Integrationsjournal Mai 2013
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Integrationsjournal Mai 2013
I-JOURNAL Der Stadtschulrat für Wien informiert Mai 2013 I-JOURNAL Mai 2013 2 I-JOURNAL Mai 2013 Inhalt Vorwort....................................................................................................................................................5 Erinnerung an eine einmalige Wegbegleiterin.........................................................................................6 Friedrichsplatz - inklusive Zeitreise.........................................................................................................8 Bericht über die Integration von hörbehinderten Kindern im BRG 7 in der Zeit von 2005 bis 2013...............................................................................................10 „Mädchen lesen Pferdebücher, Buben lesen Bücher über Fußball?“......................................................................................................14 „Mama, der Radfahrer hat auch PFADE gemacht.“ „Du Papa, gell, der Opa kennt PFADE aber nicht.“...............................................................................16 Autismus und Arbeit am Pferd...............................................................................................................22 Besser könnt es nicht laufen.................................................................................................................26 Das Projekt „Schneetiger“ der Laureus Stiftung ...................................................................................28 HOPE (Hospital Organisation of Pedagogues in Europe)........................................................................31 Roundup of Project 123 ........................................................................................................................34 Die erste Bilderausstellung....................................................................................................................37 Erfolgreicher Berufseinstieg von Michael Zobl......................................................................................41 Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung....................................................................44 Migrationshintergrund und Berufswahl – sind das Themen in einer 4. Volksschulintegrationsklasse?.................................................................50 Wie das I-Journal zu seinem neuen Namen kam .................................................................................53 Leserbriefe............................................................................................................................................54 Liebe Leserin! Lieber Leser!..................................................................................................................55 3 I-JOURNAL Mai 2013 4 I-JOURNAL Mai 2013 Vorwort Sehr geehrter Leser! Sehr geehrte Leserin! Herzlich willkommen in unseren neuesten Ausgabe des I-Journals. „I“ steht für Integration, Inklusion und für individuelle Verbundenheit. Diese Begriffe bilden die Basis für eine grundsätzliche ethische Haltung im Umgang mit Mitmenschen. Zum Begriffspaar Integration und Inklusion: Es ist müßig, hier eine Unterscheidung zu treffen, auch wenn theoretische Überlegungen immer wieder Unterschiede konstruieren wollen. Ein typisches Muster solch theoretischer Auseinandersetzungen ist das Kritisieren von Integration als Form der Eingliederung von behinderten Menschen in die Gesellschaft der Normalität und die Gegenüberstellung von Inklusion mit dem Ziel, eine gesamtheitliche Gesellschaft zu formen, in der jeglicher Unterschied im Zeichen der Individualität steht. Aus diesem, sehr frei nach G.H.F. Hegel gedachten dialektischen Zirkelschluss kommt man nicht heraus. Eine weitere diskursive Entwicklung ist, so lange die Dialektik von Integration und Inklusion nicht überwunden werden kann, nicht möglich. Philosophisch betrachtet ist kaum etwas schwieriger zu beschreiben als jene Regeln, nach denen Normalität funktioniert. Für den interessierten Leser und die interessierte Leserin möchte ich hier auf Michel Foucault verweisen, der in seinen bahnbrechenden Arbeiten zu den „Normalitätsrichtern“ in seinem Buch „Überwachen und Strafen“1 viele Überlegungen dazu angestellt hat. Für die Wiener Schulen gilt jedenfalls, dass wir allen Kindern, gleich unter welchem Titel, die Förderung im Rahmen angemessener Möglichkeiten zukommen lassen, die sie brauchen und benötigen. Dafür stehen u. a. die Sonderpädagogischen Zentren. Gesamtvereinnahmende Prinzipien und Schlagwörter wie z.B. „Individualisierung“ sind eher Fetische einer Pädagogik des Zeitgeistes – absolut gut gemeint, absolut richtig in der Zielvorstellung, klingen hervorragend, sind aber dafür unklar im praktischen Vollzug. „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“2 Diese Festlegung von Immanuel Kant kann als universelle Vorgabe für ethisches Handeln betrachtet werden. Der Mensch ist als Zweck seiner selbst zu sehen. Mit dieser philosophischen Basis ist Individualität, unter Beachtung grundsätzlicher Freiheitsrechte, als Maßstab der Ethik anzulegen. In diesem Sinne ist der Begriff der Individualität philosophisch klar und kann jederzeit in der „Metaphysik der Sitten“ immer wieder aufs Neue entdeckt werden. Neu und diskussionswürdig ist auch die Studie von John Hattie, die am 23. April 2013 in deutscher Sprache veröffentlicht wurde: „Lernen sichtbar machen“.3 Darin hat der neuseeländische Bildungsforscher in einer Arbeit, die über ein Jahrzehnt andauerte, sämtliche, in englischer Sprache verfügbaren Studienergebnisse zum Thema „Was macht guten Unterricht aus?“ analysiert und Schlussfolgerungen angestellt. Mehr als 50.000 wissenschaftliche Einzeluntersuchungen wurden so auf Systemebene bearbeitet. Im Original heißt die Arbeit „Visible Learning“ und ihr wurde in den letzten vier Jahren im englischen Sprachraum höchste Beachtung geschenkt. Es ist zu erwarten, dass auch bei uns Diskussionen starten und andauern werden. Zum Diskurs bereit ist jedenfalls dafür auch das I-Journal. Rupert Corazza Landesschulinspektor für Inklusion 1 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, die Geburt des Gefängnisses, suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 2 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Kant Werke IV, Walter de Gruyer 1968, S. 429, 10-12. 3 John Hattie, Wolfgang Beywl, Klaus Zierer, Lernen sichtbar machen, Schneider Verlag Gmbh. Auflage: Überarbeitete deutschsprachige Ausgabe von „Visible Learning“ (23. April 2013). 5 I-JOURNAL Mai 2013 Erinnerung an eine einmalige Wegbegleiterin Es war der ausdrückliche Wunsch Irenes, dass ich als ihr langjähriger Chef und pädagogischer Wegbegleiter nach ihrem Ableben auch etwas sage bzw. schreibe. Alle, die mich kennen, können sich vorstellen, dass mir das, betroffen vom „nicht mehr Dasein Irenes“, nicht leicht fällt, ich mache das aber im Sinne der Erfüllung eines Wunsches eines mir lieben Menschens natürlich trotzdem gerne. Ich möchte mit meinen persönlichen Eindrücken beginnen, bevor ich zu der Darstellung der beruflichen Verdienste Irenes komme. Ich nehme an, dass viele der LeserInnen, genau so wie ich, Irene als einen außergewöhnlich humorvollen, freundlichen und positiven Menschen erleben durften. Ich gehe noch weiter und wage zu sagen, dass sie einer der fröhlichsten, ja sprühendsten und auch angenehmsten Menschen war, mit denen ich je zusammen arbeiten durfte. Dazu kommt, dass sie diese positive Stimmung, wie einen Zauber, immer wieder auch auf ihr Umfeld zu übertragen vermochte. Sie verstand es, in ihrem Umfeld eine „Aura“ der Fröhlichkeit und Wärme zu schaffen. Alle, die etwa an unseren LeiterInnenseminaren teilnahmen, werden sich an solche Situationen sicherlich gut erinnern und dieses Phänomen auch bestätigen. Ja, das war eine wunderbare Eigenschaft, die sie als Mensch ganz einfach wirklich einzigartig und unverwechselbar machte. Eine weitere, ganz bedeutende Eigenschaft von ihr war, dass sie ihre schulischen, dienstlichen Aktionen vor der Umsetzung immer vorerst daran gemessen hat, in wie weit diese Maßnahmen auch bei den Kindern wirklich sinnvoll und nutzbar ankommen werden. Diese Kindzentriertheit war eine besondere Sichtweise, die sie in ihrer täglichen Arbeit deutlich von vielen anderen Leiterinnen und Leitern wohltuend unterschied. Alle von uns kennen die Bezeichnung „hilflose Helfer“ für Menschen, die in Sozialberufen tätig sind. Eine Zuordnung, die für Irene so gar nicht zutreffend war. In ihrer Person vereinte sich eine sehr hohe Fachund Sachkenntnis, kombiniert mit der vorher erwähnten Fokussierung auf die betroffenen, hilfsbedürftigen Kinder. Dazu kam noch die ganz besondere Begabung, auch sehr komplizierte Fakten sachlich richitg, aber wirklich einfach und damit auch für Laien gut verständlich darzustellen. Mit Laien meine ich hier auch die „BranchenkollegInnen“ aus der Volkschule, den Mittelstufenschulen und natürlich auch die Kolleginnen/Kollegen der Schulaufsicht, die immer wieder staunend, manchmal mit offenem Mund ihren Ausführungen gelauscht haben. Wobei bei jedem, der das einmal erleben durfte, sofort ein Bild aufsteigen wird, wie das ablief, wenn Irene eine Sprachstörung wirklich plastisch und damit leicht verständlich darstellte. In einer Form, die wirklich allgemein zugänglich war und trotzdem die Würde des betroffenen Kindes nie verletzte. Über 35 Jahre war Irene Bauer im sonderpädagogischen Bereich in Wien tätig, wobei sie zuerst als Sprachheillehrerin und seit dem Jahre 2000 als Leiterin der Wiener Sprachheilschule wirkte. Damit hatte sie das Steuer eines pädagogischen Schiffes über, das sich dank ihrer Leitung auf einem guten, sicheren Kurs bewegte. Sie war für die größte Mann- (bzw. Frauschaft) mit mehr als 140 Pädagoginnen/ Pädagogen verantwortlich. Das ist übrigens die höchste LehrerInnenzahl, die man an Wiener Pflichtschulen finden kann. Die Wiener Sprachheilschule entwickelte sich unter ihrer Leitung zu einem voll inklusiven Modell. Das ging nicht immer ohne Widerstände, und bei der Überwindung dieser zeigte sich eine weitere menschliche Qualität Irenes. Sie erfüllte in solchen Situationen all jene Komponenten, die man sich bei Führungspersönlich- 6 I-JOURNAL Mai 2013 keiten oft nur erhofft. Sie hatte ein hohes Sachwissen, das als Grundlage zur Erläuterung der Gegebenheiten für alle Beteiligten diente, sie sammelte alle Argumente, versuchte alle Möglichkeiten zu Kompromissen auszuloten und bereitete damit alles für eine möglichst gemeinsam getragene Entscheidung vor. In der Rückschau gab es einige schwierige Situationen in ihrer Laufbahn, ich möchte da nur exemplarisch auf die extreme Personalknappheit vor einigen Jahren im sonderpädagogischen Bereich hinweisen, die zum temporären Einsatz von KurslehrerInnen der Wiener Sprachheilschule in anderen Funktionen führte und von Frau Direktorin Bauer organisatorisch, besonders aber menschlich hervorragend gelöst wurde. Trotz dieser Turbulenzen gelang es Irene, Schulter an Schulter mit mir, das bewährte und qualitätvolle duale System der sprachheilpädagogischen Betreuung in Wien in Form der ambulanten Betreuung und der Integrationsklassen weiterhin aufrecht zu erhalten. Erfreulicherweise konnte sie ihr Fachwissen durch ihre langjährige umfangreiche Lehrtätigkeit an den Wiener Pädagogischen Akademien bzw. Hochschulen auch in breiterem Rahmen an zukünftige SprachheillehrerInnen weitergeben. Mir erscheint es aber noch wichtiger, dass sie in dieser Funktion neben zahlreichen Fakten auch ihre Einstellung zur Situation behinderter und benachteiligter Kinder an die Studierenden weitergeben konnte und damit eine solide, tragfähige Grundlage zur Weiterentwicklung ihrer zutiefst humanen Anliegen geschaffen hat. Ich möchte hier noch einmal ganz klar festhalten: Ich habe in all den Jahren meiner Tätigkeit selten einen Menschen getroffen, der so kompromisslos die Idee des Nicht-Ausschließens (also der Inklusion im ursprünglichen Sinne) vertreten hat, und das bei Bedarf auch in sehr emotioneller Form, weil sie Ungerechtigkeiten gegenüber benachteiligten Kindern ungemein empörten. Ich bin ganz sicher, dass in diesem Zusammenhang die spürbare Empörung ein sehr gutes Vehikel war, diese Anliegen zielgerichtet voran zu treiben. Dass es ihr über diese in Wien erzielte, enorme gesellschaftspolitische Wirkung hinaus, auch noch gelungen ist, weitere Kreise zu erreichen, ist aus meiner Sicht wirklich bedeutend und erfreulich. So gestaltete sie im Rahmen der Österreichischen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik insgesamt elf Kongresse, deren Wirkung immer wieder weit über die Grenzen Österreichs hinausging. Wer das Vergnügen hatte, an einem dieser Kongresse teilzunehmen, der hat sicher die hohe fachliche Qualität erleben können und hatte dazu auch die Möglichkeit, sich mit Kolleginnen/Kollegen aus dem Ausland fachlich und auch menschlich auszutauschen. Weiters wurde die sprachheilpädagogische Arbeit in den Schulen durch regelmäßig erscheinende Fachzeitschriften begleitet. Frau Dir. Bauer arbeitete bei der Zeitschrift der Sprachheilpädagoginnen/-pädagogen als verantwortliche Redakteurin jahrelang mit. Wer diese Aufzählung der zahlreichen Tätigkeiten und Funktionen Revue passieren lässt, kann unschwer ablesen, wie ungemein fleißig die Kollegin über viele, viele Jahre im Sinne der Kinder, aber auch der Wiener SonderpädagogInnen tätig war. Ich bin überzeugt, dass diese Anliegen und Ideen weiterleben werden, trotzdem: Irene wird uns allen und mir besonders sehr, sehr fehlen. Gerhard Tuschel 7 I-JOURNAL Mai 2013 Friedrichsplatz - inklusive Zeitreise Es begann vor vielen, vielen Jahren in der Kienmayergasse. Dort traf ich erstmals auf junge Menschen mit Downsyndrom und wusste sofort, dass sie und ihre besonderen Begabung zum „Glücklichsein“ mein Schicksal sind. Gedacht – getan, ich wurde Lehrerin. Allerdings geriet ich in die Übergangsphase von Lehrerbildungsanstalt auf Pädagogische Akademie und verlor ein Jahr. In dieser Umbruchsphase pendelte man zwei Jahre lang stundenweise zwischen Burggasse und Neustiftgasse hin und her. War das die Urform des „Bewegten Lernens“? Mein Ziel, mit von der Umwelt behinderten Menschen zu arbeiten und lernen, ließ mich bewegungsfeindlichen Menschen aber trotzdem durchhalten. Endlich, als „fertige“ Lehrerin, kam ich – um zu bleiben – in meinem ersten Berufsjahr als „Springerin“ an die Volksschule Friedrichsplatz, und ich blieb dort 40 Jahre lang - bis heute! Bereits in meinem ersten Jahr als Lehrerin brach ich einige Regeln des damaligen Schulwesens. Beispiel: Kinder sollten damals in der Stunde unbewegt sitzend an ihrem Platz verweilen. „Meine“ Kinder dagegen durften sich bewegen und sich ein gemütliches Platzerl zum Lernen und Lesen suchen, auch wenn sie dieses unter dem Tisch fanden. Welch ein Glück, dass es schon vor 40 Jahren SchulinspektorInnen gab, die meine Sichtweise teilten. Bestärkt durch eine Auszeichnung für meine damals noch unkonventionellen Methoden machte ich unkonventionell weiter. Dadurch wurde ich bald Anlaufstelle für „unkonventionelle“ Kinder. An das erste erinnere ich mich besonders deutlich. Es war ein Bub, rothaarig, sommersprossig und hinreißend spitzbübisch. Sein Problem war, dass er nicht still sitzen konnte und es sogar wagte, während der „Stunden“ auf dem Sessel zu knien. Aus diesem Grund wurde er zu einem Problemkind, das in vielen Schulen scheiterte und schließlich in meiner Klasse landete. Diese bestand aus 36 Kindern und mir. Alle kamen aus „geordneten“ Familienverhältnissen und alle hatten Deutsch als Muttersprache. Die meisten Mütter waren zu Hause und hatten Zeit, ihren Kindern bei den Aufgaben zu helfen. So war es auch kaum ein Problem, Arbeitsblätter auf Matrizen zu schreiben und für alle (die gleichen) im von Spiritusduft durchtränktem Lehrerzimmer „abzuziehen“. Einige Jahre später hörte ich, dass Gerhard Tuschel, seines Zeichens Inspektor für „Sonderschulen“, Integrationsklassen einrichtete. Das war DIE Chance für mich, mein ursprüngliches Ziel, mit diesen ganz besonderen (Downsyndrom-) Kindern arbeiten zu dürfen, zu erreichen. Dank meines damaligen Inspektors Rudlof durfte ich eine der ersten Integrationsklassen Wiens übernehmen. Logisch, dass sie zu einer Anlaufstelle für ganz besondere Kinder wurde. Für Kinder, die in anderen Klassen aneckten. Für Kinder, durch die ich ungemein viel lernte. Dieser erste Durchgang einer Integrationsklasse war eine ganz besondere Herausforderung – und eine große Quelle der Freude. Der nächste Jahrgang war allerdings (für mich) von langweiliger Konstellation – lauter brave, angepasste Kinder! Zeit für mich, nach neuen Herausforderungen zu suchen und Platz für „herausfordernde“ Kinder zu schaffen. Für Kinder, die sich nicht in standardisierte Schulstufen-Kästchen pressen ließen. Im Zuge einer Reformpädagogik-Ausbildung bei Dr. Harald Eichelberger und Dr. Marianne Wilhelm und einer Hospitationsreise durch Holland fand ich eine Lösung: eine Mehrstufenklasse musste her! Eine Mehrstufenklasse, in der Kinder aller „Begabungsarten“ an gemeinsamen Vorhaben (bei uns „Lernnetz“ genannt) arbeiten dürfen, aber jedes auf seinem individuellen Niveau. Dr. Eichelberger meinte damals zwar, dass ich das nicht schaffen werde. Aber nur drei Tage, nachdem ich diesen Wunsch ausgesprochen hatte, war es geschafft. Ich durfte zu meinen ViertklässlerInnen sechs ErstklässlerInnen aufnehmen und somit eine Mehrstufenklasse eröffnen! Dafür bin ich heute noch meiner damaligen Direktorin Ilse Jung, BSI Mag. Pinterits und LSI Dr. Gröpel dankbar! Sie bewiesen, dass Schule auch ohne komplizierte Bürokratie funktionieren kann – oder gerade deswegen? 