Wie beschreiben Pflegekinder ihre Kindheit und

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Wie beschreiben Pflegekinder ihre Kindheit und
DIPLOMARBEIT
Wie beschreiben Pflegekinder ihre Kindheit und Jugend?
– Eine Einzelfallstudie zur Biographie von Pflegekindern –
Diplomandin:
Steffi Hornung
Matr. Nr.: 602929
Erstprüfer:
Univ.-Prof. Dr. Klaus Wolf
Zweitprüfer:
Prof. Dr. päd. Bernhard Fichtner
Universität Siegen / Fachbereich 2
Integrierter Studiengang Sozialpädagogik und Sozialarbeit
Rodalben, den 15.10.2007
2
INHALTSVERZEICHNIS
1.
EINLEITUNG ...........................................................................................4
2.
DAS PFLEGEKINDERWESEN IN DEUTSCHLAND ........................7
2.1.
2.2.
2.3.
2.4.
2.5.
2.6.
2.7.
Historischer Überblick über die Entwicklung des Pflegekinderwesens .........................7
Gesetzliche Rahmenbedingungen der Vollzeitpflege nach §33 SGB VIII ..................11
Finanzielle Leistungen ..................................................................................................15
Auswahlverfahren und -kriterien von Pflegefamilien ..................................................16
Motivation für eine Pflegschaft.....................................................................................17
Gründe einer Inpflegenahme.........................................................................................18
Statistiken zum Pflegekinderwesen in Rheinland-Pfalz ...............................................18
3.
PFLEGEKINDER UND IHR LEBEN IN DER PFLEGEFAMILIE.22
3.1.
3.2.
3.3.
3.4.
3.5.
3.6.
3.7.
3.8.
3.9.
Vorbereitung auf eine Inpflegenahme ..........................................................................22
Ersatz- oder Ergänzungsfamilie? ..................................................................................22
Pflegefamilie - Ein binukleares Familiensystem...........................................................23
Geschwisterproblematik in Pflegefamilien...................................................................24
Probleme mit den Familien der Pflegeeltern ................................................................26
Erziehungsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und –störungen..................................26
Aufnahme älterer Pflegekinder .....................................................................................31
Namensänderung ..........................................................................................................31
Beendigung von Pflegschaften......................................................................................32
4.
FORSCHUNGSTEIL .............................................................................34
4.1.
4.1.1.
4.1.2.
4.1.3.
4.1.4.
4.1.5.
4.2.
4.2.1.
4.2.2.
4.2.3.
4.3.
4.3.1.
4.3.2.
4.3.3.
4.4.
4.4.1.
4.4.2.
4.4.3.
4.4.
4.4.1.
4.4.2.
4.4.3.
DAS NARRATIVE INTERVIEW .............................................................................. 34
Transkriptionszeichen..........................................................................................35
Kontaktaufnahme ................................................................................................35
Ortswahl ............................................................................................................. 36
Datenschutz ........................................................................................................ 36
Probleme ............................................................................................................ 36
FALLGESCHICHTE „AISHA“ .................................................................................. 37
Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Aisha“ und deren Pflegemutter ..........37
Gliederung der Interviews....................................................................................38
Zusammenfassung................................................................................................44
FALLGESCHICHTE „CHRISSY“ ..............................................................................46
Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Chrissy“ und deren Pflegemutter........46
Gliederung der Interviews ...................................................................................47
Zusammenfassung................................................................................................53
FALLGESCHICHTE „SILKE“ ...................................................................................56
Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Silke“ und deren Pflegemutter ...........56
Gliederung der Interviews....................................................................................56
Zusammenfassung................................................................................................65
VERGLEICH UND AUSWERTUNG DER FALLGESCHICHTEN .........................67
Gemeinsamkeiten ................................................................................................67
Unterschiede ........................................................................................................69
Reflexion .............................................................................................................72
3
5.
ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG ................................................74
6.
LITERATURVERZEICHNIS ...............................................................76
6.1.
6.2.
Literaturverzeichnis ......................................................................................................76
Literaturempfehlungen .................................................................................................78
7.
ANHANG .................................................................................................79
7.1.
7.1.1.
7.1.2.
7.1.3.
7.1.4.
7.1.5.
7.1.6.
7.2.
7.3.
7.4.
7.5.
7.6.
7.7.
DIE INTERVIEWS ......................................................................................................79
Narratives Interview mit Pflegekind „Aisha“ .....................................................79
Narratives Interview mit Pflegemutter von „Aisha“ ...........................................99
Narratives Interview mit Pflegekind „Chrissy“ ................................................112
Narratives Interview mit Pflegemutter von „Chrissy“ ......................................137
Narratives Interview mit ehemaligem Pflegekind „Silke“ ................................169
Narratives Interview mit ehemaliger Pflegemutter von „Silke“ .......................189
Fragebogen für die Eignungsprüfung von Pflegeeltern...............................................214
Fragebogen für Pflegekinder.......................................................................................216
Hilfeplan-Vordruck......................................................................................................217
Die wichtigsten Paragraphen des SGB VIII für eine Pflegschaft................................222
Erklärung.....................................................................................................................227
Danksagungen ............................................................................................................227
4
1.
EINLEITUNG
Kinder
Es ist eine Belastung
sagt die Erfahrung.
Es ist nichts als Sorge und Leid
sagt die Angst.
Es ist eine große Verantwortung,
sagt die Vorsicht.
Es gibt kein größeres Glück
sagt die Liebe!
Diese Gedanken wird sich wohl jeder machen, der sich bewusst für ein Kind entscheidet.
Sowohl Paare, die selbst ein Kind bekommen wollen, als auch Adoptiv- oder Pflegeeltern.
Letztere aber im Besonderen. Sie stehen unter dem Druck die „besseren“ Eltern zu sein als die
leiblichen Eltern. Außerdem handelt es sich oftmals bei den aufnahmebedürftigen Kindern um
solche, die in ihrem jungen Leben schon sehr viel Leid erfahren haben und durch ihre
traumatischen Erfahrungen jede Menge Verhaltensauffälligkeiten und –störungen aufweisen.
Diese können auch zu erheblichen Erziehungsproblemen führen.
Im Fokus meiner Diplomarbeit sollen daher die Pflegekinder selbst und deren Pflegefamilien
stehen.
Mir ist bewusst geworden, wie wenig Einblicke die Öffentlichkeit in die Vollzeitpflege erhält.
Die Medien konzentrieren sich nur auf die negativen Beispiele von Pflegefamilien und auch
die Literatur ist inhaltlich sehr begrenzt, wie ich bei den Recherchen feststellen musste. Es
benötigt noch viel Forschungsarbeit um sich ein umfassendes Bild der Vollzeitpflege machen
zu können.
Bei Pflegschaften gibt es viele Variablen, die darüber entscheiden, ob ein Pflegeverhältnis
glückt oder scheitert. In einer Pflegefamilie gibt es Probleme, die eine „normale“ Familie in
dieser Form nie kennenlernt.
In meiner Arbeit möchte ich mich vor allem darauf konzentrieren, Einblicke in das Leben
einer Pflegefamilie zu erhalten und so herauszuarbeiten, was es für die Kinder bedeutet in
einer fremden Familie aufzuwachsen. Aber gleichzeitig soll auch aufgezeigt werden, was es
für die Pflegeeltern heißt ein fremdes Kind aufzuziehen, welches oftmals noch leibliche Eltern
hat.
Es ist mir wichtig Probleme aufzuzeigen, die in der Familienpflege auftreten können und
Ressourcen zu finden, welche die jeweilige Problematik entschärft oder auch verhärtet. Denn
nur wenn man die Schwierigkeiten erkennt, die auftreten können, kann man auch Lösungen
für sie finden.
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Ich habe mich entschieden eine empirische Arbeit zu schreiben. Hierfür habe ich drei
ehemalige Pflegekinder und deren Pflegemütter interviewt, denn ich bin der Überzeugung,
dass man am Besten von den Betroffenen selbst etwas über das Leben in einer Pflegefamilie
und den damit verbundenen Problemen erfahren kann. Hiermit möchte ich meinen Anteil zur
Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Vollzeitpflege beitragen.
Mein Wunsch wäre es, dass die Öffentlichkeit sich zukünftig mehr für diesen Sektor der
Sozialen Arbeit interessiert und erfährt, was die Pflegeeltern täglich leisten. Immerhin bieten
Pflegefamilien Kindern ein neues zuhause, die anders nur noch in ein Heim kommen könnten.
Aber auch die Pflegefamilien selbst sollten lernen dazu zu stehen, dass sie nun mal keine
„normale“ Familie sind. Sie dürfen sich nicht länger verstecken. Sie müssen selbstbewusster
werden und dürfen das Thema „Pflegefamilie“ nicht selbst noch tabuisieren.
In dieser Einleitung erkläre ich, weshalb ich mich für das Thema „Pflegekinderwesen“
entschieden habe und beschreibe kurz die Gliederung, die ich bei meiner Diplomarbeit
vorgenommen habe.
Im zweiten Kapitel möchte ich eine Einweisung in die Vollzeitpflege geben.
Zuerst werde ich mich der Entstehungsgeschichte der Familienpflege bis zum heutigen
Zeitpunkt widmen. Danach werden die wichtigsten rechtlichen Rahmenbedingung erläutern
sowie ein grober Überblick über die finanziellen Leistungen für die Pflegekinder und deren
Pflegeeltern gegeben. Auch das Auswahlverfahren von Pflegefamilien, sowie die
Auswahlkriterien werde ich beschreiben. Daraufhin will ich auf die Motive eingehen, die zu
der Entscheidung führen können Pflegekinder aufzunehmen. Die mannigfaltigen Gründe für
Inpflegegaben werden im Anschluss erläutern. Zuletzt habe ich einige Statistiken über das
Pflegekinderwesen in Rheinland-Pfalz gefunden, die ich gerne vorstellen möchte. Hier habe
ich mich auf die Statistiken aus diesem Bundesland beschränkt, da ich es angemessen fand zu
meinen Fallbeispielen aus Rheinland-Pfalz auch die Statistiken aus dem entsprechenden
Bundesland auszuwählen.
Im dritten Kapitel wird es darum gehen, die wichtigsten Aspekte einer Pflegefamilie
darzustellen, ebenso wie die am häufigsten auftretenden Probleme. Allerdings handelt es sich
hierbei nur um einen Auszug dessen, was auf Pflegefamilien zukommen kann. Die Auswahl
wurde von mir anhand der Sachverhalte getroffen, welche in den Interviews mit den
ehemaligen Pflegekindern und deren Pflegemüttern zur Sprache kamen
Das vierte Kapitel stellt den Forschungsteil meiner Arbeit dar.
Als Forschungsmethode habe ich mich für das narrative Interviews entschieden. Zuerst wird
daher in diesem Kapitel kurz die Vorgehensweise, sowie der Sinn und Zweck des narrativen
Interviews erklärt.
Darauf folgen die Gliederung der sechs von mir geführten Interviews mit den ehemaligen
Pflegekindern und ihren jeweiligen Pflegemüttern und die Zusammenfassungen der drei
Biographien. Hierdurch habe ich drei Fallgeschichten erhalten, die jeweils von zwei Seiten
betrachtet werden können.
Im Anschluss werde ich die drei Biographien auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten
untersuchen und dieses Kapitel durch eine Reflexion auswerten.
Es folgt eine persönliche Stellungnahme im vierten Kapitel.
Im Literaturverzeichnis meiner Arbeit habe ich die von mir verwendete Fachliteratur
aufgeführt, aber auch noch einige Literaturempfehlungen hinzugefügt. Hierbei handelt es sich
vorwiegend um Biographien von Pflege- und Adoptivkindern, die ich sehr interessant und
aufschlussreich fand.
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Im Anhang befinden sich die ausführlichen Interviews und ein Hilfeplanformular, welches
mir von dem mit mir zusammenarbeitenden Jugendamt zur Verfügung gestellt wurde. Es folgt
ein Fragebogen, den Pflegeeltern bei ihrer Bewerbung als Pflegefamilie ausfüllen müssen.
Anhand des Fragebogens und weiteren Gesprächen wird die Eignung als Pflegeperson
geprüft. Auch hat man mir einen Fragebogen gegeben, auf dem Fragen für die Kinder sind.
Dieser dient dazu den Kindern besser zu verdeutlichen, weshalb sie aus ihrer Familie
herausgenommen werden. Die Formulare sollen einen kleinen anschaulichen Einblick in die
Formalitäten einer Pflegschaft geben.
Mit Erklärung und Danksagung wird meine Arbeit dann beendet.
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2.
DAS PFLEGEKINDERWESEN IN DEUTSCHLAND
2.1.
Historischer Überblick über die Entwicklung des Pflegekinderwesens
„Immer gab es Ereignisse und Vorkommnisse, die Kinder der Umwelt, in der sie hinein
geboren wurden, beraubten.“ Aber „immer gab es (...) Menschen, die sich vom Schicksal der
Kinder anrühren ließen und ihm eine Wende zu geben sich bemühten.“ (Blandow 2004; S. 19)
Altertum
Im 4. Jahrhundert galten Waisen und Findlinge, welche keine Sippe hatten, die sie bei sich
aufnehmen und sie versorgen konnte, als besonders schützenswert. Sie wurden dem Schutz
des jeweiligen Herrschers oder Gottes unterstellt. Die unversorgten Waisen übergab man im
frühen Christentum ausgewählten Witwen - den „Ehren-Witwen“. Sie waren die ersten
konkret benannten „Pflegemütter“.
Neben den zumeist vom Bischof vermittelten Inpflegegaben eröffnete man auch die ersten
Anstalten, in denen neben Kranken, Siechen, Fremden und Pilgern auch un- oder
außerehelich geborene, sowie ausgesetzte Kinder untergebracht wurden. (Blandow 2004; S.
20-21)
Mittelalter
Weil sich vermehrt Ziehväter am Erbe der Kinder vergriffen und Ziehmütter wegen des
geringen Lohnes immer unwilliger Kinder bei sich aufnahmen, wurden die Kinder nun
institutionell versorgt.
Kirchliche und ritterliche Orden gründeten Hospitäler und bürgerliche Stiftungen eröffneten
Anstalten, in denen Ammen mit der Versorgung der Kinder beauftragt wurden. Die Kinder
beschäftigte man mit Hausarbeit und schickte sie für die Hospitäler und Anstalten sogar
betteln, bis sie alt genug waren um selbstständig Almosen zu erbitten. Dann wurden sie aus
den Hospitälern und Waisenhäusern entlassen. Man beschränkte sich in den Anstalten und
Hospitälern lediglich auf die Versorgung der Kinder. (Jordan/Sengling 2000; S. 19)
Neuzeit
Durch die Entwicklung neuer Produktionsformen änderte sich Ende des 15. Jahrhunderts auch
die gesellschaftliche Anschauung. Armut galt als selbstverschuldet oder als Anzeichen von
Faulheit. Kinder wurden daher als besonders erziehungsbedürftig angesehen.
Die Anstaltsordnungen schrieben genau vor, wie die Erziehung der Kinder zu erfolgen hatte
und gaben genaue Anweisungen über Ernährung, Hygiene, Tagesablauf und Kleidung.
Es wurde nun auch nach den Personen geforscht, welche ihre Kinder aussetzten.
Die Pflegeeltern in dieser Zeit wählte man besser aus, indem man sie nach Beruf, Wohnort
und Name befragte, um sicher zu stellen, dass sie das Kind versorgen könnten. (Blandow
2004; S. 24)
Im 16. Jahrhundert wurde die Erziehung zur Arbeit zum allgemeinen gesellschaftlichen
Programm. Dies machte sich auch in der Waisenerziehung bemerkbar. Die Kinder wurden
unter strengem Regiment erzogen. Sie wurden aus verwahrlosten Familien herausgenommen
und gemeinsam mit Bettlern, Dirnen und Aufsässigen - ab dem 10. Lebensjahr - in
Zuchthäusern untergebracht.
Man vermittelte sie dann gegen geringes Entgelt an Arbeitsstellen, bei denen sie zusätzlich
zum Betteln geschickt wurden. In den Städten wurde die Anstaltserziehung der
Familienerziehung wieder vorgezogen. (Blandow 2004; S. 25)
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Nach dem 30jährigen Krieg gab es eine Unmenge an verwaisten Kindern, die auf den Straßen
elend zugrunde gingen. Die Waisenhäuser waren überfüllt und es gab nur noch wenige
Pflegefamilien. So gab man die Kinder an Verwandte und Paten ab und zahlte ihnen ein
Ziehgeld. (Blandow 2004; S.25 – 26)
Die Fürsten und Monarchen waren auf die Vermehrung ihrer Macht und ihres Wohlstandes
aus. Darum benötigten sie arbeitsame und –fähige Menschen. Daher zogen sie auch die
Kinder zu harter Arbeit in den Waisen-, Findel- und Arbeitshäusern heran. Das hatte zur
Folge, dass das Ziehkinderwesen wieder von der Anstaltserziehung zurückgedrängt wurde.
(Blandow; 2004; S. 26)
Aufklärung
Die extreme Ausbeutung hatte zur Verelendung und Verwahrlosung der Kinder geführt. Es
musste ein Kompromiss gefunden werden zwischen den kindlichen Bedürfnissen und dem
Arbeitsbedarf der Industrie. Man schenkte daher der Schulbildung der Kinder mehr
Beachtung, ebenso wie ihrer Ernährung und der Hygiene.
Die Waisenerzieher wurden ausgebildet. Strafen und die enorme Arbeitsbelastung der Kinder
wurden reduziert. Auch die hohe Sterblichkeitsrate der Anstalten, sowie die rigide, an
christlichen Normen orientierte Erziehung, wurden kritisiert.
Es wurden daher die Unterbringungen bei bäuerlichen Familien bevorzugt. Zum einen sollten
die Kinder hier in gesunder Umgebung und mit natürlicher Religiosität aufwachsen, zum
andern langsam an die Arbeit herangeführt werden. (Blandow 2004; S. 27)
Wegen der katastrophalen Zustände in den Anstalten kam es zwischen 1770 und 1820 zum
„Waisenhausstreit“ zwischen den Anhängern der Anstalten und denen der Familienpflege.
Die Befürworter der Familienpflege waren sich untereinander jedoch auch nicht einig über die
Unterbringung der Kinder. Eine Meinung war es, dass die Kinder nicht länger aus ihrem
gewohnten Umfeld herausgeholt, sondern zu Verwandten gebracht werden sollten. Die andere
Seite befürwortete die Unterbringung bei Pflegefamilien, da sie Vorbildfunktion hätten und
die Kinder sich dort langsam an ihre Pflichten gewöhnt werden könnten. Man ging sogar so
weit zu behaupten, dass nur Familienerziehung gesunde und brauchbare Menschen
hervorbringe. Und ein weiterer Bonus war das geringe Kostgeld.
Die Anstaltsbefürworter setzten sich für eine Reformation des Anstaltswesens ein, denn sie
waren skeptisch gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen in Pflegefamilien.
Das Ergebnis des „Waisenhausstreits“ war einerseits eine Systematisierung der KostkinderUnterbringung und andererseits die Reformierung der Anstaltserziehung.
Zukünftig wurden verwaiste Bürgerkinder in Familien ihres Standes untergebracht und
gegebenenfalls wurde ihnen zusätzlich ein Vormund ihres Standes bestellt. Armen- und
Findelkinder brachte man dagegen in kostengünstigen Pflegefamilien unter. Neue Anreize für
Ziehmütter waren freie ärztliche Behandlung, freie Medikamente und eine Geldprämie.
Man entschied sich auch für ein Mischsystem aus Anstalts- und Familiensystem, wonach die
Kinder je nach Eignung, Entwicklung, Gesundheitszustand und Kontakt zur Herkunftsfamilie
in eine Anstalt oder Familie vermittelt wurden. (Blandow 2004; S. 27-35)
Beginn 20. Jahrhundert
Angeregt durch das „Taubsche System“ in Leipzig zur Ziehkinderüberwachung entwickelten
sich erste Ansätze eines fürsorglichen Pflegekinderwesens.
Alle fremduntergebrachten Kinder sollten dem Gemeindewaisenrat unterstellt werden.
Pütter setzte einen Katalog über die Pflichten und Prinzipien für Ziehmütter auf, in dem er
unter anderem forderte, dass die Kinder nicht mit Fäusten oder anderen Gegenständen zu
schlagen seien, sowie zu harte Arbeit untersagt sei.
