leben, die anderen Kinder stoßen und
verspotten sie, für die Wissenschaft ist sie ein interessantes Schauobjekt, das schamlos ausgenützt wird. Als heranwachsende junge Frau hat sie Gefühle wie jeder Teenager. Doch es
kommt der Zeitpunkt, da muss sich Eva entscheiden, ob sie ihr Leben als Außenseiterin in
der Dorfgemeinschaft weiter führen oder sich einer Truppe anschließen will, die „menschliche Kuriositäten“ zur Schau stellt ...
Ein kluger und trauriger Roman über „Normalität“ und „Abartigkeit“ – in schönen Bildern
erzählt.
Gabi Stolba