8 I-JOURNAL Mai 2013 Nach einigen beglückenden Jahren in Mehrstufenklassen mit vielen Kindern, die sich in keinen (Jahrgangs-) Raster pressen ließen, wurden mir die Fallen der Nahtstelle zur Mittelstufe immer bewusster. Manche (viele?) Kinder waren zu einem vom Geburtsdatum bestimmten Zeitpunkt einfach noch nicht in allen Bereichen/Fächern so weit, Schule und Schulform zu wechseln. Was tun? Da kam nur eines in Frage: Ich musste das (Jahrgangs-)Schulsystem ändern. Und siehe da, auch das klappte unglaublich schnell! Fast schien es, als hätte „der Stadtschulrat“ darauf gewartet, dass jemand die Initiative ergreift, das System von unten her zu ändern. Dem Start unserer inklusiven Lerngemeinschaft wurden daher keine Steine in den Weg gelegt – im Gegenteil! Wir wurden nicht nur von unserer, damals neuen, Direktorin Silvia Schmeilzl unterstützt, sondern auch von den Direktorinnen der Partnerschulen unserer schulartenübergreifenden Lerngemeinschaft: ▪ SDn Helga Hutterer, SPZ 15, Kröllgasse 20 ▪ HDn Gabriele Kaiblinger, NMS 15, Selzergasse 25 ▪ Dr. Eva Mersits, BRG 1170, Geblergasse 56-58 Die Lerngemeinschaft Wien 15 besteht nun seit 2005. Unterstützt durch die Errungenschaften der neuen Technologien ist es heute nicht mehr so aufwändig wie früher, Unterricht anschaulich und nachhaltig zu gestalten und zu individualisieren. Nicht nur deswegen finden sich immer mehr Schulen, die mit uns gemeinsam den Weg in Richtung inklusiver Lerngemeinschaften/Schulen gehen wollen. Schön! Mittlerweile haben uns etliche Jahrgänge verlassen. Die meisten SchülerInnen besuchen nun weiterbildende Schulen und sind unsere BotschafterInnen. Sie machen es den nachfolgenden Jahrgängen leicht, in weiterführenden höheren Schulen Aufnahme zu finden. Ja, unsere Lerngemeinschaft hat sich einen Namen gemacht! Wenn jemand mehr über das Ergebnis unserer „inklusiven Zeitreise“ wissen will, dann gelangt er über einen Klick auf www.lerngemeinschaft15.at auf die Homepage unserer Lerngemeinschaft. Ingrid Teufel pädagogischer Maulwurf mit dem Ziel, das Schulsystem von „unten“ her zu ändern. 9 I-JOURNAL Mai 2013 Bericht über die Integration von hörbehinderten Kindern im BRG 7 in der Zeit von 2005 bis 2013 Vorgeschichte: Zu Beginn des Schuljahres 2003/04 fragte mich Herr Direktor Salomon, ob ich mir vorstellen könnte, eine Integrationsklasse mit hörbehinderten Kindern zu führen und ob ich wohl ein KlassenlehrerInnenteam auf die Beine stellen könne. Vor allem wegen des LehrerInnenteams machte er sich Sorgen, aber ich beruhigte ihn und war überzeugt, dass eher Kolleginnen/Kollegen beleidigt sein würden, wenn sie bei diesem Projekt nicht mitmachen konnten. Das Team war bald weitgehend nominiert. Nun konnten wir mit der Planung beginnen. Die I-Klasse sollte in enger Zusammenarbeit mit der Volksschule Lange Gasse auf die Beine gestellt werden. Es gab Bedingungen für die Führung einer solchen Klasse. Der Stadtschulrat war zwar sehr interessiert am Zustandekommen, aber es mussten verschiedene Auflagen für diesen Schulversuch eingehalten werden: ▪ Der Schulversuch musste bis Oktober 2004 eingereicht werden ▪ In der Klasse mussten mindestens vier, höchstens fünf hörbehinderte Kinder sein ▪ Die Klasse musste nach dem Lehrplan der Neuen Mittelschule geführt werden – mit allen Konse- quenzen, sowohl für die LehrerInnen als auch für die Kinder ohne Behinderung. Das musste auch den Eltern verständlich gemacht werden. Erste Schritte: Zuerst nahm ich Verbindung mit der Volksschule Lange Gasse auf. Frau Direktorin Berka und die KlassenlehrerInnen der 3. Klassen waren sehr interessiert und sehr kooperativ. Herr Dir. Salomon und ich stellten das Projekt auf einem Elternabend der 3. Klassen vor. Es ging darum, möglichst viele Eltern davon zu überzeugen, dass dieser Schulversuch für ihre Kinder sinnvoll ist, damit möglichst viele Kinder nach der 4. Klasse nicht in eine Schule in der Umgebung im 8. Bezirk wechseln, sondern sich im BRG 7 anmelden. Wir wollten mindestens 15 Kinder aus der Lange Gasse beschulen, damit die Klassengemeinschaft erhalten bliebe und nicht eine völlig neu zusammen gewürfelte Klasse die Arbeit erschweren würde. Dabei galt es auch Begehrlichkeiten von verschiedenen Seiten abzuwehren, die gerne Kinder mit anderen, z. B. sozialen Problemen, ebenfalls in dieser Klasse sehen wollten. Dann hospitierte ich und in der Folge auch Kolleginnen/Kollegen des zukünftigen Teams in der Volksschule, um einen ersten Eindruck zu gewinnen, wie die Arbeit mit hörbehinderten Kindern vor sich geht. Ich besuchte noch weitere Elternabende, um für unser Projekt zu werben. Dabei wurde ich intensiv von den Lehrerinnen/Lehrern und der Direktorin unterstützt. Diese waren sehr interessiert daran, ihren Schülerinnen/Schülern diese neue Art der Schullaufbahn in einem Gymnasium zu ermöglichen. Hier brachte sich erstmals auch Koll. Ulreich ein, die als Schwerhörigen-Lehrerin ihren Schützlingen eine optimale Ausbildung zukommen lassen wollte. Im September/Oktober 2004 wurde es spannend, als die Anmeldungen für die zu gründende I-Klasse stattfanden. Würden sich genügend Eltern aus der VS Lange Gasse für das Projekt entscheiden? Wir erreichten letztendlich die von Dir. Salomon geforderte Zahl und konnten den Schulversuch einreichen. 10 I-JOURNAL Mai 2013 Die Vorbereitungsphase: Für uns als KlassenlehrerInnenteam begann nun eine Zeit der intensiven Vorbereitung. Wir hatten ja keine Ahnung von der Arbeit mit hörbehinderten Kindern. Auch das Modell der Neuen Mittelschule, wie wir es führen sollten, war uns völlig fremd. Hier gab es hilfreiche Begleitung durch Expertinnen/Experten aus dem Stadtschulrat, v.a. durch Koll. Klemun, der uns während der vier Jahre der Unterstufe bei anfallenden Fragen und Problemen immer zur Seite stand. Wir absolvierten etliche Seminare. U.a. wurden wir mit der Arbeit mit einer FM-Anlage vertraut gemacht, wie sie zur Unterstützung der hörbehinderten Kinder eingesetzt werden sollte. Wir überlegten, wo der Klassenraum sein sollte, und entschieden uns für eine Klasse im 3. Stock, weil hier am ehesten die nötige Ruhe gewährleistet war. Ein kleiner Raum, der bisher als Werk- und Zeichenkabinett gedient hatte, wurde zum Therapieraum umgestaltet. Am Ende des Schuljahres machten wir ein zweitägiges Teamfindungs-Seminar in Siegendorf, bei dem wir u.a. die Planung für das kommende Schuljahr erarbeiteten. Hier stieß auch die Sonderschullehrerin, Koll. Claudia Montag, zu unserem Team. Sie sollte die hörbehinderten Kinder in der Unterstufe im Ausmaß von 20 Wochenstunden begleiten. Das Projekt: Im September 2005 starteten wir mit 25 Kindern, davon vier hörbeeinträchtigte. Außer den Kindern aus der VS Lange Gasse gab es vor allem Kinder aus der VS Zinkgasse. Sehr schnell stellte sich heraus, dass es in der Klasse nicht nur Kinder mit Hörbehinderung gab, sondern auch Kinder mit diversen anderen Problemen, die vielleicht in einer Regelklasse erhebliche Schwierigkeiten gehabt hätten. Hier machte sich die Arbeit von Koll. Montag besonders positiv bemerkbar. Da sie jeden Tag mehrere Stunden anwesend war, wurde sie nicht nur für die hörbehinderten Kinder zur ersten Ansprechpartnerin, sondern für alle. Außerdem war Koll. Ulreich im Ausmaß von acht Wochenstunden als mobile Schwerhörigenlehrerin für die Kinder tätig. So erhielten sie auch nach dem Regelunterricht noch eine spezielle Förderung. Für uns KlassenlehrerInnen war vieles neu und anfangs nicht alles angenehm. Wir mussten plötzlich im Team unterrichten, was für ausgemachte EinzelkämpferInnen wie AHS-LehrerInnen mit erheblichen Ressentiments und instinktiven Abwehrmechanismen verbunden war. Erst mit der Zeit lernten wir die Form des Team-Teachings schätzen. In Mathematik und Deutsch waren je drei Wochenstunden eine Kollegin und ein Kollege aus der mit uns kooperierenden HS Kauergasse als zweite Lehrkraft eingesetzt. Daraus ergaben sich neue methodische Formen, z. B. viel Projektarbeit, Gruppenarbeiten, etc. Auch damit umzugehen mussten wir erst lernen. Da wir nach dem System der Neuen Mittelschule arbeiteten, musste kein Kind eine Klasse wiederholen. Bei Problemen mit der Abstufung lernschwacher Kinder war stets Koll. Klemun mit Rat und Tat zur Stelle. Als manchmal hilfreich, oft mühsam empfanden wir die vorgeschriebenen Teamsitzungen. Da wir ohnehin ständig über die Klasse kommunizierten, erschien uns diese Pflicht des öfteren lästig. Außerdem stellte sich bei der täglichen Arbeit in der Klasse schnell heraus, dass die Unterstützung durch eine/n zweite/n LehrerIn oft besonders in den Fächern notwendig gewesen wäre, in denen sie nicht stattfand: in LÜ, ME, Bio, WE… , nach der Devise: drei LehrerInnen in Deutsch sind ein angenehmer Luxus, eine/ein Lehrerin/Lehrer in Musik oder Turnen eine Zumutung. Koll. Montag hat hier sehr viel aufgefangen, aber ihre 20 Wochenstunden waren da zu wenig. 11 I-JOURNAL Mai 2013 Bei den Elternabenden trat ein anderes Problem zutage. Manche Eltern waren eifersüchtig auf die spezielle Förderung der hörbehinderten Kinder und forderten eine ähnliche Förderung ihrer Kinder. Es war schwierig ihnen klar zu machen, dass das in dem Ausmaß nicht möglich war. Im Allgemeinen muss man aber sagen, dass die Eltern in dieser Klasse besonders interessiert und kooperativ waren, in einem Ausmaß, wie wir es uns sonst nur wünschen, aber nicht oft erleben. Natürlich gab es klasseninterne Probleme und Reibereien, wie sie in jeder Klasse zu finden sind. Aber: Wir konnten als MS-Klasse die Unterstützung von Schulpsychologinnen/-psychologen anfordern. Das ist für AHS-Klassen nicht möglich, obwohl es auch für sie oft sehr notwendig wäre. Die intensive und professionelle Förderung trug natürlich ihre Früchte! Die Lernergebnisse waren äußerst erfreulich, die Kinder wurden sehr selbständig und lernten eigenständiges Lernen und Arbeiten. Die Verhaltensprobleme hielten sich im Rahmen, auch wenn wir (vorübergehend) sehr schwierige Kinder in die Klassengemeinschaft integrierten. Am Ende der 4. Klasse mussten uns die Kinder verlassen, die im Lauf der Unterstufe abgestuft worden waren. Sie fanden alle in weiterführenden BMS Plätze. Viele, auch drei von den hörbehinderten Schülerinnen/ Schülern, stiegen in die Oberstufe auf. Die Oberstufe: Da drei hörbehinderte Kinder nun die Oberstufe besuchten, gab es auch weiterhin ein paar Privilegien für die SchülerInnen. Sie erhielten in den Hauptfächern zusätzliche Förderstunden, da die Betreuung durch die mobile Schwerhörigenlehrerin wegfiel. Sie konnten weiterhin im Unterricht ihre FM-Anlage verwenden. Sie blieben im vertrauten Klassenraum. Darüber hinaus sehe ich es als außerordentlichen Glücksfall, wie sich am Anfang der 5. Klasse die Zusammensetzung der SchülerInnen erneut veränderte. In die Klasse kamen ein paar Jugendliche, die sehr leistungsfähig und auch -willig sind. Manche haben Eigenarten, die in einer anderen Klasse auf Unverständnis stoßen könnten. Für die sozial geschulte Klassengemeinschaft der I-Klasse gab es keinerlei Probleme, diese SchülerInnen zu integrieren. Dadurch hob sich das Niveau der Klasse. Auch ihre Art, wie sie den Lehrern begegnen, wird als angenehm empfunden. Sie haben gelernt, dass sie eine besondere Klasse sind, und diesem Ruf werden sie mittlerweile gerne gerecht. Resümee: Ich sehe dieses Projekt als Erfolgsgeschichte. Das hat meiner Ansicht nach mehrere Gründe: ▪ Das LehrerInnenteam Die Kolleginnen/Kollegen haben sich freiwillig auf dieses Projekt eingelassen und dem ent- sprechend eingebracht. Alle KollegInnen/Kollegen waren stets kooperativ, die Zusammenarbeit kann ich nur als geglückt bezeichnen. ▪ Die Integrationslehrerin Koll. Montag, nach ihrer Verehelichung Koll. Urban, ist eine äußerst engagierte und auch sehr fähige Lehrerin. Ihre Arbeit hat sich nicht nur für die hörbehinderten Kinder sondern für alle enorm positiv ausgewirkt. ▪ Die Ressourcen Von Anfang an standen dem Projekt wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung als jeder normalen Klasse. Wir waren mehr LehrerInnen, was sich auf die Betreuung, auf die Sozialisierung der SchülerInnen und auf die Methodenvielfalt enorm positiv auswirkte. Auch die finanziellen Mittel, die uns zur Verfügung standen, erlaubten immer wieder kleine Extras. 12 I-JOURNAL Mai 2013 ▪ Die Unterstützung Im Gegensatz zu Lehrerinnen/Lehrern im Regelunterricht erhielten wir Unterstützung in Form von fachlicher Beratung und psychologischer Hilfe. Auch die Anerkennung durch die vorgesetzte Be- hörde und durch die Eltern trug zur positiven Entwicklung bei. ▪ Die Klassengemeinschaft Die Zusammensetzung der Klasse, sowohl in der 1. als auch in der 5. Klasse hat sicher dazu bei getragen, dass sich die Klasse so entwickelt hat, wie wir sie nun sehen. Diese Zusammensetzung kann man nur bedingt steuern bzw. weiß man ja am Anfang nicht, wie sich das Ganze entwickeln wird. Hier haben wir auch einfach Glück gehabt. OSTR Mag. Ilse Bauer von 1978 bis 2011 am BRG 7. Sie führte die Integrationsklasse für hörgeschädigte Kinder von 2005 bis 2011 als Klassenvorstand (Studien- und Unterrichtsfächer Deutsch, Geschichte). 13 I-JOURNAL Mai 2013 „Mädchen lesen Pferdebücher, Buben lesen Bücher über Fußball?“ Ein Projekt der VS 10, Neilreichgasse zum Thema Geschlechtsspezifische Vorlieben von Mädchen und Buben beim Lesen Bei den wöchentlichen Besuchen unserer Schulbibliothek beobachteten wir, dass Burschen und Mädchen oftmals unterschiedlichen Lesestoff auswählten. Neugierig geworden, stellten wir uns die Frage: „Lesen alle Mädchen Pferdebücher, lesen Buben nur Bücher über Fußball?“ Das Gender-Thema wurde für uns sowohl Inhalt des Projektes als auch Forschungsaufgabe. Auf vier verschiedenen Schulstufen (Vorschulklasse, 1A, Integrationsklasse 2B, 2D, 3C) untersuchten wir, ob und wie sich die Auswahl des Lesestoffes bei Burschen und Mädchen unterscheidet. „Die Buben und Mädchen aus unserer Klasse durften getrennt voneinander ihre Lieblingsbücher aussuchen. Das haben wir mit bunten Glassteinen gemacht.“ (Cagri, 2B Integrationsklasse) Bewertet wurden Bücher aus der Schulbibliothek: Unsere Bibliothekarin stellte für jede teilnehmende Klasse eine thematisch möglichst breit gefächerte Bücherbox zusammen. Das Ergebnis wurde von den SchülerInnen als Plakat mit Diagramm dargestellt und präsentiert. Außerdem entwarfen wir einen Fragebogen zum Leseverhalten, der von allen SchülerInnen/Schülern der teilnehmenden Klassen ausgefüllt und von uns ausgewertet wurde. Vorschulkinder und Integrationskinder, die nicht lesen konnten, wurden mündlich befragt. 14 I-JOURNAL Mai 2013 „Auf einem Fragebogen konnte ich ankreuzen, welche Themen mich interessieren. So konnte ich mitbestimmen, welche Bücher neu für die Schulbibliothek gekauft wurden.“ (Ömer, 2B) Die Auswertung der Fragebögen ergab, dass • 36% der Mädchen am liebsten ein Buch über Prinzessinnen lesen (Buben 0%). • 54 % der Buben am liebsten ein Buch über Sport lesen (Mädchen 20%). • 36% der Mädchen sich am meisten für Tierbücher interessieren (Buben 13%). • 27% der Burschen einen goldenen Bucheinband wählen würden (Mädchen 12%). • jeweils 20% der Mädchen sich für die Farbe Rosa bzw. Lila beim Einband entscheiden. Ein vertrautes Bild? Im weiteren Verlauf des Projekts wählte jede Klasse Lesestoff, der sich mit dem Gender-Thema beschäftigte. Die Buchhandlung „Buchlandung“ unterstützte uns dabei großzügig. Ein Bilderbuchkino - Lesung im KinderLiteraturHaus („Ein Schaf fürs Leben“) - wurde als gemeinsame Aktion aller beteiligten Klassen durchgeführt. Lesen wurde als Erlebnis mit allen Sinnen vermittelt, was sowohl den schwächeren SchülerInnen als auch den Integrationskindern besonders entgegenkam. Durch mündliche Darbietungsformen (Vorlesen, Erzählen, Bilderbuchkino und Lesungen) stieg auch die Lesemotivation für Kinder mit besonderen Bedürfnissen. Märchen wurden in Deutsch, Türkisch, Bosnisch, Kroatisch, Serbisch und Englisch vor/gelesen und die geschlechtsspezifischen Rollen im Stationenbetrieb hinterfragt. Neben den Klassenlehrerinnen waren vom Schulteam noch die Sonderschullehrerin der Integrationsklasse, die Lehrerinnen für Leseförderung und für Muttersprachlichen Unterricht in Türkisch und Bosnisch, Kroatisch, Serbisch einbezogen. Ehemänner und Lebensgefährten wurden als Vorleser gewonnen. Auch LesepatInnen (verschiedene Generationen und beiderlei Geschlechts) und Eltern waren sowohl an der Planung als auch an der Durchführung des Projekts beteiligt. 41 Mädchen (38 davon hatten eine andere Erstsprache als Deutsch) und 59 Buben (51 davon mit anderer Erstsprache als Deutsch) nahmen an unserem Projekt teil. Wir arbeiteten klassen-, schulstufen- und generationsübergreifend und ermöglichten dadurch auch SchülerInnen mit besonderen Bedürfnissen die aktive Teilnahme. Unsere Begeisterung bei der Planung und Durchführung dürfte spürbar geworden sein und so hatten wir die große Freude am 28. November 2012 für unser Projekt den Philipp Lese-Award im Bereich Volksschule zu gewinnen. Volksschule Neilreichgasse 111, 1100 Wien 15 I-JOURNAL Mai 2013 „MAMA, „Mama, DERder RADFAHRER Radfahrer hat HATauch AUCH PFADE PFADE gemacht.