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2 Deutschland
„Alle b
eide, fort“
im August starb der
bayerische Grünen-Chef
SEPP DAXEnbERGER
an Krebs – drei Tage nach
dem Krebstod seiner
Frau GERTRAUD. Seitdem
leben die drei Söhne
Felix, Kilian und benedikt
auf dem elterlichen Hof
im Chiemgau, umsorgt von
ihren Großeltern,
die nun plötzlich wieder
Eltern sein müssen
im Herrgottswinkel ein bild der
Verstorbenen:
Felix (l.), 20, Kilian, 17,
und der 71-jährige
Großvater Sepp
Daxenberger in der
Stube des Hofes
in Waging. Das kleine
bild zeigt Felix (r.)
und Kilian 1996
mit ihren Eltern
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stern 125
FOTO: AXEL SCHULZ-EPPERS/ACTiOn PRESS
Text FELiX HUTT Fotos REGinA RECHT
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2 Deutschland
D
ie Großmutter, die
nun wieder Mutter sein muss,
sitzt in der Küche und weint. Es
ist noch früh an diesem grauen
Samstag Anfang Dezember, der
Großvater arbeitet mit den Enkeln im Silo, sie bereiten Futter
für die Kühe vor. Theresa Daxenberger, genannt Resi, hat Kaffee
gekocht und Holz in den Kachelofen gesteckt. Schön gemütlich
könnte es sein, wären da nicht
die Gesichter der Toten, die einen
von den Wänden ansehen.
Im Herrgottswinkel steht ein
Bild von Gertraud und Sepp Daxenberger, davor liegen Tannenzweige, darüber hängt ein Kruzifix. Am 15. August erlag Gertraud
Daxenberger ihrem Krebsleiden.
Drei Tage später, am Tag ihrer
Beerdigung, starb ihr Mann Sepp,
der bayerische Grünen-Chef,
ebenfalls an Krebs. Sie hinterließen einen Bauernhof und drei
Söhne: Felix, 20, Kilian, 17, und
Benedikt, 13. Zwischen einem
Sonntag und einem Mittwoch im
August wurden aus drei Söhnen
Vollwaisen, und es ist der kurz
aufeinanderfolgende Tod einer
49-jährigen Mutter und eines 48jährigen Vaters, der die Geschichte der Familie zu einer der traurigsten des Jahres macht.
Die Daxenbergers, drei Enkel,
Großvater, Großmutter, leben
weiter, sie machen weiter, weil es
weitergehen muss. Wenn Theresa
Daxenberger von jener Woche im
August spricht, versagt ihr die
Stimme, dann ballt sich ihre rechte Faust um das zerknüllte Taschentuch.
Sie geht an den Herd, formt
aus Teig Semmelknödel, die Beilage zum Gulasch, dem Mittagessen für die Männer, die ihr
geblieben sind. Sepp sen., 71, ihr
Mann, der seit dem Tod seines
Sohnes viel arbeitet und wenig
spricht, und ihre drei Enkel.
Nächstes Jahr wird Theresa Da126 stern
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xenberger 70 Jahre alt, ihren
Händen sieht man an, dass sie
ihr ganzes Leben lang mit ihnen
gearbeitet hat. Sie wollte längst
ein wenig kürzertreten, nicht
mehr jeden Morgen um halb
sechs in den Stall, nicht mehr
jeden Tag in die Küche, sondern
ein bisschen was unternehmen,
ab und zu einen Kuchen backen,
was man eben so macht als Oma.
Aber dass es so gekommen ist,
dass die Jungen ohne ihre Eltern
aufwachsen, das hat ja keiner
ahnen können.
Nach dem Tod ihres Sohnes und
seiner Frau ging für Theresa Daxenberger das Leben fast wieder
von vorn los, sie schmiert Pausenbrote, füttert die Kühe, kocht,
tröstet, muntert auf, hört zu, organisiert. Was wäre, wenn sie nicht
mehr könnte, darüber will sie gar
nicht nachdenken. Die Eltern von
Gertraud können nicht helfen, sie
sind zu alt. Momente wie diesen,
Momente der Schwäche, gönnt sie
sich nur, wenn die anderen nicht
dabei sind. „Alle beide, fort“, sagt
sie langsam, schüttelt den Kopf
und starrt aus dem Fenster.
