Welt am Draht – 1 Geisteskrank und gefährlich

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Welt am Draht – 1 Geisteskrank und gefährlich
Welt am Draht – 1
Geisteskrank und gefährlich
Rainer Werner Fassbinders Fernseh-Sciencefiction-Film
›Welt am Draht‹ als restaurierte Fassung auf DVD
Roger Behrens
›Cogito ergo sum‹ – »Ich denke, also bin ich«. Mit diesem Satz definierte
René Descartes vor gut dreihundertfünfzig Jahren den Beginn
neuzeitlichen Denkens als rationale, d. i. nachgerade rationalistische
Subjektphilosophie, indem er die Existenz eines autonomen Ichs aus sich
selbst heraus zu begründen ersuchte. »Ich denke, also bin ich« – das ist
nach Descartes der erste unbezweifelbare Satz. Doch der Zweifel blieb,
zumal die Wirklichkeit des Denkens im Verlauf der Jahrhunderte immer
mehr infrage geriet. Bis in der Gegenwart manchen, die offenbar vom
schlechten Idealismus als billiger Weltanschauung nicht lassen wollen,
jede materielle und materiale Existenz des Daseins grundsätzlich
bestreitbar scheint: Cogito ergo sum ist in der als Informationszeitalter
technizistisch verklärten Welt nun nicht mehr Ende des Zweifels,
sondern Anfang. Keine materiell-materiale Gewissheit soll es darüber
geben, ob das »Ich denke« nicht vielleicht bloß eine kybernetische
Simulation so genannter künstlicher Intelligenz sei. Das rührt indes an
einem tatsächlichen Problem der cartesianischen Formel: Das »Ich« vom
cogito muss nicht identisch sein mit dem »Ich« des sum. Als Problem ist
das aber nur dem Materialismus zugänglich, dem die Welt nichts
Unheimliches ist, sondern praktisch wirklich.
In der Variante des bisweilen kitschigen, aber stets überzeugenden
Hollywood-Materialismus haben das die Wachowski-Brüder mit ihrer
›Matrix‹-Trilogie vorgeführt: Je scheinhafter, trügerischer die angeblich
wirkliche Welt ist, desto authentischer, echter, »uriger« die wirklichwirkliche Welt – sie ist unter der Oberfläche, erdig, wild, die Unterwelt
als verlorene Natur und gelobtes Land (Zion) gleichermaßen; anders als
durch den Rückfall in den Mythos (die Vorzeit: die
Maschinendinosaurier, die Überlebenden als Urhorde mit animalischen
Tanzeinlagen etc.) ist Aufklärung hier nicht zu haben. Dieses Modell
simulativer Weltverwechselung hat bereits Platon mit seinem so
genannten Höhlengleichnis skizziert; im zwanzigsten Jahrhundert ist es
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allerdings die Sciencefiction, die die literarische Vorlage liefert. Am
bekanntesten dürfte der Roman ›Simulacron-3‹ von Daniel F. Galouye
sein, einmal durch die von Roland Emmerich produzierte Verfilmung
›The 13th Floor – Bist du was du denkst?‹ (1999; R: Josef Rusnak), dann
aber vor allem durch Rainer Werner Fassbinders zweiteiligen Fernsehfilm
›Welt am Draht‹ (1973), der jetzt in restaurierter Fassung auf DVD
erhältlich ist.
»Kannst du dich erinnern«, fragt Henry Vollmer seinen Kollegen beim
Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung zu Beginn, »als Kind
hast du doch auch dieses Spiel gespielt ›Ich sehe etwas, was du nicht
siehst, – Günther, ich weiß etwas, was du nicht weißt. Und was auch
niemand wissen darf – weil es das Ende dieser Welt wäre.« Wenig später
ist Vollmer tot, ermordet; und kurz darauf verschwindet Günther Lause,
spurlos und ohne dass sich jemand an ihn überhaupt erinnern könnte –
außer Fred Stiller, der nicht nur Vollmers Posten im Institut übernimmt,
sondern auch, nach und nach, hinter Vollmers Geheimnis kommt: Die
von dem Großrechner ›Simulacron-I‹ erzeugte »lebendige Welt in einem
elektrischen Kasten« – das Forschungsprojekt des Instituts – ist nicht die
einzige virtuelle Realität; vielmehr sind das Projekt, das Institut, die
Stadt, die Menschen und eben auch Stiller selber Teile –
»Simulationseinheiten« – einer weiteren computergenerierten Welt.
Fassbinder – der sich ein Jahr später, 1974, mit dem Bühnenstück ›Der
Müll, die Stadt und der Tod‹ durch antisemitische Ressentiments
diskreditiert – entwirft seine Dystopie weder als Essayfilm (wie etwa
Chris Markers ›Sans Soleil‹) noch als Actionfilm (das einzige, was hier an
Martial Arts zu sehen ist, ist eine harmlose Schlägerei in der
Werkskantine des Instituts), sondern als Psychogramm; deutsch wird
der Film indes darin, dass er die psychologischen Motive ins
Existenzialontologische verschiebt: die Frage nach der Realität wird zur
Frage nach dem Sinn des Seins – beantwortet wird sie mit Innerlichkeit,
nicht mit gesellschaftlicher Praxis. Zwar ist die Handlung – anders als
etwa bei ›Matrix‹ – in der kapitalistischen Gegenwart situiert, doch
bleiben Staat, Polizei, Firmen, Gewerkschaften und Betriebsräte etc.
letztendlich Kulisse einer immer schon idealistisch, oder besser
solipsistisch verstandenen Welt. Simulacron ist »ein winziges Universum
unserer selbst«, und dieses Selbst ist niemals ein kollektives. Der
Fluchtpunkt ist der Wahnsinn, »weil es keiner aushält, künstlich zu sein
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und darüber Bescheid zu wissen«. So hat der von Klaus Löwitsch
gespielte Stiller also eine »künstliche Macke«, die sich vor allem als Angst
manifestiert (man muss hinzusetzen: Angst im Heideggerschen Sinne;
bemerkenswert zudem, dass etwa bei ›Matrix‹ Angst nicht vorkommt).
Hilfe findet Stiller, der nunmehr als geisteskrank und gefährlich gilt, bei
Vollmers Tochter Eva, eine apathisch-erotisch anmutende Schönheit,
dargestellt von Mascha Rabben (bekannt aus ›Schulmädchen-Report‹,
1970; ging noch 1973 in einen Ashram nach Indien). Sie stellt sich
schließlich als Verbindung zur wirklichen, »oberen« Welt heraus, und
rettet Stiller, wobei auch die Liebe zwischen den beiden nicht zu einem
wirklich erlösenden Wir führt, sondern Stiller – der Name dürfte mit
Bedacht als Anspielung auf Max Frischs Roman gewählt sein – lediglich
auf das cartesianische Cogito ergo sum zurückwirft; dem entsprechend
sind die letzten Worte eines schließlich auch nur scheinbar in der
endgültigen Wirklichkeit angekommenen und nun wohl vollends
verrückten Fred Stiller: »Ich bin!«
[›Welt am Draht‹, 2DVD/Box, Arthaus 2010]
Erstsendung: FSK Radiobücherkiste, Fr. 16. Juli
2010; 10.00 bis 12.00 Uhr. Sprechzeit: 7:35
Minuten.