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Notwendiger Abschied von lieben Urteilen:
Die Kirche und ihre Mitglieder
Von: Wolfgang Lück, erschienen im Deutschen Pfarrerblatt, Ausgabe: 8 / 2012
Eigentlich bei allen Befragungen von Bürgerinnen und Bürgern, Kirchenmitgliedern oder nicht, kann man in den letzten
Jahren sich wiederholende und immer gleich bleibende Grundmuster beobachten. Insbesondere Journalisten scheinen sich
daran zu freuen, wenn sie wieder einmal feststellen können, dass die Menschen in Deutschland, innerhalb oder außerhalb
der Kirche, nicht oder nicht mehr dem entsprechen, was sie zur Norm von Kirche und Theologie erklärt haben. Die
Kirchenverantwortlichen äußern sich in der Regel zurückhaltender, bedauern aber auch ihrerseits gern so etwas wie einen
Traditionsabbruch. Statt genau hinzuschauen auf das, was gefragt und geantwortet worden ist, werden reflexartig bei
bestimmten Vokabeln liebevoll gepflegte Urteile über das Verhältnis der Mitglieder zur Kirche oder der Deutschen zum
christlichen Glauben zum besten gegeben. Der Unterton ist oft: Als heutiger Mensch hat man den Kirchen zu misstrauen und
kann eigentlich nur einen gepflegten Atheismus vertreten. Diese Einschätzung wurde mir wieder einmal bestätigt bei der im
Januar 2012 veröffentlichten Untersuchung "Was glauben die Hessen?"
Die Katholische Hochschule Freiburg hatte vom Hessischen Rundfunk den Auftrag zu einer Telefonbefragung bekommen.
Der Anlass war die 1000ste Sendung "Horizonte" von der hr-Kirchenredaktion. Verantwortlich für die Untersuchung zeichnet
Prof. Dr. Dr. Michael N. Ebertz vom Zentrum für kirchliche Sozialforschung an der Freiburger Hochschule.(1) Aufgefallen ist
mir dabei, dass auch die Auswertungen der Befragungsergebnisse oft schon eine Bewertung vornehmen, die einer
bestimmten Perspektive geschuldet ist. In diesem Fall ist es die Kirchenperspektive und nicht wirklich die Sicht der Befragten,
die in die Bewertung eingeht. So wird gern für die Kirche Krisenhaftes behauptet, wo die Fragen das nicht unbedingt nahe
legen und die Befragten das auch nicht so gemeint haben müssen. Ich gehe dabei einfach nur von dem aus, was ich lese,
und diskutiere nicht die Validität der Befragung selbst.
Die Befragung "Was glauben die Hessen?" - Was gefragt, interpretiert und vermutet wurde
75,7% der Befragten, darunter auch Muslime und religiös Nichtorganisierte stimmen der Aussage zu: "Ich finde es gut, dass
es die Kirchen gibt". Nimmt man die mit "teils, teils" Antwortenden hinzu, kommt man zu einer Kirchenakzeptanz von 89,5%.
Ähnliche Ergebnisse waren auch bei Befragungen in Nordrhein-Westfalen zu beobachten. Die Gründe für diese hohe
Kirchenakzeptanz wurden nicht erfragt. Die Autoren geben dazu nur Vermutungen an. Es wird angeführt, dass die Kirchen ein
großer Arbeitgeber sind, dass sie soziale Dienstleistungen erbringen, sich für Frieden, Menschenrechte und dergleichen
einsetzen, aber auch dass das Angebot an Riten an den Knotenpunkten des Lebens wie Taufe, Trauung und Beerdigung
sehr geschätzt wird. Damit müsse, so die Autoren, nicht einhergehen, dass auch akzeptiert wird, dass die Kirchen den
Anspruch erheben, Heil und Anleitung für die private Lebensführung zu geben bzw. Orte der Lebenssinngebung zu sein.(2)
Die Befragungsergebnisse lassen sich demnach so lesen, dass die Befragten zwar ein großes Interesse an den Leistungen
der Kirchen haben, aber sich individuell bzw. persönlich durchaus nicht an kirchlichen Werten und Normen zu orientieren
brauchen.