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Außerdem sollten alle Kinder in die Schule und die Kirche gehen können und die Ziehmütter
sollten den Ratschlägen und Anordnungen des Ziehkinderarztes nachkommen.
Nur wenige Jahre später stellte der Vorsitzende des „Dt. Vereins für Armenpflege und
Wohltätigkeit“ die Bedürfnisse und den Schutz des Kindes und somit nicht länger die
Entlastung und den Unterhalt der Pflegeperson in den Mittelpunkt. Der Zweck der
Familienpflege sollte es sein, den Kindern Aufwachsbedingungen zu ermöglichen, unter
denen sie ohne weitere Einschränkungen, in der Pflegefamilie leben können.
Das 1900 in Kraft tretende BGB versäumte es jedoch Regelungen für das Pflegekinderwesen
zu treffen. Im Gegenteil erschwerte es die Herausnahme eines Kindes aus seiner Familie
durch den §1666 in dem die elterliche Gewalt noch höher gestellt wurde als bisher. Es
bedurfte fortan ein vormundschaftliches Urteil zur Herausnahme. (Blandow 2004; S. 35-39)
Nationalsozialismus
Das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG) und die Pflegekinderregelungen blieben
größtenteils erhalten, erfuhren jedoch einige Korrekturen. Zum Beispiel wurde ein Nachweis
über die Abstammung der Kinder, sowie der Pflegebewerber verlangt. Die Kinder waren auch
bei Personen gleicher Konfession unterzubringen. Organisatorisch blieb die
Pflegekinderaufsicht beim Jugendamt. Für die erzieherische Kontrolle der Pflegefamilien
waren NS-Wohlfahrtsverbände zuständig. Dadurch wurde bei der Vorbereitung, der
Vermittlung und der Beratung die Nähe zum nationalsozialistischen Machtapparat
gewährleistet.
Durch die Wertschätzung der Familie erhielt die Familienerziehung den Vorrang gegenüber
der Anstaltserziehung, auch wenn es gewisse Vorbehalte gab, Kinder bei nicht
blutsverwandten Familien aufwachsen zu lassen. So blieben Kinder wo immer es möglich war
bei ihren Herkunftsfamilien. Jedoch galt auch die Kostenersparnis einer Pflegefamilie
gegenüber der Heimunterkunft ein großer Bonus. (Blandow 2004; S. 43-47)
Nachkriegszeit bis heute
Das Pflegekinderwesen entwickelte sich nach dem 2. Weltkrieg phasenweise.
1. Phase: Mängelverwaltung ( 1945 – 1950)
Nach dem 2. Weltkrieg war es anhand der allgemeinen Notstände nicht möglich das
Pflegekinderwesen umgehend geordnet aufzubauen. Viele Familien mussten um ihren
eigenen Lebensunterhalt kämpfen. Das Jugendamt war zunächst kaum funktionsfähig, da es
kaum Pflegefamilien gab. Die Kinder wurden daher wieder vermehrt in Heimen oder auf dem
Land untergebracht. (Blandow 2004, S. 49-52)
2. Phase: Aus der „schlechten“ in die „gute“ Familie (1950 – 1965)
Durch die Währungsreform wurde das „Wirtschaftswunder“ eingeleitet, welches zu einem
stetigen Aufschwung führte. Die Jugendhilfe betrachtete es als ihre Aufgabe über die
traditionellen Orientierungen und Normen zu wachen.
Familienlose Kinder, sowie Kinder aus „erziehungsunfähigen“ Familien und Kinder
unverheirateter Mütter wurden „guten“ Familien vermittelt.
Da man noch an den Einfluss der Vererbung glaubte, brachte man die Kinder zunächst in ein
Heim um ihre „Familienreife“ zu testen, bzw. sie familienreif zu machen. Der bevorzugte
Unterbringungsort waren bäuerliche Familien. Diese Familien sollten die Kinder dauerhaft
versorgen und integrieren, um gänzlich einen Ersatz für die Herkunftsfamilie darzustellen.
Das Pflegegeld war zu der Zeit minimal und die Erziehungsleistung wurde nicht honoriert.
Auch kümmerte sich niemand um die leiblichen Eltern. Besuchskontakte wurden wegen des
Gesetzes zwar hingenommen, allerdings nicht gefördert. (Blandow 2004, S. 52-55)
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3. Phase: „Holt die Kinder aus den Heimen“ (1965 – 1980)
Ab 1965 begann die Jugendhilfe sich erstmals mit den familiären Hintergründen zu
beschäftigen.
Ihr Blick fiel einmal mehr auf das „Versagen“ der Heimerziehung. Diese wurde wegen des
geringen Anregungsgehaltes für die Kinder sowie dem Widerspruch zur Chancengleichheit,
Chancenvermehrung, Emanzipation und Selbstbestimmung hinter die Familienunterbringung
als primäre Pflegeform gestellt. Auch Kinder die bisher als ungeeignet für die Familienpflege
galten, konnten jetzt vermittelt werden, wenn mindestens eine Person in der Pflegefamilie
eine pädagogische Vorbildung aufwies.
Der Soziale Dienst startete Werbekampagnen um geeignete Pflegefamilien zu finden und bot
Elternseminare an.
Das Pflegekinderwesen wurde zum eigenen System in der Erziehungshilfe. Die Zahl der
Kinder, welche in Pflegefamilien untergebracht wurden erhöhte sich, dagegen ging die Zahl
der Heimunterbringungen zurück. (Blandow 2004, S. 55-60)
4. Phase: Die Entdeckung der „Herkunftsfamilie“ (1980er Jahre)
In den 80er Jahren wurde die Tagespflege initiiert, um Müttern eine Berufstätigkeit zu
ermöglichen.
Außerdem setzte man dem bisherigen „Ersatzfamilienkonzept“ das „Ergänzungsfamilienkonzept“ entgegen. Bisher ging man davon aus, dass die Pflegefamilie die
Herkunftsfamilie vollkommen ersetzen könnte und sollte. Jetzt akzeptierte man die
Bindungen des Kindes an seine Herkunftsfamilie und versuchte die Funktionalität der
Herkunftsfamilie zu ergänzen anstatt zu ersetzen.
Die Pflegeeltern und die leiblichen Eltern sollten sich, wenn immer es möglich war, vor der
Inpflegegabe kennenlernen. Auch bei zukünftigen Gesprächen sollten alle Betroffenen
- Pflegekind, Pflegeeltern und leibliche Eltern - anwesend sein.
Die Jugendämter erhielten hierdurch neue Aufgaben: Vorbereitung von Schulungen der
Pflegebewerber, fachliche Begleitung von Pflegepersonen, Aneignung von Kriseninterventionsmethoden, etc.! In den Jugendämtern entwickelten sich langsam Spezialabteilungen für das Pflegekinderwesen. Die Mitarbeiter des Sozialen Dienstes wurden
geschult und besuchten Fortbildungen.
Die Pflegeeltern sollten durch Supervision besser auf den Pflegealltag vorbereitet werden.
(Blandow 2004, S. 60-65)
5. Phase: „Etwas neben Anderem“ (1990er Jahre)
Am 01.01.1991 trat das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) in Kraft.
Es entstand die dritte Säule der Jugendhilfe: teilstationäre und ambulante Hilfen. Sie drängten
das Pflegekinderwesen immer weiter zurück, bis es zunehmend seinen Status verlor.
Man sah nicht länger nur in der Heimunterbringung, sondern auch in der Pflegeunterkunft
eine Fremdplatzierung, denn auch hier wuchsen die Kinder in einer fremden und
„künstlichen“ Familie auf. Man konzentrierte sich immer mehr auf die Prävention und gab
den teilstationären und ambulanten Hilfen den Vorrang.
Pflegefamilien bekamen dadurch vermehrt Kinder mit erheblichen Verhaltensauffälligkeiten
und großen Leidensgeschichten, die man aus den Herkunftsfamilien zum Wohl des Kindes
herausnehmen musste. Durch die wachsenden Anforderungen an die Pflegeeltern waren
immer weniger „klassische“ Bewerber bereit Kinder bei sich aufzunehmen. Sie wurden auch
häufiger mit den Herkunftsfamilien konfrontiert als früher. (Blandow 2004; S. 65-67)
Der Trend der 90er Jahre war die Neuentwicklung der Bereitschaftspflegestellen und
Erziehungsstellen. Hierdurch bekam die Pflegeelternschaft einen beruflichen Status.
(Blandow 2004, S. 67)
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Seit dem Altertum konkurriert also die Familienpflege mit der Heimunterbringung. Je nach
den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wurde die eine oder andere Unterbringungsmöglichkeit bevorzugt.
In den letzten Jahren wurde die Jugendhilfe immer differenzierter und wird sich sicherlich
noch weiter ausdifferenzieren.
Seit 1991 die dritte Säule der Jugendhilfe entstand, gewährt man den ambulanten und
teilstationären Hilfen den Vorrang und setzt vermehrt auf Prävention. Jedoch wird man die
Fremdunterbringung von Kindern wohl nie gänzlich vermeiden können. Daher müssen
sowohl das Pflegekinderwesen als auch die Heimunterbringung weiter (zeitgemäß) reformiert
werden.
2.2.
Gesetzliche Rahmenbedingungen der Vollzeitpflege nach §33 SGB VIII
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen bilden die Grundlage der Vollzeitpflege. Durch sie
werden der Ablauf, der Inhalt und die Bedingungen von Pflegeverhältnissen festgelegt.
Im Folgenden nun die wichtigsten gesetzlichen Grundlagen für die Vollzeitpflege:
Hilfe zur Erziehung – §27 SGB VIII
Man unterscheidet zwei verschiedene Arten der Hilfe zur Erziehung:
1) ambulante und teilstationäre Hilfen
2) Unterbringung außerhalb der eigenen Familie
Unter die ambulante und teilstationäre Hilfe fallen die Erziehungsberatung, die
Sozialpädagogische Familienhilfe, die Tagesgruppe, die soziale Gruppenarbeit und
Erziehungsbeistände.
Unterbringungen außerhalb der Ursprungsfamilie können sein: eine Heimunterbringung,
sonstige betreute Wohnformen, die Vollzeitpflege/Pflegefamilie und die Adoption.
„Ein Personensorgeberechtigter hat bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen
Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des
Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine
Entwicklung geeignet oder notwendig ist.“ (SGB VIII – §27 Abs. 1)
Durch den §27 SGB VIII wird jedem Personensorgeberechtigten der Rechtsanspruch auf
Hilfe zur Erziehung gewährt, wenn eine dem Kindeswohl gerechte Erziehung nicht
gewährleistet werden kann und diese für die geistige und körperliche Entwicklung notwendig
ist.
„Hilfe zur Erziehung wird insbesondere nach Maßgabe der §§28 bis 35 gewährt. Art und
Umfang der Hilfe richten sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall; dabei soll das
engere Umfeld des Kindes oder des Jugendlichen einbezogen werden.“
(SGB VIII – §27 Abs. 2)
Nach einer Bedarfsfeststellung gilt es individuell zu entscheiden, welche Form der Hilfe zur
Erziehung dem erzieherischen Bedarf am ehesten gerecht wird. Bei dieser Entscheidung ist
das engere Umfeld des Kindes oder Jugendlichen zu beteiligen. Das bedeutet, wenn mit
einem besonderen Wunsch der beteiligten Personen keine Mehrkosten verbunden sind, ist
dieser zu berücksichtigen.
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Die Vollzeitpflege – §33 SGB VIII
Die Vollzeitpflege ist ein klassisches Leistungsangebot der Jugendhilfe. Es handelt sich
hierbei um die Erziehung eines Kindes in einer anderen als seiner Ursprungsfamilie.
Die Unterbringung in einer Pflegefamilie unterscheidet sich im Wesentlichen von den
anderen Leistungen, da sie nicht von ausgebildeten Fachkräften erbracht wird, sondern von
engagierten Laien. (http://www.blja.bayern.de - August 2007)
Als gesetzliche Grundlage der Vollzeitpflege gilt §33 SGB VIII:
„Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege soll entsprechend dem Alter und Entwicklungsstand
des Kindes oder des Jugendlichen und seinen persönlichen Bindungen sowie den
Möglichkeiten der Verbesserung der Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie Kindern
und Jugendlichen in einer anderen Familie eine zeitlich befristete Erziehungshilfe oder eine
auf Dauer angelegte Lebensform bieten. Für besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder
und Jugendliche sind geeignete Formen der Familienpflege zu schaffen und auszubauen.“
(SGB VIII - §33)
Die Wahl wird wohl auf die Vollzeitpflege fallen, „wenn sie die „geeignete und notwendige“
Hilfe zur Überwindung des anerkannten erzieherischen Notstandes ist, die
Leistungsberechtigten sie bevorzugen oder ihr jedenfalls nicht widersprechen und eine
geeignete Pflegefamilie für den konkreten Fall zur Verfügung steht.“ (Blandow 2004; S. 81)
Die Leistungsinhalte der Vollzeitpflege sind im Wesentlichen:
- Dem Kind oder Jugendlichen in der Zeit der Inpflegenahme Unterkunft, Verpflegung,
Betreuung sowie Erziehung zu gewährleisten.
- Das Kind bzw. den Jugendlichen mit seiner Persönlichkeit, seiner Biographie und
seinen Problemen anzunehmen und in der Verarbeitung zu unterstützen.
- Das Kind bzw. seine leiblichen Eltern erfahren eine Verbesserung oder gar
Wiederherstellung ihrer Beziehungen und Erziehungsfähigkeit.
- Das Pflegeverhältnis wird vom Jugendamt ausreichend vorbereitet, begleitet und
unterstützt.
(http://www.blja.bayern.de - August 2007)
Verschiedene Formen von Pflegeverhältnissen:
Der Begriff Vollzeitpflege steht für eine Vielfalt unterschiedlicher Hilfearrangements – von
einer kurzfristigen Aufnahme, bis hin zur langfristigen Lebensperspektive für das Kind.
Die jeweilige Hilfe richtet sich nach dem individuellen erzieherischen Bedarf und dem Wohl
des Kindes.
1) Kurzzeitpflege:
Diese Pflegeverhältnisse sind zeitlich begrenzt.
Dies kann der Fall sein, wenn die Herkunftsfamilie kurzzeitig die Versorgung und Erziehung
des Kindes oder Jugendlichen nicht gewährleisten kann. Zum Beispiel wenn eine
alleinerziehende Mutter ins Krankenhaus kommt oder ein alleinerziehender Vater auf
Geschäftsreise ins Ausland muss. In diesen Fällen muss die Pflegefamilie eine kurzzeitige
Versorgung gewährleisten und insbesondere den Kontakt zu den leiblichen Eltern fördern.
Auch in Not- oder Krisensituationen kann es zu einer Unterbringung in einer
Kurzzeitpflegestelle kommen. In die sogenannten Bereitschaftspflegestellen kommen die
Kinder häufig ohne Vorbereitung. Häufig wird dann auch festgestellt, dass eine langfristige
Perspektive für diese Kinder gefunden werden muss. Zum Beispiel bei überforderten Eltern,
die ihre Kinder vernachlässigen oder wenn sich ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch in der
Familie erhärtet. Hierbei hat die Pflegefamilie vorwiegend die Aufgabe dem Kind für die
Übergangszeit Schutz und Zuwendung zu gewährleisten, sowie das Kind auf den weiteren
Verlauf vorzubereiten.
13
2) Dauerpflege:
Hierbei handelt es sich um eine dauerhafte Unterbringung der Kinder bzw. Jugendlichen in
einer Pflegefamilie.
Zu den Aufgaben der Pflegefamilie gehört dann vor allem der Aufbau einer engen Beziehung,
aber auch dem Kind emotionale Stabilität, Zuwendung, Geborgenheit und Vertrauen zu
geben. Dies sind die Grundvoraussetzungen, um dem Kind eine positive
Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen und ihm die Verarbeitung des Erlebten, sowie der
Trennung von den Eltern zu erleichtern.
Manchmal können die Kinder nach einiger Zeit wieder zurück in ihre Familien, jedoch wird
dies mit der Zeit immer unwahrscheinlicher. Ob eine Dauerpflege „nur“ auf einige Monate
oder Jahre angelegt ist, oder bis zur Volljährigkeit des Kindes/Jugendlichen andauert, kann
schon zu Beginn des Pflegeverhältnisses klar sein oder sich erst im Verlauf des
Pflegeverhältnisses entwickeln.
3) Tagespflege:
Das Kind verbringt in der Pflegestelle nur einige Stunden am Tag.
Diese Pflegeform wird zur individuellen Betreuung eines Kindes genutzt, wenn zum Beispiel
eine Kindertagesstätte den erzieherischen Bedarf – bei ADHS, etc. - nicht decken kann oder
die Öffnungszeiten nicht mit den Arbeitszeiten der leiblichen Eltern vereinbar sind.
Es ist eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit und die Abstimmung des Erziehungsstils
zwischen den Eltern und der Pflegeperson erforderlich.
4) Wochenpflege:
Die Wochenpflege erstreckt sich meist über fünf Tage und Nächte in der Woche. Sie ist dann
nötig, wenn die Eltern im Schichtdienst arbeiten oder unter der Woche in einer anderen Stadt
tätig sind. Um die hohen psychischen Belastungen für das Kind so gering wie möglich zu
halten, sollte diese Form der Fremdunterbringung nur in dringenden Fällen gewählt und
zeitlich befristet werden.
5) Heilpädagogische Pflegestellen:
Heilpädagogische Pflegestellen nehmen verhaltensauffällige, erziehungsschwierige oder
behinderte Kinder und Jugendliche auf.
Um den erhöhten Anforderungen gerecht zu werden wird von den Pflegepersonen einen hohe
persönliche und soziale Kompetenz erwartet und eine entsprechende Berufsausbildung und
-erfahrung bevorzugt. Das rechtzeitige Erkennen der eigenen Leistungsgrenzen ist ebenfalls
eine wichtige Vorraussetzung dieser Pflegepersonen. Denn wenn sie an ihre Grenzen
gelangen, ist es wichtig schnellst möglich für das Kind andere geeignete Möglichkeiten zu
finden.
6) Verwandtenpflege:
Die Pflege von Großeltern oder anderen Verwandten des Kindes ist eine besondere Form der
Vollzeitpflege und benötigt keine Pflegeerlaubnis. Hier gelten spezielle Regelungen. Man
kann sich aber vom Jugendamt jederzeit Beratung und Unterstützung anfordern.
(http://www.familienhandbuch.de - Juni 2007)
Vorrang ambulanter und teilstationärer Hilfen
Das KJHG will die ambulanten und teilstationären Hilfen gegenüber den familienersetzenden
Hilfen stärken. Fachlich bedeutet das, dass die Orientierung in Richtung
familienunterstützender Hilfen geht. Es handelt sich um eine „Ambulantisierung“ im Bereich
der Hilfe zur Erziehung. In der Realität bleibt die Fremdunterbringung jedoch eine tragende
Säule der Jugendhilfe. (Jordan/Sengling; 2000; S. 159)
14
Der Einsatz einer ambulanten oder teilstationären Hilfe ist keine Voraussetzung für eine
intensivere Hilfeform. Zwischen den Hilfearten sollte keine Konkurrenz entstehen. Jede
Hilfeform hat ihr eigenes fachliches Profil und bietet verschiedene Wirkungsmöglichkeit auf
familiäre und individuelle Probleme an. Die einzelnen Hilfen sollten als sich ergänzende
Angebote angesehen werden und entsprechend organisiert werden. (Jordan/Sengling 2000; S.
160)
Inobhutnahme – §42 SGB VIII
„Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher darum bittet oder eine dringende Gefahr für das Wohl
des Kindes oder des Jugendlichen es erfordert, ist das Jugendamt verpflichtet, dieses oder
diesen in Obhut zu nehmen.“ (Jordan/Sengling 2000; S. 141)
Über die Art und Dauer der Inobhutnahe entscheiden entweder die Eltern, oder im Falle einer
Kindeswohlgefährdung, das Vormundschaftsgericht.
Die Inobhutnahme erfolgt bei einer geeigneten Person, einer Einrichtung, einer
Jugendschutzstelle oder einer Bereitschaftspflegefamilie. (Jordan/Sengling 2000; S. 141)
Vor allem bei sexuellem Missbrauch und Gewaltanwendungen innerhalb der Familie muss
schnell gehandelt werden. Hier wird das Kind sofort aus der Familie herausgenommen und
kommt dann in eine Inobhutnahme.