“ GEMACHT.“ „DU PAPA, „Du Papa, GELL, gell, DER derOPA OpaKENNT kennt PFADE PFADE aber ABER nicht.“ NICHT.“ Diese beiden Sätze haben ehemalige Schüler von mir zu ihren Eltern gesagt. Für die Kinder bedeutete PFADE zusammengefasst wohl: respektvoller, wertschätzender, rücksichtnehmender, gleichwertiger Umgang miteinander. PFADE ist die Abkürzung von Programm zur Förderung Alternativer DEnkstrategien und ist ein aus den USA kommendes Programm, das die sozialkognitiven Kompetenzen (Denken), die sozialen Fertigkeiten (Tun), die emotionalen Kompetenzen (Fühlen) und die Wertorientierungen (Wollen) fördern und Verhaltensproblemen vorbeugen soll. Das Programm wurde von Dr. Carol Kusché und Dr. Mark Greenberg entwickelt, von Dr. Rahel Jünger von der Universität Zürich (www.pfade.ch) aus dem Englischen (PATHs Curriculum) ins Deutsche übersetzt und erstmals im deutschsprachigen Raum 2004 in Züricher Grundschulklassen eingesetzt. Am ersten Wochenende des Schuljahres 2007/08 waren mein Direktor OSR Josef Reichmayr und ich gemeinsam in Zürich auf dem Pädagogischen Institut und haben bei Dr. Rahel Jünger eine Kurzschulung zum PFADE Curriculum gemacht. Nur unter der Bedingung, das Programm mit einer ganzen Klasse zu machen, wobei eine „Klassenlehrerin“ das Programm durchzuführen hat, wurde es mir in unserer Stammgruppe und uns in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau als erster Schule in Österreich ermöglicht, mit diesem Programm zu arbeiten. Schon 2004 wurde ich in dem Buch von Daniel Goleman „Dialog mit dem Dalai Lama - Wie wir destruktive Emotionen überwinden können“ auf das PATHs-curriculum aufmerksam, und seine vier Regeln – klar verständlich und prägnant – beeindruckten mich gleich. 1. Regel: Gefühle sind wichtige Signale! (Alle Gefühle sind okay, aber nicht jedes Verhalten ist okay.) 2. Regel: Gefühle und Verhalten sind auseinander zu halten! (Welches Verhalten ist okay und welches nicht?) 3. Regel: Man kann nur denken, wenn man ruhig ist! (Erst einmal beruhigen, um klar zu sehen, was los ist, dann überlegen, was man tun wird.) 4. Regel (= Goldene Regel): Behandle andere, wie du selbst behandelt werden möchtest! Mir war es stets wichtig, den mir anvertrauten Schülerinnen und Schülern in einer wertschätzenden Haltung (als Transaktionsanalytikerin würde ich sagen: in einer +/+ (ich bin okay / du bist okay) – Haltung) zu begegnen. Ich gehe davon aus, dass Kinder das beste Verhalten, zu dem sie im Moment in der Lage sind, zeigen. Die Frage, die mich lange beschäftigte, lautete: „Wie am besten umgehen mit einem Verhalten, das nicht akzeptierbar ist, weil dadurch das Kind sich selbst oder anderen Schaden zufügt? Wie gleichzeitig vermitteln, dass das Kind in seinem Sein sehr wohl in Ordnung ist, dass manche Verhaltensweisen nicht in Ordnung sind und dass vor allem jedes der Handlung vorangegangene Gefühl wie Wut, Enttäuschung, Empörung, etc. schon in Ordnung ist?“ Das PFADE-Programm kam mir da gerade recht. 16 I-JOURNAL Mai 2013 Im PFADE-Programm, das ein Präventions- und kein Interventionsprogramm ist, wird zu folgenden Schwerpunkten immer wieder und sehr ausführlich gearbeitet. • Gefühle • Gesundes Selbstwertgefühl • Selbstkontrolle • Problemlösungsfertigkeiten • Umgang mit Freundschaften, Beziehungen • Regeln des Zusammenlebens Beim Schwerpunkt „Gefühle“ geht es um das Wahrnehmen der eigenen Gefühle, das Benennen der Gefühle, das Erkennen der Gefühle bei anderen (am Gesichtsausdruck, der Körperhaltung), die Einsicht, dass verschiedene Menschen bei ein und derselben Situation verschiedene Gefühle empfinden können (so z.B. freuen sich manche Kinder, wenn sie endlich allein zu Hause sind, manche haben Angst), das Anerkennen, dass alle authentischen Gefühle okay sind und um die Einteilung der Gefühle in angenehme und unangenehme. Es ist von großer Wichtigkeit, Gefühle nicht mit moralischen Begriffen wie „gut“ und „schlecht“ in Verbindung zu bringen, weil das leicht dazu führen kann, dass zum Beispiel das „schlechte“ Gefühl Zorn nicht zugelassen und durch das Gefühl der Trauer überdeckt wird. Alle authentischen Gefühle sind aber wichtige Signale, und Zorn ist ein authentisches Gefühl, wenn die eigene (Schmerz-)Grenze überschritten wird. Gerade durch das Wutgefühl kann schließlich auch die Kraft mobilisiert werden, die eigenen Grenzen zu zeigen und eventuelle Übergriffe abzuwehren. Ein bei den Kindern sehr beliebter Part des PFADE-Programms zum Schwerpunkt „Gesundes Selbstwertgefühl“ ist das KIND DER WOCHE. Die Schülerinnen und Schüler der ersten Stammgruppe, in der ich vor nunmehr fast sechs Jahren mit PFADE begonnen habe, waren davon so angetan, dass durch deren Erzählungen etliche Kolleginnen/Kollegen meiner Schule mehr von PFADE wissen wollten. Ich habe daraufhin, unterstützt von unserem Inspektor, im Oktober 2009 eine Fortbildungsveranstaltung mit Dr. Rahel Jünger in unserer Schule organisiert, an der mehr als zwanzig LehrerInnen (und auch eine sehr interessierte Mutter) teilgenommen haben. Etliche Kolleginnen/Kollegen haben sich danach entschieden, ebenfalls mit ihrer Stammgruppe PFADE zu machen. Foto von einem „Kind der Woche“ aus dem ersten PFADE-Jahr Schuljahr 2007/08) Ein Foto des KINDES DER WOCHE ist in unserer Stammgruppe gut sichtbar angebracht. Wichtig: JEDES Kind kann KIND DER WOCHE werden. Es darf sich immer als erstes anstellen, darf bei Lehrausgängen die Gruppe anführen, wird immer als erstes gefragt, ob es den LernbegleiterInnen helfen will, darf bei der morgendlichen Begrüßungsrunde beginnen – kurz es steht im Mittelpunkt des Geschehens und ist Assis17 I-JOURNAL Mai 2013 tent/Assistentin der LernbegleiterInnen. Seit ich in meiner Stammgruppe „pfade“, gibt es keine Rangeleien mehr beim Anstellen oder ums „Vorne gehen“, und da das Kind der Woche immer als erstes gefragt wird, wird deutlich, dass ALLE Kinder gleich wichtig sind. Eine Komplimenteliste wird für das KIND DER WOCHE aufgehängt, und die Kinder können im Laufe der Woche Komplimente drauf schreiben. Es versteht sich von selbst, dass die Komplimente ehrlich und passend sein sollen. Nach einer Woche wird dann eine mündliche Komplimenterunde gemacht. Es ist immer wieder beeindruckend, wie genau die Kinder ihre Mitschüler und Mitschülerinnen beobachten und kennen, und welch treffende Komplimente sie machen! Das KIND DER WOCHE sucht sich zum Abschluss drei Komplimente aus, die auf eine farbige Komplimenteliste geschrieben werden. Danach macht es sich noch selbst ein Kompliment. Die Komplimenteliste wird dann verziert und mit nach Hause gegeben, denn auch die Eltern sollen ihrem Kind Komplimente drauf schreiben. Beim Überreichen der Komplimenteliste bekommt das Kind der Woche einen Abschlussapplaus und darf dann das Namenskärtchen vom neuen KIND DER WOCHE ziehen. Es ist also dem Zufall überlassen, wer das neue KIND DER WOCHE wird. Zuvor frage ich allerdings noch jedes Kind, das noch nicht dran war, ob es KIND DER WOCHE werden will. In den sechs Jahren, in denen ich „pfade“, habe ich nur wenige Kinder erlebt, die auf meine Frage mit „Nein“ geantwortet haben: ein paar wenige wollten sich die Enttäuschung ersparen, falls sie nicht gezogen werden und haben die Strategie verfolgt, bis zuletzt zu warten. Für einen Burschen mit autistischer Wahrnehmung war nicht nur das KIND DER WOCHE, sondern überhaupt jede Gruppensituation zu herausfordernd. Das „Problem“ hat die Gruppe damals so gelöst: Ohne sein Beisein wurden seine Stärken genannt, und wir haben ihm eine Komplimenteliste erstellt und mitgegeben. Auch heuer ist in unserer Stammgruppe ein Bursche mit autistischer Wahrnehmung, der auf die Frage, ob er KIND DER WOCHE werden wolle, bis zu dem Zeitpunkt, wo er das einzige Kind war, das noch nicht dran gewesen ist, immer mit „nein“ geantwortet hat. Da das Kind der Woche bei uns auch das Recht hat, auf einem ganz besonderen Stuhl zu sitzen, und da dieser Bursche auch gerne auf diesem Stuhl sitzen wollte, hat er dann doch zugestimmt, Kind der Woche werden zu wollen. Was für ein großer Lernschritt für ihn, bei der Komplimenterunde im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, Komplimente zu bekommen und diese Gruppensituation zu meistern! Ganz anders war heuer die Situation bei einem Mädchen mit Down-Syndrom: Sie wollte immer KIND DER WOCHE werden und hat über das ganze Gesicht gestrahlt, als ihr Namenskärtchen gezogen wurde. Sie genießt es sehr, im Mittelpunkt zu stehen. Sie bekam auch heuer wieder viele Komplimente, denen sie sehr aufmerksam und stolz lauschte (siehe Foto unten). 18 I-JOURNAL Mai 2013 Ein Bursche (4. Lernjahr, 3. Schulstufe), der erst heuer in unsere Stammgruppe gekommen ist, und der daher erst einmal KIND DER WOCHE war, hat nach der Komplimenterunde freudestrahlend zu mir gesagt: „Christa, mein Herz ist jetzt sooo weit.“ - und hat dabei die Arme ausgestreckt. Wenn ich mir DAS KIND DER WOCHE vom Inklusionsstandpunkt her anschaue, komme ich zu dem Schluss, dass gerade dieses Tool für ALLE Kinder (mit nur ganz wenigen Ausnahmen) sowohl physische, als auch kognitive und emotionale Teilhabe ermöglicht. Exkurs: Als Transaktionsanalytikerin schätze ich DAS KIND DER WOCHE auch aus folgenden Überlegungen: Es ist ein wunderbares Gegenmittel gegen das, was Claude Steiner unter dem Begriff „Stroke-Ökonomie“ in der Transaktionsanalyse bekannt gemacht hat. (Steiner ist der Ansicht, dass fast alle Menschen an einem Mangel an „Streicheleinheiten“ bzw. an einem Zuwendungsmangel leiden. Er meint, dass dies durch einschränkende gesellschaftliche „ungeschriebene“ Regeln hervorgerufen wird.) Ich zitiere aus Stewart/Joines: Die Transaktionsanalyse: • Gib keine Strokes, auch wenn du gerne möchtest! • Bitte nicht um Strokes, wenn du welche brauchst! • Nimm keine Strokes an, wenn du welche willst. • Lehne keine Strokes ab, wenn du sie nicht willst! • Stroke dich nicht selbst! In der Übersetzung von Schlegel lauten sie so: • Schenke niemandem ausdrücklich Äußerungen positiver Beachtung außer den nächsten Familienangehörigen, auch wenn du die Möglichkeit hättest und den Impuls verspürst, einem nur oberflächlich Bekannten oder gar einem Fremden etwas Nettes zu sagen oder deine Sympathie zu zeigen! • Bitte niemanden darum, dich dir zuzuwenden, denn damit würdest du deine Schwäche zeigen! • Genieß nicht offen und mit gutem Gewissen, wenn dir jemand eine positive Anerkennung zukommen lässt! • Weise nie eine positive Zuwendung zurück, selbst wenn du sie nicht magst! • Freue dich nie über etwas, was du kannst oder an dir magst, denn sonst bist du eitel und eingebildet! Zur Erklärung: STROKES Ein STROKE ist die kleinste Einheit menschlicher Kommunikation, in der die Gegenwart eines Menschen anerkannt wird. Jeder Mensch braucht diese Stimulation. Jede Transaktion stellt einen Austausch von STROKES dar. Jede Art von STROKE ist besser als gar keine! Erhaltene Zuwendung, sei sie auch noch so negativ, ist immer noch besser als überhaupt keine! STROKEN verstärkt jenes Verhalten, das gestrokt wird! Ein Kernstück des PFADE-Programms zum Schwerpunkt „Selbstkontrolle“ ist die Geschichte von Benjamin und seinen Wutausbrüchen. Sie handelt von einem Burschen (ich sage den Kindern immer, es könnte genauso gut ein Mädchen sein) im Altern von sechs bis acht Jahren, der ein großes Problem hat: Wutausbrüche, bei denen er nicht nur schreit und mit den Füßen aufstampft, sondern manchmal auch mit Sachen um sich wirft, was die Situation nur noch verschlimmert. Im Traum kommt ein Zaubervogel zu ihm, der ihm erklärt, wie es zu seinem Wutausbrüchen kommt und was er dagegen tun kann. Er nennt ihm das wichtige Wort „STOPP“, das Benjamin daran erinnern soll, sich zu beruhigen, bevor er handelt (schreit, mit Sachen um sich wirft, etc.). Zur Illustration gibt es in unserer Stammgruppe einen ZAUBERVOGEL, eine besonders schön verzierte, große Handpuppe. 19 I-JOURNAL Mai 2013 Eines der Bilder zur Geschichte: Benjamin und seine Wutausbrüche Wir nehmen uns immer wieder Zeit, mit den SchülerInnen die Bauchatmung zu üben. Ich erinnere mich daran, dass in meiner ersten PFADE-Stammgruppe ein Mädchen mit Down-Syndrom war, das die Bauchatmung wunderbar beherrschte. Als mir einmal eine Kollegin von ihren großen Sorgen um den gesundheitlichen Zustand ihres Vater erzählte (ihr stiegen beim Erzählen Tränen auf), kam das Mädchen mit Down-Syndrom zu uns dazu, umarmte meine Kollegin, stellte sich dann vor sie hin, und machte ihr die Bauchatmung vor, indem sie die Hände auf den Bauch legte und langsam ein- und ausmatmete. Beim Einatmen wurde ihr Bauch kugelrund, beim Ausatmen wurde er flach. Ampelposter für jüngere SchülerInnen (durch die bildliche Darstellung der Schildkröte) Rot: STOPP - BERUHIGEN Gelb: NACHDENKEN - ENTSCHEIDEN Grün: TUN - REFLEKTIEREN Das Ampelposter ist eine große Hilfe beim Erlernen der Problemlösungsfertigkeiten. Wenn Probleme auftauchen, nehmen wir das oft zum Anlass, gemeinsam Lösungsmöglichkeiten für das Problem zu suchen. Ein stehender Satz bei uns ist: „Zuerst suchen wir einmal zumindest vier verschiedene Lösungsmöglichkeiten.“ Wie ja bekannt ist, ist die Lösungsmöglichkeit, die einem als erstes in den Kopf kommt, meist nicht die beste. Daher heißt es zuerst noch weitere suchen. Danach wird abgewogen (welche Lösungsstrategie führt zum gewünschten Ziel, verletzt keine Regel und ist für das weitere Zusammenleben förderlich) und entschieden. Nach der vollzogenen Lösungsstrategie wird reflektiert, ob sie eine stimmige war. Ist das Problem noch nicht gelöst, heißt es wieder eine neue Lösungsstrategie suchen und ausprobieren. Zum Schwerpunkt Umgang mit Freundschaften, Beziehungen gibt es etliche Lektionen, die Verhaltensweisen aufzeigen, die für eine Beziehungsanbahnung, für eine gute Beziehung förderlich sind, aber es kommen auch solche Lektionen vor, die sich mit Gerüchten, mit Schuldzuweisungen und Missverständnissen auseinandersetzen. Was wir heuer in der Gruppe gemacht haben (was zwar nicht im PFADE-Programm genannt wurde, was bei den SchülerInnen aber sehr gut angekommen ist): geheimer Freund/geheime Freundin. Die SchülerInnen haben ein Namenskärtchen eines Mitschülers/einer Mitschülerin gezogen und sollten sich ihr bzw. ihm gegenüber so verhalten, dass er/sie draufkommt, wer ihr/sein geheimer Freund bzw. ihre/seine geheime Freundin war. Wir sprachen dann auch darüber, an welchem Verhalten es erkannt 20 I-JOURNAL Mai 2013 wurde, bzw. wenn es nicht erkannt worden war, wurde nach der Ursache gesucht: Der geheime Freund/die geheime Freundin hatte darauf vergessen, hatte ein so schwaches Zeichen gesetzt, dass es schwerlich zu erkennen war, bzw. hatte ein klares Zeichen gesetzt, es wurde aber nicht wahrgenommen. Ebenfalls nicht direkt im PFADE-Programm behandelt, aber mir sehr wichtig ist es, mit den Kindern den entscheidenden Unterschied zwischen PETZEN und HILFE HOLEN zu erarbeiten. Dass gerade in diesen Stunden dann unter Umständen auch Übergriffe im familiären Bereich von den Kindern angesprochen werden, führt uns LernbegleiterInnen oft dazu, schwierige Entscheidungen treffen zu müssen (z.B.: ob wir das in einem Gespräch mit den Eltern ansprechen sollten oder ob das Amt für Jugend und Familie eingeschaltet werden sollte oder nicht), und dennoch halten wir daran fest, weil es den Kindern und Jugendlichen eine Chance gibt, sich mit ihren Problemen nicht alleingelassen fühlen zu müssen. Zu Beginn jedes Schuljahres (aber natürlich nicht nur dann) ist der Schwerpunkt „Regeln des Zusammenlebens“ von großer Bedeutung. Die neu hinzukommenden SchülerInnen müssen die in der Stammgruppe geltenden Regeln kennenlernen. Dass Regeln nicht etwas Naturgegebenes sondern Vereinbartes und Veränderbares sind, und dass Regeln in der Gemeinschaft entwickelt werden, sind wichtige Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit diesem Thema. Eine allerdings unverhandelbare Regel bei uns ist die „goldene Regel“: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden möchtest. Dass gerade diese Regel einzuhalten nicht immer leicht ist, wissen auch wir Erwachsene nur allzu gut. Zum Glück gibt es die Kinder, die uns bisweilen darauf aufmerksam machen: Ich erinnere mich an eine Szene, wo ich meine auftauchende Wut nicht so früh bemerkte wie ein Mädchen, das nahe bei mir saß. Es stand auf, holte den Zaubervogel und sagte zu mir: „Christa, ich glaube, du brauchst den Zaubervogel.“ – Und sie hatte recht! Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Kinder auf dem PFADE begleiten zu dürfen ist für mich äußerst sinnvoll und lohnend. Sowohl Martin Bubers Satz: „Das Ich lernt am Du“ als auch das Motto, das beim Eingang unserer Schule hängt: MITEINANDER LEBEN - VONEINANDER LERNEN werden durch PFADE bekräftigt und bestätigt. Verwendete Literatur: Auszug aus meinem Beitrag „ICH BIN OK – DU BIST OK (+/+) - TRANSAKTIONEN, einmal anders gesehen“ im Integrationsjournal 2007 Leonhard Schlegel: Die Transaktionale Analyse, 4. Auflage, UTB für Wissenschaft, Francke Verlag Tübingen und Basel Ian Stewart/Vann Joines: Die Transaktionsanalyse, 7. Auflage, Herder Freiburg-Basel-Wien Infomappe PFADE von www.gewaltprävention-an-schulen.ch Dipl.Päd.in Christiana Pock-Rosei (geboren 1955, VS-Lehramt 1976) seit 1992 Volksschullehrerin in Integrationsklassen Lernbegleiterin der ersten Stunde (also seit September 1998 – genauer gesagt seit September 1997 durch aktive Mitarbeit bereits in der Vorlaufphase) in der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau www.lernwerkstatt.or.at - und derzeit noch immer mit Freude hauptsächlich im Eingangsbereich (0. – 3. Schulstufe) - mit PFADE aber auch im Übergangsbereich (4. – 6. Schulstufe) - ebendort tätig Montessoripädagogin seit 1992 seit 2005 zertifizierte Transaktionsanalytikerin im Bereich Pädagogik und Erwachsenenbildung (CTA-E) 21 I-JOURNAL Mai 2013 Autismus und Arbeit am Pferd Vorspann: Christopher (ein Bub mit Autismus-Spektrum-Störung) schreibt für den Jahresbericht des Vereins PferdeStärken 2012 ein paar Zeilen. Seine Therapeutin beim Voltigieren (auch Mentorin) hat diese Geschichte gelesen und an die Integrationsberatungsstelle geschickt, weil sie diese kurze Erzählung so berührend fand. In der Folge lesen Sie die kurze Erzählung des Buben, die Sichtweise des Vaters und seiner Therapeutin. Brigitte Mörwald Pferde Stärken - gestärkt durch das Pferd Ich gehe zu den drei Therapiepferden reiten auf dem Reiterhof in Moosbrunn. Ich reite auf den drei Therapiepferden. Ich wohne in Ebreichsdorf. Die drei Pferde sind sehr süß. Die drei Pferde fressen Gras und Karotten und Heu und noch viele andere Sachen, glaube ich zumindest. In der Hütte auf dem Reitplatz wird Tee getrunken und ich glaube, manchmal Suppe gegessen. Ich bin kein Pferd. Obelix, Navajo und Sippin sind die drei Therapiepferde, denn das sind ja nicht fünf Therapiepferde das erkennt man ja an der Zahl von der Schrift. Der Film „Das Pferd auf dem Balkon“ war im Kino. Ich habe ihn angeschaut. Das Pferd war ja tatsächlich auf dem Balkon. Der Therapiepferdereiterhof ist beim sehr großen Fluss namens Neubach. Ich bin ein Autistenmenschenkind. Christopher 22 I-JOURNAL Mai 2013 Als ich Christopher erzählte, dass sein Beitrag noch in einer anderen Zeitschrift veröffentlicht wird, meinte er dazu: „Das ist aber peinlich“. Als Außenstehender würde man jetzt meinen, es sei für ihn unangenehm und er will es nicht, als Elternteil sage ich einmal, dass es eher die Bedeutung in Richtung „es ist zwar etwas komisch, aber es ist okay“ hat. Nachdem Christopher bei der Pferde-Therapie mit Andrea Ackerer über die kuriosesten Dinge redet, kam die Idee auf, ob er eventuell für den Jahresbericht des Vereins Pferde-Stärken ein paar Zeilen schreiben möchte, sofern wir ihn dazu bewegen können. Dazu war keine Überredung notwendig, er tat dies von sich aus. Wir wollten ihn aus seiner Sicht, unbeeinflusst schreiben lassen. Die Rechtschreibung ließ natürlich einiges zu wünschen übrig. Also kam ich auf die Idee, ihn den Text am Computer eintippen zu lassen, was er auch begeistert annahm. Große Schrift, damit er es selber gut lesen kann und gleichzeitig lernt er ein wenig, mit dem Computerschreibprogramm umzugehen. Und jetzt kommt der springende Punkt. „Warum sind die Wörter rot unterwellt?“ – „Weil sie falsch geschrieben sind!“ Das machte ihn ehrgeizig, jedes Wort wurde solange korrigiert, bis es nicht mehr unterwellt war. Es war interessant, ihm dabei zuzuschauen. Problematisch wurde es dann bei den Pferdenamen und seinen selbst erfundenen Wörtern, die das Schreibprogramm natürlich nicht kennt. Langer Rede kurzer Sinn, ich musste diese Wörter dem Wörterbuch hinzufügen, damit sie nicht mehr rot unterwellt waren! Wenn ich mir überlege, wie meine Schüler schreiben – naja, das ist eine andere Geschichte. Christopher ist über 9 Jahre alt. Die Geburt brachte einige Komplikationen mit sich. Im Kindergarten eckte er überall an. Zuerst wurde unsere Erziehung in Frage gestellt. Nach und nach kam dann doch die Idee auf, ihn psychologisch anschauen zu lassen. Das Ergebnis war noch nicht sehr aussagekräftig. Wir begannen mit Ergotherapie und Cranio-Sacral-Therapie und hatten oder haben das Glück, wirklich gute Therapeutinnen gefunden zu haben. Im Kindergarten gelang es uns leider erst im letzten Jahr, ihn in die Integrationsgruppe zu versetzen – welche Hintergründe auch immer gegen ein früheres Versetzen gesprochen haben – und das tat ihm gut, da die Betreuerinnen aufgrund ihrer Zusatzausbildung besser mit ihm umgehen konnten. Die Ergotherapeutin hat uns dann das Ambulatorium Sonnenschein in St. Pölten für eine genauere Diagnose empfohlen. Das war auch gut so, hier wurde dann endlich schwarz auf weiß bestätigt, dass er Asperger-Syndrom hat. In der Kindergartenzeit und in den ersten beiden Schuljahren nahm er an der musikalischen Früherziehung in der Musikschule teil. Hier ging es nicht darum ein Musikinstrument zu lernen, sondern eher darum der Musik zuzuhören und Feinheiten herauszufinden. Irgendwann dazwischen kamen wir zu Andrea Ackerer und begannen mit dem heilpädagogischen Voltigieren, was nach wie vor wie ein Wunder wirkt und sich für uns ideal anbietet, da es in der Nachbargemeinde liegt. Das Thema Schule trat mehr und mehr in den Vordergrund. Ein Autist mit 20 oder mehr Kindern in einer Klasse, ob das gut geht, wie sieht der Lernerfolg aus, wie ist das Verständnis der anderen Eltern? Mit Eingliederungshilfe? Kommt eine Integrationsklasse überhaupt zustande? Schulische Vorbereitung für Christopher, aber wie? Über Empfehlung der Psychologin im Ambulatorium Sonnenschein kamen wir nach Wiesen ins Burgenland und fanden dort eine Therapeutin, die spezialisiert ist auf die Therapie von Autisten und die Eingliederung in die Schule. Meine Aussage dazu: „Genial!“ Tipps und Tricks und Hilfestellungen, wie man sie sich als Elternteil nur wünschen kann. Somit konnten wir vor Schulbeginn schon einiges vorlernen (so ca. ein halbes Schuljahr) und der Einstieg in die Schule war nur mehr ein kleiner Schritt. Christopher befindet sich nun in der 3. Klasse, aber nicht in der Volksschule, sondern in der benachbarten Sonderschule mit derzeit fünf Kindern in der Klasse und hat einen ganz normalen Volksschullehrplan! Etwas Besseres denke ich, hätten wir nicht finden können, es geht ihm ausgezeichnet, er macht tolle Fortschritte und versetzt manchmal die Lehrerinnen in Erstaunen. Hausübungen zu machen, Gedichte zu lernen, o. Ä. ist Gott sei Dank kein Problem. 23 I-JOURNAL Mai 2013 Die Therapeutin aus Wiesen setzte sich schon vor Schulbeginn mit Christophers Lehrerin in Verbindung, um spezielle Infos und Ideen weiter zu geben, was die Lehrerin dankend annahm. Ein weiteres Glück hatten wir, nicht ohne persönlichem Einsatz und Gesprächen mit dem Bürgermeister, dass wir die Stützkraft, die ihn im Kindergarten bereits begleitet hatte, in die Sonderschule „mitnehmen“ konnten. Christopher kennt sie schon sehr lange, sie ist ihm vertraut und er akzeptiert es, dass sie als Stützkraft nicht nur für ihn alleine sondern für die ganze Klasse bzw. auch andere Klassen in der Schule da ist. Wie es mit der Schule weiter aussieht, das wird dann nächstes Schuljahr für uns ein neues Thema sein… Unser Therapieschwerpunkt mit Christopher geht momentan in Richtung Gruppenverhalten, welchen wir u.a. auch in Wien in der Autistenhilfe durchführen. Durch Andrea Ackerer kam dann immer mehr das Thema auf, Infos an andere weiter zu geben, bzw. selbst an Schulungen teilzunehmen. Nach zwei Vorträgen von Frau Dr. Brita Schirmer sitze ich nun selber im PHSeminar Integration von Schülern und Schülerinnen mit autistischer Wahrnehmung. Man wird sehen, was die Zukunft so alles mit sich bringt. Helmut Weiss, Lehrer an der HTL Wien 10 Auf Hufen zur richtigen Kommunikation? Gar nicht einfach, so ein Gespräch! Seit drei Jahren kommt Christoph zum Heilpädagogischen Voltigieren. Für ihn ist das Pferd nie so wirklich im Vordergrund gestanden. Ich glaube, die Gesamtheit von Pferden, Bewegung, Hof und der Therapie, aber auch alle Kabeln und Schläuche und natürlich der lange Elektrozaun der Koppeln, den wir immer reitend kontrollieren müssen, sind eine gute Motivation. All diese für Christoph so interessanten Dinge helfen, dass er meist freudig zu seiner Therapieeinheit erscheint und gleich voller Tatendrang ist. Anfangs wurde ich von Fragen von ihm nur so überrollt, sodass es mir gar nicht auffiel, wie sehr seine Kommunikationsfähigkeit eingeschränkt war. Sprechen diente für ihn dazu, dass er seine offenen Fragen beantwortet bekam. Ich wurde als Auskunftsquelle benutzt. Wichtig war es ihm auch, dass er wenig von sich preisgab. So bemühte er sich bewusst, wenig Mimik zu zeigen. Nur beim Galoppieren gelang ihm nicht. Lauthals lachte er vor Freude. Christoph scheint es wichtig zu sein, dass er möglichst viel Kontrolle über seine Gefühle nach außen hin hat. Sehr schnell sind ihm Situationen „peinlich“. Um die Aufmerksamkeit auf gleiche Dinge zu lenken und darüber zu sprechen (Joint Attention), spielten wir „Ich seh, ich seh, was du nicht siehst“ und ich führte ihn dabei am Pferd. Die gleichmäßige Bewegung des Pferdes ließ ihn trotz der Aufregung ruhiger und konzentrierter werden. Am Pferd sitzend ist Christoph eher gezwungen sich auch unangenehmen Gesprächsanbahnungen meinerseits zu stellen und nicht einfach 24 I-JOURNAL Mai 2013 „abzutauchen“. Da ihm das Reiten wirklich großen Spaß macht, geht er öfter in der Kommunikation an bzw. über seine persönlichen Grenzen. Doch sind diese einmal überschritten versucht er es mit Vermeidungsstrategien. Wir hatten z. B. die Regel: Eine Frage darf Christoph stellen, ich muss antworten dann darf ich eine stellen und er muss antworten. Das ging eine Zeit lang gut, doch dann antwortete er mit „Das weiß ich nicht!“. Ich musste eine neue Regel aufstellen: Ich weiß es nicht – ist keine Antwort. Um seine auditive Merkfähigkeit zu trainieren spielten wir das Kofferpackspiel – für Christopher natürlich abgewandelt: Ich hänge auf ein Kabel … Damit ist die Motivation gleich viel größer und dadurch auch seine Konzentration. An Christoph schätze und liebe ich besonders, dass er eines der wenigen von mir betreuten Kindern ist, das sich auch Gedanken ums Wohl des Pferdes macht. Tut ihm das auch nicht weh? Mag das der Navajo auch? Diese und ähnliche Fragen sind für ein Kind mit einer autistischen Störung schon sehr außergewöhnlich und machen die Therapie zu einem besonderen Erlebnis für mich. Wir beobachten die klare Pferdekörpersprache (Kopf-, Ohr- und Körperhaltung). Aber auch die Spannung und Entspannung von Muskeln ist sehr aussagekräftig. Christoph ist im „Pferdeflüstern“ schon ein kleiner Meister, und so gelingt es ihm oft, dass er diese Fragen schon selber beantworten kann. Dank seiner großen Fortschritte in der Kommunikation, weil er Erlerntes sehr schnell auch anwenden kann, sind wir nun bei schon wirklich kleinen Gesprächen angelangt. Wenn das Thema nicht unbedingt aus seinen Spezialgebieten stammte, dann konnten seine verbalen Reaktionen fast verletzend sein. Dadurch, dass das Pferd sehr schnell auf Körperan- und entspannung reagiert, bekommt Christoph sehr schnelle Rückmeldung auf seine Körpersprache. Das viele Training zeigt erste Erfolge. Inzwischen kann er auch Gespräche schon lenken. Und das ganz höflich! Wer mit autistischen Kindern arbeitet weiß, welche Leistung das ist. Um ein Gespräch lenken zu können, muss man schon einige Kompetenzen der Kommunikation kennen und anwenden können. Auch das für Menschen mit ASS typische „Wortwörtlich nehmen“ betrifft Christophs Sprache. Nach einem Kinobesuch (Das Pferd auf dem Balkon) sprachen wir natürlich über diesen Film, worin es um einen Jungen mit Asperger-Syndrom und seine Beziehung zu einem Pferd geht. Ich meinte, dass ich vieles sehr ähnlich wie bei Christoph empfand und zählte die Ähnlichkeiten auf. Danach fragte ich: „Isst du auch gerne pünktlich?“ Seine Antwort: „Pünktlich kann man nicht essen, nur Brot und Käse.“ Zum Abschluss möchte ich noch einige Wesenszüge des Pferdes erwähnen: Das Pferd ist nicht nachtragend, nimmt vorbehaltlos an, und trotz seiner Größe ist es sehr bemüht und an Menschen interessiert. Das sind ideale Voraussetzungen für ein „Gespräch“. Wenn man Christophs Beitrag für den „Jahresrückblick 2013“ (jährliches Vereinsjournal) liest, spürt man, dass er einerseits in der Welt der „Neurotypischen“ (so werden „Normale“ von Menschen mit AspergerSyndrom benannt) noch nicht angekommen ist, sich aber andererseits schon sehr gut in ein Pferd hineinfühlen kann. „Ich bin kein Pferd – ich bin ein Autistenmenschenkind“ Diese Aussage hat mich sehr berührt. Ich hoffe, dass wir daran arbeiten können, dass er sich irgendwann nur als Menschenkind spürt. Dafür wünsche ich Christoph alles Gute. Dipl. Päd. Andrea Ackerer Mentorin für SchülerInnen mit Autismus-Spektrum-Störung, Sprachheilpädagogin, Heilpädagogische Voltigiertherapeutin 25 I-JOURNAL Mai 2013 Besser könnt es nicht laufen Ideale Voraussetzungen für die Förderung eines Jungen mit Autismus-Spektrum-Störung mit Hilfe der Heilpädagogischen Voltigiertherapie Ich begleite Kenan nun schon das dritte Jahr als Mentorin für SchülerInnen mit Autismus-Spektrum-Störung und seit einigen Wochen nun auch als Voltigiertherapeutin. Seine Lehrerin klagt besonders über seine Zornausbrüche und seine Schwierigkeiten sich an Regeln zu halten. Diese Probleme erschweren seinen Schulalltag und so wurde er sogar von der Möglichkeit des Heilpädagogischen Voltigierens an der Schule ausgeschlossen. „Leider“, sagt seine Lehrerin, „denn das hat ihm sehr gut getan!“ Die Kolleginnen und Kollegen wollten aber die Verantwortung für ihn nicht mehr übernehmen. Bei meinen Besuchen in der Klasse merkte ich, dass Kenan trotz meiner eng gesetzten Regeln nie böse wurde und nach anfänglichem Murren gut mitarbeitete. Nach der intensiven Arbeitszeit mit mir erschien er mir sogar sehr ausgeglichen. Da ich selber seit fünf Jahren im Verein PFERDE STÄRKEN ehrenamtlich als Voltigiertherapeutin arbeite, war es naheliegend, dass Kenan fürs Voltigieren zu mir kommt. Viele Menschen haben sich große Mühe gemacht, dass dies möglich wurde. Nun kommt er alle 14 Tage für zwei Einheiten mit seiner Mama zu mir nach Moosbrunn/NÖ. Wir arbeiten mit Navajo, einem Knabstrupperwallach, der ein wirklicher Autismusexperte ist und genau fühlt, woran man noch arbeiten muss. Erst letzten Freitag zeigte er durch seine Körpersprache (Anspannung, Ohren anlegen), dass er Kenans Regelausbrüche gar nicht schätzt. Als ich Kenan auf diese Körpersprache hinwies, beobachtete er sein eigenes Verhalten und Navajos Reaktionen sehr genau und ich konnte ihm auch erklären warum Navajo Regeln so wichtig findet. Wenn eine Wildpferdeherde nicht gut zusammen hält, können schlimme Dinge passieren (Raubtiere können angreifen, Teile der Herde verlaufen sich, Jungtiere gehen verloren…) Regeln haben einen Sinn! So konnte es nun Kenan auch gut verstehen. Sich daran zu halten ist noch eine andere Sache. Auch Kenans Mama kämpft mit seinem Verhalten. Begonnene Handlungen sind für ihn schwer zu stoppen. So drückt er ständig am Halteknopf im Bus und nervt damit den Fahrer und die Fahrgäste. Um beide in Einklang zu bringen, habe ich Kenan mit Mama auf das Pferd gesetzt. Beide saßen gemeinsam strahlend hintereinander am Pferd und hatten den gleichen Rhythmus. Das tut der Bindung sehr gut. Kenan versucht auch in der Therapie ständig, alles nach seinen Regeln zu verändern. Damit die Therapie aber ohne gröbere Vorkommnisse ablaufen kann ist es wichtig, dass einer der „Chef“ ist, dafür aber auch die ganze Verantwortung tragen muss – wie auch in einer richtigen Pferdeherde. Das akzeptiert Kenan nach dem dritten Mal nun schon viel besser. 26 I-JOURNAL Mai 2013 Seine körperliche Unruhe wirkte sich besonders durch ein ständiges Fußklopfen am Pferdebauch aus, was das Pferd ziemlich nervös und unruhig werden ließ. Ich zeigte Kenan an seinem Körper (seitlicher Rippenbereich), wie unangenehm das für das Tier sein muss und warum das Pferd versucht, aus dieser Situation „davonzulaufen“. Mit diesem Verständnis bemüht Kenan sich nun sehr, nimmt auf das Pferd Rücksicht und reagiert nun auf Hinweise sehr schnell. Er wird zunehmend immer ruhiger und ausgeglichener. Seine Oma aus der Türkei war vier Wochen auf Österreichbesuch und kam mit der Familie zur Therapie nach Moosbrunn. Wir nehmen uns immer genügend Zeit, um uns über die letzte Zeit auszutauschen und den Ablauf der Einheiten zu planen. Kommt die Mama auch auf das Pferd? Wer striegelt das Pferd wo? Was werden wir spielen? Kenan wünschte sich, dass auch seine Oma auf das Pferd solle und überraschender Weise tat sie das auch: Das erste Mal in ihrem Leben fand sie sich hoch zu Ross wieder! Sie lachte und wirkte gar nicht ängstlich und ließ sich stolz von ihrem Enkel führen. Herzlich und mit einer Umarmung verabschiedete sie sich beim letzten Mal. Ich konnte spüren, dass sie trotz fehlender Deutschkenntnisse sehr gut spürte, wie gut Kenan die Arbeit mit dem Pferd tut. Kenan genießt die Zeit bei uns am Hof mit seiner Familie und den Pferden. Ich versuche mich mit Kenans Lehrerin über sein Verhalten regelmäßig auszutauschen. Ein Glücksfall ist, dass die Lehrerin im Zuge ihrer Sprachheilpädagoginnenausbildung bei uns am Hof war und Führübungen mit den Pferden, aber auch Erfahrungen auf dem Pferd machen konnte. Das ist natürlich ideal, weil sie nun weiß, was Kenan so mit den Pferden macht und wie es sich auswirkt. Kenan bekommt bei schnelleren Gangarten des Pferdes Stimuli an das Vestibulärsystem, die er so braucht und liebt, ohne dass er aber selbst unruhig sein muss – im Gegenteil, ruhig und gelassen lässt er sich im Trab tragen. Die Voraussetzungen für Kenans Voltigiertherapie sind sehr ideal. Die enge Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Mutter, Schule und mir zeigen erste Erfolge. Ich hoffe daher, dass wir Kenans Blickkontakt, Aufmerksamkeit und Empathiefähigkeit mit Hilfe von Navajo ebenso gut trainieren können, wie Regelverständnis, Lösungsfindungen und Kommunikation. Ich möchte mich herzlich bei all jenen, besonders bei Frau Brigitte Mörwald (Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrates für Wien) und Herrn HR Mag. Dr. Rupert Corazza (Landessschulinspektor für Inklusion) für die Unterstützung bedanken, dass es überhaupt zu diesen Einheiten kommen konnte. Ein Kind auf so vielen Ebenen begleiten zu können, ist ein echter Glücksfall! Dipl. Päd. Andrea Ackerer Mentorin für SchülerInnen mit Autismus-Spektrum-Störung, Sprachheilpädagogin, Heilpädagogische Voltigiertherapeutin 27 I-JOURNAL Mai 2013 Das Projekt „Schneetiger“ der Laureus Stiftung in Zusammenarbeit mit den Schulen GTKMS/GTNMS Anton-Sattler Gasse 93 in Wien 22 und der Waldschule in Wiener Neustadt „Sport hat die Kraft, die Welt zu verändern. Er hat die Kraft, zu inspirieren. Er hat die Kraft, Menschen zu vereinen, wie es sonst nur weniges kann. Sport kann Hoffnung erwecken, wo vorher nur Verzweiflung war.