Weiter wurde die Einstellung zu folgenden Sätzen erhoben: "Ich stehe zur Kirche, aber sie muss sich auch ändern", "Die
Kirchen sollen so mit ihren Traditionen bleiben", "Auf Fragen, die mich wirklich bewegen, haben die Kirchen keine Antwort",
"Von mir aus braucht es keine Kirche zu geben". Bei aller grundsätzlichen Akzeptanz der Kirchen, lassen sich deutlich
kritische Vorbehalte erkennen. Gut die Hälfte der Befragten findet, dass sich die Kirchen ändern müssten. Nicht einmal ein
Viertel findet, dass die Kirchen wie gehabt bei ihren Traditionen bleiben sollten. 40,7% sagen, dass die Kirchen auf die sie
wirklich bewegenden Fragen keine Antwort haben. Bemerkenswert bei dieser Aussage ist, dass hier die Älteren deutlich über
dem Durchschnitt liegen. Die Autoren der Studie schreiben wörtlich: "Erstaunlich ist, dass ausnahmsweise die älteren
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Befragten es sind, die hinsichtlich dieser für die Kirchen negativen Aussage überdurchschnittlich hoch (47,9 Prozent)
zustimmen."(3)
Die Aussage "Die Kirchen haben auf Fragen, die mich wirklich bewegen, keine Antwort" muss nun allerdings kein Werturteil
über die Kirchen sein. Warum sollten die Menschen in einer plural strukturierten Gesellschaft und Kultur annehmen, dass die
Kirchen Antwort auf alle Fragen haben? Das ist zunächst einmal eine Feststellung. Dass die Älteren hier stärker als die
Jüngeren zustimmen, dürfte mit der größeren Lebenserfahrung zusammenhängen. Die Autoren der Studie sehen diese
Aussage aber offenbar durch die Brille eines kirchlichen Anspruchs, eben dies zu können, Antwort zu haben auf alle Fragen.
Selbstverständlich gibt es Stimmen in Kirche und Theologie, die diesen Anspruch erheben. Es gibt aber auch Stimmen, die
sagen, dass die Aufgabe von Kirche und Theologie sei, die Fragen offen zu halten, die von anderen immer wieder
zugeschüttet werden sollen. Wenn also die Ablehnung der Antwortkompetenz bei den Kirchen für irgendjemand negativ ist,
dann nur für die fundamentalistischen und den Absolutheitsanspruch vertretenden Positionen in Kirche und Theologie.
Von daher gesehen, ist auch fraglich, ob die Autoren der Studie richtig sehen, wenn sie schreiben: "Mit dieser Formulierung
soll ja erkundet werden, "ob die Kirche ihre Lebenswirklichkeit wahrnimmt und ihnen überzeugende Orientierung bieten
kann"". Übernähmen sich die Kirchen nicht mit einem solchen Angebot für all die vielen verschiedenen Menschen? Ich
glaube auch nicht, dass die Menschen, wenn sie sagen, dass die Kirchen keine Antwort auf sie bewegende Fragen haben,
dies als eine "tiefgreifende Kritik an den Kirchen" sehen und sich deshalb nicht ernst genommen fühlen, wie die Autoren
interpretieren.(4) Meiner Beobachtung nach sind die Menschen viel nüchterner und erwarten von den Kirchen gar nicht, was
etliche in den Kirchen meinen ihnen geben zu müssen. Hier einen Grund für "Kirchenmüdigkeit" (was ist das überhaupt?) zu
sehen, halte ich für schlicht überzogen. Einen zentralen "Schlüssel für den Zustand der Kirchen"(5) mögen Kirchenkritiker
und fundamentalistisch denkende Absolutheitsfanatiker hier sehen. Überzeugend ist das nicht angesichts der hohen
Zustimmungsrate für die Kirchen andererseits. Was sich hier zeigt, ist, dass es Positionen in Kirche und Theologie gibt, die
ihre eigene Bedeutung für die Menschen anders sehen, als es die Menschen selbst tun.