Pflegeerlaubnis – §44 SGB VIII
Pflegepersonen benötigen eine vom Jugendamt ausgestellte Pflegeerlaubnis.
„Wer ein Kind oder einen Jugendlichen außerhalb des Elternhauses in seiner Familie
regelmäßig betreuen oder ihm Unterkunft gewähren will (Pflegeperson), bedarf der
Erlaubnis.“ (SGB VIII - §44 Abs.1 Satz1)
Pflegeeltern benötigen eine Pflegeerlaubnis, bevor sie einem fremden Kind in ihrer Familie
Unterkunft gewähren oder es regelmäßig betreuen dürfen. Diese ist nach einer ausgiebigen
Eignungsprüfung bei den Jugendämtern erhältlich.
Durch den Begriff „Pflegeperson“ wird deutlich, dass man mittlerweile von dem tradierten
Familienbegriff absieht, sondern offen geworden ist auch für andere Lebensformen. Auch
Einzelpersonen, unverheiratete Paare oder andere Lebensgemeinschaften kommen als
Pflegeperson in Betracht, sofern es sich bei ihnen um eine stabile Lebensgemeinschaft
handelt. (Blandow 2004; S.82-83)
Der §44 Abs.1 Satz2 SGB VIII regelt, wer keine Pflegeerlaubnis benötigt. Unter anderem ist
bei Verwandten, Kurzzeitpflegen bis zu acht Wochen, sowie Vormündern und Pflegern im
Rahmen ihres Wirkungskreises, keine entsprechende Erlaubnis erforderlich. (Blandow; 2004;
S. 83)
Hilfeplan – §36 SGB VIII
Die Vorraussetzungen und Bedingungen werden im Hilfeplan unter Mitwirken aller
beteiligter Personen (Kind/Jugendlicher, Eltern, Pflegeperson, Jugendamt) festgehalten. Man
versucht Wünsche und Ziele der einzelnen Personen zu berücksichtigen, solange dies nicht zu
unverhältnismäßigen Mehrkosten führt. (§ 36 Abs.1 SGB VIII)
Die Kinder/Jugendlichen und Personenberechtigten sollen auf die möglichen Folgen in der
Entwicklung des Kindes/Jugendlichen hingewiesen werden. (§36 Abs.2 SGB VIII)
Die Zielsetzung der Maßnahme wird im Hilfeplan festgehalten und in regelmäßigen
Abständen überprüft und gegebenenfalls reformiert. Es ist von zentraler Bedeutung, dass bei
jedem Hilfeplangespräch alle Beteiligten anwesend sind, um über die Entwicklung und neu zu
definierende Ziele zu sprechen. Eine Überprüfung der im Hilfeplan festgehaltenen Ziele sollte
halbjährlich, mindestens aber jährlich stattfinden.
15
Damit die Inhalte eines Hilfeplans etwas anschaulicher werden, habe ich im Anhang ein
Hilfeplanformular beigefügt (siehe Anhang 7.2.).
Zusammenarbeit – §37 SGB VIII
Bei allen Hilfen zur Erziehung, also auch bei der Vollzeitpflege nach §33 SGB VIII, soll eine
Zusammenarbeit zwischen der Pflegeperson und den leiblichen Eltern angestrebt werden. Es
soll durch Beratung und Unterstützung des Jugendamtes darauf hingearbeitet werden, dass die
Erziehungsbedingungen in der Herkunftsfamilie innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes so
weit verbessert werden, dass die Eltern das Kind oder den Jugendlichen wieder selbst
erziehen können. In dieser Zeit soll die Beziehung zwischen dem Kind und der
Herkunftsfamilie gefördert werden.
Sind die vom Gesetz geforderten Rückführungsbemühungen innerhalb des zu vertretenden
Zeitraumes nicht erfolgreich, so soll mit allen beteiligten Personen (Kind/Jugendlicher,
Pflegeeltern und leiblichen Eltern) eine auf Dauer angelegte und für das Wohl des Kindes
oder Jugendlichen förderliche Perspektive erarbeitet werden. Dies sieht §37 Abs.1 SGB VIII
vor.
In §37 Abs.3 SGB VIII wird das Jugendamt dazu verpflichtet im Einzelfall die Erfordernisse
zu prüfen. Eine Prüfung vor Ort und Stelle soll zeigen, ob die Pflegeperson/Pflegefamilie eine
dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gewährleisten kann. Die Pflegeeltern sind
ihrerseits zur Zusammenarbeit mit dem Jugendamt verpflichtet und haben es über wichtige
Ereignisse zu unterrichten, die das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen betreffen.
(Jordan/Sengling 2000; S. 218-220)
2.3.
Finanzielle Leistungen
Der Unterhalt der Vollzeitpflege ist nach §39 SGB VIII geregelt. Es gibt Pauschalbeträge, die
in drei Gruppen gegliedert sind. Die Staffelung erfolgt nach Altersgruppen. Wie hoch die
entsprechenden Beträge sind, legt das jeweilige Landesjugendamt fest.
Hier die aktuelle Leistungsgliederung (Stand 01.01.2006) des Landesjugendamtes RheinlandPfalz:
Altersgruppe
0 bis zum vollendeten
7. Lebensjahr
8. bis zum vollendeten
14. Lebensjahr
ab dem vollendeten
14. Lebensjahr
Unterhaltsbedarf
422,--
Erziehungsbeitrag
202,--
Gesamt
624,--
484,--
202,--
686,--
586,--
202,--
788,--
(http://www.lsjv.rlp.de – August 2007)
Die Pauschalbeträge umfassen den gesamten Lebensbedarf des Kindes. Darunter fallen alle
Kosten für den Verzehr, Taschengeld, Kleidung, Friseur, Pflegemittel, Telefon, Reparaturen,
usw. Die Pflegepauschalen können bei Vorlage von Unfallversicherungszahlungen und
Alterssicherungsbeiträgen für das Kind erhöht werden.
Der Erziehungsbeitrag ist ein geringes Entgelt für die Pflegeeltern. Hierüber können die
Pflegepersonen frei verfügen.
Die Krankenhilfe wird nach §40 SGB VIII geregelt. Nicht anerkannte Verfahren (z.B.
Heilpädagogische Verfahren) werden nicht finanziert.
16
Auch Einmalzahlungen sind möglich. Diese können auf Antrag der Pflegepersonen und nach
Ermessen des zuständigen Jugendamtes gewährt werden:
Art
Erstausstattung des Zimmers
(Möbel und Bettzeug)
Bekleidungserstausstattung
Leistungen
für wichtige Anlässe
(Taufe, Konfirmation,
Kommunion,...)
Gruppenreisen
mit Jugendgruppen,
Kirchenverbänden, Vereinen,
etc.
Urlaubsreisen
mit den Pflegeeltern
Weihnachtsbeihilfe
2.4.
Vorraussetzungen
Einmalzahlung
auf Antrag und nach Bedarf
Einmalzahlung
auf Antrag oder nach Bedarf
bei wichtigen Anlässen
auf Antrag oder nach Bedarf
Einmalzahlung pro Jahr
auf Antrag
Höhe der Zahlung
1500 Euro
0,5 % der
Pflegegeldpauschale
200 Euro
200 Euro
Einmalzahlung pro Jahr
300 Euro
auf Antrag
Einmalzahlung pro Jahr
0,07 % der
ohne Antrag
Pflegegeldpauschale
(http://www.lsjv.rlp.de – August 2007)
Auswahlverfahren und -kriterien von Pflegefamilien
Das Auswahlverfahren:
Um ein Pflegekind aufnehmen zu können, muss man sich beim Jugendamt mit folgenden
Unterlagen bewerben: Gesundheitszeugnis, Polizeiliches Führungszeugnis und einen Einkommensnachweis.
Danach erhält man einen Fragebogen (siehe Anhang 7.2.), den man gewissenhaft ausfüllen
sollte. Anhand dieses Fragebogens kann das Jugendamt einen ersten Eindruck über die
Bewerber gewinnen und ihre Eignung als Pflegeperson testen.
Zusätzlich werden mit den Personen mehrere Gespräche über persönliche Themen
(Familienleben,
Kindheitserfahrungen,
Weltanschauung,
Rollenverhalten,
Konfliktbewältigung, etc.) geführt um noch weitere Einblicke in das Leben der
Pflegeelternanwärter zu erhalten. Auch die Frage der Motivation ein Pflegekind
aufzunehmen, ist von zentralem Wert, denn wer sich dadurch einen finanziellen Vorteil, einen
Spielkameraden für das eigene Kind oder eine Deeskalierung familiärer Belastungen
verspricht wird enttäuscht werden. Die Aufnahme eines Pflegekindes bedeutet in den meisten
Fällen eine zusätzliche Belastung.
Zuletzt müssen alle Familienmitglieder (Mutter, Vater und die in der Familie lebenden
Kinder) von dem Vorhaben wissen und damit einverstanden sein.
Nach den Gesprächen wird von den Jugendamtsmitarbeitern noch ein Hausbesuch
vorgenommen, damit sie sich ein Bild über die Wohnverhältnisse machen können.
Wenn die Prüfung abgeschlossen ist, besteht jedoch kein Anspruch auf die Übermittlung
eines Pflegekindes. Man kann sich aber eine „Unbedenklichkeitsbescheinigung“ ausstellen
lassen, mit der man sich auch bei anderen Jugendämtern oder Stellen um Pflegekinder
bemühen kann. (http://www.familienhandbuch.de - Juni 2007)
17
Die Auswahlkriterien:
Pflegefamilien sollten einem Pflegekind grundlegende Bedingungen zur Stabilisierung bieten.
Darunter fällt ein geregelter Tagesablauf, ein überschaubarer Alltagsrahmen, gemeinsame
Mahlzeiten, eine kindgerechte Freizeitgestaltung und emotionale Zuwendung. Aber auch eine
medizinische Versorgung muss gewährleistet werden, sowie die Unterstützung der
schulischen und beruflichen Ausbildung.
In vielen Fällen besteht noch Kontakt zu der Herkunftsfamilie. Dieser Kontakt muss von den
Pflegeeltern unterstützt und gefördert werden. Nicht zuletzt ist es von Bedeutung den Kindern
bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse zu helfen. Dies erfordert eine hohe
Kooperationsbereitschaft und Aufgeschlossenheit von den Pflegepersonen. Zudem ist eine
Bereitschaft zur Kooperation unbedingt gefragt, denn sie müssen im Verlauf der Pflegschaft
- neben der Herkunftsfamilie - auch mit dem Jugendamt, anderen sozialen Einrichtungen
sowie mit Ärzten und Lehrern zusammenarbeiten.
Pflegeeltern sollten ein gesichertes Einkommen haben und den Kindern einen ausreichenden
Wohnraum bieten können. Ein eigenes Zimmer für das Kind ist keine grundlegende
Vorraussetzung, aber sicher von Vorteil. Ebenso wie ein Garten in dem das Kind die
Möglichkeit zum Spielen hat.
Auch müssen sie einige soziale Kompetenzen besitzen: Die (erlernbaren) Kompetenzen der
Stressbewältigung, der Konfliktlösung und der Kommunikation. Sie sollen dem Kind
emotionale Stabilität bieten können, sowie Einfühlungsvermögung und Vertrauenswürdigkeit
vermitteln.
Pflegepersonen müssen nicht unbedingt in der traditionellen Familienform leben. Auch
Alleinstehende, unverheiratete und gleichgeschlechtliche Paare können ein Pflegekind
aufnehmen. Die Hauptsache ist, dass ihre Lebensverhältnisse nachweislich stabil sind.
(http://www.familienhandbuch.de - Juni 2007)
2.5.
Motivation für eine Pflegschaft
Warum erklären sich Menschen bereit fremde Kinder aufzunehmen, sie zu erziehen, zu
fördern und zu lieben?
Dafür kann es verschiedene Motive geben:
1) eine mangelnde familiäre Funktionstüchtigkeit und das Bedürfnis nach einer Familie
2) der Wunsch nach der Verbesserung der Funktionstüchtigkeit der eigenen
Paarbeziehung durch ein Pflegekind
3) tradierte Moralvorstellungen von Familie
4) die Unmöglichkeit (weitere) eigene Kinder zu bekommen
5) ein soziales Verantwortungsbewusstsein („Helfermotive“)
(Blandow 2004; S.130 – 131)
18
2.6.
Gründe einer Inpflegenahme
Zu einer Inpflegegabe kommt es häufig durch ein dysfunktionales Familiensystem der
Herkunftsfamilie. Häufig existieren verschiedene Probleme paralell in der Ursprungsfamilie,
die zu einer Fremdunterbringung führen.
Es sind weniger familiäre Hintergründe (z.B. psychische Krankheit der erziehenden Person,
Alkohol- und Drogenprobleme, konflikthafte Trennungssituationen, überforderte, junge
Mütter, Tod der Eltern, Inhaftierung der Hauptbezugsperson, sowie wirtschaftliche und
gesundheitliche Probleme der Eltern ), als vielmehr die aus der familiären Lage resultierenden
Betreuungsmängel und/oder Auffälligkeiten eines Kindes.
Erziehungsschwierigkeiten werden am häufigsten genannt, sowie Vernachlässigung und
unzureichende Versorgung des Kindes. Aber auch die Überforderung durch die
Inanspruchnahme des Kindes, eine aktive Ablehnung des Kindes durch die Bezugsperson,
Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch.
Hiermit verbunden sind wiederum Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsbeeinträchtigungen und Formen dissozialen Verhaltens des Kindes. ( Blandow 2004; S. 125 –
126) Auch die Vermischung der Generationsgrenzen und eine Parentifizierung des Kindes
können zu einer Herausnahme aus der Ursprungsfamilie führen. (Griebel/Ristow 2007; S. 6)
2.7.
Statistiken zum Pflegekinderwesen in Rheinland-Pfalz
In diesem Kapitel beziehe ich mich fast ausschließlich auf die erhobenen Daten des aktuellen
2. Landesberichts (Hilfen zur Erziehung in Rheinland-Pfalz) des Ministeriums für Arbeit,
Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen. Dieser Bericht ermöglicht einen umfassenden
Überblick über den Leistungsbereich der Hilfen zur Erziehung im Jahr 2005 und ist somit die
aktuellste und umfassendste Datenerhebung auf diesem Gebiet in Rheinland-Pfalz.
Stellenwert der einzelnen Hilfen zur Erziehung:
ambulante Hilfen
21%
teilstationäre Hilfen
40%
28%
11%
Unterbringung in Heimen
oder anderen betreuten
Wohnformen
Vollzeitpflege
Abb. 1: Stellenwerte der Hilfen zur Erziehung (Rheinland-Pfalz/2005)
In der oben abgebildeten Statistik kann man sehr gut erkennen, dass die ambulanten und
teilstationären Hilfen annähernd die Hälfte (51%) der Hilfen zur Erziehung ausmachen und
die Unterbringungen außerhalb des eigenen Elternhauses die andere Hälfte (49%).
19
Die ambulanten Hilfen haben im Vergleich zu 2002 in Rheinland-Pfalz um 16,8%
zugenommen. Hieraus wird deutlich, dass man versucht hat den Schwerpunkt in Richtung
familienunterstützende Hilfen zu richten, anstatt auf familienersetzende Hilfen. Jedoch
bleiben auch die Fremdunterbringungen eine wichtige Säule der Jugendhilfe.
Vergleich der Fremdunterbringungen:
10%
44%
46%
Pflegefamilie
Heimunterbringung
sonstige betreute Wohnformen
Abb.
2: Fremdunterbringungen im Vergleich (Rheinland-Pfalz/2005)
Die Heimunterbringung nimmt trotz der hohen Kostenintensivität immer noch den größten
Teil (46%) der Fremdunterbringungen ein. Aber es ist ersichtlich, dass der Anteil (44%) der
Unterbringungen von Kindern und Jugendlichen in Pflegefamilien nur unerheblich geringer
ist. Die Betreuung in anderen Wohnformen nimmt im Vergleich nur einen sehr geringen
Anteil (10%) ein.
Beendigungen von Hilfen zur Erziehung:
10,70%
49,80%
28,90%
10,70%
ambulante Hilfen
teilstationäre Hilfen
Unterbringung in Heimen oder anderen betreuten Wohnformen
Vollzeitpflege
Abb.3: Beendigungen der Hilfe zur Erziehung (Rheinland-Pfalz/2005)
Im Jahr 2005 wurden insgesamt 5746 Hilfen zur Erziehung beendet. Davon waren 49,8%
ambulante Hilfen, 10,7% teilstationäre Hilfen, 28,9% stationäre Hilfen nach §§34, 35 SGB
VIII und nur 10,7% Vollzeitpflegen.
20
Je länger eine Hilfeart in der Regel andauert, desto geringer ist der Anteil der Beendigungen.
Da die Vollzeitpflege im Durchschnitt die längste Hilfeart darstellt, hat sie die wenigsten
Beendigungen zu verzeichnen.
Dauer der Vollzeitpflegen:
35,00%
25,00%
5,00%
29,10%
10,90%
10,00%
12,70%
15,00%
14,40%
20,00%
33,00%
Anzahl in %
30,00%
0,00%
Bis zu 1
Jahr
1 bis 2
Jahre
2 bis 3
Jahre
3 bis 5
Jahre
Länger
als 5
Jahre
Dauer der beendeten Pflegeverhältnisse
Abb.4: Dauer der Vollzeitpflegen (Rheinland-Pfalz/2005)
Im Jahr 2005 wurden insgesamt 616 Vollzeitpflegen in Rheinland-Pfalz beendet.
Die Daten lassen sich dritteln. Das erste Drittel der beendeten Pflegeverhältnisse dauerte
weniger als ein Jahr. Ein weiteres Drittel dauerte länger als fünf Jahre. Das letzte Drittel sind
Beendigungen nach einem bis fünf Jahren.
Bei den Beendigungen vor Ablauf eines Jahres handelt es sich wohl zumeist um gescheiterte
Pflegeverhältnisse. Pflegschaften, welche länger als fünf Jahre andauern wurden oftmals
erfolgreich durch die Verselbstständigung des Kindes bzw. des Jugendlichen in der
Pflegefamilie beendet. Es wird deutlich, dass mit der Dauer der Pflegschaft auch die Stabilität
steigt.
Integration von Pflegekindern in die Pflegefamilien:
Insgesamt 30 – 40 % aller Pflegekinder kehren nach einiger Zeit wieder in ihre (oft neu
zusammengesetzte) Herkunftsfamilie zurück. (Jordan 1996; S.20) Sie fungieren häufig nach
dem Ergänzungsfamilienkonzept.
Etwa ein Drittel (33,2 %) der in Pflegefamilien lebenden Kinder vollenden in der
Pflegefamilie das 16. bzw. 18. Lebensjahr. (Jordan 1996; S. 24) Hier kann von einer
dauerhaften Integration gesprochen werden im Sinne des Ersatzfamilienkonzeptes.
21
Geschlechterspezifik in der Vollzeitpflege:
1780
1736
Jungen
Mädchen
Abb.5: Geschlechteranteil in der Vollzeitpflege (Rheinland-Pfalz/2005)
Insgesamt lebten 2005 in Rheinland-Pfalz 3516 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien.
Davon waren 1736 männlich und 1780 weiblich. Das ist ein fast ausgewogenes
Geschlechterverhältnis.
Wie viele Jungen und Mädchen jeweils in die Vollzeitpflege vermittelt werden, hängt wohl
stark mit den Wünschen der Pflegefamilien und den jeweils aufnahmebedürftigen Kindern
zusammen.
Der Anteil der Mädchen in ambulanten und teilstationären Hilfen hingegen war deutlich
geringer, als der Jungenanteil im Jahr 2005.
Daten und Fakten über die Pflegefamilien:
Im Durchschnitt werden in einer Pflegefamilie 1,3 Kinder betreut. Bei 40% der
Pflegefamilien leben bei der Ankunft des Pflegekindes keine weiteren Kinder mit im
Haushalt. Die eigenen Kinder sind häufig schon selbstständig und bereits aus dem Elternhaus
ausgezogen. Dennoch sind lediglich 30% der Pflegekinder in den Familien „Einzelkinder“.
90% der Pflegepersonen sind entweder verheiratet oder leben in einer festen Partnerschaft.
Nur 9% sind Alleinstehende. Die Pflegepersonen sind durchschnittlich etwas älter als die
leiblichen Eltern und die Mehrheit verfügt über eine „einschlägige“ Berufsausbildung.