“ Nelson Mandela, Laureus World Sports Awards, Monaco 2000 Die Laureus Stiftung Mit all ihrer Kraft und dem weitreichenden Einfluss ihrer prominenten BotschafterInnen setzt sich die Laureus Sport for Good Stiftung Deutschland/Österreich seit ihrer Gründung 2001 für den sozialen Wandel ein. Mithilfe von inzwischen zehn Projekten wurden mehr als 50.000 Kinder in Deutschland und Österreich erreicht, deren Leben und soziale Umstände durch Sportprojekte signifikant verbessert wurden. Das Ziel der Laureus Sport for Good Stiftung ist es, für möglichst viele Kinder in Deutschland und Österreich die Welt kontinuierlich ein kleines Stück besser zu gestalten. Mithilfe der Universalsprache Sport, gekoppelt mit sozialpädagogischer Unterstützung, wird den Kindern und Jugendlichen vermittelt, dass sie etwas Besonderes sind. Ihr Selbstwertgefühl wird dadurch gestärkt und sie können auf eine bessere Zukunft hoffen. Unabhängig von Geschlecht, Herkunft, Religion, sozialer Schicht oder gesundheitlichen Einschränkungen nehmen die ProjektleiterInnen und die prominenten Patinnen/Paten die Kinder an der Hand und begegnen mit ihnen gemeinsam den heutigen gesellschaftlichen Herausforderungen. Ob Eishockey, Boxen, Golf oder Fußball: Die teilnehmenden Kinder entdecken ihre Talente und Fähigkeiten und entwickeln Werte wie Disziplin und Zielstrebigkeit – Eigenschaften, die ihnen auch im alltäglichen Leben weiterhelfen. (vgl. www.laureus.de) Das Projekt „Schneetiger“ Das Laureus Projekt „Schneetiger“ ist ein Pilotprojekt, welches sich zum Ziel gesetzt hat, Schülerinnen und Schüler mit Benachteiligungen (finanziell, sozial, körperlich, kognitiv, …) nachhaltig für den Wintersport zu begeistern. Um dieses Ziel erreichen zu können, werden kontinuierlich und über das ganze Jahr hinweg Aktivitäten angeboten. Das „an einem Strang ziehen“ – von den Schülerinnen und Schülern, Eltern, Lehrerinnen und Lehrern bis hin zu den Laureus Trainerinnen und Trainern – ist der Schlüssel zum gemeinsamen Erfolg. 28 I-JOURNAL Mai 2013 Das Laureus Projekt „Schneetiger“ befindet sich derzeit schon im zweiten Jahr und hat schon einen ereignisreichen Winter hinter sich, da das Projekt in drei Phasen gegliedert ist: 1. Das Ganzjahresprogramm „Fit für den Schnee" bildet die Grundlage. Hierbei werden über das ganze Schuljahr verteilt einmal wöchentlich Workshops mit geschulten Trainerinnen und Trainern abgehalten, in denen eine aktive und spielerische Vorbereitung auf den Wintersport erfolgt. Die Übungen innerhalb dieser Workshops wurden gezielt auf die Schneetage und die Wintersportwoche im Kaunertal abgestimmt. Im Rahmen der Turnstunden am Donnerstag werden vom Laureus Schneetiger Projekt zwei Trainerinnen oder Trainer zur Verfügung gestellt, die die Schülerinnen und Schüler auf den Schnee vorbereiten und das ganze Schuljahr in einer Turnstunde begleiten. 2. Als Saisonprogramm werden zusätzlich fünf einzelne „Schneetage" angeboten, an denen Kinder und Jugendliche erste Erfahrungen im Schnee machen. Für die 39 Schülerinnen und Schüler (1c, 1d, 4c) der NMS Anton-Sattler Gasse 93, 1220 Wien, davon 14 Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf, standen an diesen Tagen Schier oder Snowboards zur Auswahl. Ein Kind, das aufgrund einer angeborenen Myelomeningozele mit Harninkontinenz, Spitzfuß und einem Shunt körperlich beeinträchtigt ist, fährt mit einem Schibob. Im Rahmen der Schneetage verbringen die Schülerinnen und Schüler fünf Mal einen Tag am Semmering (Skigebiet Stuhleck). Die Anreise zum Stuhleck erfolgte jeweils in der Früh ab 8:00 Uhr, die Rückkehr nach Wien am späten Nachmittag. 3. Das zentrale Event jedoch ist die „Schneewoche" vom 14.4.2013 bis 19.4.2013 im Kaunertal, bei der Trainerinnen und Trainer von Laureus Schneetiger und Teilnehmende gemeinsam eine Woche im Schigebiet Kaunertaler Gletscher verbringen werden. Um die Teilnahme an diesem Projekt wirklich allen Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, werden zusätzlich zu den Geldern der Laureus Stiftung noch Privatsponsoren und Firmensponsoren gesucht und auch Aktivitäten wie z.B. ein Modeschmuckflohmarkt veranstaltet. Bei diesem Projekt sollen keine LeistungssportlerInnen geschult werden, so meint der Leiter des Laureus Projekts Thorsten Gegenwarth, MBA, in einem Interview mit der Tiroler Tageszeitung: „Manche der gesunden Kinder holten wir schlichtweg vom Fernseher weg. Sie haben derart wenig Bewegung im Alltag, dass ihnen selbst banale Dinge wie auf einem Bein zu stehen oder rückwärts zu gehen schwerfallen.“ Den Kindern soll laut Franz Klammer auf spielerische Weise Zugang zum Sport vermittelt werden: „Es geht nicht nur um Bewegung, sondern auch um soziale Hintergründe. Durch das Gruppenerlebnis lernen sie Teamgeist, Disziplin, Respekt, sich Ziele zu setzen und diese zu erreichen.“ (vgl. http://www.tt.com/Freizeit/4657929-2/28-schneetiger-im-kaunertal.csp) Das Projekt Laureus Schneetiger hat es sich zum Ziel gesetzt, bei den partizipierenden SchülerInnen zum einen nachhaltige Begeisterung für den Wintersport zu entwickeln, zum anderen auch integrativ auf das gesellschaftliche Miteinander einzuwirken. Im Laufe des Projekts sollen sich mentale und motorische Fähigkeiten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer verbessern, wie auch der soziale Aspekt stetig im Auge behalten werden. 29 I-JOURNAL Mai 2013 Nachhaltigkeit kann nur entstehen, indem die Arbeit im Schnee intensiviert wird. Eine Kombination aus vereinzelten Schneetagen und ganzen Schneewochen erscheint sinnvoll, wenn man Menschen den Wintersport auf Dauer schmackhaft machen möchte. Es gilt, ein Jahresprogramm an Aktivitäten für Kinder und Jugendliche anzubieten. Die unmittelbare Vernetzung von Bewegungslernen, Freude am Tun und dem Erwerb sozialer Kompetenzen intensiviert das Spektrum „Wintersport" und wird als ganzheitlicher Ansatz als Mittel zum langfristigen Erfolg gesehen. Ausgehend von den individuellen Möglichkeiten werden die Handlungsfelder unter Einbeziehung aller Beteiligter so gestaltet, dass die Gruppenprozesse und die Wechselwirkungen zwischen physischen Aktivitäten und psychosozialen Prozessen durch Verstärkung des individuellen und gemeinsamen Erfolges optimal genutzt werden können. (vgl. www.schneetiger.at) Mag.a Michaela Opferkuh, BEd Integrationslehrerin an der NMS Anton-Sattler-G. 93, 1220 Wien Christoph Schöch Fotograf Quellenangabe: www.laureus.de http://www.tt.com/Freizeit/4657929-2/28-schneetiger-im-kaunertal.csp www.schneetiger.at 30 I-JOURNAL Mai 2013 HOPE (Hospital Organisation of Pedagogues in Europe) ist eine internationale Vereinigung der Spitalspädagoginnen/-pädagogen in Europa mit Partnern aus Australien, Neuseeland, Amerika und Asien mit wissenschaftlicher und pädagogischer Zielsetzung. Eine Tagung findet alle 2 Jahre statt. Eine Krankheit reißt Menschen oft aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld, aus ihrem Arbeitsleben, Schulalltag, häufig auch aus ihrem Familien- und Freundeskreis heraus. Durch diese Entwurzelung erfahren die Betroffenen eine gravierende Einschränkung ihrer Lebensqualität. Besonders tragisch ist das, wenn Kinder oder Jugendliche betroffen sind, die noch am Anfang ihres Lebensweges stehen. Kinder und Jugendliche mit einer chronischen oder einer lebensbedrohenden Erkrankung beispielsweise Krebs, aber auch aggressive, depressive, drogenabhängige, schul- und leistungsverweigernde oder sich selbst verletzende Kinder und Jugendliche brauchen im Spital menschliche Nähe, Aufmerksamkeit, Professionalität und verlässliche vertrauensvolle Beziehungen mit ehrlicher Anteilnahme. Sie benötigen die Ärztin/ den Arzt, weil sie krank sind und die Pädagogin/ den Pädagogen, weil sie ein Recht auf Erziehung und Bildung haben. Der Unterricht gibt neben der Wissensvermittlung den Kindern und Jugendlichen während der Krankheit ein Stück Normalität zurück. Lernen erzeugt Glücksgefühle, lenkt von der Krankheit ab, unterstützt das kranke Kind und den Jugendlichen beim Verarbeitungsprozess seiner Krankheit und sichert die Schullaufbahn. Zudem muss die pädagogische Betreuung auch, falls nötig, bei der Vorbereitung auf den Tod behilflich sein. Diese spezielle Unterrichtstätigkeit verlangt nach ständiger Fortbildung und bundes- bzw. weltweiten Praktika / Tagungen / Kongressen, um fachgerecht auf den neuesten Stand zu gelangen, das heißt neueste Unterrichtstechniken kennenzulernen, einzuüben, Erfahrungen auszutauschen, Innovationen auf dem Gebiet der speziellen Erziehungsbedürfnisse kennenzulernen und eventuell gemeinsame Projekte in Angriff zu nehmen. Diesen wichtigen Austausch ermöglicht HOPE. GESCHICHTE 1988 fand auf Initiative des Kinderarztes Prof. Dr. PAVLE KORNHAUSER in Ljubliana (SLOWENIEN) der 1. Kongress der europäischen Spitalspädagoginnen/Spitalspädagogen statt. Nach diesem Ereignis knüpften die Pädagogen/Pädagoginnen ihre Verbindungen mittels eines Newsletters (erscheint zurzeit viermal im Jahr) enger und begannen mit einem regen internationalen Erfahrungs- und Erkenntnisaustausch per E-Mail, Fax und Videokonferenzen. 1992 fand der 2. Kongress in Wien (ÖSTERREICH) statt; er endete mit dem Aufbau der Vereinigung. Wenige Monate später wurde in Paris ein Komitee gewählt. Es traf sich in regelmäßigen Intervallen in Brüssel, Amsterdam, Birmingham und Lörrach um die Statuten und die Geschäftsordnung der Vereinigung zu entwerfen. 1994 wurden in Brüssel (BELGIEN) die Statuten veröffentlicht. 1995 entwickelte die Vereinigung Pläne für die Zukunft und öffnete sich für Verbindungen nach draußen. 1996 während des 3. Kongresses in Uppsala (SCHWEDEN) bestätigte die erste Generalversammlung die Statuten der Vereinigung und organisierte einen ersten Erfahrungsaustausch über das Leitthema: „Lernen im Krankenhaus”. 1998 gaben die Europäischen Tage in Paris (FRANKREICH) den Mitgliedern die Gelegenheit, Arbeitsmethoden auszutauschen, über ihre Aktivitäten seit 1996 zu berichten und erste Ergebnisse aus Krankenhausschulen in Europa zu diskutieren. 15 Workshops starteten. Das Hauptziel ist, für das kranke Kind einen Unterricht zu sichern, der verständlich und von höchster Qualität ist und den individuellen Bedürfnissen des Kindes entspricht. 31 I-JOURNAL Mai 2013 2000 fand der 4. Kongress in Barcelona (SPANIEN) unter dem Thema „Arbeiten für die Rechte der kranken Kinder“ statt. Im Rahmen dieses Kongresses wurde von der Generalversammlung eine europäische Charta über das Recht der kranken Kinder auf Bildung und Erziehung im Krankenhaus und zu Hause verabschiedet. DIE CHARTA DER SCHULRECHTE DES KRANKEN KINDES1 1. Jedes kranke Kind und jeder Jugendliche hat das Recht auf Unterricht im Krankenhaus oder zu Hause. 2. Ziel des Unterrichts für kranke Kinder und Jugendliche ist die Fortführung von Bildung und Erziehung und die Erhaltung ihrer Stellung als Schüler. 3. Die Krankenhausschule fördert die Gemeinschaft von Kindern und Jugendlichen und normalisiert den Alltag. Krankenhausunterricht kann als Klassen-, Gruppen- und Einzelunterricht organisiert werden. 4. Krankenhaus- und Hausunterricht müssen, in Abstimmung mit der Heimatschule, den Bedürfnissen und Fähigkeiten kranker Kinder oder Jugendlicher entsprechen. 5. Lernort, Lernumwelt und die Lernhilfen müssen den Bedürfnissen kranker Kinder und Jugendlicher angepasst sein. Kommunikationstechnologien sollen auch für die Vermeidung von Isolierung genutzt werden. 6. Der Inhalt des Unterrichts umfasst mehr als den formalen Stoffplan und enthält auch Themen, die aus besonderen Bedürfnissen durch Krankheit und Krankenhausaufenthalt erwachsen. Eine Vielzahl von Unterrichtsmethoden und -quellen sollen genutzt werden. 7. Die Kliniklehrer und die Lehrer für Hausunterricht müssen voll qualifiziert sein und ständig Fortbildung erhalten. 8. Die Lehrer kranker Kinder und Jugendlicher sind als schulische Fachleute vollwertige Mitglieder des multidisziplinären Pflegeteams. Sie sind die Verbindung zwischen der Krankenhauswelt des Kindes oder Jugendlichen und seiner Heimatschule. 9. Die Eltern werden über das Recht ihres kranken Kindes oder Jugendlichen auf Schulunterricht und über das Unterrichtsprogramm informiert. Sie sind als aktive und verantwortliche Partner zu betrachten. 10.Der Schüler wird als ganzheitliche Person betrachtet. Das schließt das Arztgeheimnis und den Respekt vor der Privatsphäre und dem religiösen Bekenntnis ein. 2002 fanden die Europäischen Tage in Rom (ITALIEN) statt. Mitglieder einzelner Workshops konnten weiterarbeiten bzw. Kontakte zu Kolleginnen/ Kollegen anderer Workshops aufnehmen. 2004 erfolgte ein Treffen der Komiteemitglieder in Brüssel (BELGIEN) 2006 wurde beim 5. Kongress in London (GROßBRITANNIEN) erstmals die aktuelle interaktive Webseite: www.hospitalteachers.eu präsentiert. 2008 lautete das Motto des 6. Kongresses in Tampere (FINNLAND) „Balance zwischen Realität und Traum“. Zwei perfekt ausgestattete Spitalsschulen (neue Computer, Küche, Holzwerkstatt, Töpferei mit Brennofen) konnten besucht werden und das finnische Schulsystem wurde vorgestellt. 2010 wurde der 7. Kongress in München (DEUTSCHLAND) von der Staatlichen Schule für Kranke und der Schule an der Heckscher-Klinik veranstaltet. Medizinerinnen/Mediziner und Pädagoginnen/Pädagogen analysierten das Kongressthema „Das kranke Kind – aufgehoben im Netz von Pädagogik und Medizin“. Sie zeigten ihre partnerschaftliche Zusammenarbeit in der Bekämpfung schwerer Erkrankungen und der Erhaltung von Lebensqualität auf. 1 http://www.hospitalteachers.eu/download/who%20we%20are/hopecharter_de.pdf 32 I-JOURNAL Mai 2013 2012 fand der 8. Kongress in Amsterdam (NIEDERLANDE) statt. E-twinning http://www.e-twinning.org und das niederländische Schulsystem wurden vorgestellt. Eine von vier vorgegebenen Spitalsschulen konnte besucht werden. Den Kongressabschluss bildeten Vorträge über die Vor-, Nachteile und die latenten Gefahren des Internets. 2014 noch kein Gastgeberland bekannt Die Pädagoginnen/Pädagogen aller Schultypen benötigen eine spezifische Fachkompetenz. Im Spitalsbereich kommen noch im hohen Ausmaß Geduld, Motivation, Ausdauer, Aushalten, Vertrauen, Zutrauen, Verständnis, Hoffnung, Fröhlichkeit, Humor und Güte hinzu. Die Spitalspädagoginnen/-pädagogen sind Teil eines Teams aus Ärztinnen/Ärzten, Pflegepersonen, Therapeutinnen/Therapeuten, Psychologinnen/Psychologen, Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, das mit Wertschätzung, Toleranz und Respekt bei Krankheit, Verletzung, Angst, Schmerz, Verlust, Trauer und Tod zum Wohl der Patientinnen/Patienten agiert. Haben Sie Interesse an einem regen internationalen weltweiten pädagogischen Erfahrungsaustausch, dann werden Sie Mitglieder! Ich würde mich freuen! MITGLIEDSBEITRAG: LANDESVERTRETERIN IN ÖSTERREICH 15 Euro für Einzelmitglieder 30 Euro für Kollektivmitglieder DIPL. PÄD. MAG. DR. BRIGITTE GRUBER, BEd 33 WILHELMINENSPITAL, PAV. 18 LEHRBEAUFTRAGTE AN DER KRANKENPFLEGESCHULE UND FORTBILDUNGSAKADEMIE AKH-WIEN I-JOURNAL Mai 2013 Roundup of Project 123 The end of the year is coming at such a fast pace. Everyone is in the annual rush to get things finished for the end of the school year and a well-deserved summer break. Time really has gone quickly, and as I am now coming to the end of my third year in Project 123, I thought it would be a great time to give an update on how things have been progressing. In the last article we spoke of how the project works, various fun and interesting lessons we did, and the challenges involved in delivering an informative but fun lesson to students with special needs. Just a Quick Recap Project 123 is the brainchild of Mr. Stuart Simpson, who wanted to introduce the benefits of having a Native Speaker Teacher to classes with special needs or to integration classes. Vienna has a fantastic Native Speaker Teacher infrastructure, and through this project, we can now reach these specialised classes as well. The project is also specifically meant for First Grade high school age groups or SPZ classes and students. I took over from him in 2011, and since then have had many wonderful experiences as I myself have learnt, adapted and progressed. Each year within the project different schools are involved, as needs and timetables change and classes move on, so there are always many new faces at the beginning of each school year. This year I have four schools (as opposed to last years six) and I move between the four, changing schools once a day. How are things running? In the last two years, I have managed to find a rhythm with regards to the daily running of the project. Once I have built up a good communication with each of the class teachers, the lessons run very smoothly. As I have mentioned in previous articles, I do not teach according to a syllabus, but rather discuss with the class teacher what approach would be best for his or her particular students. Sometimes I take a whole class, sometimes just a few of the integration students. Most classes I prepare my own lessons, and in some the teacher prefers that I follow the themes of the syllabus. So you could say that the lessons are tailored for each class. 