Dass es da eine Differenz gibt, zeigt sich auch in einer anderen Frage: "Das Leben hat nur dann einen Sinn, wenn man ihm
selber einen Sinn gibt". Dieser Aussage stimmen 80,2% der Befragten zu. Die Autoren kommentieren diesen Wert so: "Diese
religiöse Konsensformel bringt letztlich zum Ausdruck, dass die Einzelpersonen im Hinblick auf ihre Lebenssinngebung auf
sich selbst, auf die Eigenregie, auf ihre "Autogestion" (Pierre Bourdieu) zurückverwiesen sind, da ein "Fehlen eines plausiblen
und allgemein verpflichtenden sozialen Modells für die bleibenden, universalen menschlichen Transzendenzerfahrungen und
für die Suche nach einem sinnvollen Leben" zu konstatieren ist. Immer weniger hätte heute ein solches Modell in der
nationalen - oder hessischen - Gesamtgesellschaft Chancen zu entstehen."(6) Das gilt auch für den religiösen Bereich.
Man schätzt die Kirchen, akzeptiert aber ihren "Geltungsanspruch in der Gesellschaft sozialstrukturell und kulturell immer
weniger".(7) M.a.W.: Da stehen Wirklichkeit und Anspruch der Kirchen gegeneinander. Es besteht ein Spannungsverhältnis
zwischen Individuum und Institution. Die Institution wird nur dann akzeptiert, "wenn sie der religiösen Selbstbestimmung
Rechnung trägt. Auf eine Kurzformel gebracht: religiöse Autozentrik ja, gern auch mit den Kirchen, wenn diese sich jener
Maxime unterordnen".(8) Im Protestantismus zumindest dürfte es kein Sakrileg sein, wenn sich die Kirche unterordnet.
Nun ist es auch nicht so, dass die Befragten, sich selbst an die Stelle einer Absolutheit beanspruchenden Institution setzten.
Zweidrittel fühlen sich ihrer Religion durchaus verbunden. Gut Zweidrittel sagen aber auch, dass "jede Religion einen wahren
Kern" hat. Die Autoren beobachten im Zusammenhang mit dem Satz "Ich orientiere mich in meinem Leben an verschiedenen
religiösen Traditionen", dem 39,7% zustimmten, dass die Hessen "synkretismusfreudiger" seien als die deutsche
Gesamtbevölkerung. Bundesweit gibt es zu einem entsprechenden Satz nur 22% Zustimmung. 79,9% lehnen den Satz ab,
"dass in religiösen Fragen vor allem meine eigene Religion Recht hat und andere Religionen Unrecht haben."(9) Dieser
Befund würde dafür sprechen, dass Hessen eine größere Liberalität aufweist als andere Bundesländer.
"Religion ist nicht aus den Köpfen der Hessen verschwunden", ist die Schlussfolgerung, die aus dem Ergebnis gezogen wird,
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dass nur ein gutes Viertel angibt, sich selten oder nie mit Religion zu beschäftigen. Den dritthöchsten Zustimmungswert nach
den Aussagen, dass man das Vorhandensein der Kirchen gut findet, und dass das Leben nur dann einen Sinn hat, wenn
man ihm einen Sinn selbst gibt, ist die Zustimmung zu der Aussage, "dass es hinter oder über unserem normalen Leben ein
Geheimnis gibt". Die Auswertung spricht von "eine(r) weitere(n) religiösen Konsensformel".(10) Hier handele es sich um einen
"verbale(n) Platzhalter für die Bezugnahme auf Transzendentes ..., ohne dass sein Gebrauch dazu zwingt, sich dogmatisch
oder institutionell festzulegen. Das ist möglicherweise aus religiös offizieller Sicht zu wenig, obwohl damit zumindest für die
hessische Bevölkerung eine allgemeine religiöse Basis bzw. Ansprechbarkeit signalisiert wird. Kombiniert mit den beiden
anderen Aussagen, die höchste Zustimmungswerte erreicht haben, lässt sich daraus schlagwortartig die Kurzformel
generieren: Kirchen ja, sofern sie dieses "offene Geheimnis" nicht dogmatisch schließen und die Autozentrik der
Lebenssinngebung respektieren. Bei der autozentrischen Erkundung des Geheimnisses über oder hinter dem normalen
Leben können die Kirchen hilfreich sein."(11) Hier wird das Ergebnis deutlich positiver interpretiert als zu Anfang. Ein
kirchliches Deutungsmonopol wird nicht einfach vorausgesetzt, wenn es heißt, dass die Rede vom Geheimnis
"möglicherweise aus religiös offizieller Sicht zu wenig" sei.