Finanziell gehören die Pflegefamilien meistens der Mittelschicht an. 70% besitzen ein
Eigenheim oder eine Eigentumswohnung und sogar bei 90% steht dem Kind ein Garten zum
Spielen zur Verfügung. (Blandow 2004; S.129-130)
22
3.
PFLEGEKINDER UND IHR LEBEN IN DER PFLEGEFAMILIE
3.1.
Vorbereitung auf eine Inpflegenahme
Eine gute Vorbereitung auf die Pflegschaft ist in meinen Augen für alle Beteiligten unbedingt
nötig.
Die Pflegepersonen müssen nicht nur über die rechtlichen Grundlagen einer Pflegschaft und
die finanziellen Leistungen aufgeklärt werden, sondern auch auf die Probleme, die auf sie
zukommen können. Sie müssen erfahren, welche Ursachen der Inpflegegabe zugrunde liegen.
Eine Aufklärung über die eventuellen Folgen der traumatischen Erfahrungen der Kinder ist
ebenso relevant. Wichtig erscheint mir zudem, dass die Pflegeeltern sich im Klaren darüber
sind, dass ein Pflegekind eine eigene Familie hat und eventuell ein Kontakt zu der
Herkunftsfamilie bestehen bleibt. Hierfür muss den Pflegepersonen eine Möglichkeit geboten
werden Konfliktlösemechanismen und kompetente Kommunikationsmethoden zu erlernen.
Nicht zuletzt ist die Pflegefamilie so schnell wie möglich darüber aufzuklären, ob es sich bei
der Pflegschaft um eine zeitlich befristete Hilfeart handelt und eine Rückführung geplant ist
oder ob es sich um eine dauerhaft angelegte Hilfeleistung handelt. So können sie sich mit den
Gegebenheiten auseinandersetzen und auch das Kind dementsprechend auf seine geplante
Zukunft vorbereiten.
Es ist aber auch wichtig die Pflegekinder altersgemäß aufzuklären was sie in nächster Zukunft
erwartet. Gerade in Notfallsituationen haben die Kinder/Jugendlichen oft keine Möglichkeit
sich mit dem Geschehenen auseinanderzusetzen.
Eine plötzliche Herausnahme aus ihrer Familie löst vor allem bei kleinen Kindern Angst und
Hilflosigkeit aus. Man nimmt ihnen die Möglichkeit sich zu verabschieden und häufig dürfen
sie nur wenige ihrer persönlichen Sachen mitnehmen, da man eine Eskalation vermeiden
möchte. Jedoch entstehen bei den Kindern auf diese Weise große Verlustängste und es kann
zu Auflehnung und Rebellion gegenüber der Pflegefamilie kommen.
Auch die Ungewissheit wie ihre Zukunft aussieht und was sie in der neuen Familie erwartet,
ist für Kinder und Jugendliche sehr belastend. Daher müssen Kinder/Jugendliche sofort über
das weitere Verfahren altersgemäß aufgeklärt werden und ihnen muss auch in Notfällen
zumindest die Möglichkeit eines „inneren Abschieds“ gewährleistet werden. Auch sollte
ihnen unbedingt erlaubt werden ihre wichtigsten Eigentümer mitzunehmen.
Ein Kennenlernen der Pflegefamilie und des neuen Lebensumfeldes im Voraus einer
Pflegschaft ist somit der Optimalfall. Aber in der Realität bei abrupten Herausnahmen nur
schwer durchsetzbar.
3.2.
Ersatz- oder Ergänzungsfamilie?
Die Vorstellung, dass eine Pflegefamilie ein Lebensort für Kinder auf Dauer darstellt, ist weit
verbreitet. Jedoch entspricht diese Ansicht nur in einigen Fällen der Wahrheit.
Es gibt zwei Konzepte von Pflegefamilien: Ersatz- und Ergänzungsfamilie.
Die Ersatzfamilie soll als die gesamte Sozialisation umfassende Alternative zur
Herkunftsfamilie gelten, während die Ergänzungsfamilie als eine Alternative für bestimmte
Sozialisationsbereiche der Ursprungsfamilie verstanden wird. (Gehres 2005; S.10)
Bei dem Konzept der Ersatzfamilie besteht die Hauptaufgabe der Pflegeeltern darin, dem
Kind durch den Aufbau exklusiver Bindungen zur Pflegefamilie eine „zweite Chance“ zu
ermöglichen. Dies soll der Bewältigung sehr konfliktbehafteter Erfahrungen und Bindungen
in früheren Lebensphasen dienen und ihm eine geeignete Sozialisation ermöglichen. Die
Pflegeeltern werden hier als Garant des Kindeswohls im Auftrag des Jugendamtes angesehen.
23
Es wurde nachgewiesen, dass sich bei diesem Konzept häufig eine Konkurrenz zur
Ursprungsfamilie entwickelt, da die Pflegeeltern die „besseren“ Eltern darstellen. Gehres
äußert Kritik an diesem Konzept, da niemand die leiblichen Eltern so einfach ersetzen kann.
Selbst Kinder, die in schwerwiegender Weise von ihren Eltern vernachlässigt oder geschädigt
wurden, lieben ihre Eltern im tiefsten Inneren immernoch und haben auch weiterhin eine
Bindung zu ihnen. Daher ist die Gefahr der Überforderung von Pflegeeltern einer
Ersatzfamilie latent hoch. (Gehres 2005; S. 10)
Beim Ergänzungsfamilienkonzept besteht die Hauptaufgabe der Pflegeeltern in der
Unterstützung, des Erhaltes und der Verbesserung der Bindungen zur Herkunftsfamilie. Eine
hohe Bereitschaft zur Kooperation mit den leiblichen Eltern ist hier die Basis. Im Mittelpunkt
des Pflegeverhältnisses steht das Bemühen den Teil familiärer Funktionen, welcher in der
Ursprungsfamilie nicht gewährleistet werden konnte, zu übernehmen und auszugleichen bzw.
sozialisatorische Kernaufgaben der Herkunftsfamilie zu ergänzen.
Gehres sieht die Stärke dieses Konzeptes in der Kooperationsbereitschaft und Offenheit.
Jedoch gibt er auch zu bedenken, dass die Ergänzung von Strukturdefiziten von Pflegekindern
nicht möglich ist, wenn in der Ursprungsfamilie kaum Strukturen sozialisatorischer
Interaktion ausgebildet werden können. (Gehres 2005; S. 10)
3.3.
Pflegefamilie - Ein binukleares Familiensystem
Das Konzept der Pflegefamilie ist ein „binukleares Familiensystem“, da die Kinder nicht nur
Beziehungen zu den Pflegeeltern und gegebenenfalls –geschwistern haben, sondern auch zur
Ursprungsfamilie.
Eine Familie ist immer ein offenes System, das sich in weitere Subsysteme untergliedern lässt
(Eltern untereinander, Eltern-Kind-System, Geschwister, ...). Die Familienmitglieder
beeinflussen sich wechselseitig. (Griebel/Ristow 2007 – S. 1)
Für Pflegekinder kann die Situation, Anteil zweier Familien zu sein, aus verschiedenen
Gründen belastend auf sie wirken:
Oft sind die Wertvorstellungen und Gewohnheiten der beiden Familien völlig unterschiedlich
und die Kinder müssen sich in der Pflegefamilie erst neu orientieren. Vor allem ältere
Pflegekinder nehmen Erziehungsunterschiede bewusst wahr und müssen sie erst in ihre
Erlebniswelt integrieren.
Bestehende Beziehungen werden durch eine Herausnahme eines Kindes aus seiner
Herkunftsfamilie abgebrochen und es muss zu (vorerst) fremden Menschen Vertrauen fassen
und sich auf sie einlassen.
Wünsche und Erwartungen beider Elternpaare sind für die Kinder spürbar. Ebenso eventuelle
Konkurrenz, Uneinigkeit und Unsicherheiten zwischen den zwei Parteien. Je nach der
Einstellung der Pflegepersonen und den Erfahrungen mit den leiblichen Eltern entwickelt sich
bei dem Kind ein Bild über seine Herkunft und sich selbst.
Das Kind muss den schwierigen Wechsel seiner Lebenswelt erst verkraften. Es wird den
Verlust seines bisherigen Bezugsfeldes betrauern, bevor es sein neues Umfeld annehmen und
ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln kann. (http://www.jugendamt.nuernberg.de – August
2007)
Die Pflegeeltern übernehmen die Elternrolle für ein fremdes Kind. Es wird von ihnen
erwartet, dass sie dem Kind Sicherheit und Halt geben und eine emotionale Bindung zu ihm
aufbauen. Auf der anderen Seite sollen sie aber auch jederzeit fähig sein sich wieder von ihren
Pflegekindern zu trennen, falls das Kind zu seiner Herkunftsfamilie zurückkehrt.
Während der Pflegschaft müssen die Pflegeeltern das Kind „teilen“ und es wird von ihnen
Kooperationsbereitschaft und Aufgeschlossenheit gegenüber den leiblichen Eltern erwartet.
24
Jedoch sollen sie auch die in der Herkunftsfamilie bestehenden Mängel ausgleichen. Wenn sie
die leiblichen Eltern ablehnen, spürt dies das Kind und es fühlt sich verunsichert. Auch
entsteht so leicht eine Konkurrenzsituation zwischen den beiden Familien. Das Kind fühlt
sich zerrissen und denkt, es müsse Position beziehen.
Die Pflegeeltern sind zudem angehalten dem Kind altersgerecht und behutsam seine Herkunft
und seine Vorgeschichte zu vermitteln, ohne das Kind durch abwertende Äußerungen zu
verletzen oder zu manipulieren.
Die Ungewissheit, wie lange das Kind in der Pflegefamilie verbleibt, kann ebenfalls sehr
belastend wirken.
Und oftmals haben Pflegeeltern eigene Kinder. Hier muss darauf geachtet werden die
Bedürfnisse der eigenen Kinder und die der Pflegekinder zu vereinbaren.
(http://www.jugendamt.nuernberg.de – August 2007)
Die leiblichen Eltern hingegen müssen sich von ihrem Kind trennen. Häufig kämpfen sie mit
dem Gefühl versagt zu haben und haben Angst ihre Kinder gänzlich an die „besseren“ Eltern
zu verlieren. Diese Verlustängste lassen auch Konkurrenz aufkommen und führen oft zu
geringer Kooperationsbereitschaft. Es wird versucht das Kind bei Besuchskontakten gegen
die Pflegeeltern aufzubringen.
Die Rolle „Eltern ohne Kind“ ist in unserer heutigen Gesellschaft negativ belegt. Man gibt
den leiblichen Eltern häufig die Schuld für die Fremdunterbringung und hält sie für unfähig
ihr Kind zu erziehen.
Während der Zeit der Pflegschaft verändert sich auch die Beziehung zwischen dem Kind und
seinen biologischen Eltern. Manchmal ist eine Rückführung wegen der späteren Unvereinbarkeit der beiden „Welten“ unmöglich geworden. (http://www.jugendamt.nuernberg.de –
August 2007)
3.4.
Geschwisterproblematik in Pflegefamilien
Pflegekinder können viele verschiedene Geschwisterbeziehungen haben.
Zum einen können sie leibliche Geschwister, Halbgeschwister und Stiefgeschwister haben,
mit denen sie entweder gemeinsam in der Herkunftsfamilie aufgewachsen sind oder die nicht
mit ihnen bei den leiblichen Eltern lebten. Auch können diese Geschwister bei Herausnahme
aus der Familie gemeinsam in eine Pflegefamilie kommen oder aber getrennt untergebracht
werden bzw. manchmal verbleiben größere Geschwister auch in der Herkunftsfamilie.
Zum anderen kann es in der Pflegefamilie sein, dass die Kinder dort mit „neuen“
Geschwistern konfrontiert werden. Entweder handelt es sich hier um die leiblichen Kinder der
Pflegeeltern oder weitere Pflegekinder.
Die Theorien, die ich hier über Geschwisterbeziehungen anführe, lassen sich auf alle
Geschwisterkonstellationen übertragen. Leider gibt es zur Zeit noch keine speziellen
Untersuchungen zu den Geschwisterbindungen unter Pflegegeschwistern.
Geschwisterrivalität oder –solidarität wird bewusst oder unbewusst von den Eltern gesteuert.
Entscheidend ist, wie sie die Geschwisterbeziehungen regeln und welche Rollenzuschreibungen sie vornehmen. (Wiemann 2007; S.1)
Intensive Geschwisterbindungen entstehen durch geringen Altersabstand, großer Nähe (z.B.
gemeinsames Zimmer), viele gemeinsame Erfahrungen und geringen Einfluss der Eltern.
Schwächere Bindungen kommen bei Geschwistern mit großem Altersabstand, großer
räumlicher Distanz, verschiedenen Erfahrungen und hohem elterlichen Einfluss zustande.
(Wiemann 2007; S.2)
Geschwisterbeziehungen bilden ein Subsystem im System Familie.
25
Die emotionalen Qualitäten schwanken häufig zwischen Liebe und Hass oder Loyalität und
Rivalität.
Gründe für Rivalität können der Wettbewerb um die Aufmerksamkeit und Zuwendung der
Eltern sein. Aber auch im weiteren sozialen Umfeld kann der Vergleich der Geschwister zu
Konkurrenz oder dem Gefühl der Benachteiligung führen. Es entsteht Rivalität.
Hohe Loyalität unter Geschwistern besteht oft bei mangelnder elterlicher Zuwendung. Die
Geschwister werden zu einer zentralen Instanz für einander und gleichen die mangelhafte
Eltern-Kind-Beziehung durch die Geschwister-Beziehung aus. (Schmidt-Denter 1993; S.344346)
Man kann Geschwisterbeziehungen auch verschiedene Funktionen zuschreiben:
1) Hilfe
Hilfe nehmen besonders jüngere Geschwister von älteren Geschwistern gerne an.
Durch den größeren Altersabstand wird eine direkte Konkurrenz durch Vergleich
vermieden. (Schmidt-Denter 1993; S. 345)
2) Betreuungs- und Lehrfunktion
Ältere Kinder betreuen manchmal ihre jüngeren Geschwister. Sie übernehmen das
Babysitten und geben Hausaufgabenhilfe. Die Lehrrolle der Geschwister wird von den
Jüngeren mit größerem Altersabstand eher akzeptiert. (Schmidt-Denter 1993; S. 345)
3) Identifikation / Differenzierung
Geschwisterbeziehungen dienen ebenfalls der Identifikation. Sie führt die Kinder
zusammen, lässt sie sich gegenseitig imitieren und gemeinsame Erfahrungen machen.
Aber sie dient auch der Differenzierung. Die Kinder können ihre Individualität
betonen, indem sie sich voneinander abgrenzen und eigenständig handeln. (SchmidtDenter 1993; S. 345)
4) Therapeutische Funktion
Beziehungen unter Geschwistern fördern Emphatie und soziales Verhalten.
Bei familiären Problemen (z.B. Gewalt durch die Eltern, Scheidung der Eltern, etc.)
können sich Geschwister gegenseitig bei der Verarbeitung helfen. Oftmals rücken sie
in solchen Krisensituationen enger zusammen. Bei äußeren Störungen des
Familiensystems können sich Geschwister unterstützen.
Im gemeinsamen Spiel können Entwicklungsstörungen kompensiert werden.
Gleichaltrige Geschwisterkinder verstehen kindliche Probleme auch bedeutend besser
als Erwachsene. (Schmidt-Denter 1993; S. 346)
5) Sozialisation
Geschwisterkinder erfahren eine vielfältiger Sozialisation als Einzelkinder. Sie lernen
neben den Normen der Erwachsenen auch die ihrer Geschwister kennen. (Kasten 1998;
S. 73)
6) Impulskontrolle
Geschwisterbeziehungen sind ein gutes Übungsfeld zur Impulskontrolle. Denn im
Gegensatz zu Freunden, von denen man sich nach einem Streit abwenden kann, muss
man unter Geschwistern nach Lösungen bzw. Kompromissen suchen, sowie
Kontrollmechanismen für aggressives Verhalten erlernen, da sich Geschwisterbeziehungen nicht einfach beenden lassen. (Kasten 1998; S.73)
26
7) Stabilität
Bei einer Herausnahme aus der Herkunftsfamilie können gemeinsam vermittelte
Geschwister angstreduzierend wirken und Stabilität bieten. Sie stellen den stabilen Teil
dar, während alles andere im Leben instabil und neu ist. (Wiemann 2007; S. 3)
3.5.
Probleme mit den Familien der Pflegeeltern
Bei meinen Recherchen konnte ich leider keine Literatur über die sogenannten
„Pflegegroßeltern“ finden. Dennoch halte ich ihre Rolle in einer Pflegschaft für sehr
wesentlich.
Sie sind direkte Familienmitglieder für die Pflegeeltern und deren Kinder und somit ist ihre
Einflussnahme größer, als die Beeinflussungen von außerhalb der Familie (z.B. durch
Freunde, Nachbarn, etc.). Ihre Einflussnahme in Hinsicht auf eine Pflegschaft kann positiv
wie auch negativ sein; sich verbal oder nonverbal äußern.
Ich halte ihre Rolle auch dann für zentral bedeutsam, wenn sie nicht direkt mit der Familie
zusammenleben.
Pflegegroßeltern könnten dem Pflegekind ein Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, wenn sie das
Kind ebenso wie ihre richtigen Enkel anerkennen. Dies kann sich durch ihr Verhalten den
Kindern gegenüber äußern, ebenso wie durch ihre Unterstützungsleistungen der ganzen
Familie gegenüber.
Andererseits können sie das Pflegeverhältnis auch negativ beeinflussen, indem sie die Kinder,
oder gar die gesamte Familie meiden. Sie können dem Pflegekind das Gefühl geben nicht
gewollt oder geliebt zu sein, indem sie die leiblichen Enkel bevorzugen, die Pflegekinder
meiden, sie verbal angreifen oder auch den Pflegeeltern Vorwürfe machen, dass sie sich für
das Pflegekind entschieden haben.
Tatsache ist, dass man die Pflegegroßeltern nicht zwingen kann, die Idee einer Inpflegenahme
zu befürworten oder später die Pflegekinder als Enkel anzuerkennen.
Ich denke jedoch, dass sie durch frühzeitige Einbindung in die Pflegschaft, sowie durch eine
Aufklärung über die Hintergründe der Kinder und die positiven Aspekte einer Inpflegenahme
eher zur Akzeptanz neigen.
3.6.
Erziehungsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und –störungen
„Nicht zuverlässig versorgt zu werden, dem Zorn und der Wut der Eltern hilflos und schutzlos
ausgeliefert zu sein, geprügelt, eingesperrt oder sexuell missbraucht zu werden, das sind
Erfahrungen, die kein Kind verarbeiten kann, ohne Schaden zu nehmen. Es sind Erfahrungen,
die in der Psychologie traumatische Erfahrungen genannt werden. Ein Trauma ist eine
Verletzung. Hier handelt es sich um tiefgreifende seelische Verletzungen.“
(Nienstedt/Westermann; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S.
793-794)
Durch die vielen negativen Erfahrungen, die jene Kinder in ihren Familien gemacht haben,
aber auch durch die schlichte Trennung von der Herkunftsfamilie, kann es zu verschiedenen
Verhaltensauffälligkeiten und -störungen, sowie zu erheblichen Erziehungsproblemen in der
Pflegefamilie kommen.
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Ich habe mich entschieden hier einen kleinen Überblick über häufig vorkommende
Erziehungsprobleme, Verhaltensauffälligkeiten und –störungen bei Pflegekindern zu geben.
Mir ist bewusst, dass es sich hierbei nur um eine Auswahl handelt, und dass viele dieser
Probleme durchaus auch bei Kindern in „Normalfamilien“ auftreten können.
Ich habe meine Auswahl danach getroffen, was in den Biographien der drei interviewten
Pflegekinder relevant war und ich denke, dass dies schon ein umfassendes Repertoire bietet.
Die interviewten Pflegemütter gaben mir zu verstehen, dass sie bei vielen Problemen erst
nicht wussten, warum sie entstanden, und wie sie damit umgehen sollten. Frau M. erwähnte
sogar, dass sie sich ein Skript vom Jugendamt gewünscht hätte, worin solche Probleme
erläutert werden und ein pädagogisch wertvoller Lösungsvorschlag gemacht wird.
