WS6 - SVBB

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WS6 - SVBB
Frühe Warnzeichen von
Kindeswohlgefährdung –
Risikoeinschätzung und
(präventive) Interventionen
Fachtagung 3./4. Sept. 2015 der SVBB
Arbeitskreis 6
Dr.med. Barbara Wendel-Widmer
Eads, Colorado
Regenbogen sind nichts
Ungewöhnliches. Tornados auch
nicht. Aber zusammen auf ein Bild
gesellen sie sich sehr selten. Jason
Blum gelang der Schnappschuss. Er
und sein 12-jähriger Sohn Chase
näherten sich dem Tornado bis auf
einen Kilometer.
Blick am Abend, 13. August 2015
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Kindeswohlgefährdung?
„Im Kanton Zürich unterrichten ab Montag sieben Kindergärtnerinnen ohne Diplom. Dies
lässt das Volksschulamt erstmals zu, weil es an ausgebildeten Lehrkräften fehlt.“
NZZ am Sonntag, 16. August 2015
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Kaum auf der Welt, schon im World Wide Web:
Unzählige Menschen zeigen ihren Nachwuchs auf
Facebook, Instagram oder Twitter. Man kennt das
von Stars wie Kim Kardashian, David Beckham
und Kelly Clarkson, aber auch von Krethi und
Plethi, also von Hinz und Kunz – von einem selbst
vielleicht, von manchen Freunden.
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20% der Kinder < 12 Jahre in der CH sind übergewichtig
NF-Studie ETH Zürich 2012
Bereits zwei von fünf 14-jährigen Mädchen halten
eine Diät.
Studie des University College London's Institute of
Child Health. 2015.
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Biografie der
Kunstturnerin
Ariella Kaeslin, ans Licht
geholt Sie war ein Star, das
Turnschätzchen der Nation
– alles nur Fassade. In einer
von zwei NZZ-Autoren
geschriebenen Biografie
erzählt Ariella Kaeslin
Erschreckendes über
Schinderei,
Schlankheitswahn und
ihre Depressionen.
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Kindeswohlgefährdung?
„In der Schweiz werden Kinder
sehr gut behandelt. .... Eine
Ohrfeige im Ausnahmefall
kann erzieherisch mehr
bewirken als 5 Psychologen“
Kommentar von Hans Fehr, SVP
zu Empfehlungen der UNO zur
Umsetzung der
Kinderrechtskonvention in der CH
in:
20 Minuten; 23.03.2014
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ErziehungsStile im
Wandel
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Gliederung
1. Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdung
2. Erkennen und Risikoeinschätzung
3. Angemessene Interventionen
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Kindeswohl
 Kindeswohl ist die für die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes
oder Jugendlichen günstige Relation zwischen seiner
Bedürfnislage und seinen Lebensbedingungen.
Fit
Quelle: Dettenborn, H. (2010)
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Entwicklungsalter
12 Jahre
Urteilsfähigkeit
Grundbedürfnisse des Kindes




7 Jahre
3 Jahre
Selbstwirksamkeit


Stabile, unterstützende Gemeinschaften und kulturelle Kontinuität
Erfahrungen, die die individuelle Persönlichkeit des Kindes
berücksichtigen
Grenzen und Strukturen
Erfahrungen, die dem jeweiligen Entwicklungsstand des Kindes
angemessen sind
Beständige liebevolle Beziehungen
Körperliche Unversehrtheit, Sicherheit, Regulation (z.B. Schreien,
Schlafen, Füttern, Selbstberuhigung)
(Brazelton et al. 2008)
Biologische Bedürfnisse / Bindungsverhalten
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Kindeswohlgefährdung
 Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, sobald «…die ernstliche
Möglichkeit einer Beeinträchtigung des körperlichen, sittlichen,
geistigen oder psychischen Wohls des Kindes vorauszusehen ist».
 Nicht erforderlich ist, dass diese Möglichkeit sich schon verwirklicht
hat.
Fit
Misfit
Quelle: Hegnauer; Grundriss des Kindesrechts (1999)
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Kindeswohl und Kindeswille
Es gibt
kein Kindeswohl
gegen den
Kindeswillen.
Die Umsetzung des
Kindeswillens kann
dem Kindeswohl
schaden
Dettenborn 2010
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Formen von Kindeswohlgefährdung