In einem anderen Teil der Befragung ging es um die Frage nach den Inhalten des Glaubens im Einzelnen. Zentral ist hier
immer die Gottesfrage. Dabei lässt sich beobachten, dass der relativ große Konsens beim "Geheimnis" hinter dem Leben
nicht mehr gegeben ist. Der allgemeine Glaube an Gott liegt mit 66,6% noch relativ hoch. Bei genauerer Eingrenzung jedoch
sinken die Werte der Zustimmung. Dass sich Gott in Jesus zeigt, meinen 48,3%, dass Gott ins Leben eingreift 46,8% und
dass sich Gott mit jedem persönlich befasst 41,0%. Polytheistische Positionen vertreten nur 18,4%. Relativ verbreitet ist mit
47,2% der Glaube an Engel.(12)
Aus diesen und anderen Fragen etwa zu Tod, ewigem Leben und Endgericht, sowie der eigenen religiösen Praxis
konstruieren die Autoren der Studie fünf Grundtypen: "Christen", "nicht-christliche Theisten", "Kosmostheisten", "deistischer,
pantheistischer und polytheitischer Mischtyp" und "Atheisten". Dem "christlichen Orientierungstyp" wird dabei etwa jeder
Vierte der Befragten zugeordnet.(13) Diese Kategorisierung und Zuordnung wird von außen vorgenommen. Es handelt sich
also nicht um eine Selbstaussage oder Selbstzuordnung der Befragten. Das ist wichtig, weil leicht das Urteil in die Welt
kommt, dass es "nur" noch ein Viertel Christen unter den Hessen gebe. Ein solches Missverständnis kann auch entstehen
bei dem Satz "Ich fühle mich als Christ, aber die Kirche bedeutet mir nicht viel". Diesem Satz stimmten 26,2% zu. Hier könnte
man versucht sein, den ersten Teil des Satzes für sich zu nehmen. Gemeint aber ist, dass Menschen danach gefragt
wurden, wie sie die Bedeutung der Kirche für sich einschätzen, wenn sie sich als Christen bezeichnen. Der Focus liegt dann
auf dem Ergebnis, dass es unter den Protestanten dann 21,2% gibt, denen die Kirche nicht viel bedeutet, unter den
Katholiken 15,4%.(14) Das bedeutet: Auch wenn man sich als Christ fühlt, muss man nicht viel mit der Kirche im Sinn haben.
Das muss betont werden, wenn man sich ansieht, was dann aus der Studie in der "Evangelischen Sonntagszeitung"
geworden ist.
Die Studie "Was glauben die Hessen?" in der "Evangelischen Sonntagszeitung"
Die "Evangelische Sonntagszeitung" wird für Hessen und Rheinland-Pfalz herausgegeben. Das Blatt hat sich in seiner
Ausgabe Nr. 6 vom 5. Februar 2012 in Artikeln und Kommentaren mit der Studie "Was glauben die Hessen?" beschäftigt. Es
soll als Beispiel für eine journalistische Rezeption beigezogen werden, wobei es sich nicht einmal um die "säkulare" Presse
handelt. Berichterstattung wie Kommentierung ist ausgesprochen tendenziös.