1) Erziehungsprobleme mit Pflegekindern:
Körperpflege:
Kinder machen sich oft keine Gedanken über Körperpflege. Sie ist für Kinder einfach
unwichtig. Das kommt oft erst in der Pubertät.
Ermahnt man das Kind andauernd zur Hygiene, kann es passieren, dass es mit Trotz reagiert
und rebelliert.
Man sollte vielmehr Anreize schaffen, um ihm Spaß an der Körperpflege zu vermitteln. Auch
ist es nützlich Rituale zu schaffen oder dem Kind die Konsequenzen im sozialen Bereich
aufzuzeigen. (Shapiro/Skinulis 2005; S. 83-85)
Unordnung im Kinderzimmer:
Es bedeutet für manche Kinder eine gewisse Freiheit, wenn sie in ihrem Zimmer Unordnung
haben. Sie brauchen ihren eigenen Raum und wollen diesen selbst gestalten und sich
hierdurch abgrenzen.
Man sollte die Unordnung im Kinderzimmer bis zu einem gewissen Maß tolerieren.
Außerdem kann man dem Kind Ordnung auch vorleben und ihm die Vorteile erklären.
Hilfreich kann es auch sein, wenn man darauf besteht, dass die Zimmertür geschlossen bleibt,
wenn wieder einmal Chaos herrscht und sich strikt weigert das Zimmer zu betreten. Dennoch
sollte man dem Kind nicht die Hilfe beim Aufräumen versagen, wenn es darum bittet.
(Shapiro/Skinulis 2005; S. 100-103)
Mithilfe im Haushalt:
Wenn Kinder ihre Sachen überall im Haus liegen lassen und sich vehement weigern im
Haushalt Pflichten zu übernehmen, dann kann ein Grund dafür Auflehnung sein.
Wahrscheinlicher ist es allerdings, dass das Kind nie richtig gelernt hat, wie es sich besser
organisiert und welche Vorteile Ordnung hat.
Durch klare Regeln und einen Haushaltsplan indem die Pflichten des Kindes vermerkt sind,
kann man dem Kind ein besseres Organisieren von Haushaltsaufgaben beibringen.
(Shapiro/Skinulis 2005; S. 104-105)
Widerworte:
„Ich will aber nicht!“ – Widerworte sind das deutlichste Zeichen für Missachtung der Eltern.
Sarkastische Bemerkungen, höhnische Wiederholungen und Schmähungen sind vor allem im
Beisein dritter Personen ein Zeichen, das die Kinder keinen oder wenig Respekt vor ihren
Eltern haben oder sich an ihnen rächen wollen.
Oft ahmen die Kinder das Verhalten der Erwachsenen nach. Es ist also zuerst dienlich sich
selbst und sein Verhalten zu beobachten.
Aber auch zu große Nachsicht und Inkonsequenz können dazu führen, dass das Kind den
Respekt vor den Erwachsenen verliert und versucht Machtkämpfe auszufechten.
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Man darf sich auf keinen Fall provozieren lassen. Es empfiehlt sich später in Ruhe mit dem
Kind zu reden. (Shapiro/Skinulis 2005; S. 70-73)
Lügen:
Kinder lügen, um Schwierigkeiten und Bestrafungen zu entgehen. Einige wollen damit ihre
Eltern überlisten oder gegen sie rebellieren. Ein weiterer Grund für Lügen kann sein, andere
beeindrucken zu wollen um Aufmerksamkeit zu erhalten oder andere zu manipulieren.
Viele Eltern bekommen Angst, wenn sie ihr Kind wiederholt beim Lügen ertappen und
denken, dass aus ihrem Kind ein unehrlicher Erwachsener wird.
Man muss das Vertrauen des Kindes gewinnen. Es muss das Gefühl bekommen, dass es mit
allen Problemen zu den Eltern kommen kann, und dass man mit ihm gemeinsam nach
Lösungen sucht. Das Kind muss auch merken, dass es lohnenswert ist die Wahrheit zu sagen.
(Shapiro/Skinulis 2005; S. 52-55)
2) Verhaltensauffälligkeiten und –störungen von Pflegekindern:
Überanpassung:
Kommt ein Kind in eine neue Familie, so wird es zuerst seine Bedürfnisse nicht frei heraus
äußern, denn um seine Bedürfnisse äußern zu können, bedarf es auch die Gewissheit, dass sie
befriedigt und nicht sanktioniert werden.
Gerade ältere Pflegekinder haben oft schon die Erfahrung gemacht, dass familiäre
Beziehungen nicht auf Anerkennung, Befriedigung und Durchsetzung kindlicher Bedürfnisse
beruhen, sondern durch Versagen und Ignoranz kindlicher Bedürfnisse geprägt sind. Es
dominieren die elterlichen Wünsche und Bedürfnisse. In der neuen Familie wird die Neugier
und Aktivität also zunächst eingeschränkt sein, bis das Kind oder der Jugendliche die
Sicherheit gewonnen hat, dass es durchaus eine Befriedigung seiner Bedürfnisse erwarten
darf.
Daher passt sich das Kind in der neuen Familie zuerst den Erwartungen der Pflegeeltern in
übertriebener Weise an, bis es herausgefunden hat, wer diese Menschen sind und welches
Verhalten von ihnen erwartet werden kann. Aber in der Forschungsphase wird den Werten
und Normen der Pflegeeltern oft scheinbar reibungslos entsprochen.
Pflegeeltern müssen die anfängliche Manipulation akzeptieren und sich von den kindlichen
Wünschen und Bedürfnissen führen lassen. So kann das Kind, bzw. der Jugendliche das
Gefühl entwickeln ein angenommenes Kind zu sein. (Nienstedt/Westermann; in: Handbuch
Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 796-797)
Ängste:
Z.B. Angst in der Dunkelheit kommt sehr oft bei Kindern vor, die sexuell missbraucht
wurden. Sie reagieren auch Jahre später noch ängstlich im Dunkeln und leiden unter
Schlafstörungen. Aber auch irrationale Ängste und Angst vor fremden Menschen treten
häufig auf. Es bedarf Geduld von Seiten der Pflegefamilie und großes Einfühlungsvermögen
um dem Kind seine Ängste wieder zu nehmen.
Bettnässen:
Einnässen passiert nie mit Absicht. Es ist den Kindern oft sehr peinlich.
Einerseits kann es dafür medizinische Gründe geben, andererseits sind auch psychische
Belastungen Ursache für das Einnässen. Bei Kindern die (nachts) sexuell missbraucht werden,
zeigt sich das Einnässen oft als Abwehr- und Schutzmechanismus, um vor dem Täter sicher
zu sein. Auch kann dies noch lange nach dem Missbrauch in Problemsituationen, welche die
Kinder bis in ihre Träume verfolgen, passieren.
29
Oft löst sich das Problem mit der Zeit von selbst, wenn man nicht mit Verärgerung oder
Enttäuschung, sondern mit Trost und Verständnis reagiert. (Shapiro/Skinulis 2005; S. 217219)
Gestörtes Essverhalten:
Die Eßgewohnheiten sind ebenfalls ein wichtiger Indikator für den psychischen Zustand von
Kindern und Jugendlichen. Gestörtes Essverhalten kann sich unterschiedlich äußern. Es gibt
die Magersucht (Anorexie), das Essbrechverhalten (Bulimie), aber auch die Fresssucht.
Die beiden erstgenannten Essstörungen sind häufig nach sexuellem Missbrauch zu
beobachten. Sie weisen auf eine gestörte Wahrnehmung des eigenen Körpers hin.
Bulimische Jugendliche weisen mit ihrem Verhalten eine starke autoaggressive Komponente
auf. Dies findet sich auch oft bei suizidgefährdeten Menschen.
Bei Magersüchtigen spielt die „Macht-Ohnmacht-Komponente“ eine wichtige Rolle. Sie
finden das Leben „zum Kotzen“ und bringen dies so deutlich zum Ausdruck. Auch können sie
damit das Gefühl der Hilflosigkeit umwenden, indem sie ihren Körper unter extreme
Kontrolle stellen. Der Körper wird wieder kindlich und unerotisch.
Esssüchtige Kinder und Jugendliche wollen sich dagegen eher ein „dickes Fell“ anfressen und
ihre innere Leere stopfen. (Käsler; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in
Europa, S. 617)
Weglaufen
„Die Kinder und Jugendlichen entziehen sich den bisherigen Lebenszusammenhängen, die als
problematisch und/oder unbefriedigend empfunden werden.“ (Morich; in: Handbuch
Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 601)
Das Weglaufen ist für die Kinder und Jugendlichen eine Problemlösungsstrategie. Die
Familienflucht kann in Zusammenhang mit den Eltern oder der Schule stehen. Auslöser
könnten die Furcht vor Bestrafung, unangemessene Erziehungsmethoden, Vernachlässigung
physischer oder psychischer Art, Rachegefühle oder Furcht vor schulischem Versagen sein.
Die Gründe sind individuell unterschiedlich. (Morich; in: Handbuch Heimerziehung und
Pflegekinderwesen in Europa, S. 601)
Sexualisiertes Verhalten:
Gerade bei Kindern und Jugendlichen die sexuell missbraucht wurden, kann man häufig
sexualisiertes Verhalten beobachten. Dieses Verhalten äußert sich z.B. durch werbendes,
verführerisches Verhalten, sexualisierten Sprachgebrauch, zwanghafte Masturbation oder
Exhibitionismus. (Rensen 1992; S. 132-133)
Es besteht die Gefahr, dass man den Kindern unterstellt, dass sie den sexuellen Missbrauch
nur erfunden oder sogar provoziert haben, da sie „es drauf angelegt“ hätten.
Dieses paradoxe Verhalten ist jedoch typisch nach sexuellen Übergriffen und sollte ebenso
wie Angstgefühle oder Suizidalverhalten ernst genommen werden. Auf gar keinen Fall sollte
den Kindern/Jugendlichen Misstrauen oder Abneigung entgegengebracht werden.
Diebstahl:
Viele Kinder nehmen sich nur etwas, weil sie es einfach haben wollen. Andere sind es
gewohnt, dass ihre Wünsche sofort erfüllt werden. Wieder andere wollen mit ihrem
tollkühnen Verhalten ihre Freunde beeindrucken oder sich mit den gestohlenen Dingen
Freunde „kaufen“. In manchen Fällen wollen Kinder durch das Stehlen auch ihre Eltern
bestrafen.
Tatsache ist es, dass viele Kinder irgendwann einmal etwas stehlen. Das bedeutet aber
keineswegs, dass das Kind dieses Verhalten sein Leben lang beibehält.
30
Man kann diesem Verhalten vorbeugen, indem man dem Kind schon sehr früh vermittelt, was
richtig und was falsch ist. Es muss lernen sozial zu denken. (Shapiro/Skinulis 2005; S. 61-65)
Zukunftsgefährdende Verhaltensweisen:
Hierunter versteht man z.B. die übermäßige Nutzung von Fernsehen und Video. Aber auch
kriminelle Verhaltensweisen, wie z.B. Autodiebstahl, Eigentumsdelikte oder Prostitution.
Sie werden oft von Kindern und Jugendlichen zur Provokation genutzt oder um ihre Grenzen
auszutesten. Auch versuchen diese Kinder durch ihr risikohaftes Verhalten Langeweile zu
überwinden und übertreten hierdurch die gewohnten Normen. (Morich; in: Handbuch
Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 604)
„Risikoverhalten kann als Widerstand gegen normierende Ordnungssysteme und
widersprüchlich erlebte familiäre und sozio-kulturelle Lebensentwürfe verstanden werden.“
(Morich; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 605)
Durch dieses Verhalten wird eine Art Protest der Kinder und Jugendlichen deutlich. Sie
symbolisieren somit, dass sie zumindest bezweifeln, dass der normale Lebensentwurf für sie
lohnenswert ist. (Morich; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S.
605)
Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch:
Durch Alkohol-, Nikotin- und Drogenmissbrauch wollen Kinder und Jugendliche ihre
scheinbar aussichtslose Situation durch Betäubung verdrängen.
Der Rausch kann auch aggressionsfördernd wirken. Die Aggression kann sich nach außen,
(gegen andere Personen oder Gegenstände), aber auch durch Aggressionsumkehr nach innen
(gegen sich selbst - Autoaggression) richten. (Käsler; in: Handbuch Heimerziehung und
Pflegekinderwesen in Europa, S. 617)
Suizidalverhalten:
Unter Suizidalverhalten wird nicht nur der Selbstmordversuch oder der vollzogene
Selbstmord verstanden, sondern auch selbstschädigendes Verhalten (angefangen bei
Nägelkauen bis hin zu Ritzen oder Suizidphantasien).
Durch verschiedenartige Einengungen kann es bei Kindern und Jugendlichen zu
Suizidalverhalten kommen:
1) situative Einengung – zielt auf die Einschränkungen der persönlichen
Handlungsmöglichkeiten ab („Ich darf nie mehr zu meiner leiblichen Familie
zurück!“)
2) dynamische Einengung – hier geht es um die gefühlsmäßige Einengung („Ich kann
nichts!“)
3) zwischenmenschliche Einengung – bezieht sich auf die Vereinsamung durch
Beziehungsabbrüche („Niemand mag mich!“)
4) Einengung der Wertewelt – hier werden die Werte beschnitten („Ich bin nichts wert,
und es gibt nichts, worum es sich zu kämpfen lohnt!“)
(Käsler; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 613 - 615)
Es erscheint mir wichtig zu erwähnen, dass Jungen oft ihren Suizid(-versuch) nicht
ankündigen und „harte“ Methoden (z.B. Erhängen oder von der Brücke stürzen) bevorzugen.
Mädchen kündigen ihre Absichten häufig an (durch Briefe, verbale Ankündigungen oder
suizidales Verhalten). Sie wählen eher die Einnahme von Medikamenten oder das
Aufschlitzen der Pulsadern, da diese Methoden eher eine Überlebenschance bieten. (Käsler;
in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 613 - 615)
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„Liebe allein reicht nicht. Würde es ausreichen, unsere Kinder einfach nur zu lieben, hätte
praktisch keine Familie Probleme. Leider reicht das nicht aus (...). Die Liebe steht an erster
Stelle, doch auf dieser Grundlage müssen die Fähigkeiten zur Konfliktlösung, zur
Konsequenz, zur gegenseitigen Achtung, zur Geduld und die Fertigkeit, gut zuhören zu
können entwickelt werden. Gute Eltern zu sein; bedeutet, viel und hart daran zu arbeiten;
aber das ist es auch wert.“ (Shapiro/Skinulis 2005; S. 256)
3.7.
Aufnahme älterer Pflegekinder
Die Vollzeitpflege stellt mehrheitlich eine Unterbringung für Babys und Kleinkinder dar. Es
werden nur sehr wenige Jugendliche in Pflegefamilien vermittelt. Dies mag zum einen daran
liegen, dass viele Pflegeeltern sich ein kleines Kind wünschen, welches sie von klein auf an
sie gewöhnen und welches sie nach ihren Wert- und Normenvorstellungen erziehen können.
Zum anderen haben viele Pflegeeltern auch Bedenken, dass sie mit einem pubertären
Jugendlichen, der schon viel Leid erfahren hat und schon in seinen Einstellungen und
Wertvorstellungen gefestigt ist, zurecht kommen.
Zudem handelt es sich bei den jungen Menschen oftmals um eine relativ kurze Zeitspanne
welche sie in der Pflegefamilie noch verbringen würden, bis sie ihr 18. Lebensjahr vollendet
haben, und die Pflegschaft somit faktisch beendet wäre.
Für solche Jugendliche wird meistens eine Unterbringung in einer betreuten Wohngruppe
oder einem Heim bevorzugt.
3.8.
Namensänderung
Pflegeeltern haben die unterschiedlichsten Auffassungen, ob sie gerne dem Pflegekind ihren
Namen geben möchten, oder ihm seinen ursprünglichen Nachnamen lassen möchten.
Wenn man sich für eine Namensänderung entscheidet, bedarf es eines Antrages.
„Unter bestimmten Voraussetzungen kann das Pflegekind mit Einwilligung der
Personensorgeberechtigten bzw. einer Genehmigung durch das Amtsgericht im Falle einer
Vormundschaft oder Pflegschaft für das Kind, beantragen, den Familiennamen der
Pflegeeltern anzunehmen.“ (Blandow 2004; S. 104)
Die Voraussetzung hierfür ist nicht lediglich der einfache Wille des Kindes, sondern es muss
dem Wohl des Kindes dienlich sein. Die Begründung dafür ist dem zuständigen Ordnungsamt
ausführlich darzulegen. (Blandow 2004; S. 104)
Die Namensgleichheit spielt für die Pflegekinder oftmals eine wichtige Rolle für die
psychische Entwicklung und Identitätsfindung. Hierdurch kann dem Kind die Unsicherheit
genommen und ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelt werden. Selbst ein Doppelname hat nicht
die gleiche Wirkung. (Stolte-Friedrichs 2002; S.197)
Manche der Kinder wollen auch mit der Ablegung ihres Geburtsnamen Abstand zur
Herkunftsfamilie gewinnen und mit ihrem bisherigen Leben hierdurch bildlich abschließen.
In Fachkreisen wird die Namensänderung von Pflegekindern jedoch kontrovers diskutiert.
So könnte man dem Kind auch unterschwellig vermitteln, dass man seine Herkunftsfamilie
ablehnt, indem man ihm anbietet den Familiennamen der Pflegefamilie anzunehmen. Oder
man kann argumentieren, dass das Kind seinen Geburtsnamen behalten sollte, um seine
biologischen Wurzeln zur Herkunftsfamilie besser in sein Selbstbild integrieren zu können.
Andererseits können die Pflegeeltern dem Kind auch ein Gefühl der Ablehnung vermitteln,
wenn sie dem Kind nicht anbieten ihren Namen anzunehmen und bei dem Pflegekind kann
dadurch das Gefühl nicht ganz dazu zu gehören bleiben. (Stolte-Friedrichs 2002; S. 194)
32
Für die Kinder im Kindergarten und in der Schule kann es einfacher mit dem gleichen Namen
der Pflegeeltern sein.
Man verhindert dadurch Nachfragen durch andere Kinder oder Erwachsene. Das Kind muss
sich nicht ständig mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen und rechtfertigen. (StolteFriedrichs 2002; S.196)
Bei Kindern mit ausländischem Geburtsnamen kann eine Namensannahme von Vorteil sein,
wenn dieser schwer auszusprechen ist und das Kind sich nicht mit seiner nicht-deutschen
Herkunft identifizieren kann oder will. Dadurch wird dem Kind auch zusätzliches Nachfragen
nach der Nationalität erspart. Hier wäre auch zu überlegen, ob man für das Kind die deutsche
Staatsbürgerschaft beantragt. (Stolte-Friedrichs 2002; S. 197, 199)
Es kann auch der Fall sein, dass das Kind selbst eine Namensänderung ablehnt. Zumeist ist
dies der Fall, wenn noch Kontakt zu der Herkunftsfamilie besteht und es die Gründe für die
Inpflegegabe (z.B. Krankheit) kennt und verstehen lernt, so dass es sich nicht von der
biologischen Familie abgrenzen möchte. Diese Kinder wollen dann ihre biologischen
Wurzeln behalten und sie nicht verleugnen. (Stolte-Friedrichs 2002; S. 198-199)
Eine Namensänderung sollte also unbedingt von den individuellen Vorraussetzungen des
einzelnen Kindes abhängig gemacht werden.
Grundsätzlich kann man das kindliche Bedürfnis nach Schutz und Geborgenheit auch ohne
eine Namensänderung befriedigen.
3.9.
Beendigung von Pflegschaften
Es gibt vier Möglichkeiten für Beendigungen von Pflegeverhältnissen:
1) durch die Verselbstständigung eines jungen Menschen in der Pflegefamilie
2) durch eine Beendigung durch Adoption
3) durch die Rückführung in die Herkunftsfamilie
4) durch Abbruch des Pflegeverhältnisses.
An der Form der Beendigung wird oft das Maß für den Erfolg des Pflegeverhältnisses
gemessen. Die ersten beiden Möglichkeiten werden allgemein als positiv gewertet, wobei
man die dritte Möglichkeit der Beendigung eines Pflegeverhältnisses gemeinhin eher
skeptisch betrachtet. Die Letzte spiegelt das Scheitern der Unterbringung in der Pflegefamilie
wieder.