34 I-JOURNAL Mai 2013 Why we do it As a Native Speaker Teacher, the aim is verbal communication. The English teachers here are quite capable of delivering well prepared, informative English lessons. It is our job as Native Speakers to bring to the class the smooth flowing expression of the language. To hear and understand a natural English accent. With that in mind, lessons are structured mainly around talking. Talking with a lot of actions, pictures and other media aids that are needed to express the point of the lesson. We do not speak German. In this way the children are immersed in the language and are “forced” into attempting to communicate with the Native Speaker in English. At first the task seems daunting, as many students, no matter what their level of English, are ultimately too shy to speak. But as the weeks go by, it is amazing to see the transformation as the children become more comfortable and start coming out of their shells. It is very satisfying when the children approach me during breaks to tell me their personal news in English. You know that the child has sat and really thought about what they want to say, and how to construct their sentences before coming to you. It is at these times when I know the Project is a success. An Enlightening Trip I would like to share what was something of a personal land mark for me. In 2011 I had the fantastic opportunity to join some teachers and students from the JOBFIT program SPZ Holzhausergasse on a trip to Brno, Czech Republic for a few days. The Viennese students were welcomed and introduced to some wonderful projects that the boarding school was offering, most of which corresponded to their own projects at home. Everyone had a chance to plant vegetables and tend to the garden with lessons in growing and caring for plants. There were also cooking classes where we had the opportunity to make our own delicious pancake lunches, as well as decorate some ginger biscuits for Easter. We had some great crafts lessons, where we made our own Easter baskets to take home as gifts for the family. All these lessons are aimed at providing the children with skills to enter the job market after leaving school. Special Needs children unfortunately do have a limited choice in terms of careers, and these projects are specifically developed to help them find their niche, and to create an environment where these children can hone their skills in a particular sector, and even have the opportunity to excel at something. It gives them a chance to contribute to society. It was not all hard work and learning though. We were treated to a tour of the historic city, with a much awaited stop for ice-cream. One of our evenings was spent around a bonfire, chatting and cooking sausages over the fire. We also had the wonderful opportunity to hear some songs from the Czech students. What made this trip even more inspiring, was seeing how Special Needs students from two different cultures who also had to deal with a huge language barrier, came together almost immediately and simply found a way to get on and communicate. As their English teacher I was especially proud hearing them attempt to find common ground by using the English that they had learnt. 35 I-JOURNAL Mai 2013 Personal Progress It is in situations like these where one can really reflect on your own situation, your own problems, and really be inspired by these children. In the four years or so that I have been in the country, I have been confronted many times with the problem of communication and cultural barriers, as I struggle along to find my place within Austrian society, and for me to also integrate into a culture that was at first totally foreign to me. In many ways I can empathise with my integration students, trying to find their place in a new world. These children have shown me the importance of accepting the situation you are given, and using whatever talents you may have to be a part of society, without succumbing to the myriad excuses that can show their ugly heads and ultimately leave you lagging behind. What these children do takes huge amounts of courage. Knowing first -hand how difficult it can be (and that is without any disabilities to challenge me) they have really given me the inspiration and courage I have needed to find my own place – to integrate – and to really start calling Austria my home. Genevieve Gombert comes from Durban, Kwa-Zulu Natal, South Africa. She was principal of her own kindergarten, until coming to Austria and teaching English as a Native Speaker all over the country. She then joined the Special Needs English Project 1-2-3 in October 2010. She has been living in Gablitz, on the border of Vienna, for the last four years. 36 I-JOURNAL Mai 2013 Die erste Bilderausstellung Die Einladung eigene Bilder im SSR auszustellen war für die SchülerInnen des SPZs 3 gleichzeitig schmeichelhaft und erschreckend. Viele schöne Bilder haben sie zu Stande gebracht, aber was möchte man wirklich ausstellen? Das war eine Herausforderung! Zuerst wurde eine kleine mutige Gruppe gebildet, deren Aufgabe darin bestand, die möglichst beste Auswahl an Bildern zu treffen, die sowohl die breite Palette an angewandten Techniken als auch die Vielfalt an Ideen präsentieren wird. Jeder Vorschlag musste natürlich gut durchdacht und begründet werden, was den Jurymitgliedern nicht nur solide Deutschkenntnisse sondern auch argumentatives Durchsetzungsvermögen abverlangt hat. Zum Schluss wurde demokratisch gewählt und die Arbeiten mit den meisten Stimmen wurden stolz der zweiten Gruppe überreicht. Ob man sich bei der Oscar Verleihung auch so mit Leib und Seele ins Zeug legt? Die zweite Gruppe wurde mit einer kreativen Tätigkeit beauftragt: die ausgewählten Bilder für die bevorstehende Ausstellung im SSR in die richtige Schale zu werfen, d.h. den passenden Hintergrund vorzubereiten, die genaue Position abzumessen, sauber zu kleben und bei Bedarf eine schöne Verzierung zu gestalten. Das war die Gelegenheit zu zeigen, was man sich im GZ-Unterricht angeeignet hat! Die Schulglocke unterbrach die tiefe Konzentration. Ob die Zeit fliegen kann? Die dritte Gruppe begutachtete wertschätzend die geleistete Arbeit. Man erinnerte sich an die gemeinsamen Museumsbesuche, bekannte Maler und ihre berühmten Werke. Da fiel auf, dass unsere kleinen Kunstwerke weder einen Namen noch eine richtige Beschriftung hatten. Sehr schnell trafen die SchülerInnen ihre Entscheidungen, und so entstanden klangvolle Titel wie: „Die Nachteule“, „Die Wüste lebt“ oder „Afterwork party bei den Ameisen“, die man schnell am Computer ausdruckte. „Es war leicht,“ meinte eine Schülerin. „Die Bilder sprachen zu uns!“ Nun waren die kleinen Kunstwerke transportbereit. Das übernahmen die LehrerInnen, und die SchülerInnen, aufgebaut durch erfolgreiche Zusammenarbeit und positive Rückmeldungen, widmeten sich neuen Lebensherausforderungen. SPZ 3, Petrusgasse 10 Svijetlana Simicevic, Muttersprachliche Lehrerin Corina Mayer, Sobln Die Wüste lebt, Bild 1, Sandpapier und Mischtechnik 37 I-JOURNAL Mai 2013 Afterwork-Party bei den Ameisen, Mischtechnik Die Schöpfung, Bild 1, Wasserfarbe und Bleistift Die Wüste lebt, Bild 2, Sandpapier und Mischtechnik 38 I-JOURNAL Mai 2013 Die gesunde Jause, Aquarell - Collage Die Schöpfung, Bild 2, Wasserfarbe und Bleistift Kommunikation, Drucktechnik 39 I-JOURNAL Mai 2013 Vielfalt der Arten, Wasserfarbe und Fineliner Blumenpracht, Crashtechnik Nachteule in der Großstadt, Mischtechnik Blumenvase, Collage und Pastellkreide 40 I-JOURNAL Mai 2013 Erfolgreicher Berufseinstieg von Michael Zobl Michi Zobl wurde am 2. Juli 1993 in Rumänien geboren und kam in ein Kinderheim. Maria und Adi kamen dorthin und fanden Michi, der in seinem Bett saß, Türme baute und umwarf, besonders reizend. Er streckte nicht, wie die anderen Kinder, den Besuchern die Arme entgegen, sondern spielte mit seinen Bausteinen. Nach einem langen Behördenweg war Michi am 4. Oktober 1994 endlich bei seinen Adoptiveltern in Wien. Durch die veränderte und abwechslungsreiche Umwelt merkten die Eltern bald, dass Michi anders war. Er weinte, tobte und hatte Angst. Nach diversen Untersuchungen erhielt Michi die Diagnose Autismus. Im Kindergarten hatte Michi Schwierigkeiten, wechselte ein paar Mal, bis er schließlich im Institut Keil landete. 1999 wurde Michi in die Volksschule eingeschrieben und als unbeschulbar eingestuft. Daher wurde er ein weiteres Jahr im Institut Keil betreut. Im Herbst 2000 begann seine Schullaufbahn in der Volksschule Diesterweggasse im 14. Bezirk, mit Philipp Wuscher als Lehrer und Irmi Güttner als Lehrerin. Michi war sehr aktiv und es dauerte einige Zeit bis er lernte, ruhig sitzen zu bleiben. Er rechnete im Liegen und sprang bei jeder Rechnung auf, um das Ergebnis mitzuteilen. Das Lernen an sich machte ihm keine Probleme, vielmehr fiel es ihm schwer das zu tun, was gerade verlangt wurde. In einer Klasse muss man warten, bis man an die Reihe kommt, das war für ihn schwierig. Wenn man in einer Gruppe arbeitet, muss man Kompromisse schließen. Wenn ich als Lehrerin über den Stephansdom erzählte, wollte ich nichts über Frühlingsblumen hören. Michi lernte nicht nur damit umzugehen, sondern auch konstruktiv in einer Gruppe mitzuarbeiten: Er stellte sich in der Reihe an ohne unbedingt Erster sein zu wollen – die Kinder hatten mit ihm vereinbart, dass er das nur an den D-Tagen, Dienstag und Donnerstag, sein durfte. Er schrieb einen Aufsatz genau dann, wann Deutschschularbeit am Programm stand und nicht dann, wann er es wollte. Zwischendruch bekam Michi immer wieder ein Timeout, er durfte kurze Zeit Musik hören, worüber er heute sehr lachen muss. Michi machte kaum Probleme, wenn wir LehrerInnen nicht da waren. Er lag auf dem Sofa in der Klasse und machte einfach nichts. Das aber ließen wir nicht durchgehen, er sollte arbeiten und sein Potential nutzen. Wir haben sehr viel von ihm gelernt, denn Michi hat alles hinterfragt und wir mit ihm. Seit damals bemühe ich mich umso mehr, den Kindern zu sagen, was wir in der nächsten Zeit machen, was das Ziel ist und wie lange dafür Zeit ist. Die Strukturen, von denen wir eigentlich dachten, dass nur Michi sie braucht, haben allen Kindern gut getan. Als ich Michi fragte, woran er sich erinnert, konnte er mir alle Namen seiner Mitschüler/innen aufzählen. Er kann sich an seine Pausen mit dem Kassettenrecorder erinnern, und dass wir auf einem Parkplatz ein Verkehrstraining gemacht haben. In der 4. Klasse Volksschule begann die Suche nach einer weiterführenden Schule. Michi war ein ausgezeichneter Schüler, doch in den umliegenden AHS gab es keine Integrationsklassen und auch keine Schule, die es mit Michi und einer Assistenz probieren wollte. In der privaten KMS Friesgase wurde eine 1. Integrationsklasse installiert, und Michi fand dort seinen Platz. Die beiden jungen Lehrerinnen waren sehr engagiert, aber durch das Zusammenspiel von mehreren Lehrerinnen/Lehrern war es nicht so leicht für Michi. Beispielsweise war er schon in der Volksschule kaum zu motivieren eine Zeichnung zu machen. Aber letztendlich malte Michi mit Wasserfarben, und es machte ihm Spaß. In der KMS gab es LehrerInnen, die das nicht so locker sehen konnten, und daher gab es viele Gespräche mit der Mutter und mir, da ich von da an die Rolle als Michis Mentorin übernommen hatte. 41 I-JOURNAL Mai 2013 In der Volksschule hatte Michi immer wieder verschiedene Interessen, wie Schlüssel, Schlösser, Werkzeug oder Waschmittel. Es zeichnete sich eine eindeutige Neigung zur Technik ab, und es wurde schwierig, ihn für andere Themen zu interessieren. Seine Mutter bereitete mit ihm detaillierte Referate vor, doch er zeigte kein Interesse. Michi erinnert sich außer an die LehrerInnen in der KMS auch an die Frau Direktor und den EDV – Saal. Seine Lieblingsgegenstände waren Physik und Chemie. So wurde ich bei jedem Treffen geprüft und schnitt gar nicht gut ab, weil ich die Formel für Zement nicht wusste /weiß. Im Rucksack führte Michi eine Autobatterie mit sich und einen CD – Player, damit er mir Musik vorspielen konnte. Schwierig war es für ihn auf seine Hygiene zu achten. Einen 12-jährigen Burschen badet man nicht mehr, und er wollte es nicht selbst tun. Das war eine harte Zeit für seine Mutter. Einerseits wurde sie für den Hygienezustand ihres Sohnes verantwortlich gemacht, andererseits stand sie vor der versperrten Badezimmertür – ein Kampf in alle Richtungen. Zu Beginn der 4. Klasse KMS begann die Überlegung – in welche weiterführende Schule sollte Michi nun gehen? So ein technisches Talent sollte nicht brachliegen. Angeboten wurde die HTL für Lederverarbeitung, aber das war für ihn undenkbar. So wandte sich Michis Mutter an die HTL Donaustadt. Michi sollte dort die Fachschule für Elektrotechnik besuchen. Er wurde nach Gesprächen mit Herrn Abteilungsleiter Kerbl aufgenommen und erhielt zehn Stunden Assistenz von Kristian Markovic. Im Integrationsjournal 2009 haben wir darüber geschrieben. Nach der 2. Klasse HTL machte er ein Praktikum bei der Firma Frühwald, was ihm nicht besonders gefiel, da er zu wenig Struktur hatte. Nach der 3. Klasse HTL durfte er ein Praktikum bei Siemens machen, bei dem ihm wieder Kristian beim Einstieg zur Seite stand - ein Neubeginn ist immer schwierig für Michi und seine Umwelt. Ab der 3. Klasse HTL war keine Assistenz mehr notwendig. Michi war einer der besten Schüler seiner Klasse. Er lernte in der Schule und probierte zu Hause viel aus. So stellte er Videos auf youtube, in denen er den Herd seiner Großmutter erklärt oder wie er mit seinem Scooter und einer Autobatterie Licht erzeugt. Sein Zimmer beleuchtete er mit Leuchtstoffröhren, mittlerweile mit LED – Lampen. Im Frühjahr 2012 beendete Michi die Fachschule für Elektrotechnik in der HTL Donaustadt mit Auszeichnung und er wurde bei einer schönen Feier geehrt. Schon vorher hatte die Suche nach einem Job begonnen. Herr Mag. Waldbauer von der Arbeitsassistenz Wuk war Michi behilflich, Bewerbungsschreiben zu formulieren. Er bewarb sich bei mehreren Firmen, erhielt aber nur Absagen. Auf Grund seines tollen Zeugnisses erhielt Michi ein Angebot aus Kärnten und eines aus der Schweiz, doch für den Schritt weg aus Wien ist er noch nicht bereit. Im Juli bekam Michi zunächst auch eine Absage von Siemens, nach einigen Telefonaten erhielt Michi noch eine Chance und wurde auf Herz und Nieren geprüft. So eine lange Wartezeit war nicht einfach für ihn und seine Mutter, Tage ohne Struktur sind schwierig. Am 2. Jänner 2013 war es soweit... sein erster Arbeitstag bei Siemens. Michi arbeitet nun in der Arbeitsvorbereitung. Er macht Zeitableitungen für verschiedene Geräte in U – Bahnen. Er arbeitet mit SAP, worauf er sehr stolz ist. Michi hofft bald im Änderungsmanagement tätig sein zu können. Ich verstehe nicht sehr viel von dieser Materie, aber es beeindruckt mich, dass er konkrete Ziele in diesem Bereich im Auge hat. Einer von Michis Arbeitskollegen ist sein Mentor, das Mentoring wurde von der Arbeitsassistenz angeregt und Herr Mag. Waldbauer hat den Antrag an den FSW (Fond Soziales Wien) verfasst. Die Prüfung, ob der Antrag auf Arbeitsassistenz genehmigt wird oder nicht, übernimmt dann im Auftrag des FSW das Projekt Integrationsfachdienst Jobwärts von JAW (Jugend am Werk). Michi beginnt um 6 Uhr 30 zu arbeiten und fährt mit der U-Bahn oder mit dem Fahrrad zur Arbeit, wobei er sich mit drei Dynamos sein Handy und sein Tablet auflädt. 