Im Wesentlichen sprechen die Texte den Menschen in Hessen, Kirchenmitglieder oder nicht, ihre Missbilligung aus. Es wird
gar nicht erst der Versuch gemacht, sich in die Befragten hineinzuversetzen. Bewertungsmaßstab ist allein das, was man für
den rechtmäßigen Anspruch der Kirche hält. Das beginnt schon mit den Überschriften und mit der Wortwahl. Der Leitartikel
ist überschrieben mit "Hessischer Flickenteppich". In der Unterüberschrift ist die Rede von "Patchwork-Glauben" und
"Christentum ohne Christen". Vor allem belege die Studie, so liest am auf der ersten Seite: "Wie anderswo auch basteln sich
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die meisten Menschen hierzulande eine Art Privatglauben aus vielen Versatzstücken". Das bezieht sich auf den Satz "Ich
orientiere mich in meinem Leben an verschiedenen religiösen Traditionen". Diesem Satz stimmen fast 40% der Befragten zu,
fast 80% lehnen die Vorstellung ab, dass nur ihre Religion Recht hat, die anderen Religionen aber Unrecht.
Der Satz von der Bastelreligion kann sich m.E. nicht auf die Studie beziehen. Dieses Klischee kommt von woanders her, ist
allerdings sehr beliebt bei denen, die den Niedergang des Christentums beschwören. Wenn man dieses Argument in Bezug
auf die vorliegende Studie anwendet, sehe ich darin eher so etwas wie eine Publikumsbeschimpfung oder Verspottung von
Schülen, wie man sie von Lehrern gelegentlich erleben kann. Diese Tendenz zur Negativauslegung findet sich in dem
gleichen Artikel sofort an zweiter Stelle, wenn es da heißt: "Das Ergebnis ist für die Kirchen nicht besonders erfreulich:
Nahezu vier Fünftel (76 %) finden die Kirchen gut - jedoch als soziale Instanzen ..., wo sie kulturell etwas vorzuzeigen haben
..." Wieso ist es für die Kirchen nicht erfreulich, dass 76% sie gut finden? Die Einschränkung, die anschließend gemacht wird,
steht in der Studie so nicht drin. Sie ist auch kein Ergebnis der Befragung, sondern ein Deutungsversuch der Studie, der
erklären soll, warum die Leute die Kirche gut finden und sich gleichzeitig nicht von ihr sagen lassen wollen, was sie als Sinn
ihres Lebens ansehen und was sie glauben sollen.
Wie in diesem Satz die Journalisten nicht genau hingesehen haben, so steht es auch bei der nächsten Behauptung:
"Lediglich 24 Prozent der Hessen bezeichnen sich als Christen". Ob sich die Leute als Christen bezeichnen, wurde gar nicht
gefragt. Vielmehr haben die Autoren der Studie aus den vielen Aussagen fünf religiöse Typen herauskonstruiert. Einen Typ
nennen sie "Christen". Diesem Typ ordnen sie ein Viertel der Befragten zu. Wenn man der Überzeugung ist, dass die Welt
schlecht bzw. unchristlich ist, dann braucht man offenbar gar nicht mehr so genau hinzuschauen. Das Vokabular, mit dem die
religiöse Haltung der Hessen da belegt wird, nämlich "Sammelsurium", "Versatzstücke" und "Patchworkreligion" spricht nicht
gegen die Hessen, sondern gegen die selbst ernannten Glaubenshüter, die statt mit den Menschen ins Gespräch zu
kommen, lieber schimpfen und anklagen.