D
raußen bedeckt Schnee den
Chiemgau, die nahen Berge, den Wald, die Weiden.
Der Hof der Daxenbergers liegt
im Ortsteil Nirnharting von Waging am See, 120 Kilometer südöstlich von München. Es ist der
Hof von Sepp Daxenberger, der
hier aufgewachsen ist und nie
wegwollte, der mit Leib und Seele Bauer war, und noch viel
mehr. Erster grüner Bürgermeister in Bayern, Landesvorsitzender der Grünen, ein Politiker,
wie es ihn eigentlich gar nicht
gibt, ungeschliffen, glaubwürdig,
authentisch.
Blutspuren im Schnee führen
zum Kühlraum neben dem Stall,
wo die Rehe hängen, die der Jäger
eben vorbeigebracht hat. Hier auf
dem Land gehen sie anders um
mit dem Tod, er gehört dazu wie
der Glaube an Gott. Aber vielleicht gibt es doch eine Grenze.
„Ich verstehe nicht“, sagt Theresa
Daxenberger, „warum gleich alle
beide gehen mussten.“
*
Nur wenn „ihre
Männer“ nicht
in der Nähe sind,
erlaubt sich
Theresa Daxenberger, 69, etwas
Fassungslosigkeit
Ich verstehe
nicht, warum
gleich alle
beide gehen
mussten
Theresa Daxenberger,
die Großmutter
Anfang der 80er Jahre taucht ein
Typ im Regionalbüro der Grünen
in Traunstein auf, wie man
ihn hier sonst nicht so oft trifft:
Sepp Daxenberger trägt Latzhose
und wilden Vollbart, er ist groß
und spricht breites Bayerisch,
ein Mannsbild, ein Ur-Bajuware
mit klaren Vorstellungen: Er sei
Schmied und Bauer, gegen Atomkraft, für eine nachhaltige Landwirtschaft und vor allem gegen die
Alleinherrschaft der Schwarzen,
der CSU. Deren Borniertheit, deren „Wir machen das so, weil wir
die absolute Mehrheit haben“, die
wolle er durchbrechen.
Daxenberger gilt als Exot, weil
er einer der ersten Bauern ist, die
ihren Hof auf Bio umstellen.
Seine Kühe würden nur Brennnesseln fressen, werfen ihm die
Traditionalisten vor. Der gläubige
Kirchgänger ist Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr und im Trachtenverein. Damit fremdelt er zu
Beginn bei den Grünen, deren
Mitglieder sich eher aus dem
N
urbanen Milieu der Linksintellek­
tuellen rekrutieren. Daxenberger
macht dennoch Karriere, wird
1990 in den bayerischen Landtag
gewählt, da ist er 28 Jahre alt.
Auch privat läuft es gut, er heira­
tet im September desselben Jah­
res seine Freundin Gertraud, die
zu ihm und seinen Eltern auf den
Hof zieht und ihm den Rücken
freihält. Der erste Sohn Felix ist
einige Monate zuvor auf die Welt
gekommen.
In München macht der Bauer
aus Waging bald von sich reden.
Als er vom Landtagspräsidenten
einmal gerügt wird, er sehe im­
mer so aus, als käme er gerade aus
dem Kuhstall, erwidert Daxen­
berger: „Mir san die Leut’ lieber,
die ausschauen, als kämen sie
frisch aus dem Stall als frisch vom
Versicherungsbetrug.“
Das ehemalige Jugendmagazin
„jetzt“ der „Süddeutschen Zei­
tung“ lädt vier Politiker nachein­
ander in einen Biergarten zum
Interview. Am Nebentisch stellen
Es muss weitergehen: Sepp senior
füttert die Kühe.
