14 2 "82 - Neue Zürcher Zeitung
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14 2 82 "82 Sanstag/Sonntag. 21./22. Juni 1980 Nr. WOCHENENDE 142 3lcnc Ädjcr 3cilutt9 aber Masken und Gesten in ihrer symbolischen Bedeutung kennt, kann deshalb ohne weiteres der Handlung folgen. Das Orchester sitzt auf der Bühne: sechs bis zehn Musiker mit Zimbeln, Gong und Trommel, zweisaitiger Geige und Gitarre, Bambusflöte und chinesischer Klarinette. Den Takt schlägt der Dirigent auf der kleinen Trommel. Die Musik, ein Hauptbestandteil der Oper, kennt wenig Variationen und beschränkt sich auf wechselnde Rhythmen und lyrische Melodienbögen, für die die moderne westliche Musik auch bei uns das Verständnis geschärft hat. Kulissen und Requisiten gibt es kaum. Tisch und Stuhl können einen Berg, einen Thron oder ein Gericht markieren, Vorhänge und Paravents Wohn- und Schlafräume, eine Fahne eine Festung. In der modernen Aufführungspraxis wird zunehmend auch mit Filmkulissen und Beleuchtungseffekten gearbeitet Pferde, Boote, Schreibutensilien, Trinkgefässe und was es sonst noch braucht, zeigen die Schauspieler mit pantomimischen Bewegungen. Die Einfachheit der Bühne, die den «Pilgerfahrt nach Westen»; der Affenkönig Grosse Szene aus mit seinen Untertanen. 4ffenkönlg (rechtes Bild rechts) und Mönch sind klassische Figuren der chinesischen Oper Sänger, Spieler, Akrobaten Zum Schweizer Gastspiel der Peking-Oper Text und Aufnahmen von Ernst Kux Die Peking-Oper ti s perfektes Gesamtkunstwerk und Volksvergnügen zugleich. Alles enthält sie, was auf der Bühne dargestellt werden kann, Drama und Komödie, Orchestermusik und ariosen Gesang,, gesprochene Dialoge und Tanz, Maskenkunst und Zaubertricks, Pantomime und Akrobatik, und eines wechselt zum anderen im gleichen Stück. Die Themen des mehrere hundert Stücke umfassenden Repertoires stammen aus der chinesischen -Geschichte, aus Romanen der klassischen Literatur, auf Märchen und Volkssagen und enthalten magische Vorstellungen des Taoismus, konfuzianische Ethik, buddhistische Erlösungslehre und neuerdings auch westliche Einflüsse. Die Handlung, naturalistisch und symbolisch zugleich, spannt sich über das ganze Universum, vom Götterhimmel und Feenreich über Kaiserhof, Heerlager und Volksleben bis hinunter in die Unterwelt der Dämonen. Da treten historische Figuren, grosse Kaiser, Mandarine, Mönche und Dichter gemeinsam mit guten und bösen Feen und Tiergeistern auf, tapfere Generale mit schlauen Bauern, weise Greise mit naiven Jünglingen, zaubernde Alte mit raffinierten Kurtisanen, Helden mit Clowns. Die Peking-Oper, die vor allem im Ausland zum Sammelbegriff für das traditionelle chinesische Theater geworden ist, weist in Wirklichkeit ebenso grosse Unterschiede in historischen Entwicklungsphasen und regionalen Stilen auf wie etwa das europäische Musiktheater. Die eigentliche Peking-Oper, der nördliche Stil, bevorzugt dramatische Haupt- und Staatsaktionen, Kriminalfälle und akrobatische Kampfszenen, begleitet hauptsächlich von Schlaginstrumenten. Der südliche Stil der Kunqu-Oper neigt mehr zum Lyrischen und zu tragischen oder komischen Liebesgeschichten, und sie wird von Saiten- und Blasinstrumenten begleitet Nur die Sichuan-Oper hat dazu einen kleinen Chor, der die Handlung kommentiert In neuester Der «Chou», ein Clown in weisser Maske, verkleidet als Gelehrter Zeit vermischen sich diese Stile und musikalischen Formen immer mehr. Auch die frühere Darstellung von Frauenrollen durch männliche Schauspieler wie den berühmten Mei Lanfang ist seltener geworden. Die Peking-Oper lebt allein von den Künstlern, die alles können müssen, die selbst vor jeder Vorstellung ihre Maske malen und die während ihrer Arien akrobatische Tänze aufführen öder martialische Kämpfe ausfechten. Ihre Charaktere sind genau vorgeschrieben und streng typisiert, ähnlich wie in der Commcdia dell'arte. Unterschieden werden vor allem militärische und zivile, gute oder böse Rollen. Es gibt vier Typen. Die weibliche Heldin, «Dan» genannt, spielt die mächtige Kämpferin, die treue Braut oder die schöne Verführerin. Der männliche Held, «Sheng», ist junger Krieger, verliebter Student oder alter Gelehrter. Dan und Sheng sind wenig geschminkt und singen meist in hoher Falsettstimme. Die grossen Nebenrollen sind mit den «Jing» besetzt, den sogenannten «gemalten Gesichtern», die mit farbigen Masken und kräftigen Bassstimmen Generale, Bösewichter oder Dämonen darstellen. Der vierte Haupttypus ist der «Chou», der Clown, der durch eine weisse Maske, geschminkt um Augen und Nase, kenntlich ist Maske und Kostüm, dazu Fächer, Taschentuch, Peitsche, Pinsel oder Waffen typisieren also einen Charakter, der nicht erst in der Handlung entwickelt und vorgezeigt werden muss. Ebenso führt der Schauspieler durch rituelle Fingergestik, Augenstellung, Fussbewegung, Fächerspiel oder Falten- und Aermelwurf seine jeweilige Reaktion und Stimmung vor. Der eingeweihte Zuschauer erkennt daran auch ohne Worte und Gesang, ob Liebe oder Hass, Freude oder Trauer dargestellt wird. Selbst wer des Chinesischen nicht mächtig ti s (oder in China die klassische Hochsprache oder den regionalen Dialekt nicht beherrscht), (1894 «Dan»- Darstellerin als schöne Fee, die auf der Erde um Blumen und Schmetterlinge tanzt Charaktertypus «Jing»: General mit geschminkter Maske raschen Wechsel von Ort, Zeit und Handlung erlaubt, sowie die Eindrücklichkeit des Spiels übten entscheidende Einflüsse auf das moderne Theater aus; Brecht, Wilder oder Claudel haben viel von der Peking-Oper gelernt. Eine Opernaufführung ist in China kein Weihespiel für einen kleinen Kreis von Intellektuellen und Eingeweihten, wie Brecht bemerkte, sondern eine «wahre Zuschaukunst» und populäre Unterhaltung. Die meisten Zuschauer kennen das aufgeführte Stück und folgen doch stundenlang staunend der Aufführung, lassen sich erbauen oder erheitern, essen zwischenhinein ihr mitgebrachtes Picknick und bejubeln die bekannten Stars. In den Jahren der «Kulturrevolution» war die traditionelle Peking-Oper verboten. Der Versuch, «Kaiser, Konkubinen und Schlangengötter» durch «proletarische Helden» zu ersetzen, blieb erfolglos. Seit 1979 erlebt die Peking-Oper in China eine Renaissance, und auf Gastspielen wird sie erstmals richtig in ihrer Schönheit und Kraft auch im Ausland bekannt gemacht, wie gegenwärtig in der Schweiz. jugendlicher Liebhaber «Sheng» im Kostüm eines vornehmen Studenten ...... Neue Zürcher Zeitung vom 21.06.1980