42 I-JOURNAL Mai 2013 Er hat nette Mitarbeiter, ca. 10 bis 15 Personen. Mit einer Gruppe von ihnen geht er zu Mittag in die Kantine, wo Michi das Essen gut schmeckt. In Begleitung darf er in die Montagehalle, wo die Theorie in die Praxis umgesetzt wird. Es gefällt Michi bei Siemens so gut, dass er bis zur Pension dort bleiben möchte. Seine Probezeit beträgt sechs Monate, wenn er die übersteht, dann steht einer Pensionierung bei der Firma Siemens in 45 bis 50 Jahren nichts mehr im Wege. Im Sommer 2012 hat Michi mit dem Führerschein begonnen. Die theoretische Prüfung hat er bereits geschafft, vor dem praktischen Teil stehen noch einige Untersuchungen beim Amtsarzt an. Ich bat auch Michis Mutter um einen kurzen Rückblick auf die Schulzeit. Sie meinte, es war ein mühsamer Kampf an drei Fronten: Erstens mit Michi, weil es oft schwer war, ihn zu motivieren und mit ihm zu üben. Zweitens mit der Gesellschaft, den Lehrerinnen/Lehrern in der Schule, den Leuten in den Geschäften, wenn Michi etwas unbedingt wollte und tobte, den Leuten in der U-Bahn, die sich mokierten, wenn Michi die Stationen aufsagte, den Nachbarinnen/ Nachbarn, wenn Michi zu laut war, usw. Drittens mit sich selbst, ob es auch das Richtige ist, was sie macht. Michi hat einen tollen Weg gemacht. Noch möchte er bei seiner Mutter wohnen bleiben, aber bald wird er bestimmt auch in diesem Bereich selbständig werden. Ich freue mich, dass ich seinen Weg begleiten durfte und ich habe viel von ihm gelernt, als Mensch allgemein und in meiner beruflichen Funktion als Lehrerin. Alles Gute, Michi! Irmi Güttner Lehrerin an der GTVS Diesterweggasse Mentorin Interview mit Michael Zobl am 27. März 2013 43 I-JOURNAL Mai 2013 Die einzige Konstante im Universum ist die Veränderung Heraklit Aus dem Leben einer Sonderschullehrerin Wie facettenreich der Beruf einer Lehrerin sein kann, ist den meisten Menschen nicht bewusst. Es spielt natürlich die Persönlichkeit der Lehrperson eine große Rolle, wie sie ihren Beruf auffasst, wie ihre Haltung gegenüber den Schüler/innen und vor allem gegenüber den Veränderungen ist, die sich auf den unterschiedlichen Ebenen im Lauf eines Lehrer/innenlebens ergeben. Was ändert sich nicht alles in 10, 20, 30 und mehr Jahren: Betreffend Gesellschaftspolitik, Umwelt, Arbeitswelt, ökonomische Gegebenheiten, Massenkommunikationsmitteln, usf. Lehrer/innen sind aufgefordert, auf alle Veränderungen adäquat zu reagieren. Das kann frustrieren und müde machen. Es kann aber auch lebendig und fit halten. Gerade der Lehrer/ innenberuf ist weit davon entfernt, ein gleichförmiger Beruf zu sein. Es hängt aber –wie immer- von den einzelnen Persönlichkeiten ab, was man aus den verschiedenen Gegebenheiten macht, wie man auf unterschiedliche Anforderungen und Veränderungen reagiert. Dass das nicht leicht ist, liegt auf der Hand, dass es Phasen gibt, die belastend und mühsam sind, gehört wohl dazu, aber mit der entsprechenden Einstellung kann der Beruf ein über lange Arbeitsjahre erfüllender und spannender sein. Im vorliegenden Beitrag wird die berufliche Laufbahn einer Sonderschullehrerin über mehr als 30 Jahre hinweg skizziert, um zu zeigen, wie vielfältig der Beruf sein kann, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten für Veränderungen es gibt und wie man mit der entsprechenden Einstellung dazu auch nach so vielen Jahren immer noch gerne Lehrerin sein kann. Die kursiv gedruckten Textstellen stammen aus dem Interview mit der Kollegin. Der Entschluss, Lehrerin zu werden hatte mehrere Gründe: Die Beeinflussung von zu Hause, die Vielseitigkeit des Berufs, die Arbeit mit Kindern und die Möglichkeit der kreativen, praktischen Umsetzung, mit dem Bewusstsein, dass „Theorie“ nicht der Schwerpunkt des Berufs sein würde. 1981 Abschluss der Ausbildung an der Pädagogischen Akademie in Vorarlberg. Die Ausbildung an der Päd. Ak. vermittelte die Basis für die Arbeit als Lehrerin, selbst gewählter Fokus lag auf der Arbeit mit schwerstbehinderten Kindern (SSO); ist auch jetzt Schwerpunkt. Die Ausbildungszeit habe ich (rückblickend) als mehr oder weniger gute Basis für die Arbeit erlebt. Ich war sehr zielgerichtet, auch mit dem Focus, möglichst bald „auf eigenen Beinen“ stehen zu wollen (zu müssen). Im Rahmen der Ausbildung zur Sonderschullehrerin konnte der Schwerpunkt „schwerstbehinderte Kinder“ gewählt werden – das entsprach meinen Vorstellungen und hier liegt auch heute noch der Schwerpunkt in meiner Arbeit mit Kindern und jetzt Jugendlichen. Die Zusammenarbeit mit Studienkolleginnen und -kollegen während der Ausbildung war intensiv und wurde von mir als sehr positiv erlebt (Arbeitsgruppen, Seminare, diverse Schwerpunkte). 44 I-JOURNAL Mai 2013 1981-1985 Einsatz in einer SSO Klasse an einer Sonderschule (2 SSO-Klassen plus mehrere ASO-Klassen) in Vorarlberg. Parallel Ausbildung in rhythmisch-musikalischer Früherziehung am Konservatorium. Einerseits stand sehr bald vor allem die autonome Arbeit mit den Kindern in der eigenen S- Klasse (SchülerInnenanzahl damals zehn) im Vordergrund. Andererseits wurde der intensive fachliche und menschliche Austausch mit den anderen Kolleginnen/Kollegen an der Schule von mir sehr geschätzt und als außerordentlich hilfreich erlebt. Es war ein guter Grundstein für die praktische Umsetzung des Erlernten während der Ausbildung. Die Erfahrungen an dieser Schule möchte ich nicht missen und viele andere schwierige Situationen mit Kindern haben sich später im Rückblick auf diese Schuljahre relativiert. 1985-1986 Übersiedlung nach Wien, Studium an der Universität. Zu Beginn habe ich etliche Jahre im 18. Bezirk gewohnt und anschließend durchgehend im 9. Bezirk. Meine Tätigkeiten als Pädagogin waren im 22., 19., 18., 8., 17., und 2. Bezirk. So habe ich Wien nicht nur geografisch gut kennengelernt und die Erfahrung gemacht, dass (schon damals) alles gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen war (im Gegensatz zu Vorarlberg), sondern auch erkannt, dass es, schon damals, große regionale Unterschiede gab. 1986-1987 Ein Jahr Tätigkeit an einer privaten Sonderschule für schwerstbehinderte Kinder in Wien. Bei der Jobsuche in Wien hat sich herausgestellt, dass dies nicht so einfach war und das Angebot eines „Einjahresvertrags“ an einer privaten Sonderschule hat sich als gute und einmalige Chance ergeben. Es war ein guter Einstieg für mich. Trotzdem war der Wunsch da, in das öffentliche Schulsystem zu wechseln und diesen Wunsch verfolgte ich auch zielgerichtet und es gelang. 1987-1988 Ein halbes Jahr in der Supplierreserve für Sonderpädagoginnen/-pädagogen tätig und ein halbes Jahr als „MDL-Lehrerin“ an einer Sonderschule. Mein Jahr in der Supplierreserve könnte man in der Summe als „spannend“ und „lehrreich“ zusammenfassen. Der Einsatz erfolgte ausschließlich an Sonderschulen (es gab in diesem Schuljahr erst 4 I-Klassen in Wien)und es war für mich eine große Herausforderung in jeder Hinsicht. Da ich keinerlei Erfahrungen an der ASO (Allgemeinen Sonderschule) hatte, war für mich die erste Hürde die intensive Auseinandersetzung mit dem Lehrplan der ASO (ich war in 1. – 8. Klassen tätig). Es war wirklich der „Sprung ins kalte Wasser“. Um ehrlich zu sein: Ich war teilweise überfordert und stieß immer wieder an Grenzen. Einmal mit mehr und das andere Mal mit weniger Hilfe (sei es von Direktorinnen/Direktoren oder Kolleginnen/Kollegen) konnte ich Situationen gut oder weniger gut meistern. Einfach war das nicht. Ich brauchte entsprechende Nervenstärke, um den Unterricht (Klassenschülerzahl lag damals bei durchschnittlich sechzehn bis achtzehn SchülerInnen) vor allem disziplinär, aber auch methodisch didaktisch gut zu bewältigen. 45 I-JOURNAL Mai 2013 In dieser Zeit hatte ich erste Kontakte zu einem „ambulantem System“ – nämlich das der SprachheillehrerInnen. Es war damals das zweite ambulante System neben jenem der BeratungslehrerInnen und Psychagogischen BetreuerInnen. Diese Kolleginnen/Kollegen waren allerdings ausschließlich im Volksschulbereich tätig. Das 2. Halbjahr in diesem Schuljahr als MDL-Lehrerin (LehrerInnen, die nur einige Stunden in unterschiedlichen Klassen an Sonderschulen unterrichten) erlebte ich schon eher „gefestigt“ (so schnell konnte mich nichts mehr aus der Ruhe bringen) und ich konnte mich wieder intensiver mit Kolleginnen/Kollegen austauschen. 1988-1992 Arbeit als Sonderpädagogin in einer der ersten Volksschulintegrationsklassen in Wien (zu diesem Zeitpunkt gab es 12 Integrationsklassen). Ich wurde gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, in einer I-Klasse zu arbeiten. Die ersten Teamerfahrungen zeigten, dass die Welten einer „straighten“ Volksschullehrerin mit der Welt einer „bedächtigen“ Sonderschullehrerin (das war ich, mit einer gewissen Entspanntheit, Ruhe und Geduld ausgestattet) aufeinanderprallten. Wir starteten mit vielen Diskussionen und „Holprigkeiten“, hatten aber das Glück, eine Volksschuldirektorin zu haben, die, meiner Meinung nach, in Ihrem Führungsstil eine gute Mischung aus Empathie und Mut zur Entscheidung hatte. Trotzdem brauchte es zwei Jahre an intensiven Bemühungen unsererseits, bis endlich jeder sein „Terrain“ abgesteckt hatte und wir letztendlich recht harmonisch und zielgerichtet gemeinsam arbeiten konnten. Ein anderer „Belastungsfaktor“ trat für uns Beide in den Vordergrund: Neidverhalten der anderen Kolleginnen/Kollegen. „Die sind zu zweit… das ist ja einfach“, war eine der vielen Aussagen. Dass zwei Kinder mit SSO Lehrplan und zwei Kinder mit ASO-Lehrplan nicht so „nebenbei mitlaufen“, sondern es anderer Organisationsformen bedarf (neben dem Frontalunterricht), mussten wir erst kommunizieren. Unsere Besprechungsstunden waren etwas Außergewöhnliches und die Überlegungen zur Differenzierung waren erklärungsbedürftig. Damals gab es für die Kolleginnen/Kollegen, die in einer I-Klasse unterrichteten, Wien weit regelmäßige Treffen, an denen wir selbstverständlich immer teilnahmen, und auch Fortbildungsveranstaltungen waren zu besuchen und so gut wie „obligatorisch“. Diese Seite der Medaille sahen die anderen Kolleginnen/Kollegen weniger. 1992-1996 Arbeit als Sonderpädagogin in einem anderen Bezirk an einer KMS – Integrationsklasse Gegen Ende meiner vierjährigen Tätigkeit in dieser I-Klasse überlegte ich mir einerseits, dass ich gern auch wieder mit älteren Kindern arbeiten würde und andererseits sich durch einen Wechsel auch möglicherweise mein Fahrweg (über eine Stunde von zu Hause in die Schule mit Straßenbahn, zwei verschiedene U-Bahnen und ein Bus) verkürzen könnte. Ich meldete mich bei der Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrats für Wien, da meine zuständige SPZ-Leiterin diesbezüglich keine Möglichkeit sah. Es wurde mir die Möglichkeit geboten, in eine 1.HS-Integrationsklasse einzusteigen und mein Fahrweg verkürzte sich dadurch wesentlich. Einerseits hatte man mich für diese Arbeit ausgesucht, weil ich Erfahrung mit SSO Kindern hatte (es gab drei davon in dieser Klasse) und andererseits, weil ich schon Erfahrung in einer I-Klasse hatte und es an dieser Schule diesbezüglich noch keinerlei Erfahrungen gab. Es war die allererste I-Klasse an dieser Hauptschule. Die Herausforderungen waren vielfältig: ein großes Team, wobei die Kolleginnen/ Kollegen der Hauptschule bemüht waren, aber doch eher den Unterricht „im herkömmlichen Sinn“ gestalteten. Die Unterrichtsstile waren sehr unterschiedlich und die Kolleginnen/Kollegen waren es auch nicht gewohnt, mit einer zweiten Pädagogin ständig zusammenzuarbeiten (Teamarbeit). 46 I-JOURNAL Mai 2013 Dafür hatten wir ein unglaublich gutes räumliches Angebot: Zwei große Klassenräume mit einem Durchgang. Es bedurfte natürlich einiger Erfahrungen, Besprechungen und Überlegungen, dass der zweite Raum nicht ausschließlich für die Kinder mit „I-Status“ zur Verfügung stehen muss, sondern dieses räumliche Angebot allen Kindern zu Gute kommen soll. In diesen Jahren habe ich viel von einer Kollegin, die Bildnerische Erziehung unterrichtete, gelernt, hatte mit ihr einen intensiven Erfahrungsaustausch und bekam viele Anregungen für neue Inhalte. Eine tolle Bereicherung. Als Ausgleich zu all diesen neuen Herausforderungen begann ich, Tai Chi Kurse zu besuchen und startete mit einer Gesangsausbildung. 1996-1997 Die Kollegin nimmt ein unbezahltes Jahr Karenz. Am Ender der vier Jahre in der Hauptschule habe ich gemerkt, dass meine Energiereserven doch sehr aufgebraucht waren und entschied mich für ein Jahr Karenz. Ich verbrachte einen Teil in Italien und vertiefte meine Italienischkenntnisse. Dass ich nebenbei auch einen Kochkurs machte, ergab sich durch einen Zufall und ich habe das sehr genossen, in jeder Hinsicht. Nach dieser Auszeit und dem völligen Tapetenwechsel hatte ich genug Kraftreserven und war wieder offen für alles. Mir war klar, dass mein Karenz Jahr eine neue Schule bedeuten würde, da keiner das Recht auf dieselbe Schule gepachtet hat. 1997-2001 Der Wiedereinstieg erfolgte in der Supplierreserve und nach zwei Monaten Einstieg in eine 1. I-Klasse KMS (Sonderschullehrerin war dort ausgefallen) Die Suppliertätigkeit am Beginn hat mir wieder vor Augen geführt, wie unterschiedlich die Schullandschaft in Wien sein kann. Nach zwei Monaten wurde ich einer KMS zugeteilt, wo bald klar war, dass sich dieser Einsatz auf die nächsten dreieinhalb Jahre beziehen würde. Die Integrationskinder waren eine bunte Gruppe und ich wurde mit einer, für mich neuen Art der Beeinträchtigung konfrontiert. Ein Schüler mit schwerer Körperbehinderung (Rollstuhl, Spastiker, sprachlich kaum verständlich, Hauptschullehrplan), zwei SchülerInnen mit Lehrplan SSO, ein Schüler mit Lehrplan ASO und eine Schülerin mit teilweise ASO-Lehrplan. Es waren meine ersten Erfahrungen mit Körperbehinderung und ich lernte viel von der Kollegin vom mobilen Motorik Team. Durch die besondere Konstellation (der Schüler mit Körperbehinderung benötigte permanente Unterstützung im Alltag (WC-Begleitung, Arbeitsmaterialien herrichten, Arbeit mit Computer über Spezialtastatur…) wurde dieser Klasse auch ein Zivildiener zugeteilt. Eine weitere neue Form der Kooperation im Unterricht. Zu Beginn war die Teamkonstellation eine sehr schwierige und es waren daher viele Orientierungsgespräche in den unterschiedlichsten Konstellationen notwendig. Abgesehen von Gesprächen innerhalb der LehrerInnengruppe, zwischen dem Zivildiener und der Kollegin vom Mobilen Motorik Team, gab es auch Gesprächsrunden mit dem Direktor und der SPZ-Leiterin, unter Einbeziehung einer Vertreterin der Integrationsberatungsstelle. Was die Arbeit nicht einfacher machte war, dass es keine Form von Besprechungsstunden gab, das wurde seitens der HauptschullehrerInnen bzw. der Direktion als nicht notwendig erachtet. Da es damals keinerlei Verbindlichkeiten diesbezüglich gab, konnten sie von mir auch nicht eingefordert werden. Das machte die Arbeit nicht einfacher. 47 I-JOURNAL Mai 2013 Während dieser Zeit war für mich „Coaching“ ein aktuelles Thema und ich ließ mich nach einigen Überlegungen gerne darauf ein. Die Finanzierung erfolgte privat, und es war in vielerlei Hinsicht für mich sehr hilfreich und unterstützend. Bereichernd war der Musikschwerpunkt an der Schule, der mir sehr entgegenkam. 2001-2004 Wiedereinstieg in die Volksschulintegration. Allerdings in eine 2. Klasse, da die Sonderschullehrerin in Karenzurlaub gegangen war. Da in der Hauptschule keine Integrationsklasse mehr etabliert wurde, war für mich wieder, nach dreieinhalb Jahren, eine Neuorientierung notwendig. Durch Zufall wurde ich wieder einer Volksschule zugewiesen. Dort war eine Sonderschullehrerin ausgefallen und ich stieg in eine 2. I-Klasse ein. Die Zusammenarbeit mit der Volksschullehrerin hat von Beginn an einfach gepasst, und es war eine tolle Zusammenarbeit. Ich habe viel gelernt über „offenen Unterricht“ und unsere regelmäßigen (beinahe täglichen) Besprechungen waren für uns beide selbstverständlich und haben die Arbeit unglaublich erleichtert. Erstmals lernte ich auch die alternative Leistungsbeurteilung für Volksschüler/innen kennen – wieder eine neue Erfahrung. Es war eine stimmige, ausgewogene, gleichberechtigte Zusammenarbeit. Regelmäßige Supervision war für uns beide sehr unterstützend. Bei einem Kind war es notwendig, tägliche Rückmeldungen ins Mitteilungsheft zu schreiben, nur so klappte die Kooperation Schule-Kind-Eltern. Ich habe das gerne übernommen, und in der 4. Klasse war es dann möglich, diese „Unterstützungsform“ wegzulassen. Bei der Verabschiedung hat das Kind zu mir gesagt: „M., du hast mich gerettet. Ich hätte dir ja auch scheißegal sein können!“ 2004-2006 Einstieg in eine 3. Integrationsklasse (ebenfalls Karenzvertretung), die an einem Sonderpädagogischem Zentrum als Expositur- klasse einer Volksschule geführt wurde. Da nach Auslaufen dieser Klasse am Standort keine I-Klasse eingerichtet wurde, schlug mir die SPZ-Leiterin vor, an ihrem Standort in eine 3. I-Klasse (die Sonderschullehrerin war zu ersetzen) einzusteigen. Wieder ein Wechsel, aber immerhin dieselbe Leiterin des Sonderpädagogischen Zentrums. Also wusste ich nun auch, dass es Integrationsklassen am SPZ als Expositur Klassen einer Volksschule gab und auf Grund der Örtlichkeit des SPZs war der neue Schwerpunkt auch „Migration“. Wieder eine neue Herausforderung, die mit der neuen Teampartnerin gut zu bewältigen war. Unsere Schwerpunkte legten wir auf Gesundheit und Selbstbestimmung. 2006-2009 Arbeit in einer Familienklasse an einem Sonderpädagogischen Zentrum (Erfahrung mit einem sehr schwierigen Autisten). Am Ende der 4. Klasse wurde ich von der SPZ Leiterin gefragt, ob ich nicht eine Familienklasse am SPZ übernehmen würde. Wieder Neuland, aber ich erkannte, dass Veränderungen offensichtlich für mich auch gut und wichtig waren. In dieser Klasse sammelte ich intensive Erfahrungen mit einem wirklich sehr herausfordernden jungen Mann mit Autismus Spektrum Störung. Somit lag mein eindeutiger Schwerpunkt in der Fortbildung beim 48 I-JOURNAL Mai 2013 Thema „Autismus“. Sowohl die tägliche Arbeit mit dem Schüler mit ASS als auch die Inhalte der Fortbildungen helfen mir bis jetzt in der täglichen Arbeit mit allen Schülerinnen/Schülern. Meine Kollegin und ich legten besonders viel Wert auf einen gut differenzierten und kreativen Unterricht. Ich konnte viele neue Unterrichtsmaterialien und Möglichkeiten der Leistungsdokumentation kennenlernen. Auch hier war es für uns beide selbstverständlich, den Unterricht gemeinsam zu planen und zu reflektieren. 