(Blandow 2004; S. 141 – 144)
Ein „erfolgreicher Abschluss“ durch die Verselbstständigung der Pflegekinder in den
Pflegefamilien ist vor allem bei den 15-18jährigen zu verzeichnen. Diese verlassen dann mit
der Volljährigkeit die Pflegefamilie oder verbleiben ggf. auch weiterhin in ihr.
Die Beendigung durch Adoption ist eine eher seltene Möglichkeit. Sie betrifft laut einer
Statistik von 2001 aus Niedersachsen nur 5,7% aller beendeten Pflegeverhältnisse.
Eine Rückführung in die Herkunftsfamilie ist ein hoch geschätztes jugendhilfepolitisches
Ziel. Jedoch gibt es hier verschiedene Möglichkeiten, wie es zu einer Rückführung kommen
kann. Besonders häufig ist dies der Fall bei Kurz- oder Bereitschaftspflegestellen. Ebenfalls
ist die „Rücknahme“ durch die leiblichen Eltern, auch gegen die Widerstände der
Pflegepersonen und eventuell des Sozialen Dienstes, ist eine Möglichkeit.
Eine „Herausnahme“ des Kindes aus der Pflegefamilie durch das Jugendamt, weil die Familie
nach deren Ansicht nicht dem Wohl des Kindes dient, kann ebenfalls veranlasst werden.
33
Ein „Weggang“ des Kindes oder Jugendlichen ist eine weitere Option, wenn die
Kinder/Jugendlichen selbst sich weigern in der Pflegefamilie zu verbleiben und den Weggang
aktiv vertreten. Und auch die eigentliche, vorbereitete und begleitete Rückführung ist
möglich.
Ein Abbruch des Pflegeverhältnisses kann auf Dauer oder auch kurzfristig sein. Es kann sehr
abrupt und endgültig oder vorübergehend und vorbereitet sein. Gründe für Abbrüche können
die Überforderung der Pflegepersonen mit dem Pflegekind und seinem Erziehungsbedarf
darstellen, sowie eine konflikthafte Beziehung zwischen den Pflegeeltern und dem Kind.
(Blandow 2004; S. 141 – 144)
Laut Jordan´s Studien ergaben sich auch folgende abbruchbegünstigende Faktoren:
- wenn das Kind schon älter ist zum Zeitpunkt der Inpflegegabe
- wenn das Kind vorher längere Heimaufenthalte hatte
- wenn das Kind häufig seine Lebensorte wechseln musste
- wenn das Kind Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsdefizite aufweist
- wenn unklare Perspektiven bei der Unterbringung vorliegen
Dies sind nur einige der Faktoren die sich abbruchbegünstigend auf die Pflegschaft auswirken
können.
-
Auch in der Pflegefamilie selbst gibt es solche Faktoren:
wenn es zu Krisen in der Pflegefamilie kommt
wenn ein rigider, einengender und ordnender Erziehungsstil herrscht
wenn ein geringer Altersabstand zu einem weiteren Pflegekind besteht
wenn die Pflegeperson mit dem Kind überfordert ist. (Jordan 1996; S. 76-119)
34
4.
FORSCHUNGSTEIL
4.1. DAS NARRATIVE INTERVIEW
Das narrative Interview ist eine empirische Forschungsmethode in den Sozialwissenschaften.
Besonders geeignet ist diese Form der Interviewführung für die Biographieforschung, wie sie
auch Teil meiner Arbeit ist.
Anstelle eines Wechselspiels von Fragen und Antworten, wird durch eine einleitende
Erzählaufforderung seitens des Interviewers versucht dem Erzählenden eine
„Stehgreiferzählung“ über eine bestimmte Lebensspanne aus seiner Biographie zu entlocken.
Diese Methode setzt auf den „Zugzwang“ zum Erzählen und das Bedürfnis des Interviewten
seine Geschichte vollständig, verständlich und nachvollziehbar zu präsentieren.
Das Interview besteht aus zwei Teilen:
Erstens dem Erzählteil (Hauptteil) und dem Nachfrageteil.
In der ersten Phase wird der Betroffene durch einen Einleitungssatz seitens des Interviewers
aufgefordert seine Geschichte zu erzählen. Dann hält der Interviewer sich zurück. Er
verzichtet auf weitere Vorgaben und bekundet dem Erzähler lediglich durch kurze
Aufmerksamkeitsbekundungen (verbal oder durch seine Mimik und Gestik), dass er zuhört,
Verständnis und Interesse an der Geschichte und der betreffenden Person hat. Falls es zu
längeren Pausen kommt, kann man versuchen durch Stichworte oder Wiederholungen des
Erzählten den Interviewpartner wieder zum Reden zu bringen. Je länger man die Pausen
aushält desto besser, da die Betroffenen hier häufig überlegen wie sie fortfahren können oder
sie verarbeiten das Erzählte gerade nochmals. Allerdings sollte man auch nicht zu lange
schweigen, so dass eine unangenehme Stille den Raum erfüllt und ein ungutes Gefühl
zurücklässt. Diesen Teil des Interviews beendet der Erzähler. Dies geschieht meist durch
Anmerkungen wie zum Beispiel: „So, jetzt weiß ich aber nichts mehr!“ oder „Das war so alles
was mir einfällt.“, kann aber auch durch längeres Schweigen verdeutlicht werden.
Es folgt dann die Nachfragephase. Hier darf nun der Interviewer Fragen stellen. Diese sollten
Bezug auf das bereits Erwähnte nehmen. Dieser Teil des Interviews dient vor allem dem
späteren besseren Verständnis und um die Zusammenhänge zu klären. Auch hier kann
versucht werden den Interviewten noch mal zu einem Redefluss zu bewegen.
Zum Schluss soll Bilanz gezogen und das Erzählte bewertet werden. (Faltermeier 2001; S.
49ff)
Diese Befragungsmethode eignete sich für meine Arbeit daher so gut, weil ich genaue
Einblicke in eine bestimmte Lebensspanne der Probanden bekommen habe und sie als
Experten – da sie das Erzählte selbst durchlebt haben – auch die Möglichkeit bekamen, die für
sie persönlich wichtigsten Aspekte darzustellen. Außerdem hätte ich mit einer anderen
Interviewmethode sicherlich viele Aspekte gar nicht angesprochen, weil ich bislang noch gar
keine Erfahrungen mit Pflegekindern bzw. –familien gemacht hatte und mir das Leben in
einer Pflegefamilie noch weitgehend unbekannt war.
In den anschließenden Zusammenfassungen und Auswertungen werde ich mich immer wieder
auf die Interviews beziehen. Dazu werden Zitate eingefügt. Gekennzeichnet werden diese
durch eine kursive Schrift und um die Zitate in den Interviews schneller zuordnen zu können,
befinden sich in den dahinter stehenden Klammern die Seiten- und Zeilenangaben. (Z.B.
[150/20-22] d.h. das Zitat befindet sich auf Seite 150 in den Zeilen 20 bis 22.
35
4.1.1. Transkriptionszeichen
Bei der Niederschrift der von mir geführten Interviews habe ich folgende Transkriptionszeichen benutzt:
Transkriptionszeichen
Bedeutung
...
kurze Pausen bis 3 Sekunden
die Punkte geben in etwa die Sekunden an
..((8))..
längere Pausen ab 3 Sekunden
die Zahl gibt in etwa die Sekunden an
..äh.. bzw. ..ähm..
Planungsmarkierer
mhm bzw. hm
Aufmerksamkeitsmarkierer
so/mit
Selbstkorrektur bzw. Wiederholung
()
unverständlicher Redebeitrag
immer
Betonung
(Halbgeschwister)
Erklärung für Unausgesprochenes
((räuspert sich))
außersprachliche Aktivitäten
((lacht bis *)) (*)
außersprachliche Aktivitäten andauernd bis (*)
((Tonbandwechsel))
fremdgesetzte Unterbrechung
(Glinka 1998, S.19 – 24, 64)
Ich habe mich bemüht, die Interviews so gut wie möglich und so ausführlich wie nötig zu
transkripieren (siehe Anhang).
4.1.2. Kontaktaufnahme
Ganz zu Anfang meiner Diplomarbeit stand ich vor dem Problem, dass ich keine ehemaligen
Pflegekinder bzw. –familien kannte. Auch das Nachfragen in der Familie, sowie im Freundesund Bekanntenkreis ergaben keinerlei Kontakte.
Ich überlegte dann, ob ich vielleicht eine Annonce in der Zeitung aufgeben solle, verwarf
diesen Gedanken jedoch sehr bald wieder, da ich mir keinerlei Resonanz darauf versprach.
Meiner Meinung nach reagieren kaum Leute auf solche Anzeigen, da viele unseriös
erscheinen.
Also entschied ich mich zum Stadtjugendamt zu gehen, bei dem ich mein zweites studienbegleitendes Praktikum absolviert hatte, und die Mitarbeiter um Hilfe zu bitten. Nachdem ich
zwei der dort arbeitenden Sozialpädagogen mein Anliegen erklärt hatte, versprachen sie mir,
dass sie sich für mich umhören und Kontakte für mich schließen würden. Innerhalb von drei
Wochen hatte ich dann die Namen und Telefonnummern meiner Interviewpartnerinnen
erhalten, welche ihre Bereitschaft an meiner Arbeit mitzuwirken schon den Mitarbeitern vom
Jugendamt erklärt hatten.
Danach rief ich die Frauen persönlich an. Ich wiederholte nochmals den Sinn und Zweck der
Interviews und wir machten Termine für die Befragungen aus.
Gerade die Pflegemütter waren sehr begeistert von meinem Vorhaben und freuten sich über
mein Interesse am Pflegekinderwesen.
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Ich denke aber, dass es sehr viel geholfen hat, dass sie erst durch einen, ihnen bereits
bekannten Mitarbeiter einer öffentlichen Institution kontaktiert wurden. Denn dies gab meiner
Arbeit erst einen formellen und offiziellen Charakter.
4.1.3. Ortsauswahl
Ich entschied mich die Interviews – mit Zustimmung der Informantinnen – bei ihnen zuhause
durchzuführen. Dies hatte zwei Gründe:
Zum einen wollte ich, dass die Pflegekinder und –mütter, wenn sie schon ihre - teils sehr
intime - Lebensgeschichte einer völlig fremden Person erzählen sollten, sich wenigstens in
ihrem gewohnten Umfeld befinden, welches ihnen ein Stück weit Sicherheit vermitteln sollte.
Zum anderen, wohne ich ein ganzes Stück weit von den Befragten entfernt und empfand es
nicht angemessen sie zu bestellen.
Zwar kann man Gefahr laufen, dass es bei den Interviews zu Ablenkungen (Besuch,
Geräuschkulisse, etc.) kommt, welche man als Interviewerin dann schlecht beeinflussen kann,
jedoch muss ich sagen, dass dies bei keinem meiner Interviews ein Problem darstellte. Es
genügte der Hinweis im Voraus, dass das Interview an einem ruhigen Ort und unter vier
Augen stattfinden sollte.
Ich bin im Nachhinein mit meiner Ortsauswahl sehr zufrieden. Sie hatte genau den
gewünschten Effekt. Die interviewten Personen waren sehr entspannt während der Interviews.
4.1.4. Datenschutz
Um den Datenschutz zu wahren, habe ich die ehemaligen Pflegekinder sich selbst
Fantasienamen geben lassen. So entstanden die Namen „Aisha“, „Chrissy“ und „Silke“.
Weitere Personen-, Orts- und Institutionsnamen, welche Rückschlüsse auf die Identität der
Personen geben könnten habe ich gekürzt oder verändert. Die verwendeten Abkürzungen sind
vor den Interviews aufgelistet und erläutert. Das heutige Alter der Pflegekinder befindet sich
in Klammern hinter ihrem Fantasienamen zu Beginn des jeweiligen Interviews.
Die Anonymität musste ich meinen Interviewpartnerinnen zusichern, jedoch stellte dies kein
Problem für meine Arbeit dar.
4.1.5. Probleme
Ich habe bei der Niederschrift der Interviews versucht den gesprochenen pfälzischen Dialekt
so gut ich es konnte niederzuschreiben, da die Interviews so authentisch wie eben möglich
wiedergegeben werden sollen. Hierbei kann es eventuell zu Verständnisproblemen an
manchen Stellen kommen. Jedoch wollte ich auf die Individualität und Authentik nicht
verzichten und mich auch an die Regeln der Niederschrift der narrativen Interviews halten.
Ich hoffe trotzdem auf die Nachvollziehbarkeit und das Verständnis der zitierten Passagen.
Falls ich das ein oder andere Wort nicht korrekt im Dialekt geschrieben habe, sei mir bitte
verziehen. Es war für mich eine doch erstaunliche Herausforderung den gesprochenen Dialekt
niederzuschreiben.
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4.2. FALLGESCHICHTE „AISHA“
4.2.1. Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Aisha“ und deren Pflegemutter
Das Interview mit Aisha fand bei ihr zuhause auf der Terrasse statt. Es verlief sehr entspannt.
Trotzdem ich für die Informantin eine Fremde war, fasste sie sehr schnell Vertrauen zu mir
und berichtete sehr ausführlich und offen über ihre Erfahrungen in der Herkunftsfamilie und
ihr späteres Leben in der Pflegefamilie.
Ebenfalls genügte die Erzählaufforderung meinerseits zu Beginn des Interviews, um Aisha in
einen Redefluss zu bringen. Sie benötigte zwar immer wieder kurze Pausen um sich zurück zu
erinnern oder zu überlegen wie sie fortfahren sollte, dennoch ist das Interview mit ihr formal
sehr gelungen. Inhaltlich hat Aisha sich zwar sehr auf die Geschehnisse in der
Herkunftsfamilie konzentriert und im Vergleich wenig über das Leben in der Pflegefamilie
erzählt. Aber ich sehe das Interview auch inhaltlich für meine Arbeit und den späteren
Vergleich mit den anderen Biographien durchaus als geeignet an. Ich wollte sie nicht
unterbrechen und ihr weitere Vorgaben machen. Erstens da dies nicht im Sinne des narrativen
Interview wäre und zweitens bemerkte ich, dass es Aisha gut bekam über ihre Erfahrungen zu
sprechen.
Das Interview mit Frau O., Aisha´s Pflegemutter, fand direkt im Anschluss an das Interview
mit der Pflegetochter statt. Allerdings war das Interview nicht geplant, weil ich zu Beginn
meiner Diplomarbeit nur ehemalige Pflegekinder befragen wollte. Als Frau O. sich nach dem
Interview mit ihrer Tochter zu uns setzte und anfing über Aisha und ihr Leben in der Familie
zu berichten, dachte ich mir, dass es sinnvoll sei, die Fallgeschichten aus zwei Perspektiven
zu betrachten und durch die Pflegemutter ergänzen zu lassen. Durch Frau O. entstand also erst
die Idee jede Biographie aus der Sicht des Pflegekindes und der Pflegemutter zu betrachten.
Dies führte aber in diesem Fall zu dem Problem, dass das Interview nicht von Beginn an auf
Tonband festgehalten wurde, da die Idee spontan entstand.
Außerdem fehlt die Erzählaufforderung meinerseits, was im Verlauf des Interviews dazu
führte, dass Frau O. von mir Fragen erwartete. Ein weiterer Unterschied zu den anderen
Interviews ist, dass Aisha bei dem Interview ebenfalls anwesend war und sich teilweise
beteiligt hat.
Trotzdem es sich bei diesem Interview weniger um ein narratives Interview handelt und von
den anderen in seiner Form abweicht, empfinde ich auch das Gespräch mit Frau O. als sehr
aufschlussreich und durchaus wert hier verwendet zu werden.
Frau O. war es auch ein großes Bedürfnis mit mir über Pflegefamilien zu reden, da sie sonst
kaum Interesse in der Gesellschaft für die Leistungen von Pflegefamilien verspürt und sich
wünschte, dass anhand meiner Diplomarbeit auch die positiven Seiten des Lebens in einer
Pflegefamilie aufgezeigt werden.
Aisha und ihre Pflegemutter sprechen im pfälzischen Dialekt. Ich habe diesen Dialekt
versucht so gut es ging wiederzugeben um die Authentik zu wahren. Ich hoffe, dass es für den
Leser kein allzu großes Problem darstellt, den Inhalt der Interviews zu verstehen.
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4.2.2. Gliederung der Interviews
Aisha ist heute 21 Jahre alt. Sie lebt immer noch bei ihrer Pflegefamilie und macht derzeit
eine Ausbildung zur Erzieherin.
Sie hat die schlimmsten Erfahrungen die sie in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hat verarbeitet
und den Kontakt zum Vater wie auch zu ihren leiblichen Geschwistern vollkommen
abgebrochen. Ihre Mutter ist mittlerweile verstorben, was sie jedoch nicht berührte.
Ihre Pflegefamilie erkennt sie heute als ihre richtige Familie an. Wenn sie über die
Familienmitglieder spricht, sagt sie: „Mama“, „Papa“ und „meine große Schwester“.
Die Herkunftsfamilie
Aisha´s Mutter war Deutsche, ihr Vater ist Araber. Sie hat einen älteren Bruder und eine
ältere Schwester.
Aisha´s Eltern ließen sich scheiden, als sie noch ein Kleinkind war. Sie erzählte von einem
Vorfall, bei dem der Vater und die Mutter eine Auseinandersetzung hatten. Der Vater, in
seiner Rage, schlug Aisha´s Mutter einen Aschenbecher auf den Kopf, so dass diese ins
Krankenhaus gebracht werden musste. Die drei Kinder haben diesen Vorfall miterlebt,
konnten das Erlebte aber nicht zuordnen, was Angst bei ihnen auslöste. („Mir hatten damals
natürlich Angst geha´t!“) [80/21]
Nach der Scheidung der Eltern verblieben alle drei Kinder beim Vater, da die Mutter
psychisch krank war und nicht für die Kinder sorgen konnte. Sie lebten gemeinsam in einem
Hochhaus.
Der Vater kaufte sich nach der Scheidung eine neue ausländische Partnerin. Auch diese Frau
wurde geschlagen. „Un irgendwann is die ..äh.. „Mode-Frau“(Aisha nannte die neue
Partnerin „Mode-Frau“) irgendwann a verschwun ..((6)).. jo.“ [81/2-3]
Auch den Kindern gegenüber wendete der Vater regelmäßig Gewalt an. Aisha beschrieb ihr
Leben in ihrer Herkunftsfamilie so: „Ja, un ..((8)).. ja, das Leben dort ... war eigentlich ...
Liebe kannt mer´s net nenne, weil ..ähm.. de Z., de Vadder, ..äh.. uns immer geschla hat, das
häßt ..ähm.. mei Bruder, de S., ... un mei Schwester, die M., un ..ähm.. ja – mit verschiedene
Gegenständ hat er uns geschla, ..ähm.. . Ja, ... zum Beispiel mit nem Gürtel oder mit nem
Stock, oder mit (...) Schuh.(lacht) Ja, das war schon ziemlich heftig; hat a weh gedun – ganz
schön!“ [79/10-19], und an anderer Stelle sagte sie: „Mir sin eigentlich nur die schlechte
Sachen in Erinnerung geblieb! Weil de ganze Tag Schlä, Gewalt – das prägt irgendwie...“.
[81/20+22]
Die Geschwister verbündeten sich gegen den Vater und halfen sich untereinander. Zum
Beispiel berichtet Aisha, dass sie und ihre Schwester ihrem Bruder, der als Strafe in sein
Zimmer eingesperrt wurde und nichts zu Essen bekam, etwas zu Essen brachten. Die VaterKind-Beziehung war geprägt von Gewalt und Angst.
Das gewalttätige Handeln des Vaters wird von Aisha durch seine Kultur erklärt. „Okay, de Z.
is jo Palästinenser un er kommt aus em Gaza-Streife. Un dort sin die Männer ebe brutaler,
aggressiver. Verliere schnell die Beherrschung un ..((6)).. klar, dass er dann ... zu
Gegenständen greift und Leut prügelt.“ [81/25-27] Und später sagt sie noch: „Die Kultur:
„Araber“ – die Fraue sin dort sowieso unnerdrückt. Un als Kind is er wahrscheinlich a
geschla wor. Ich wäß es net. Vielleicht nehmt er das Verhalte an, was er als Kind erlebt hat.
Ich wäß es net. Un weil´s a ..äh.. Sitte is dort.”. [95/23-25]
Zu den Gewalttaten, die Aisha durch ihren Vater erlitten hat, kamen die sexuellen Übergriffe
seitens des Vaters und des älteren Bruders ihr und ihrer Schwester gegenüber hinzu.
