Ladenthin Vom Wert der Werte

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Ladenthin Vom Wert der Werte
Prof. Dr. Volker Ladenthin
Vom Wert der Werte - Werten lehren!
Als ich diesen Vortrag plante, war die gegenwärtige Konstellation nicht vorherzusehen. (Oder
vielleicht doch?) Während in der Wirtschaft Milliarden-Werte vernichtet werden, versucht die
Schule die Rettung der Werte! – Ist das Zufall? Ironie der Geschichte? Oder die List der
Vernunft? Gegen den Zufall spricht viel – für die List der Vernunft wenig.
Vielmehr ist „Werten lernen“ ein altes Thema der Pädagogik (und der Ethik).
Wenn alle Menschen, wie Aristoteles im ersten Satz seiner (Nikomachischen) Ethik schreibt,
„irgendein Gut zu erreichen suchen“, dann legt er die Fähigkeit zum Werten als
Grundfähigkeit des Menschen fest. Sie ist gewissermaßen mit der Geburt vorhanden, ist eine
natürliche Anlage des Menschen und seiner Freiheit. Wir wollen immer das für uns Wertvolle!
Leben heißt dann die Freiheit nutzen, heißt „werten“.
Wenn wir handeln, werten wir:
Wir bevorzugen etwas und lehnen dadurch etwas anderes ab.
Wir be-werten etwas und werten auf diese Art.
Werten kann man also gar nicht lernen (weil man Freiheit nicht lernen kann), sondern um
lernen zu können, müssen wir schon immer etwas bewertet haben. Uns muss ein Buch
wichtiger sein als ein Spaziergang – damit wir es lesen und aus ihm vielleicht etwas lernen.
Und auch Schülerinnen und Schüler müssen schon immer werten können, bevor sie werten
lernen: Ihnen muss der Unterricht wichtiger sein als das Rumhängen in der Clique.
Hausaufgaben müssen wichtiger sein als Kaufhaus-Cruisen.
Aller Unterricht setzt mit dem Werten an und baut auf einem Wertbewusstsein vor allem
Unterricht auf.
Man kann schon immer werten – nur ob man richtig wertet, das ist die Frage. (Die Banker –
um die aktuelle Lage noch einmal aufzugreifen – haben zwischen Sicherheit und
Gewinnmaximierung falsch gewertet. Sie hätten es besser wissen können und dann richtig
werten müssen.)
Werten ist also eine aktive geistige Handlung mit massiven praktischen Folgen.
Wer wertet, entscheidet sich.
Man kann zwar nicht „nicht-werten“ – wohl aber richtig und falsch werten.
In Schule und Elternhaus lernt man, wie man richtig wertet. Man lernt, wie man Werte
erkennt, identifiziert, wonach oder wie man sie ordnet, welche man bevorzugt und ablehnt.
Die pädagogische Frage lautet also: „Wie lernt man das richtige Werten?“
Wie, zum Beispiel, lernt man,
zwischen Sicherheit und Gewinnmaximierung abzuwägen?
Oder zwischen Zufall und realer Chance? Man könnte seine Entscheidungen mit Hilfe der
Wahrscheinlichkeitsrechnung absichern. So wird die Wahrscheinlichkeitsrechnung zu einem
Wert, zu etwas Wertvollem. Ohne Kenntnis dieser Berechnungsart lebte man „auf gut Glück“,
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auf „Deubel komm raus“, ginge „auf volles Risiko“. Mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung
kann man lernen, das Risiko einzuschätzen: Lohnt sich das Lottospielen? Die Sportwette?
Wie sicher sind Verhütungsmittel? Wie hoch sind meine Chancen in einen Beruf zu kommen
und mit welchem Abschluss? Wie kann ich meine Chancen verbessern? Das wären Beispiele
für Werterziehung im Mathematikunterricht. Die Grundfrage ist: Was ist der Wert bestimmter
mathematischer Verfahren?
Werterziehung im Physikunterricht ginge von der Frage aus: Welchen Wert haben
physikalische Erkenntnisse? Mit dem Ottomotor kann ich Kraftfahrzeuge antreiben und den
Menschen das Leben erleichtern, also Mobilität erhöhen. Das sind unzweifelhaft „Werte“. Ein
Ottomotor verbreitet aber auch Lärm und Abgase mit den bekannten (oder
kennenzulernenden) Folgen. Lärm und Abgase sind unzweifelhaft „Un“-Werte, negative
Folgen also. Werterziehung heißt demnach: Über Bedeutung und Folgen des Gelernten
aufzuklären.