Auch Sepp junior
war von ganzem
Herzen Landwirt
ach sechs Jahren in Mün­
chen hat Daxenberger ge­
nug von den Krawatten­
trägern und Theoretikern in der
Landeshauptstadt. Er will zurück
nach Hause, lieber im Kleinen et­
was verändern als im Landtag
fruchtlose Opposition betreiben.
Mittlerweile ist sein zweiter Sohn
Kilian geboren, 1998 kommt der
dritte, Benedikt.
Der Grüne kandidiert im tief­
schwarzen Waging für das Bürger­
meisteramt. Und gewinnt. Fragt
man die, die mit ihm zusammen­
gearbeitet haben, nach seinem Er­
folgsrezept, antworten alle, dass er
keins gehabt habe. „Der Sepp hat
einfach gesagt, was ihm am Her­
zen lag. Er hat sich nie verstellt,
das konnte er gar nicht“, sagt
Heinrich Thaler, ein enger Freund.
„Was ist der Unterschied zwischen
einer Krawatte und einem Kuh­
schwanz? Der Kuhschwanz ver­
deckt das ganze Arschloch.“ Thaler
muss lachen. Das sei so einer die­
ser derben Witze, die der Sepp
gern erzählt habe. Allerdings nur,
fügt er hinzu, wenn keine Frauen
in der Nähe gewesen sind.
Daxenberger wird 2002 als Bür­
germeister wiedergewählt, die
Grünen machen ihn zu ihrem
Landesvorsitzenden. Sie haben
längst erkannt, dass sie mit dem
volksnahen Sepp bei den Wählern
punkten können. Nach sechs Jah­
ren Kommunalpolitik reizt es
Daxenberger nun, beide Bühnen
bespielen zu können. Die kleine
in Waging, die große in München.
Sein Leben lässt sich gut an, bis er
im Sommer 2003 zum Arzt muss.
Immer diese Erschöpfung. Er
glaubt, er habe eine verschleppte
Grippe. Der Arzt stellt „besorgnis­
erregende Blutwerte“ fest, wenig
später kommt die Diagnose: ein
Plasmozytom, eine bisher unheil­
bare Form von Knochenmark­
krebs. Für die Ärzte wäre es ein
Erfolg, würde er noch vier Jahre
leben.
Der Krebs frisst Löcher in seine
Knochen, einmal bricht Daxen­
berger sich eine Rippe, als er sich
im Badezimmer streckt und einen
Duschvorhang aufhängen will. Er
unterzieht sich einer Therapie mit
eigenen Stammzellen, der Hei­
lungsverlauf scheint zuerst gut,
dann bricht die Krankheit wieder
aus. Nach einer zweiten Therapie
mit fremden Stammzellen ist er
monatelang außer Gefecht. Sein
Körper wehrt sich gegen die frem­
den Zellen. Daxenberger magert
ab, muss erneut zur Chemo und
sich bestrahlen lassen.
Er verheimlicht die Krankheit
weder seiner Partei noch der Öf­
fentlichkeit, zeigt sich mit Glatze,
sein unerschrockener Umgang
mit dem Krebs steigert seine
Popularität.
E
r sucht Ablenkung und fin­
det sie in seiner Arbeit, zer­
reißt sich zwischen dem
Leben in der Politik und dem auf
dem Hof. Jede Woche pendelt er
zwischen der Parteizentrale in
München und dem Rathaus in
Waging. Daxenberger will nicht
auswärts übernachten, abends
wird es oft spät. Gertraud hat im­
mer weniger Verständnis für sei­
ne Rastlosigkeit. Eine andere Frau
ist bereits in sein Leben getreten.
„Der Sepp hat einen Sprachfeh­
ler: Er kann einfach nicht Nein
sagen“, sagt Gertraud damals zu
Bekannten. Sie zieht mit den Söh­
nen in ein Nebenhaus auf dem
Hof, den ihr Mann für einige Zeit
verlässt. Er kommt nur noch zum
Arbeiten her.