Vernachlässigung
Körperliche Gewalt
Psychische Gewalt
Gefährdung als Folge von Erwachsenenkonflikten um das Kind
Sexuelle Gewalt
Sexuelle Gewalt
Körperliche Gewalt
Gefährdung infolge
Erwachsenenkonflikte um das Kind
Vernachlässigung
Psychische Gewalt
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Vernachlässigung
Nicht Erfüllen kindlicher Bedürfnisse
bzgl. Ernährung, Hygiene, Kleidung, Erziehung, Betreuung und
Aufsicht
Ungenügende Anregung des Kindes zur motorischen, sprachlichen
oder sozialen Entwicklung
unangemessenes Erziehungsverhalten
Fehlende emotionale Zuwendung
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Emotionale Vernachlässigung
 Nicht hinreichende oder ständig wechselnde Beziehungsangebote
 Frühe Kindheit: Bezugspersonen von Säuglingen und Kleinkindern
sind emotional, mimisch oder sprachlich nicht verfügbar 
 Das Kind erlebt keine Zusammenhänge zwischen seinem Verhalten
und den Reaktionen der Eltern 
 Unterdrückung der eigenen Gefühle; Vermeidung des (Blick-)
Kontaktes; Apathie; Passivität 
 Kognitive Entwicklungsverzögerungen und Bindungsstörungen.
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Körperliche Misshandlungen
 Breites Spektrum von Schlägen, Verbrennungen oder
Verbrühungen, Quetschungen, Stichen oder Schütteln des Kindes
 Schwere Verletzungen: subdurale Hämatome (Hirnblutungen);
Blutungen am Augenhintergrund
 Häufig gleichzeitig ältere und neuere Verletzungen und/oder
Knochenbrüche.
 Weibliche Genitalverstümmelung bei Minderjährigen
 Rituelle Beschneidung von Knaben
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Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom
 Eltern erfinden medizinische Symptome, die ein Kind haben soll
(Fieber, Krämpfe, Blutungen etc.) oder erzeugen diese Symptome
durch verschiedenste Manipulationen.
 Beides bewirkt zahlreiche unnötige medizinische Abklärungen und
Eingriffe
 Eltern erwecken gegenüber den Medizinalpersonen von sich selbst
ein positives Bild und geben sich als besorgte Betreuungspersonen
aus.
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Psychische Misshandlung 1
Langfristig negativ-destruktive Einstellung der Erziehungspersonen
zum Kind mit kontinuierlichem Herabsetzen des Kindes 
Beschimpfungen, Entwürdigung, Demütigung, verbales Terrorisieren
Negative Zuschreibung, die das Selbstwertgefühl des Kindes
nachhaltig vermindern
Dem Kind wird eine andauernd negative Erwartungshaltung über
seine Zukunft vermittelt
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Psychische Misshandlung 2
Häusliche Gewalt / Partnerschaftsgewalt:
Miterleben von psychischer oder körperlicher Auseinandersetzungen
der Erziehungsberechtigten untereinander 
Beeinträchtigung der gesunden Entwicklung des Kindes
Loyalitätskonflikte und Parentifikation
Kinder fühlen sich mitverantwortlich und schuldig
Kinder fühlen sich bedroht
Sorgen über eigene Sicherheit und Sicherheit der Eltern und
Geschwister
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Psychische Misshandlung 3
Gefährdung als Folge von Autonomiekonflikten:
Beispiele:
- Nicht bewältigte Ablösekonflikte zwischen Eltern und ihren
(adoleszenten) Kindern
- elterliches Verbot legaler sexueller Kontakte ihres adoleszenten
Kindes
- Konflikte um die Intimsphäre des Kindes am Wohnort
- elterliche Beschränkung und Kontrolle der sozialen Kontakte ihres
Kindes.
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Gefährdung als Folge von
Erwachsenenkonflikten um das Kind
Auf das Kind bezogene Konflikte in Trennungs- und
Scheidungsfamilien, die über längere Zeit andauern und ein hohes
Ausmass annehmen 
Einschränkung der Erziehungsfähigkeit aufgrund starker Fixierung der
Eltern auf den Elternkonflikt
Kinder reagieren mit Behandlungsbedürftiger psychischer Belastung
Kinder werden in der Bewältigung altersentsprechender
Entwicklungsaufgaben eingeschränkt
 Autonomiekonflikte
 Parentifizierung
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Sexuelle Misshandlung
 Exhibitionismus vor Kindern, Pornographie mit Kindern,
Masturbation mit dem Kind bis zur Penetration (oral/vaginal/anal)
 Die Opfer sind Knaben und Mädchen, auch im Kleinkindesalter
 Die meist männlichen Täter stammen zu einem guten Teil aus dem
Verwandten- oder Bekanntenkreis der Opfer.
 Eindeutige körperliche Befunde sind selten vorhanden
 Der grössere Teil der Täter ist 17-jährig und jünger!
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Gliederung
1. Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdung
2. Erkennen und Risikoeinschätzung
3. Angemessene Interventionen
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Leitfrage: Wann kippen die Systeme?
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Grundprinzipien des Kindesschutzes
 Oberstes Ziel: Abwendung oder Beendigung einer
Gefährdung oder Verletzung des Kindswohls
 Primum nil nocere
 Viele Wege führen zum Ziel individualisiertes Vorgehen
 Standardlösungen sind nie hilfreich bzw. zielführend
 Bei akuter Gefährdung  unmittelbarer Schutz des Kindes
 «never walk alone»
 Verdacht auf Kindeswohlgefährdung ernst nehmen und
zulassen
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Risiko-Einschätzung – was ist das?
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Risikoeinschätzung
Retro- und prospektiver Prozess
Blick zurück
Kindeswohlgefährdung
im
Hier und
Jetzt
Ernstliche
Möglichkeit der
Beeinträchtigung
in Zukunft
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Wie gross ist das Risiko?
Hoch
Mittelgradig
Schutzfaktoren
Risikofaktoren
Gering
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Risikoeinschätzung
Situative Auslöser
Je weniger Risikofaktoren
vorhanden sind, desto weniger
wahrscheinlich ist
Kindeswohlgefährdung, bzw.
umso stärkere Auslöser sind
nötig
Je mehr Risikofaktoren
vorhanden sind, desto
wahrscheinlicher ist eine
Kindeswohlgefährdung bzw.
umso geringere Auslöser sind
nötig
Gedankenspiel
 Versetzen Sie sich in Ihre eigene Kindheit  möglichst so um die 17-jährig  erinnern Sie sich an eine Situation, mit der in Ihrem Leben
massgebliche Weichen gestellt wurden…..
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… und jetzt versetzen Sie sich in den