Der biologische Einblick in die menschliche Fortpflanzung gibt uns Wissen, mit dem wir
planen können, ob wir Kinder haben wollen oder nicht. Wer keine Kinder in die Welt setzen
möchte, bevorzugt bestimmte Werte, vielleicht den der Sorge um mögliche Behinderungen
(bei entsprechender Erbanlage – und damit „Wahrscheinlichkeit“) oder den Wert der
Vermeidung von Risikoschwangerschaften. Wer Kinder in die Welt setzen möchte, bevorzugt
vielleicht den Wert der Zukunftssicherung, der Daseinsvorsorge. So jedenfalls könnte sich der
Schreiber dieser Zeilen entsprechende Wertungen vorstellen. Ein junges Paar, gar
Schülerinnen und Schüler in dem Alter, in dem sie in der Schule alles über Zeugung und
Schwangerschaft lernen, würden bestimmt ganz anders argumentieren. Sie bewerten eine
Schwangerschaft aus anderen Perspektiven, aus ihrer Lebensmitte. Und das ist gut so.
Aber wie kommen sie zu ihren Wertungen?
Sind sie richtig?
Sind sie moralisch gut?
Darüber muss und kann man sprechen.
Werte sind keine letzte Entscheidungsgrundlage. Vielmehr sind sie Folge einer Entscheidung.
Man sieht etwas als „wert-voll“ an und daher bekommt etwas für uns einen Wert. Ohne diese
Wertung „hat“ nichts einen Wert. Wasser zum Beispiel wird erst ein Wert, wenn man es
braucht. Hat man es bei Sturm-Flut im Überfluss und bei Hochwasser im Keller, ist es ein
Unwert. Erst wenn wir etwas bewerten, erhalten wir einen Wert. Von daher können „Werte“
auch kein Erziehungsziel sein. Nur die Erkenntnis von Werten ist ein Unterrichtsziel – und
zwar ein Ziel, dass man in jedem Fach in jeder Stunde immer schon anstrebt. (Manchmal
implizit, manchmal explizit.) Denn die Inhalte der Stunden, die Lehrpläne und Stundentafeln
sind ja nichts anderes als Ergebnis von Wertungen – „Werte“ also.
Der Stoffplan ist ein Wertekatalog. Die ausgewählten Lehrgegenstände erscheinen der älteren
Generation so wertvoll, dass sie sie an die nachfolgende Generation weitergeben möchte.
Diese freilich muss den Wert prüfen und – wenn möglich – einsehen. Ungeprüft wird sie
nichts wirklich übernehmen. Die Gesamtheit von Werten kann man „Kultur“ nennen.
Daher sagt der Pädagoge Alfred Petzelt: „Kultur ist kein Wert – und daher Bildungsziel.
Kultur ist das Ergebnis richtigen Wertens, also Ergebnis von Bildung.“
Elternhaus und Schule stellen in den Lerninhalten Werte vor, die sie für bedeutsam halten.
Aber warum sind diese Lerninhalte bedeutsam?
Elternhaus und Schule haben die Aufgabe, diese Frage zu beantworten und die Bedeutsamkeit
der Lerninhalte herauszustellen. Wenn ihnen das nicht gelingt, wenn die Schülerinnen und
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Schüler den Wert des Gelehrten nicht verstehen, einsehen und akzeptieren, dann werden sie es
auch nicht lernen (oder allenfalls bis zur nächsten Prüfung). Werterziehung heiß, dass die
ältere Generation sich zur Disposition stellt: Sie muss den Wert des zu Lernenden jedes Mal,
bei jedem Kind, in jedem Fach, in jeder Stunde erweisen, nachweisen, offen legen, und so
darlegen, dass er auch für die Lernenden erkennbar ist.
(Vielleicht wird jetzt implizit deutlich, wie tragisch es für ein Schulsystem ist, wenn
man nur noch lernen soll, um Klausuren und Tests zu bestehen. Diese Umwertung des
Lernstoffes zum Intelligenztest entwertet die Inhalte des Lernstoffes – und demotiviert
auf lange Sicht. Lerngegenstände haben nur noch „Wert“ für die Leistungsmessung –
nicht mehr fürs Leben. Aber sollte man in der Schule nicht fürs Leben lernen?)
Was ist der Wert der Grammatik?
Welche Dritt-Sprache hat einen höheren Wert: Spanisch, Französisch oder Türkisch?
Lehren wir heute in unseren Schulen die Sprache, die unter diesen dreien auch den höchsten
Wert für die Schüler hat?
Welches Fach ist als ordentliches Fach wichtiger: Sozialkunde, Politik oder Pädagogik?
Da unser Tag nur 24 Stunden hat und wir nicht alles lehren können, müssen wir uns als
Stundenplaner entscheiden – eine Wertentscheidung.
Wie begründen wir sie?
Was ist wertvoller, Merkmale einer Kurzgeschichte bestimmen zu können – oder zu
diskutieren, warum sich das Ehepaar in der Geschichte „Das Brot“ von Wolfgang Borchert
noch in der Not betrügt?