In dem auf den Leitartikel folgenden Kommentar auf Seite 2 geht es ähnlich weiter. Religion sei ein bunter Markt der
Möglichkeiten, auf dem man sich seine religiösen Vorstellungen zusammensuchen könne. "Das ist nicht zynisch, das ist
Markt ... Religion (wird) zum "Happy-Deppi"-Schnäppchen ... Theologischer Ramsch mit Erlebnischarakter". Wenn solche
Stimmen aus dem Raum der Kirche kommen, ist es nur gut, dass nicht viele sie hören. Sie würden die Kirchen dann doch
wohl nicht mehr gut finden. Ganz abgesehen davon, haben solche Stimmen auch einen Apostel Paulus ganz eindeutig
gegen sich, der der Gemeinde in Thessalonich schrieb: "Prüfet alles, das Gute aber behaltet" (1. Thess. 5,21). Der
Kommentar bricht ab und meint, dass solche Befragungen die kirchliche Binnenperspektive aufbrächen. Dann wird dafür
plädiert, die Menschen ernst zu nehmen, die die Kirche finanzieren. Die Kirche brauche weniger Gemeindehaus und mehr
Welt. Wieso es für diese gute Mahnung vorher die Marktschelte braucht, ist nicht erkennbar.
Der Hauptartikel auf Seite 4 geht ebenso wie der Leitartikel davon aus, dass die Leute die Kirche vor allem ihrer sozialen und
kulturellen Funktionen wegen schätzen. Es wird auch hier nicht erkennbar, dass dies nur eine Interpretation der Autoren ist.
"Geht es aber um die Sinnstiftung", so der Artikel, "werden sie dagegen wenig wahrgenommen." Gefragt wurde nicht,
inwiefern die Leute die Kirchen für die Sinngebung in ihrem Leben in Anspruch nehmen. Die Aussage ist lediglich, dass das
Leben für 80% der Befragten nur den Sinn hat, den man ihm selber gibt. Es ist überhaupt nicht ausgeschlossen, dass dieser
Sinn auch aus kirchlichen bzw. christlichen Zusammenhängen stammen kann. Es wird nur gesagt: Ich lasse mir das nicht von
anderen vorgeben, sondern bin selbst der Akteur.
Wiederholt taucht hier nun auch der Satz auf, dass sich nur 24% als Christen bezeichneten. Die Autoren der Studie sind es,
die diese Bezeichnung vornehmen. Als Traditionsbruch wird gewertet, dass nur jeder zweite sich zu dem Satz bekennt, dass
sich Gott in Jesus zu erkennen gegeben hat. Als Kirchenvertreter meint der evangelische Kirchenpräsident, man müsse
deutlicher machen, wofür das Kreuz steht. Danach war tatsächlich aber gar nicht gefragt worden. Der katholische Bischof ruft
dazu auf, "missonarischer" zu werden. Gerade das aber ist bei den Hessen mit nur 16,2% mäßig ausgeprägt. Die Studie
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resümiert: "Hessen sind keine religiösen Missionare."(15)
Ein vierter Beitrag steht unter der Überschrift "Kein Alarmsignal für den Untergang der Kirchen". Der Pressesprecher der
Evang. Kirche in Hessen und Nassau meint, die evangelische Kirche könne es nicht auf sich beruhen lassen, dass die
Menschen zwar eine transzendente Tiefendimension des Lebens bejahten, aber mit Jesus Christus nicht so viel anzufangen
wüssten. Dass allerdings früher alle Menschen bibel- und glaubensfest gewesen seien, sei nie erhoben worden. Man dürfe
nicht einen Wunschtraum zum Vergleichspunkt nehmen. Wenn die Menschen heute den Freiheitsimpuls der Reformation für
sich in Anspruch nähmen, machte das der Kirche zwar Probleme, aber die müsse sie nun einmal ertragen. Einzig in diesem
Artikel wird den Menschen, Kirchenmitgliedern oder nicht, zugestanden, das sie ihre eigenen Wege gehen können. Die Kirche
mag sich zwar positionieren, aber mehr als ein Angebot kann sie nicht machen.
Erwachsen glauben
Wenn man die drei Aussagen mit der höchsten Zustimmungsrate zusammennimmt, ergibt sich ein charakteristisches Bild.