➔
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stern 127
FOTO: SebaSTian Widmann/ddp
Schauspieler eine fremdenfeindli­
che Szene nach: Ein blonder Hüne
bepöbelt eine dunkelhäutige Frau,
so laut, so widerlich, dass man es
nicht überhören kann. Die Jour­
nalisten wollen wissen, wie sich
die Politiker bei rassistischen Über­
griffen verhalten. Die Herren von
CSU, SPD und FDP tun so, als
würden sie die Szene nicht be­
merken, oder reagieren kaum.
Daxenberger steht sofort auf, ruft:
„Hey! Hallo, Sie! Lassen Sie die
Frau in Ruh’!“ und bittet die Frau
zu sich an den Tisch. Die Schau­
spielerin muss den aufgebrachten
Sepp erst mal beruhigen.
Daxenberger wird bekannt in
München, in Bayern, die Medien
finden Gefallen an dem Unortho­
doxen, der immer für eine Schlag­
zeile gut ist, der sich trotz aller
Schmeicheleien aber treu bleibt.
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2 Deutschland
Sepp Daxenberger stirbt in der
Nacht von Dienstag auf Mittwoch,
eine halbe Stunde nach Mitternacht. Bei ihm sind seine Mutter
und seine Schwester, sein Vater
ist zuvor nach Hause gefahren. Er
hielt es nicht aus.
Im März 2008 gibt Daxenberger
sein Amt als Bürgermeister auf,
konzentriert sich ganz auf seinen
großen Traum: der CSU die absolute Mehrheit in Bayern zu entreißen. Und der Traum geht in Erfüllung. Bei der Landtagswahl 2008
verliert die CSU ihre Mehrheit,
seine Grünen kommen auf fast
zehn Prozent. Sehr lange ist ihm
jedoch nicht zum Feiern zumute.
Bei Gertraud finden die Ärzte
Anfang 2009 einen Tumor, Brustkrebs. Daxenberger trennt sich
von seiner Freundin, kehrt zurück auf den Hof. Mit seinem
eigenen Krebs kommt er klar,
aber die Vorstellung, dass seine
Söhne ohne ihre Mutter aufwachsen könnten, lässt ihm
keine Ruhe. Durch die Krankheit
kommen sich die beiden wieder
näher, sie gehen spazieren, reden
viel. Vor den Söhnen versuchen
sie, optimistisch zu wirken. „Die
sollen nicht das Gefühl haben,
hier ist eine halbe Leichenhalle.
Sie sollen ganz normal aufwachsen“, sagt Daxenberger in einem
Interview.
Am 6. Juli 2010 wandert die Belegschaft des Waginger Rathauses
auf die Haar-Alm bei Ruhpolding.
Daxenberger, der begeisterte
Wanderer, ist natürlich dabei und
wird in einem Jeep nach oben
gebracht, zum Gehen fehlt ihm
längst die Kraft. Er trinkt kein
Bier mehr, die Sennerin bringt
128 stern
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ihm Tee. Er hat Schüttelfrost, mitten im Sommer, ihm ist übel.
„Heini, ich bin so schlecht beieinander, wann wird das endlich
besser?“, fragt er seinen Freund
Heinrich Thaler. Es ist sein letzter
Ausflug in die Berge.
Gertraud und Sepp Daxenberger geht es danach immer schlechter. Er liegt im Klinikum rechts
der Isar in München, sie auf der
Palliativstation des Krankenhauses in Traunstein. Als es das erste
Mal heißt, seine Frau könnte sterben, lässt sich Daxenberger von
München im Taxi nach Traunstein fahren, bleibt die Nacht
über an ihrem Bett. Die Ärzte eröffnen der Familie ein paar Tage
später, dass man bei ihr nichts
mehr machen könne, dass sie
austherapiert sei. Sie wird nach
Hause gebracht, möchte auf dem
Hof sterben.
Anpacken: Kilian
und Felix (vorn)
bereiten das Futter
für die Kühe vor
N
ach dem Tod seiner Frau
am Sonntagvormittag des
15. August resigniert Sepp
Daxenberger. Er habe einfach
keine Kraft mehr, sagt er. Aber er
wolle unbedingt noch auf ihre
Beerdigung, und wenn sie ihn
im Krankenbett hinführen! Am
Dienstag lässt er den Notar und
seine Söhne ins Krankenhaus
nach Traunstein bringen und regelt das Testament.