2009-2010 Die Kollegin nimmt wieder ein unbezahltes Jahr Karenz. Ich hatte wieder den Wunsch, ein Jahr für mich persönlich etwas zu tun. Familie, Reisen und Gesang waren die Schwerpunkte. Außerdem begann ich mit einer Chi Kung-Ausbildung, das ist für mich noch immer aktuell und ein wichtiger Bestandteil meines Lebens. 2010-2013 Arbeit als Sonderpädagogin bei Jobfit – SPZ Holzhausergasse. Beim Wiedereinstieg nahm ich rechtzeitig mit der Integrationsberatungsstelle Kontakt auf und ließ mich „beraten“ – ich wusste so gar nicht, was ich wollte. Der Vorschlag war Jobfit. Da gab es noch etwas, was ich nicht kannte? Es wurde mir die Gelegenheit gegeben, mir das Vorort anzuschauen und dann fiel die Entscheidung, wenn auch von Unsicherheit und Spannung begleitet. Dass mich das erste Jahr vor so große Herausforderungen stellen würde, hatte ich mir nicht gedacht. Nach einem Jahr hatte ich mich eingearbeitet und begann mich sicher und wohl zu fühlen. Es war eine völlige Neuorientierung notwendig. Die Arbeit mit den Jugendlichen gefiel mir von Anfang an, dafür erwartete mich ein völlig neues System. Neue Inhalte und wöchentliche, mehrstündige Teamsitzungen (dreizehn Kolleginnen/Kollegen) und ganz intensive Elternarbeit – das war auch für mich Neuland. Ich hatte erstmals Kontakt zu Jugendcoaching und Arbeitsassistenz und musste Firmenkontakte knüpfen. Die Schule hat den Schwerpunkt „European Arts Education“. Mein Resümee nach beinahe drei Schuljahren: Gut, dass ich mich zu diesem Schritt entschlossen habe. Der kreative Schwerpunkt der Schule kommt mir sehr entgegen. Ich finde mich eher in der Rolle der Mentorin als in der Rolle der Lehrerin – das ist spannend und entspricht mir. Die Altersgruppe der 15- bis 18-Jährigen passt sehr gut für mich. Persönliches Schlusswort der Kollegin: Rückblickend kann ich sagen, dass die Arbeit an so vielen Schulen mit den verschiedensten Schwerpunkten, Altersstufen und Lehrplänen eine große Herausforderung war, die mich in meiner beruflichen und persönlichen Entwicklung sehr bereichert hat. Sich immer wieder auf neue Menschen und Arbeitsbedingungen einzulassen erforderte viel Flexibilität und Offenheit und war gleichzeitig für mich die beste Weiterbildung. Vorwort: Mag. Judith Stender Interview und Zusammenfassung: Brigitte Mörwald Die Bilder haben Kinder aus der Familienklasse im SPZ 17, Leopold Ernst Gasse 37 im Rahmen eines Van Gogh Projektes gemalt 49 I-JOURNAL Mai 2013 Migrationshintergrund und Berufswahl – sind das Themen in einer 4. Volksschulintegrationsklasse? Im September übernehme ich als Sonderschullehrerin eine 4. Klasse Integrationsklasse in der VS Gaullachergasse. Die kleine Schule im Herzen Ottakrings ist mir gleich sympathisch, ein bunt gemischtes LehrerInnenkollegium nimmt neue Kolleginnen/Kollegen freundlich auf. Das frisch renovierte, aber über hundert Jahre alte Schulhaus wirkt angenehm auf mich, ruhig und betriebsam zugleich, man merkt, hier sind schon viele, viele SchülerInnen einund ausgegangen. Die Idee der Integrationsklasse ist hier fest verankert. Es gibt in jedem Jahrgang eine Integrationsklasse und das schon mehrere Durchgänge (1. bis 4. Klasse) hindurch. Dies und viele andere kleine Details wirken positiv auf mich. Aber am allerglücklichsten bin als ich meine Teamkollegin kennenlerne und am ersten Schultag allen meinen, neuen SchülerInnen die Hand schüttle. „Eine ganz liebe Klasse“ ist mein erster, wunderbarer Eindruck. Nach und nach lerne ich die SchülerInnen und natürlich insbesondere die IntegrationsschülerInnen besser kennen. Alle haben Migrationshintergrund und neben Deutsch eine weitere Sprache in ihrer Lebenswelt. Manche kommen aus Familien mit vielen Geschwistern und/ oder haben Eltern, die sehr viel arbeiten und wenig zuhause sind. Manche Eltern scheinen ehrgeizig zu sein und haben große Pläne für ihre Kinder, andere treten kaum in Erscheinung oder scheinen wenig Interesse zu haben. Schnell lerne ich, ein Kind, eine Familie individuell zu betrachten und zu verstehen. Es ist eine 4. Klasse, die unheimlich vielfältig und bunt ist. Und doch verbinden die SchülerInnen einfache Tatsachen: Sie wohnen alle in Wien, sie sprechen alle mehr oder weniger gut Deutsch, zwei der Integrationsschülerinnen erst in 1- oder 2-Wort Sätzen, es ist ihr letztes gemeinsames Jahr an dieser Schule und alle müssen gemeinsam mit ihren Eltern eine passende, weiterführende Schule suchen. Wir folgen Einladungen von Mittelschulen mit bestimmten Schwerpunkten. Erstmals setzen wir uns mit verschiedenen Berufen auseinander und für manche unserer SchülerInnen ist es ein „Aha“-Erlebnis, dass verschiedene Berufe unterschiedliche Ausbildungen erfordern und Erwachsene unterschiedlichste Werdegänge haben. Nachdem wir einen kurzen Artikel, der das Projekt Xchange vorstellt, im Kleinen Volk gelesen haben, beschließen meine Kollegin und ich, auch mit unserer Klasse an diesem Projekt teilzunehmen. Es ist uns ein Anliegen die Thematik des Migrationshintergrundes, den alle unsere SchülerInnen in 1., 2., oder auch 3. Generation haben, aufzugreifen. Das Projekt Xchange scheint dieses Anliegen mit der Thematik „Berufswahl, Ausbildung, beruflicher Erfolg“ zu vereinen. So lautet die Kurzbeschreibung auf der Website von Projekt Xchange: „Persönlichkeiten mit Migrationshintergrund tauschen mit SchülerInnen ihre persönlichen Erfahrungen aus. Mehr als 150 Persönlichkeiten aus Kultur, Wirtschaft, Gesellschaft, Sport, Wissenschaft, Medien und Unterhaltung berichten in Österreichs Schulen über ihren Background, ihre Migration und Integration, ihre persönlichen Konflikte und Lösungen – als BotschafterInnen der Integration.“ 50 I-JOURNAL Mai 2013 Wir laden Herrn Ibrahim Beyazit ein, als solch ein Botschafter in unsere Klasse zu kommen. Er kam als 9-Jähriger aus der Türkei nach Österreich, besuchte dann Volksschule, Sonderschule und Polytechnischen Lehrgang. Danach machte er eine Schlosserlehre. Heute hat er seine eigene Firma und ist in der Wirtschaftskammer aktiv. Sein Werdegang klingt sehr interessant und ich finde es äußerst passend, über diesen in unserer Integrationsklasse zu sprechen. Das Projekt sieht vor, dem Botschafter ein „Gastgeschenk“ zu überreichen. Meine Kollegin und ich überlegen, welches Geschenk wir für Herrn Beyazit vorbereiten sollen. Herrn Beyazits Beruf Schlosser bringt uns zurück zu der Sage „Stock im Eisen“, die wir zu Beginn des Schuljahres kurz mit der Klasse besprochen haben. Es ist eine lange, komplizierte Sage, die viele Teilabschnitte und handelnde Personen hat. In unserer Klasse gibt es einige SchülerInnen, die mit dieser sprachlich anspruchsvollen Sage eigentlich überfordert waren. Dennoch war es für die Kinder spannend, eine echte Wiener Sage zu hören, zu der es gleich neben dem Stephansplatz den Stock im Eisen Platz gibt. Dort steht ein mit Nägeln zugepflasterten Baumstamm umgeben von einem breiten Band mit großem Schloss. Wir beschließen es zu wagen und diese Sage für uns und auch Herrn Beyazit aufzubereiten. Wir lesen und erzählen die Sage. Die meisten SchülerInnen stellen rasch einen Bezug her zu dem Lehrbuben Martin Mux, der lieber mit anderen Kindern spielen will, als für seinen Meister Lehm zu holen. Die Abschnitte, in denen der Teufel vorkommt, finden die Kinder schaurig, spannend, cool. Wir teilen die Sage in Sinneinheiten, kurze Abschnitte und bitten immer drei SchülerInnen diesen Teil der Sage zu illustrieren. Ich bespreche noch einmal den Abschnitt mit jedem Integrationskind und alle können ihre Zeichnung fertigstellen, manche können die Sage oder Teile der Sage nacherzählen. Meine Kollegin und ich bemerken, wie unsere SchülerInnen diese umfangreiche Wiener Sage durch die eigenen Zeichnungen, wiederholtes Nacherzählen und Vorlesen für sich erobern. Wir besuchen den Stock im Eisen Platz, besprechen noch einmal, machen Fotos. Der Tag des Besuchs rückt näher und die SchülerInnen bereiten Fragen vor, die sie Herrn Beyazit stellen wollen. Es sind viele interessante Fragen dabei. Wir beschäftigen uns auch mit unserer eigenen Herkunft und Familie. Mit Hilfe von Post-it Zettelchen stellen wir Balkendiagramme her, die verdeutlichen welche Kinder unserer Klasse in Wien geboren wurden, welche in einem anderen Land geboren wurden, welche Sprachen gesprochen werden. Ebenso ein Diagramm wieviele Eltern in Wien bzw. woanders geboren wurden. Mitte Jänner ist es dann endlich soweit! Herr Beyazit und Frau Lendl vom ÖJRK verbringen zwei Stunden in unserer Klasse. Die illustrierte Sage wird in einem langen Streifen ausgerollt und mehrere SchülerInnen erzählen abwechselnd die Stock im Eisen Sage. Herr Beyazit ist beeindruckt und gibt zu, dass er diese Wiener Sage nicht so detailliert kannte. Allerdings berichtet er sofort, dass er nach seiner Meisterprüfung auch einen Nagel in den Baumstamm im 8. Bezirk bei der Innung der Schlosser und Metallverarbeiter eingeschlagen hat. In der Vorstellrunde sind viele SchülerInnen noch zurückhaltend, aber bald ist der Bann gebrochen und die SchülerInnen stellen ihre vorbereiteten und auch viele andere Fragen. „Warum waren Sie in der Sonderschule?“ „Ich war in der Sonderschule, weil ich nicht so gut Deutsch konnte und nicht mitgekommen bin.“ 51 I-JOURNAL Mai 2013 Eine Aussage, die mich und auch viele SchülerInnen berührt. Einige wundern sich sehr, andere bringen zum Ausdruck, dass das unfair ist und heute nicht mehr möglich ist. Ich bin kurzfristig entsetzt über eine solche Tatsache und dann erleichtert, dass diese Zeiten vorbei sind. Herr Beyazit sagt mehrmals, dass er großes Glück hatte und nicht nur einmal zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war oder von verständnisvollen Menschen für ihn passende Empfehlungen oder Ratschläge bekommen hat. Am eindringlichsten versucht er aber unseren Schülerinnen/Schülern zu vermitteln, dass es wichtig ist, seinen Beruf mit Freude auszuüben. „Egal was ihr später einmal machen werdet, es soll euch Spaß machen. Du machst es nur gut, wenn du es gerne machst.“ Ja, ich stimme ihm zu und schon beginne ich über einzelne SchülerInnen nachzudenken, wo genau ihre Stärken liegen und was ihnen besonders Spaß macht. Zu schade, dass für diese Dinge in unserem Schulalltag oft zu wenig Zeit bleibt. Er schließt aber auch gleich an, dass er viel und hart gearbeitet hat, um dahin zu kommen, wo er jetzt als erfolgreicher Unternehmer ist. „Ihr müsst lernen und gute Noten haben. Ihr habt sonst keine Chance.“ Innerlich stimme ich wieder zu, bin aber auch gleichzeitig betrübt, dass viele unserer SchülerInnen – gleichgültig ob Volks- oder Integrationsschüler – es so schwer haben und bereits jetzt als 9- und 10-Jährige viele, viele Frustrationen in Zusammenhang mit Schule und Lernen erlebt haben. Besonders von einem Standort wie unserem scheint es im Moment schwierig zu sein, den beruflichen Erfolg zu schaffen – es überhaupt „nach oben zu schaffen“. Ich hoffe, dass sich das sehr bald ändert und möchte mich für eine bessere Durchmischung der SchülerInnen einsetzen. Eine Schülerin fragt: „Wie haben Sie Deutsch gelernt?“ „Ich habe mit allen geredet, nicht nur mit meinen türkischen Freunden. Ich wollte überall dabei sein.“ „Aber türkisch...?“ „Ja, ich spreche natürlich auch türkisch. Mit meinen Eltern, meinen Freunden, manchmal mit anderen Geschäftsleuten. Aber, wenn nur eine Person dabei ist, die nicht türkisch spricht, dann spreche ich deutsch. Diese Person versteht doch sonst nichts, das ist doch unhöflich, oder?“ Manche SchülerInnen nicken, stimmen zu, anderen kann ich ansehen, dass sie noch über das Gehörte nachdenken, ihre Meinung innerlich dazu formulieren. „Fahren Sie in die Türkei?“ „Ja natürlich. Ich fahre immer wieder mal in die Türkei. Ich besuche Familienmitglieder oder mache Urlaub. Manchmal fliege ich beruflich hinunter. Ich bin sehr gerne dort. Ich reise überhaupt sehr viel und habe schon viele Länder besucht. Aber nach spätestens zwei Wochen möchte ich wieder nach Wien. Ich vermisse Wien dann. Hier bin ich zuhause, hier fühle ich mich am wohlsten.“ Nach dieser Aussage fühle ich mich plötzlich stolz, warum wohl? Ich blicke in die Runde unserer SchülerInnen und sehe bei einigen wieder Zustimmung, bei anderen, dass sie sich noch nie darüber Gedanken gemacht haben, wo sie sich zuhause fühlen, wieder bei anderen, dass sie sich in dem Herkunftsland ihrer Eltern am wohlsten fühlten. So viele Denkanstöße und Aussagen, die von jemanden ausgesprochen werden, zu dem viele unserer SchülerInnen schnell einen Bezug herstellen konnten. Unheimlich wertvoll und bereichernd, finden meine Kollegin und ich. Vieles, was Herr Beyazit in den zwei Stunden gesagt hat, hat viel mehr Bedeutung als, wenn meine Kollegin oder ich es gesagt hätten. Somit stelle ich abschließend fest, dass der Besuch des Botschafters der Integration im Rahmen von Projekt Xchange sehr erfolgreich war und unsere Erwartungen erfüllt hat. Dieses Projekt ermöglichte den Schülern und auch uns Tatsachen und Gefühle anzusprechen, die zwar Realität in unserem Schulalltag sind, aber selten mit dieser Deutlichkeit ausgesprochen werden. www.projektxchange.at Veronika Votava Sonderschullehrerin in einer 4. Klasse Integrationsklasse in der VS Gaullachergasse 52 I-JOURNAL Mai 2013 Wie das I-Journal zu seinem neuen Namen kam ... Immens viele interessierte Leser und Leserinnen fanden die Beiträge des Integrationsjournals interessant ideenreich innovativ idealistisch integrativ inklusiv improvisatorisch imaginativ individualisierend intelligent informativ interdisziplinär illustrativ initiativ initialisierend … und so kam das I-Journal zu seinem neuen Namen. Mögen weiterhin viele Irgendjemands irgendwann irgendwie irgendetwas Interessantes im I-Journal finden und für das I-Journal schreiben. Das Redaktionsteam 53 I-JOURNAL Mai 2013 Leserbriefe Liebe Brigitte! Ich gratuliere dir/euch zu den 20 Jahren INTEGRATIONSJOURNAL! Ich finde es beeindruckend, dass es diese Plattform für die schulische Integration/Inklusion gibt – und ich lese das Journal immer wieder gerne und lerne was daraus. Dem Integrationsjournal wünsche ich noch ein langes Fortbestehen! Christiana Pock-Rosei (Lernbegleiterin und Leitungsteammitglied der Integrativen Lernwerkstatt Brigittenau) Wien, Jänner 2013 Seit mehr als zehn Jahren erhalte ich das Integrationsjournal des Stadtschulrates für Wien. Dieses besondere Service ermöglicht mir über die Bundesländergrenzen hinweg vielseitige Einblicke in die zahlreichen Initiativen und Umsetzungsmodelle schulischer Integration in Wien zu bekommen. Während sich aus den Erfahrungsberichten Modelle und Konzepte gelungener Praxis ableiten lassen, geben die fachwissenschaftlich orientierten Beiträge Einsichten in aktuelle Forschungsbefunde und Erkenntnisse der Sonderund Inklusionspädagogik. Ich möchte mich auf diesem Weg für das breite Spektrum an unterschiedlichen Beiträgen sehr herzlich bedanken. Mag. Dr. Andrea Holzinger Pädagogische Hochschule Steiermark 54 I-JOURNAL Mai 2013 Liebe Leserin! Lieber Leser! Wir freuen uns, Ihnen die neueste Ausgabe des Integrationsjournals präsentieren zu dürfen. Unser herzlicher Dank gilt auch diesmal wieder allen Autorinnen und Autoren, ohne deren Beiträge es uns nicht möglich wäre, dieses Journal herauszugeben. Die Qualität und die Vielfalt der Artikel sind immer wieder beeindruckend und bringen sehr deutlich auch die Vielfältigkeit der Arbeit mit den uns anvertrauten Kindern zum Ausdruck. Wir planen, die nächste Ausgabe im Herbst 2013 erscheinen zu lassen und freuen uns über Ihre Beiträge. Die Auswahl der Artikel, die publiziert werden, trifft das Redaktionsteam. • Beiträge inklusive Angabe der Autorin/des Autors bitte als Word-Dokument (Standard, 11pt, Arial) mittels E-Mail oder CD an eine der unten angeführten Adressen senden. • Fotos bitte im jpg Format mitschicken. Bitte unbedingt das Einverständnis der Erziehungsberechtigten zur Veröffentlichung der Fotos einholen. • Alle Autorinnen und Autoren sind eigenverantwortlich für den Inhalt der Artikel. Wir bitten alle Autorinnen und Autoren um geschlechtergerechtes Formulieren, wie es in der Broschüre des bm:ukk (vormals bm:bwk) erläutert wird: www.bmukk.gv.at/medienpool/15104/2002_22_beilage.pdf Die Beiträge senden Sie bitte an: Stadtschulrat für Wien – Integrationsberatungsstelle....................brigitte.moerwald@ssr-wien.gv.at Brigitte Mörwald, Mag. Judith Stender, Gerda Kargl [email protected] 1010 Wien, Wipplingerstraße 28, bzw. per E-Mail an:............................ [email protected] Abgabeschluss für Beiträge: 31.10.2013 Online finden Sie unser Journal unter der Internetadresse: www.lehrerweb.at Wir freuen uns auf Ihre Mitarbeit! Das Redaktionsteam: Brigitte Mörwald (Redaktion) Mag. Judith Stender (Redaktion) Gerda Kargl (Redaktion, Layout) 55 Renate Dirnberger, MA (Lektorat) Herausgegeben von der Integrationsberatungsstelle im Stadtschulrat für Wien Verantwortliche Herausgeberinnen: Brigitte Mörwald, Mag. Judith Stender, Renate Dirnberger, MA, Gerda Kargl Für den Inhalt verantwortlich: Alle Autorinnen und Autoren sind eigenverantwortlich für den Inhalt der Artikel. Layout: Gerda Kargl Druck: Eigendruck