schüchternen, übermüdeten,
unmodisch gekleideten
körperlich schwächlichen, mangelhaft bebrillten
noch heftig pubertierenden
17-jährigen Schulversager Kevin Dwayne
mit einer unbehandelten Artikulationsstörung
der eine ängstliche, häusliche Mutter,
eine lernbehinderte ältere Schwester, die schlecht zu verheiraten ist
und einen abwesenden cholerischen Vater hat und aus Grenchen kommt der leicht verspätet und ohne Unterlagen
durch 2 Feldschlösschen sichtlich entspannt
zur Bewerbung bei Lidl in Olten geht –
und die portugiesische Filialleiterin als «Hexe» bezeichnet.
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Adverse Childhood Experiences
(Fellitti 2003)

ACE überraschend häufig, typischerweise
verheimlicht/ nicht erkannt

Deutliche Auswirkung auch 50 Jahre später:
Korrelation negativer psychosozialer
Erfahrungen in der Kindheit mit somatischer
Erkrankung, sozialer Dysfunktion, seelischer
Erkrankung, Einschränkung der
Lebenserwartung
Früher Tod
Krankheit und soziale
Probleme
Risikoreiches
Gesundheitsverhalten

Hauptdeterminante der Gesundheit und des
sozialen Wohlbefindens der Nation
Entwicklungsbehinderungen
Ungünstige Lebensbedingungen in der Kindheit
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Risikofaktoren von Seiten des Kindes
 Alter: Säuglinge und Kleinkinder
 Geschlecht: Mädchen betr. sexueller Gewalt; Übergewicht bei
Knaben betr. körperliche Misshandlung ; keine Unterschiede betr.
Vernachlässigung und psychische Misshandlung
 Geburtsrisiken, Entwicklungsrückstände und Behinderungen:
Mehrlinge; Zufuhr giftiger Stoffe in der Schwangerschaft;
Frühgeburt;; Entwicklungsbehinderungen; chronisch kranke Kinder
 Regulations- und Verhaltensstörungen:
Schreibabys; Kinder mit problematischem Essverhalten und
Schlafstörungen
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Umgebungsbezogene Risikofaktoren


Soziale Isolation, Ausgrenzung
Finanzielle Schwierigkeiten (Arbeits-/ Wohnsituation)