Doch zur Beerdigung seiner
Frau schafft er es nicht mehr.
Er machte kein
Geheimnis aus
seiner Krankheit:
Sepp Daxenberger
2003 und ein Jahr
später während der
Chemotherapie
roßvater Sepp, Felix und
Kilian sind fertig im Stall
und kommen ins Haus. Sie
waschen sich die Hände, setzen
sich an den Tisch, an dem Resi
Daxenberger gleich das Mittagessen serviert. Der Opa und seine
zwei Enkel reden nicht über
die, die fehlen. Was passiert ist,
schwebt im Raum wie trauriger
Nebel. Sie sprechen über das, was
als Nächstes ansteht, heute, nicht
morgen. Über die Zukunft nachzudenken, haben sie aufgegeben.
Wer weiß schon, was da wieder
alles kommt? Der Opa möchte
nach Waging fahren, die Couch
braucht einen neuen Bezug. Kilian will am Computer spielen, und
Felix wird ins Holz gehen, einen
Baum fällen, für den Ofen.
Die Frage „Wie macht man weiter, wenn auf einmal beide Eltern
fehlen?“ beantwortet Felix später
sehr pragmatisch: Man habe nicht
lange Zeit, darüber nachzudenken, vom Grübeln würden die
Kühe im Stall nicht satt. Einen
Tag nach der Beerdigung seines
Vaters sei er wieder in den Stall.
Es müsse weitergehen, so einfach
sei das.
Heinrich Thaler, der alte Freund,
und Theresa Schopper, die Vorsitzende der bayerischen Grünen, sowie ein paar andere Freunde und
Bekannte fragen regelmäßig nach
auf dem Hof, wie es geht, und packen an, wenn sie helfen können.
Theresa Schopper sagt: „Die Jungen haben seit August eine Turboreifung durchgemacht.“
Felix gehört jetzt der Hof, er
trägt die Verantwortung, mit 20
Jahren, einem Alter, in dem man
sonst die Nächte auf Partys durchmacht. Seit dem Tod seiner Eltern
läuft vieles bei ihm zusammen.
Der Papierkram, die finanziellen
Angelegenheiten. Gerade wurden
die Lebensversicherungen ausgezahlt, von denen muss er Hypo- ➔
FOTOS: KlauS Brenninger/SZ PhOTO; FranK leOnhardT/dPa
G
*
Stütze im Alltag:
Sepp Daxenbergers
Schwester Theresa
hilft, wo sie kann.
Sie ist der Vormund
ihrer nicht volljährigen Neffen
und kümmert
sich vor allem um
Benedikt, 13
theken abbezahlen, seine Großeltern, die Brüder und sich selbst
durchbringen. Niemals und niemanden will er um finanzielle
Hilfe bitten, das sei nicht seine
Art, sagt er.
Unter der Woche müssen sich
die Großeltern und Kilian allein
um den Hof kümmern, dann studiert Felix Wald- und Forstwirtschaft in Weihenstephan bei Freising. Er ist im ersten Semester,
das Studium lenkt ihn ab und
bringt Spaß. Felix kann sich gut
vorstellen, den Hof eines Tages
zu übernehmen. „Wenn er bloß
eine Frau findet, die dieses Leben
mitmacht“, sorgt sich Oma Resi.
Von denen gebe es nicht mehr
viele.
Die Brüder gehen sehr unterschiedlich mit der Situation um.
Während Felix stark und erwachsen auftreten muss, kann Kilian
noch ein wenig Teenager sein. Er
hat einen Grungebart und einen
roten Discostempel auf der Hand,
letzte Nacht war er feiern. Er
lacht viel, ihm merkt man den
Schicksalsschlag nicht an, aber
seine Großmutter sagt, er mache
alles mit sich selbst aus, wie
sein Opa. Im Februar wird er 18,
eigentlich dürfte er schon jetzt
Auto fahren, weil er den Führerschein mit 17 gemacht hat. Aber
als Fahrbegleiterin hat Kilian seine Mutter eintragen lassen.