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Auch wurde Aisha vom Vater immer zum Essen gezwungen. Sie musste essen, auch wenn sie
keinen Hunger mehr hatte. Auch heute isst sie noch alles und erklärt damit ihr Übergewicht.
„Es gab immer was zu Esse – sieht mer mir jo a´ch ahn. ((lacht)) „Du mussen essen!“
[82/16-17] (hat ihr Vater immer zu ihr gesagt)
„(...) un ... klar han ich´s dann immer uffgess, obwohl ich dann irgendwie kä Hunger hot –
irgendwie – des war/des war schon so drin.“ [82/22-23]
Hilfemaßnahmen vor und während der Inpflegenahme
Bevor Aisha in die Pflegefamilie kam, wurde der Familie eine Mitarbeiterin der
Sozialpädagogischen Familienhilfe zugeteilt, welche die Familie unterstützen sollte. Diese
Hilfemaßnahme scheiterte jedoch, da der Vater „auch versucht“ hat „sie zu verprügeln“.
[82/12]
Aisha muss zwischendurch auch für kurze Zeit in einem Heim gewesen sein, jedoch konnte
sie sich nicht mehr an die genaueren Umstände erinnern.
Während der Pflegschaft suchte Aisha noch einen Psychologen auf. Mit ihm führte sie
Gespräche, um die traumatischen Kindheitserfahrungen zu verarbeiten. Auf meine Frage hin,
ob ihr diese Hilfemaßnahme geholfen habe, antworte sie: „Klar, jedes Mol is unangenehm
wenn man so drüber schwätzt. ... Aber je mehr ma do drüber schwätze kann, desto/desto mehr
kann ma beweise ..ähm.. das is eigentlich gar nimmi wichtig. Das heut und jetzt is wichtig.
Was damals war, is eigentlich gar nimmi so wichtig.“ [94/20-23] Dass es ihr gut tut, wenn sie
über ihre Erfahrungen reden kann, spürte ich auch während des Interviews.
Bei dem Psychologen fanden auch Besuchskontakte mit dem Vater statt, bei denen das Kind,
der Psychologe, der leibliche Vater und die Pflegemutter dabei waren.
Die Herausnahme
Da es sich bei Aisha um einen Notfall gehandelt hat, gab es auch keinerlei Erstkontakte
zwischen dem Kind und der Pflegefamilie vor der Inpflegenahme. Aisha wurde von den
Jugendamtsmitarbeitern direkt von der Schule (1. Klasse) abgeholt und in die Pflegefamilie
gebracht.
Man trennte sie in der Schule von den anderen Kindern und brachte sie alleine in die
Turnhalle. Das löste Angst bei ihr aus. Sie wusste nicht, was nun mit ihr passieren würde und
war ganz alleine.
Die Sozialarbeiter fuhren dann mit ihr an dem Hochhaus vorbei, in dem sie mit ihrer Familie
gewohnt hatte und sie wollte unbedingt noch ihre Kuscheldecke holen. ( „Un do wollt ich
unbedingt mei Kuscheleck han. Weil e Kind hat immer irgendwas Spezielles was wichtig für
em is, un des war damals bei mir ebe die Kuscheldeck.“) [83/19-21], doch die
Jugendamtsmitarbeiter wollten einer Konfrontation mit dem Vater aus dem Weg gehen und
verweigerten Aisha ihre Kuscheldecke zu holen.
Man fuhr mit ihr zum Haus der Pflegefamilie. Die Familie wusste, dass an diesem Morgen ein
Pflegekind gebracht werden sollte. Allerdings war niemand zuhause, da die Eltern arbeiten
mussten und die Kinder in der Schule waren. Die Mitarbeiter des Jugendamtes hatten aber im
Voraus einen Schlüssel für das Haus erhalten und zeigten Aisha ihr zukünftiges Zimmer. Man
wollte ihr so die Möglichkeit geben, sich in Ruhe im Haus umsehen und sich regenerieren zu
können, bevor die restlichen Familienmitglieder kamen. Als die Pflegefamilie später eintraf,
hatte Aisha wieder Angst.
(„Ich hab in dem Moment han ich Angst gehat. In dem Moment wusst ich net, dass ich
Pflegekind wer oder bin. Klar!“) [83/33-84/1-2] Es fand keinerlei Aufklärung gegenüber dem
Kind statt, die ihm seine Angst genommen und erklärt hätte, was mit ihr passiert. Sie hat zwar
geahnt, dass sie in Zukunft in dieser Familie leben sollte, aber altersgerecht erklärt wurde ihr
alles erst viel später.
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(„Ich wäß es werklich nimmi wer/wer mir das gesa hat. Aber irgendwie hot ich´s a gewisst,
ich wäß net. Ich hot´s werklich gewisst, dass ich nimmi zurückkomme, un dass ich dann für
immer do bleibe, han ich irgendwie gewisst.“) [93/16-18]
Die Pflegefamilie und ihre Motive für die Aufnahme von vier Pflegekinder
Aisha´s Pflegemutter war Hausfrau und ihr Mann ist Rentner. Sie haben noch eine leibliche
Tochter und einen leiblichen Sohn, die beide älter als Aisha sind und mittlerweile ausgezogen
sind. Vor Aisha hatte die Familie bereits zwei weitere Pflegekinder (Jungen) aufgenommen,
deren Pflegschaft heute jedoch beendet ist. Aktuell lebt mit Aisha noch eine weitere, jüngere
Pflegetochter in der Familie.
Frau O. sagte, dass sie sich für die Pflegschaften entschieden hätte, da sie schon immer gerne
mit Kindern zu tun gehabt hätte. Dies war wohl auch die Motivation, aus der heraus sie
insgesamt vier Pflegekinder betreut, versorgt, erzogen und geliebt haben.
Probleme mit Aisha
Wahrscheinlich durch die nächtlichen, sexuellen Übergriffe seitens des Vaters und ihres
Bruders ausgelöst, hat Aisha heute noch Angst im Dunkeln. Sie konnte sehr lange Zeit bei der
Pflegefamilie nicht alleine in ihrem neuen Zimmer schlafen. „Ich hab Angst vor Dunkelheit.
[84/12-13] (...) Un ich hot jo e Hochbett gehat, un mei grossi Schwester (gemeint ist die
leibliche Tochter der Pflegeeltern) ..ähm.. hat dann mit mir in em Zimmer geschlof. Sie owe
un ich unne. Von daher ... dann ging´s.“ [84/17-18] Auch dank der Unterstützung der
gesamten Familie konnte sie ihre Ängste allmählich überwinden.
Einmal griff sie ihrem Lehrer in den Schritt. Ihre Pflegemutter sagte mir, dass sie sich wohl in
einer Konfliktsituation mit ihm befand und so sei es zu diesem sexualisierten Verhalten
gekommen. Dies ist bei Kindern, die sexuellen Übergriffen ausgesetzt waren, keine
Seltenheit. Es blieb bei dem einmaligen Vorfall. Heute ist Aisha ihr Verhalten sehr peinlich.
Als Kind hat Aisha eingenässt. „... un jedes Mol wenn´s Bett nass war, hat de Z. mich a in
Ruh geloss. (...) Das war irgendwie so Schutz“. [104/24+32] Die Pflegemutter erzählte, dass
Aisha auch in der Pflegefamilie noch einige Zeit lang eingenässt hat wenn sie vor
Stresssituationen stand, wie zum Beispiel vor Gerichtsverhandlungen. Dieses Problem hat
sich mit der Zeit von selbst verflüchtigt.
Was Aisha´s Erziehung angeht scheint es mir, als ob es keine größeren Probleme gab. Ihre
Pflegemutter hat sie zwar erst zur Pünktlichkeit erziehen müssen, aber ansonsten berichtete
weder sie noch die Pflegemutter über außergewöhnliche Schwierigkeiten.
Die Pflegemutter
Auch wenn Aisha von der gesamten Pflegefamilie Unterstützung erhalten hat, so scheint ihre
Hauptbezugsperson in der Pflegefamilie ihre Pflegemutter gewesen zu sein. („Die Mama! ...
Die war immer für mich do. Ja? Hat mich unnerstützt un so. Is mit mir a überall hin´gang.“)
[93/7-8] Sie hat Aisha von Anfang an unterstützt, ihr Mut gemacht, sie zu allen Terminen
begleitet und sehr viel Zeit mit ihr verbracht. Die Bindung der beiden Frauen ist auch heute
noch sehr eng und Aisha sagt zu ihr „Mama“.
Zu Besuchskontakten hat sie ihre Pflegemutter stets begleitet und ihr immer Mut gemacht und
über das Verhalten der Ursprungsfamilie ins Lächerliche gezogen. Aber im Interview erklärte
Frau O.: „Un das war auch schon Angst.“ [100/13] Und als sie von Aisha hörte, dass die
Pflegetochter bis heute nie gemerkt hatte, dass ihre Pflegemutter selbst Angst gehabt hat,
meinte sie: Also muss ich jo einichermaßen gut rüwer gebracht han, meine Stärke. Aber ich
war schon/manchmal han die Knie gezittert, muss ich schon sage.“. [100/18-19] Da sie
immer das Gefühl verspürt hatte Aisha zu beschützen, hat sie sich mutig vor das Kind gestellt
und den Vater sogar provoziert, wenn er Aisha verbal verletzt oder beleidigt hatte.
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Die Pflegegeschwister
Die Pflegeeltern haben zwei eigene Kinder, die beide älter sind als Aisha.
Als sie in die Familie kam, hatte die Pflegefamilie bereits zwei Pflegesöhne und heute lebt
eine weitere jüngere Pflegetochter in der Familie. Die Pflegschaft der beiden Pflegesöhne ist
bereits beendet und sie haben die Familie verlassen.
Zu der Tochter der Pflegeeltern hatte Aisha von Anfang an ein sehr gutes Verhältnis. Diese
hat sehr lange mit Aisha zusammen in deren Zimmer geschlafen, damit sie ihre Angst vor der
Dunkelheit überwand.
Auch das Verhältnis zum Sohn der Pflegeeltern ist gut.
Zu den beiden Pflegesöhnen der Familie bestand kein all zu enges Verhältnis. Im Interview
deutete Aisha an, dass einer der Jungen versucht hat sich ihr anzunähern, und dass dies wohl
mit ein Grund war, dass die Pflegeeltern ihn aus der Wohnung warfen.
Heute hat die Familie eine weitere Pflegetochter. Mit ihr hat Aisha häufig Streit und es gab
bereits eine handgreifliche Auseinandersetzung. Außerdem ist sie auf ihre kleine
Pflegeschwester eifersüchtig, da sie das Gefühl hat benachteiligt zu werden. („Zum Beispiel
wenn ... es L. krie´t alles un/un ... zum Beispiel mit em Computer. Es L. krie´t e neuer
Computer, was häßt neu? Von/von annere Leut de Computer ... wo mir geschenkt krie´t han.
Un ich krie´n em L. sei Computer, der schon etwas älter is – okay ich kann net gut mit em
Computer umgehe un ich kann net so gut schreibe – awer trotzdem! Ich krie´n dann immer
die/die/die abgelegte Sache!“) [110/10-15] Frau O. bestätigte diese Ungleichbehandlung,
indem sie sagte: „Es (Aisha) hat schon recht. Is so!”.[110/21] Das bedeutet, dass der
Pflegemutter das Problem bewusst ist, trotzdem scheint sie nicht fähig zu sein die Situation zu
ändern.
Die Familie der Pflegemutter
Die Eltern der Pflegemutter haben die Pflegekinder „nie“ [108/9] als Enkel angesehen. Auch
die Onkel und Tanten konnten die Kinder nie wirklich akzeptieren. Sie äußerten sich der
Pflegemutter gegenüber wenig verständnisvoll und herablassend: „Du hasch se doch nimmi
all!“ [108/7] oder „Ja, hasche nit noch genuch Asoziales von Pi.?“. [108/14] Frau O.
begründete diese Haltung damit, dass diese Menschen „bessere Leit“ [108/10] waren,
Berührungsängste den Pflegekindern gegenüber hatten und Angst davor, „was für
Verwandtschaft“ [108/13] die Pflegekinder mitbringen würden.
Für die Pflegemutter waren diese Reaktionen zwar schlimm, aber sie versucht diese zu
ignorieren. Von den Vorbehalten der Familie ihrer Pflegemutter nahm Aisha nichts wahr. Sie
fühlte sich von ihnen akzeptiert.
Kontakte zur Herkunftsfamilie während der Pflegschaft
Zur Mutter hatte Aisha schon nach der Scheidung der Eltern keinen Kontakt mehr.
Mittlerweile ist sie verstorben, was das Mädchen jedoch kaum berührt. Ihr ist die
Todesursache auch nicht bekannt. In unserem Gespräch erwähnte sie lediglich, dass die
Mutter viel geraucht und getrunken hatte.
Nach der Herausnahme des Kindes schaltete der Vater eine Anzeige („Verzweifelter Vater
sucht seine Tochter“) [85/20-21] in der Zeitung. Er wusste zu dieser Zeit nicht, wo sich seine
Tochter aufhielt. Später gab es ein Gerichtsverfahren, bei dem festgestellt werden sollte, ob er
seine Kinder geschlagen habe und ob ihm Besuchsrecht zustehe. Der Vater gab zu, dass er die
Kinder mit einem Schuhlöffel geschlagen hatte, bagatellisierte diese Gewalttat jedoch. Auch
warf er der Pflegemutter vor, Aisha zu manipulieren und gegen ihren Vater aufzuhetzen. Er
bekam vom Familiengericht trotzdem ein Besuchsrecht zugesprochen, obwohl Aisha diese
nicht wollte und Angst vor ihrem Vater hatte.
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Die Kontakte fanden im Beisein der Pflegemutter bei dem behandelnden Psychologen von
Aisha statt. Jedoch setzte der Vater seine Tochter unter Druck, als er sie mit allen Mitteln,
gegen ihren Willen, fotografieren wollte. Erst nach Ermahnung des Psychologen unterließ er
dies. Ein weiteres Treffen kam im Jugendamt zustande. Dort gab es zwischen der
Pflegemutter und dem leiblichen Vater bereits vor dem Gebäude eine Auseinandersetzung. Er
war beleidigend und sie provozierte ihn. – Der leibliche Vater rief danach nochmals bei der
Pflegefamilie an, und sprach kurz mit Aisha, wobei er darauf bestand, dass sie ihn „Papa“
nennen solle. Sie antwortete ihm: „Nee, bische aber für mich net, du bisch de Z.!“ [102/2627], was den Vater wiederum erzürnte. Auch als die Pflegemutter in Urlaub war, rief er noch
einmal an und behauptete, mit der Pflegemutter abgesprochen zu haben, dass er mit seiner
Tochter telefonieren dürfe. Der Pflegevater ließ sich aber nicht darauf ein und verweigerte
ihm das Telefonat. Derzeit besteht keinerlei Kontakt mehr zum Vater.
Die Pflegemutter sagte mir, dass sie prinzipiell nichts gegen Telefonate oder Besuche hätte,
aber das Verhalten des leiblichen Vaters sei immer noch zu aggressiv und er würde dadurch
alles sehr kompliziert machen. Außerdem beleidige er seine Tochter und setze sie jedes Mal
unter Druck.
Die beiden Geschwister von Aisha wurden gemeinsam in einem Heim untergebracht. Die
Pflegemutter fuhr mit Aisha zwei Mal zu ihnen und besuchte sie. Jedoch sind sie nach ein
paar Wochen aus dem Heim ausgerissen und zu ihrem Vater zurückgekehrt.
Es kam dann später zu einem Treffen mit den beiden Geschwistern im zuständigen
Jugendamt. Der Bruder verfolgte Aisha und ihre Pflegemutter nach dem Besuchskontakt auf
den Parkplatz, wobei er ein Messer bei sich hatte. Daher wurde zunächst von weiteren
Kontakte abgesehen.
Ihre Schwester hat Aisha nach einiger Zeit dann einen Brief geschrieben (woher sie die
Adresse der Pflegefamilie bekommen hatte, ist nicht bekannt) und sie um ein weiteres Treffen
gebeten. Zuerst trafen sie sich an einem neutralem Ort, einem Cafe. Danach besuchte sie ihre
Schwester zuhause bei der Pflegefamilie. Zuerst mit und später ohne Begleitung eines
Jugendamtsmitarbeiters. Allerdings stellte Aisha schon zu dieser Zeit fest, „irgendwie hot
mer kä Gesprächsthema“ [89/21-22] und „Es leie Welte zwische uns.“ [89/22]
Irgendwann rief dann ihr Bruder bei ihr an. Er hatte die Telefonnummer von der Schwester
erhalten, gegen den Willen von Aisha. Er fragte sie, ob sie sich mal treffen könnten, aber sie
lehnte dies ab und seit diesem Zeitpunkt hat sie von ihrem Bruder nichts mehr gehört.
Aufgrund der Weitergabe der Telefonnummer und dem Leugnen, dies getan zu haben, brach
Aisha dann auch endlich den Kontakt zu ihrer Schwester ab. Sie schrieb ihr noch einen letzten
Brief, indem sie ihrer Schwester erklärte, dass sie sich nicht länger von ihr belügen lassen
wollte. Auch wirkt die bisherige Biographie ihrer Geschwister sehr abschreckend auf sie und
sie möchte nicht mehr in diesem Milieu verkehren. Ihr Bruder ist sehr gewalttätig und
kriminell, und auch ihre Schwester hat „paar Mol abgedreht, nimmt Droge, trinkt ... jo, so
ziemlich das volle Programm!“ [84/26] Sie hat auch einen Einbruch begangen und dabei
einen Polizisten angegriffen. Dies erfuhr Aisha durch die Zeitung.
Die Pflegemutter würde einem Kontakt nicht im Wege stehen und Aisha dahingehend auch
nicht beeinflussen. Sie sagt zu dem Kontaktabbruch nur, dass sie ihre Geschwister heute zwar
nicht mehr sehen möchte, aber vielleicht in ein paar Jahren wieder...
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
Die Pflegemutter empfindet die Situation von Pflegefamilien heute als entspannter wie früher.
Sie sagt, dass die Jugendämter heutzutage mehr Personal hätten, was die
Jugendamtsmitarbeiter merklich entlaste. Diese seien heute besser geschult und würden sich
mehr um die Pflegefamilien und deren Pflegekkinder bemühen. Es gäbe zudem mehr
Seminare und Schulungen für Pflegepersonen, was Frau O. als sehr hilfreich empfindet.
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(„Es is eigentlich/es Lewe mit Pflege ..äh.. Pflegekinner is leichter, wie vor zehn Jahren.“)
[105/8-9]
Das Jugendamt war auch für Aisha eine hilfreiche Unterstützung, als ihre leibliche Mutter
starb. Die Tochter erhielt ein Schreiben, indem man von ihr dreihundert Euro forderte, um die
Beerdigungskosten zu bezahlen. Das Jugendamt hat sich für das Mädchen eingesetzt, so dass
Aisha die Kosten für die Beerdigung erlassen wurden. Sie hätte das Geld zu dieser Zeit nicht
aufbringen können.
Finanzielle Situation
Die Pflegemutter von Aisha wollte den Pflegekindern die gleiche Schulbildung
(Waldorfschule) ermöglichen, wie ihren leiblichen Kindern. Weil aber vom Jugendamt keine
Privatschulen bezahlt werden - der Staat stellt schließlich kostenlose Schulen zur Verfügung „han ich dann halt es Schulgeld verdient, in dem Sinn“ [106/8], indem sie im Kinderhort
arbeiten ging.
Ansonsten hatte die Familie keine finanziellen Probleme. Sie konnten den Kindern zwar keine
Markenkleidung kaufen können, aber sie sind im Alltag sehr gut zurecht gekommen,
versicherte mir die Pflegemutter.
Vorurteile der Gesellschaft
Die Pflegemutter erzählte mir, dass sie mehrmals in der Gesellschaft auf Unverständnis
gestoßen ist, wenn es um ihre Entscheidung Pflegekinder aufzunehmen, ging. Nicht nur ihre
Familie, sondern auch die Nachbarin reagierte mit Unverständnis: „Warum machschen du das
alles? Für was?“ [109/25]
Aber die Familie bekam nicht nur die Vorurteile der Menschen gegenüber Pflegefamilien zu
spüren, sondern vor allem die Vorurteile gegenüber Großfamilien. Zeitweise lebten in der
Familie sechs Kinder. Dies machte sich z.B. darin bemerkbar, wenn die ganze Familie in ein
Restaurant ging, dann wurden sie von den Nachbartischen aus begutachtet und man wies
ihnen einen Tisch in einer Ecke zu.