Unerwünschte Schwangerschaft
Sehr frühe Mutterschaft
Rasche Geburtenfolge
Soziale und/oder emotionale Verunsicherung
Eigene Missbrauchserfahrung
Suchtmittelabhängigkeit
Psychische Krankheit / Auffälligkeit
Chronische Krankheit eines Elternteils
Straffälligkeit eines Elternteils


Paarkonflikte, Trennungs-, Scheidungssituationen
Häusliche Gewalt


Körperstrafe als Erziehungsmittel akzeptiert
Unangemessen hoher Erwartungsdruck der Eltern
Summation mehrerer
Risikofaktoren 
•Überforderung
•Erniedrigte Stresstoleranz
•Kontrollverlust
•Unfähigkeit, die kindlichen
Bedürfnisse zu befriedigen
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Bei 85-90% aller Kinder herrscht ein harmonisches und am gegenseitigen
Austausch orientiertes Familienklima. (FIM-Studie 2011)
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Resilienz

Kindliche Reaktionen auf Belastungen weisen eine hohe individuelle Variabilität
auf:
längst nicht alle Risikokinder entwickeln sich ungünstig. Viele sind geschützt.

Vor den gesundheitsschädlichen Folgen früher Entwicklungsrisiken schützen:
- eine positive frühe Eltern-Kind-Beziehung
- Kompetenzen des Kindes

Sie bilden die Grundlage für die Entwicklung von Resilienz
Mannheimer Risikokinderstudie 2009
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Ressourcen
 Peers
 Familiäre Ressourcen
 Intrapsychische Ressourcen/Temperament
 Ausserfamiliäre Unterstützung
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Risikoeinschätzung
Funktion der Risiko- und Schutzfaktoren
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Vulnerabilitäts- und Risikoszenario
Risikoprozesse
Entwicklungsaufgaben
Protektive Prozesse

Soziale
Anforderungen 
Lebensereignisse
Kognitive Verarbeitung
Denkstörungen
Vulnerabilität
Affektregulation
Autonomes Areal
Affektwahrnehmung
Kommunikationsprobleme

Selbst wirksamkeit
Soziale
 Unterstützung
Bindungs sicherheit
Bewertungen und Interaktionen
Problematik
Modifiziert nach Resch (2004)
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Gliederung
1. Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdung
2. Erkennen und Risikoeinschätzung
3. Angemessene Interventionen
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Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung
Ersteinschätzung
Anhaltspunkte
unbegründet
Kindeswohlgefährdung
wahrscheinlich
(Vorläufiger)
Abschluss
Substantiierung der
Einschätzung durch
zusätzliche
Informationen
Kind
ist in akuter
Gefahr
Krisenintervention
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Umgang mit dem Verdacht
 Notfallmässiges Vorgehen in Gefährdungssituationen ist meistens
falsch
 Notfallmässiges Nachdenken, um dann geplant und mit Weitsicht
handeln zu können
Ersteinschätzung heisst:
 Frühere oder aktuelle Dokumentationen zusammentragen
 Gesamtsituation zurechtlegen und für sich einordnen
 Kontakt zu Fachgruppe aufnehmen, die mit dem Vorgehen in Fällen
von Kindsmisshandlung Erfahrung hat.
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Blickrichtungen beim Erfassen der Situation des Kindes
Befindlichkeit, Verhalten und weitere Signale des
Kindes
Äussere Erscheinung des Kindes
Risikofaktoren
Schutzfaktoren
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Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung
Ersteinschätzung
Anhaltspunkte
unbegründet
Kindeswohlgefährdung
wahrscheinlich
(Vorläufiger)
Abschluss
Substantiierung der
Einschätzung durch
zusätzliche
Informationen
Freiwilliger Kinderschutz
Zivilrechtlicher Kinderschutz
Kind
ist in akuter
Gefahr
Krisenintervention
Strafrechtlicher Kinderschutz
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Vielen Dank
für Ihre
Aufmerksamkeit!
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Literatur
 Hauri Andrea; Zingaro Marco:
Kindeswohlgefährdung erkennen in der sozialarbeiterischen Praxis;
Stiftung Kinderschutz Schweiz (2013)
 Lips Ulrich:
Kindsmisshandlung – Kindesschutz; ein Leitfaden zu Früherfassung
und Vorgehen in der ärztlichen Praxis
Stiftung Kinderschutz Schweiz / FMH (2011)
 Stuttgarter Kinderschutzbogen (Internet)
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