R
esi Daxenberger stellt das
Gulasch auf den Tisch, geht
ins Wohnzimmer und lässt
ihre Männer allein essen. Sie hat
das Gefühl, die seien ohne sie unbefangener. Großvater Sepp möchte ein Bier. Sie bringt es ihm.
Nach dem Mittagessen fährt
Felix Daxenberger mit dem Traktor in den Wald. Mit einer Motorsäge fällt er eine sehr hohe
Fichte, die mit einem dumpfen
Rums auf den Boden fällt. Schnee
stäubt auf, Zufriedenheit legt sich
in sein Gesicht. Er sagt es nicht
direkt, aber man merkt ihm an,
2
Deutschland ■
dass er stolz ist, Bauer zu sein.
Stolz auf den Wald, auf das Land,
das Erbe seines Vaters. Wie der
fühlt er sich wohl hier draußen,
erzählt gern, wie sein Vater
immer als Erstes in den Stall
oder ins Moos gegangen ist,
wenn er nach Hause kam, egal,
wie krank er war. Felix Daxen­
berger lebt das Leben seines
Vaters weiter, nicht weil man es
von ihm erwartet, sondern weil
er es will.
Über dessen Affären hätten
sich die Brüder geärgert, klar,
aber der Vater sei trotzdem im­
mer für sie da gewesen, habe sie
mit auf Wanderungen genom­
men, ihnen so viel gezeigt.
Als er aus dem Wald zurückkehrt,
kommt sein kleiner Bruder Bene­
dikt gerade an. Seine Tante setzt
ihn ab, er durfte letzte Nacht bei
einem Freund übernachten. Die
Tante ist Benedikts Vormund, sie
wohnt auf einem Hof in der Nähe,
hilft, wo sie kann.
Ich glaube,
ich habe das
alles noch gar
nicht richtig
realisiert
Felix Daxenberger
Benedikt kommt am schlech­
testen klar ohne die Eltern, vor
allem ohne die Mutter. Er hat sich
zurückgezogen, ganz tief in sich
selbst, und bekommt psycholo­
gische Hilfe. Antidepressiva oder
andere Medikamente muss er
nicht nehmen, die Familie ver­
sucht es auf andere Art. Mit Käs­
spätzle zum Beispiel, seinem
Leibgericht. Und mit sehr viel Zu­
wendung. Wenn er abends nicht
einschlafen kann und nach seiner
Mutter ruft, dann legt sich seine
Großmutter Resi zu ihm ins Bett,
liest ihm etwas vor.
Theresa Daxenberger gibt zu,
dass sie an ihre Grenzen stößt. Sie
ist nun mal nicht die Mama. Bei
den Hausaufgaben kann sie ihm
nicht helfen, wer kann denn
schon Latein?
Die Arbeit ist getan für heute,
Felix Daxenberger sitzt im Wohn­
zimmer, vielleicht geht er später
auf ein Bier, allmählich wird es
dunkel und sehr kalt draußen. Ne­
benan spielen seine Brüder am
Computer. Sie tragen Kopfhörer,
manchmal lachen sie.
Felix und Kilian waren Minist­
ranten, doch jetzt gehen sie nicht
mehr in die Kirche. Sie erklären
nicht, warum, sie sagen nur, dass
es so ist. Aber ihre Oma leidet
schon darunter, dass ihre Enkel
„vom lieben Gott gar nix mehr
wissen wollen“.
An so vieles könne er sich
nicht mehr erinnern, sagt Felix,
die Beerdigungen, die Tage da­
nach, wie in Trance sei die Zeit
an ihm vorbeigezogen. Er habe
keine Zeit zum Trauern gehabt,
ständig sei etwas zu organisieren
gewesen, so gehe das bis heute.
Er sagt: „Ich glaube, ich habe das
alles noch gar nicht richtig reali­
siert.“
Vielleicht liegt es daran, dass
das, was den Daxenbergers an
Sterben zugemutet worden ist,
einfach mehr ist, als eine gute
2
Seele ertragen kann.

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