Die Studie "Was glauben die Hessen" stellt fest, dass "die Regie in Sachen Religion - bei grundsätzlicher Anerkennung der
Existenz der Kirchen - von der Institution auf das Individuum übergegangen ist".(16) Damit wird im Grunde konstatiert, dass
die Menschen erwachsen geworden sind. Sie wollen nicht nur selbst denken und handeln, sondern auch selbst glauben. Und
so könnte man das Bild zeichnen: Die Menschen der Gegenwart in Hessen und im Prinzip auch in Deutschland entscheiden
über ihren Glauben selbst. Den Sinn ihres Lebens wollen sie selbst beschreiben. Dabei ist ihnen selbstverständlich klar, dass
sie nicht alles neu erfinden können und sollen. Sie greifen zurück auf Traditionen. Aber sie lassen sich dabei keine
einengenden Vorschriften machen. Deshalb kann es keine Zustimmung geben zu als zu eng empfundenen dogmatischen
Aussagen. Man möchte einen gewissen Spielraum haben. "Geheimnis hinter dem Leben" ist da hilfreicher als die traditionelle
dogmatische und mit allerlei Machtsprüchen beladene Rede von Gott und Jesus Christus.
Selbstverständlich sind dabei die Kirchen als Ressourcen des Religiösen unentbehrlich. Nicht nur, dass sie die Sachwalter
der Riten sind, und so etwas wie institutionalisierte Nächstenliebe. Auch für die Weitergabe der religiösen Inhalte sind sie
unentbehrlich. Zweidrittel der Befragten stimmen dem Satz zu, dass man "Kinder religiös erziehen sollte".(17) Diese Haltung
mögen die Kirchen als Abwendung und Kritik empfinden. Es gibt aber kein Zurück mehr in die alte Unmündigkeit. Man kann
diese Entwicklung eigentlich nur begrüßen. Ein Glaube, der durch Herrschaft besteht, ist unfreiwillig und keineswegs ein
starker Glaube. Man sollte sich deshalb in Kirche und kirchennahen Kreisen abgewöhnen, die Menschen der Gegenwart mit
Missbilligung und abwertenden Beurteilungen zu begegnen. Vielmehr sollte man sich darauf konzentrieren, den autonom
gewordenen Individuen religiöse Dienstleistung mit Zuneigung und Kompetenz anzubieten. Eine große Mehrheit von Leuten
ist ihrerseits bereit, dafür auch finanziell einzustehen. Die Menschen haben die Größe, die Institution zu unterstützen und zu
erhalten, auch wenn diese sie recht missmutig betrachtet. Sie wissen, dass sie die entsprechenden Leistungen nicht selbst
erbringen könnten.
Anmerkungen:
1 Prof. Dr. Dr. Michael Ebertz unter Mitarbeit von Prof. Dr. Burkhard Werner, Lucia A. Segler und Samuel Scherer: Was
glauben die Hessen? Ergebnisse einer Untersuchung im Auftrag des Hessischen Rundfunks Januar 2012, Zentrum für
kirchliche Sozialforschung, Karlstr. 63, 79104 Freiburg, download hr-online.de.
2 Ebertz, 11-14.
3 A.a.O., 15.
4 A.a.O., 16.
5 Ebd.
Alle Rechte vorbehalten, Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Deutschen Pfarrerblatts.
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6 A.a.O., 17.
7 A.a.O., 7f.
8 A.a.O., 18.
9 A.a.O., 19.
10 A.a.O., 23.
11 A.a.O., 24.
12 A.a.O., 27-32.
13 A.a.O., 39.
14 A.a.O., 63.
15 A.a.O., 19.
16 A.a.O., 27.
17 A.a.O., 71.
Deutsches Pfarrerblatt, ISSN 0939 - 9771
Herausgeber:
Geschäftsstelle des Verbandes der ev. Pfarrerinnen und Pfarrer in Deutschland e.V
Langgasse 54
67105 Schifferstadt
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