So betrachtet beginnt Werterziehung, wenn man zu lernen beginnt – z.B. auch schon in der
Grundschule: Werte in der Grundschule?
Ja natürlich.
Kinder werten, wenn sie Spinat ablehnen und nach Kinderschokolade verlangen – und damit
sie richtig werten, müssen sie lernen, wie und wonach man richtig wertet. Hinter diesem
vielleicht lächerlichen Beispiel steht eine wichtige Wert-Entscheidung: Was ist wichtiger –
Gesundheit oder Genuss. Viele Raucher tragen noch im hohen Alter an dieser
Wertentscheidung … und können sich nicht entschieden!
Zum Beispiel in der Grundschule dann, wenn es abzuwägen gilt, welchen Wert die
Multiplikation gegenüber der Addition hat.
Die didaktische Grundentscheidung ist eine Wertentscheidung: Sollen unsere Kinder an der
Literatur abfragbare Lesekompetenz einüben oder über das Leben nachdenken lernen? Und
wenn sie Lesekompetenz einüben sollen, wo und wann sollen sie dann lernen, über das
richtige Leben, also die richtigen Wertentscheidungen nachzudenken?
Aber – so könnte man fragen – meint man mit „Werten“, von denen auf Schulfeiern immer so
gern gesprochen wird, eigentlich den Wert der Nachdenklichkeit, der Sprachen, der
Rechenarten, der chemischen und physikalischen Gesetze?
Meint man mit Werten nicht
Teamgeist,
Ehrlichkeit,
Toleranz oder Freundlichkeit – also das, was man dann auch in die Schulprogramme schreibt?
Ja sicher,
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auch.
Beides.
Mit William Frankena muss man moralische von außermoralischen Wertungen
unterscheiden.
Die außermoralischen Wertungen sichern ein gutes Leben.
Die moralischen Wertungen sichern ein sittliches Leben.
Beide Male wird gewertet: Zum einen werden Handlungen danach bewertet, ob sie das gute
Leben sichern, die menschliche Lebensbedingungen („Conditio humana“) schaffen. Zum
anderen werden Handlungen danach bewertet, ob sie die Würde der Menschen sichern, die
eigene und die fremde Würde.1
Werterziehung ist Erziehung zum bewussten Leben. Die Erziehung dazu, eigene
Entscheidungen als solche wahrzunehmen und zu lernen, sie sachlich, sittlich und sinnvoll
begründet vorzunehmen. Wir vollziehen immer schon Wertungen, gerade dann, wenn wir es
ablehnen, bewusst zu werten. Dann bevorzugen wir unbedacht den Wert, alles beim Alten zu
lassen. Werterziehung kommt also nicht zum Unterricht hinzu – sondern ist die Reflexion auf
den Vollzug von Unterricht. Jeder Lehrer, jede Lehrerin betreibt demnach immer schon und
immerzu Werterziehung.
Dazu bedarf es keiner Aufforderung aus jenen gesellschaftlichen Bereichen, die immer mehr
in Schule hineinreden möchten, um ihre Interessen durchzusetzen (statt die Interessen der
Kinder). Die Werte, die in der Schule vorgestellt werden, sind jene, die für die Bildung des
Menschen bedeutsam sind. Hier sind Lehrerinnen und Lehrer Experten. Da brauchen sie keine
Nach-Hilfe aus Politik und Wirtschaft. Lehrerinnen und Lehrer sollten ihre Expertise nutzen
und nach außen zeigen, dass guter Erziehender Unterricht die beste Werterziehung ist.
Die heutige Tagung kreist um diese „Werterziehung“ („Value Education“). Sie geht davon
aus, dass niemand sich nicht im Besitz der ewigen und richtigen Werte dünken kann, die man
an Schülerinnen und Schüler zu „vermitteln“ hätte. (Schon das Wort „vermitteln“ lässt einen
Pädagogen zurückschrecken: Werte kann man nur erkennen, nicht vermitteln.) Sie geht von
der Hochschätzung von Schule und Elternhaus als prominente Orte aus, an denen Wertungen
vorgestellt und Wertungen ausgesprochen werden. Hier noch einmal die Grundthesen:
Lernen ist Erkennen – und deshalb kann man Werte eben nicht vermitteln, sondern man kann
als Lehrender nur zur Erkenntnis auffordern.
Ein Lehrplan ist ein Wertekanon.
Werte sind einerseits kulturspezifisch – aber das Werten ist andererseits überkulturell. Jeder
muss werten, und zwar nach den gleichen Kriterien: Humanität und Sittlichkeit.
Prof. Dr. Volker Ladenthin
Institut für Kommunikationswissenschaften Universität Bonn
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Vgl. ausführlich und mit Unterrichtsbeispielen: Ladenthin, Volker; Rekus, Jürgen (Hg.): Werterziehung als
Qualitätsdimension von Schule und Unterricht. Münster 2008.
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