Von einem Erlebnis berichtete mir Aisha voller Begeisterun. Der Pflegevater ging mit fünf
der Kinder Essen und die Leute begutachteten die Familie die ganze Zeit. Aber die Kinder
verhielten sich sehr angepasst und zeigten ihre besten Manieren, so dass die anderen Gäste,
als die Familie das Restaurant verließ, vor Begeisterung, auf die Tische klopften.
Die Ausbildung
Aisha besuchte, wie alle anderen Kinder der Pflegefamilie die Waldorfschule und absolvierte
dort erfolgreich ihren Hauptschulabschluss. Danach ging sie auf eine private Berufsschule,
auf der sie die Mittlere Reife machte.
Ihr Berufswunsch ist Erzieherin. Als Grundlage machte sie eine Ausbildung zur
Sozialassistentin. Dann begann sie mit der Ausbildung zur Erzieherin an. Sie mache auch
einige Praktika im Kindergarten während dieser Zeit. Derzeit steht sie kurz vor Vollendung
ihrer Ausbildung.
Aisha könnte sich allerdings auch vorstellen, später eine Weiterbildung zur Heilpädagogin zu
machen.
Während der gesamten Ausbildung hat Aisha bei ihren Pflegeeltern gelebt und möchte auch
gerne noch einige Zeit bei ihnen bleiben.
Rückführung
Eine Rückführung in die Ursprungsfamilie war nie geplant. Aisha war sehr schnell klar, dass
sie nicht mehr zurück käme und wollte dies nach kurzer Zeit auch nicht mehr. („Dass ich
dann nimmi zurück wollt weil ich han jo dann was anneres kennengelernt.“) [86/6-7] Die
sexuellen Übergriffe und die Gewaltanwendungen, die sie durch ihren Vater und Bruder
erlebt hatte, hat sie nur langsam überwunden.
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Namensänderung
Aisha hätte gerne den Namen ihrer Pflegefamilie angenommen, da sie einen arabischen Vorund Zunamen trägt, der sie an ihren Vater erinnert und schwer auszusprechen ist.
Allerdings wollte ihre Pflegemutter das nicht. „Ich glaub die hätt gern unser Namen, aber das
hab ich nie gemacht. Hätt do immer des Gefühl ich entfern se von ihre Familien. Nee! Des
will ich net. Das sin dene ihre Wurzle.“ [111/1-3]
Rückblick
Aisha bekam in ihrer Pflegefamilie „Unterstützung, Liebe und das Ganze“ [91/21]. Sie hat
nie bereut in die Pflegefamilie gekommen zu sein. „Das is viel besser hier!“ [91/22]
Sie sieht, wie das Leben ihrer Geschwister bisher verlief, und ist sich sicher, dass auch ihr
Leben ohne die Pflegschaft einen ähnlichen Verlauf genommen hätte. „Heut bin ich echt froh,
dass ich draus komm bin. Weil, wenn ich so drüber nodenke, dann wär ich garantiert ... uff de
Stroß gelandet.“ [84/23-24]
4.2.3. Zusammenfassung
Aisha wurde aufgrund sexuellen Missbrauchs und Misshandlungen aus der Familie
genommen und in eine Pflegefamilie gebracht. Es handelte sich um eine Notfallunterkunft,
die zur Dauerpflege wurde.
Sie lebt heute noch in dieser Familie und man kann ihre Pflegschaft als erfolgreich betrachten.
Aber auch in dieser Pflegschaft gab es nicht nur positive Aspekte.
Aisha hat es sehr geholfen, dass ihre Pflegemutter sie von Anfang an unterstützt und begleitet
hat. Sie verbrachte sehr viel Zeit mit dem Kind und wurde so zu ihrer Hauptbezugsperson in
der Pflegefamilie. Aber auch die restliche Familie hat immer versucht sie nach Kräften zu
unterstützen und sie bei der Verarbeitung ihrer Vergangenheit zu stützen.
Die Gespräche, mit dem Psychologen, die sie während der Pflegschaft führte, halfen ihr
ebenfalls bei der Verarbeitung ihrer Erlebnisse.
Probleme ergaben sich aus den Folgen ihrer traumatischen Vorerfahrungen in der
Ursprungsfamilie. Sie nässte in Stresssituationen ein und zeigte ihrem Lehrer gegenüber ein
sexualisiertes Verhalten. Diese Probleme ergaben sich allerdings mit der Zeit von selbst. Die
Angst in der Dunkelheit konnte sie hingegen nur sehr langsam abgebauen.
Die fehlende Aufklärung des Kindes bei seiner Herausnahme verängstigten es sehr. Auch
wenn man zu schnellem Handeln gezwungen war, so hätte man trotzdem mehr auf das
Mädchen eingehen müssen.
Sicherlich war es ebenfalls wenig förderlich, dass die Eltern der Pflegemutter sie nie als
Enkelin anerkannt haben. Zwar bemerkte sie die Ablehnung selbst kaum, dennoch sprach die
Pflegemutter von Berührungsängsten und Ablehnung ihrer Familie gegenüber den
Pflegekindern.
Ein weiterer Punkt, der die Pflegschaft belastete, ist die heutige Pflegetochter. Ihr gegenüber
ist Aisha eifersüchtig und fühlt sich benachteiligt. Es kommt häufig zu Streitigkeiten
zwischen den Pflegekindern.
Eine Namensänderung fand bei Aisha nicht statt, obwohl sie gerne den Namen der
Pflegefamilie angenommen hätte. Einerseits um sich endgültig von ihrer Familie zu
distanzieren und mit ihrer Vergangenheit besser abschließen zu können. Andererseits um ein
noch größeres Zugehörigkeitsgefühl zur Familie entwickeln zu können. Außerdem hat sie
einen ausländischen Namen, mit dem sie sich nicht identifizieren kann.
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Der Kontakt zum Vater und zu ihren Geschwistern hat sie nach einigen Kontakten
abgebrochen. Es kam wiederholt zu Auseinandersetzungen und zählt Aisha nicht mehr zu
ihrer Welt. Sicher war in ihrem Fall ein Kontaktabbruch zum heutigen Zeitpunkt. Ob der
Kontakt in einigen Jahren wieder hergestellt wird, bleibt offen.
Aber auch die Beziehung zwischen der Pflegefamilie und dem leiblichen Vater ist geprägt
von Provokation und Ablehnung. Eine Kooperation war nicht möglich.
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4.3. FALLGESCHICHTE „CHRISSY“
4.3.1. Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Chrissy“ und deren Pflegemutter
Für das Interview mit Chrissy, besuchte ich sie zuhause in ihrer eigenen Wohnung. Sie
empfing mich sehr freundlich und die Atmosphäre war entspannt. Auch wenn ich von
Chrissy´s Pflegemutter im Nachhinein erfuhr, dass sie das Interview kurz vor dem Termin
noch absagen wollte, berichtete sie doch sehr ausführlich über ihr bisheriges Leben.
Chrissy war zu sehr reflektiertem Erzählen fähig. Sie erzählte sehr sachlich was bisher in
ihrem Leben passiert war und beurteilte häufig ihr eigenes Verhalten aus ihrem heutigen
Blickwinkel.
Dennoch fiel es ihr schwer ganz ohne Fragen von mir längere Zeit im Redefluss zu bleiben.
Die Fragen jedoch, beantwortete sie völlig ehrlich und offen. Ich entschied mich daher die
Interviewmethode nicht über die Bedürfnisse des Menschen zu stellen. Das Interview verlief
formell deshalb nicht einwandfrei, ist aber inhaltlich sehr ergiebig für die spätere
Datenerhebung.
Ein weiteres Problem war, dass Chrissy am Tag des Interviews etwas erkältet und heiser war.
Daher gibt es Stellen im Interview, die auf dem Tonband unverständlich waren. Diese habe
ich bei der Niederschrift durch ( ) gekennzeichnet.
Auch Chrissy spricht pfälzischen Dialekt, welchen ich bei der Abschrift so gut wie möglich
wiedergegeben habe um den Interviewvorgaben und der Authentik gerecht zu werden.
Das Interview mit Frau M., Chrissy´s Pflegemutter, fand eine Woche nach dem Interview mit
ihrer ehemaligen Pflegetochter, bei ihr zuhause statt.
Frau M. rief mich vorher an und betonte, dass es ihr ein außerordentliches Anliegen sei mit
mir zu sprechen, da sie auch ihre Sichtweise zu der Pflegschaft von Chrissy beitragen wollte,
welche sehr problematisch war.
Als ich bei Frau M. eintraf wurde ich sehr herzlich empfangen und sie freute sich sichtlich
über meinen Besuch. Die nötige Vertrauensbasis war von Anfang an vorhanden.
Das Interview mit ihr verlief formal wie auch inhaltlich perfekt. Sie verfügte über die nötige
sprachliche und soziale Kompetenz die Fallgeschichte von Chrissy sehr detailliert, gut
gegliedert und verständlich wiederzugeben. Auch hinterfragt sie sich und ihr damaliges
Handeln immer wieder im Verlauf des Interviews.
Chrissy´s Pflegemutter kommt aus der ehemaligen DDR und spricht fast ausschließlich
Hochdeutsch, was auch die Abschrift vereinfachte, sowie das Lesen des Interviews.
Zu erwähnen ist noch, dass ich erst von Chrissy erfuhr, dass ihre Pflegemutter auch die
Pflegemutter von Silke war. Damit die zwei Biographien dennoch einzeln betrachtet werden
können, habe ich mit Frau M. vor dem Interview vereinbart, dass ich sie zweimal getrennt
voneinander interviewe. Sie gab sich Mühe die Geschichten ihrer beiden ehemaligen
Pflegetöchter weitgehend voneinander zu trennen, sofern das möglich war. Allerdings ist der
sogenannte „Höhepunkt“ der Biographien die Schnittstelle und wird hier in diesem Interview
über Chrissy ausführlich erzählt und im zweiten Interview über Silke nur noch kurz
angeschnitten.
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4.3.1. Gliederung der Interviews
Chrissy ist heute 21 Jahre alt. Sie wohnt seit ihrem 16. Lebensjahr in einer kleinen eigenen
Wohnung im selben Ort wie ihre Pflegemutter. Sie macht derzeit ihre Ausbildung zur
Krankenschwester fertig und möchte in nächster Zukunft heiraten.
Zur Pflegemutter und der restlichen Herkunftsfamilie hat sie heute ein gutes Verhältnis und
regelmäßigen Kontakt. Ihr leiblicher Vater ist mittlerweile verstorben.
Die Herkunftsfamilie
Chrissy entstammt einem sozial schwachen Milieu. Ihre Mutter war Prostituierte, ihr Vater
war starker Alkoholiker und arbeitslos. Sie ließen sich scheiden als Chrissy vier Jahre alt war.
Chrissy wurde damals vom Richter gefragt, zu welchem Elternteil sie gerne möchte. Sie
„wollt eigentlich immer zu meiner Oma.“ [113/29], da diese sich immer etwas um sie
gekümmert hatte. Aber da ihre Großmutter schon zu alt war, um sich ausreichend um das
Kind zu kümmern, kam sie schließlich zur Mutter.
Chrissy hat auch zwei Brüder. Der älteste Bruder ist zehn Jahre älter. Zu ihm hat nie ein
engerer Kontakt bestanden. Der zweite Bruder wohnte bei der Tante, welche für ihn die
Pflegschaft übernommen hatte.
Das Leben mit der leiblichen Mutter
Chrissy war sehr oft im Krankenhaus, als sie bei ihrer leiblichen Mutter lebte. Sie erzählte im
Interview, dass die Ärzte gesagt hätten, dass sie nicht körperlich krank sei, sondern eher
psychisch. Dazu kam allerdings auch, dass sie stark abgemagert und verwahrlost war. Sie
selbst erzählte: „Es war im Krankenhaus fand ich eigentlich immer relativ schön. Also mir
hat´s immer ganz gut gefall.“ [113/16-17], und auf meine Nachfrage hin, was ihr im
Krankenhaus gefallen habe, antwortete sie: „...die Leut, war immer so/so Spielzimmer wo mer
spiele konnt, war immer jemand do. Ma hat immer Ansprechpartner gehat.“.[113/19-20]
Hieraus lässt sich erkennen, wie sehr sie unbewusst unter der Verwahrlosung gelitten hat und
wie sehr sie sich damals einen Ansprechpartner oder jemanden zum Spielen gewünscht hat.
Auch wenn sie vorher im Interview erklärt: „Am Anfang war das eigentlich e super Sach, bei
meiner Mama. Also ich hab mich super mit ihr verstan...“. [112/15-16] Aber sie relativiert
diese Aussage sofort. „...aber mit der Zeit wurd das dann immer schwieriger, weil ich halt
einfach ..hm.. nie wirklich Grenze hatte.“ [112/16-17] Zudem musste sie mit ihrer Mutter
häufig umziehen. Ihre Mutter hatte häufig wechselnde Partner, bei denen sie immer sehr
schnell mit ihrer Tochter einzog. Diese Unterkünfte waren jedoch oft nicht von langer Dauer.
Herausnahme/Bereitschaftspflege
Chrissy kam mit elf Jahren direkt vom Krankenhaus in eine Notfallpflegefamilie. Die Gründe
für die Herausnahme waren die starke Unterernährung und die Verwahrlosung. Sie vermutet,
dass die Ärzte das Jugendamt aufgrund ihres gesundheitlichen Zustandes informiert hatten.
Im Interview erzählte Chrissy, dass sie nie mitbekommen hat, dass ihre Mutter Prostituierte
war. Das hat sie erst später von ihrer Pflegemutter, Frau M., erfahren. Auch dass ihr
Ernährungszustand sehr bedenklich war, hat sie als Kind nicht wahrgenommen. Ihre spätere
Pflegemutter berichtete mir im Interview „... sie ..äh.. hat fast nur auf der Strasse gelebt...“
[137/5] und die Eltern „... haben sich nicht kümmert oder kümmern können.“.[137/9-10]
Auch „Und sie wär beinahe verhungert. Sie leg/sie hat ein paar Wochen, auf Leben und Todangeblich - ..ähm.. im Krankenhaus gelegen.“.[137/10-12]
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Die Notfallpflege war nur für drei Monate vorgesehen. Chrissy verblieb aber neun Monate in
der Bereitschaftspflege, da es sich als schwierig erwies eine geeignete Pflegefamilie auf
Dauer für sie zu finden. Auf meine Nachfrage hin, weshalb es so schwierig war eine geeignete
Familie für sie zu finden, erklärte sie mir: „Ich bin (...) bissche schwierig, also als Kind
ziemlich schwierig un ich hab halt/ich wollt das halt net. Ich wollt eigentlich zu meiner Mama
zurück un/aber des ging jo net un hab ich halt mit alle Mittel dagege gekämpft.“[115/4-6]
Diese Aussage macht deutlich, dass es den Jugendamtsmitarbeitern im Krankenhaus und zu
Beginn der Notfallunterkunft nicht gelungen ist, dem damals elfjährigen Mädchen die Gründe
für die Trennung von seiner Mutter kindgerecht zu vermitteln. Indem sie die ihr vorgestellten
Pflegefamilien alle ablehnte, hat Chrissy versucht zu ihrer Mutter zurückzukommen. Erst als
man ihr wiederholt erklärte: „...das is eigentlich der Grund wieso mir des mache. Eigentlich
um dich zu schütze, um dir e geregeltes Lebe zu biete, dann hab ich das schon verstan, ja.“
[114/9-11] Außerdem hat man ihr mitgeteilt, dass sie in der Bereitschaftspflege nicht so lang
bleiben könnte und sie bald eine Entscheidung treffen müsse, zu welcher Pflegefamilie sie auf
Dauer möchte. Dann entschied sie sich zu Frau M. zu ziehen. - „Naja, okay, des könnt ma
probiere!“ [115/14]
Der Erstkontakt zur Pflegemutter Frau M.
Chrissy und ihre spätere Pflegemutter lernten sich bei einer Zusammenführung in einer
Eisdiele kennen, bei der auch Mitarbeiter des Jugendamtes anwesend waren. Den Erstkontakt
zwischen Frau M. und Chrissy beschrieb die Pflegemutter sehr anschaulich: „Wir hatten mal
eine Zusammenführung (...) in der Eisdiele (...) un da hab ich die Chrissy dann kennengelernt.
Und ..äh.. ich war dann doch schockiert, wie sie Rad-schlagend, Handstand-machend durch
die ..äh.. durch die Eisdiele geturnt is. (...) Hab ich gedacht: Um Gottes Willen, werd ich das
schaffen?“ [137/16-17 – 138/1-4] Die Pflegemutter erklärte mir, dass sie anfänglich große
Ängste und Bedenken hatte, ob sie diesem Kind und seinem Erziehungsbedarf gewachsen sei.
Trotzdem nahm sie die Herausforderung an.
Motivation der Pflegemutter fremde Kinder bei sich aufzunehmen
Frau M. ist geschieden und ihre leibliche Tochter wuchs beim Vater auf. Sie hat die Trennung
von ihrem Kind nur sehr schlecht überwunden. Daher wünschte sie sich ein weiteres Kind.
Zuerst wollte sie ein Kind adoptieren. Als sie jedoch darüber unterrichtet wurde, dass eine
alleinstehende, berufstätige Frau kaum Aussichten auf eine Adoption habe, entschied sie sich
für eine Pflegschaft. Zwar hat sie dem Jugedamt bei ihrer Bewerbung als Pflegeperson nicht
erzählt, „dass das Ersatz für mein Kind sein“ [165/13] sollte, Doch sie wollte unbedingt ihre
Liebe loswerden, wie sie sagte. Und außerdem bot ihre Wohnung genug Raum und
Möglichkeiten einem Kind ein neues Zuhause zu gewähren. Ihre Motivation war also der
Wunsch nach einem weiteren Kind sowie sogenannte „Helfermotive“.
Vorwiegend brachte man sexuell missbrauchte Mädchen bei ihr unter, da in ihrem Haushalt
kein Mann lebte.
Probleme mit Chrissy
Chrissy´s Pflegemutter sagte gleich zu Beginn des Interviews: „Hm, ich muss ganz vorsichtig
sein, weil die Chrissy wirklich ein sch/schwieriges, schwieriges Kind war.“ [138/12-14]
Am Anfang war Chrissy überangepasst. Sie hat sich ihrer Pflegemutter gegenüber sehr
schüchtern und zurückgezogen gezeigt. Frau M. hat ihr am Anfang Bücher vorgelesen und ist
mit ihr spazieren gegangen, weil sie dachte, dass Chrissy daran Spaß hätte und um sich
kennen zu lernen. Sie sagt aber, dass sie später gemerkt habe, dass dem Mädchen das
scheinbar gar nicht gefallen habe. Chrissy empfand diese Zeit bei der Pflegemutter als sehr
angenehm, bis sie in die Schule ging. Dort lernte sie dann neue Freunde kennen und daraus
entstanden neue Problemstellungen.
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Zu Beginn sah Chrissy nicht ein, warum sie sich an feste Ausgangszeiten zu halten habe, denn
bei ihrer leiblichen Mutter gab es keine Regeln. Chrissy´s Mutter war kaum zuhause und das
Kind war sich selbst überlassen.
Weitere Probleme ergaben sich bei der Erziehung zu Ordnung und Hygiene. Chrissy sperrte
sich anfänglich im Bad ein, damit ihre Pflegemutter dachte sie würde duschen und sich die
Zähne putzen. Als sie mitbekommen hatte, dass ihr das Mädchen nur etwas vorspielte, zog sie
den Schlüssel vom Bad ab um sie kontrollieren zu können. Bei der Pflegemutter gab es die
Regel, dass freitags das Zimmer geputzt wird. Das Kind kam dann jeden Freitag von der
Schule nach Hause und hat geweint. Aber erst nach einiger Zeit hat Chrissy sich ihrer
Pflegemutter anvertraut und ihr erzählt, dass sie das Putzen total überforderte.
Zu schwerwiegenderen Problemen kam es dann später. Chrissy bedrohte ihre Pflegemutter
mit einem Messer, sie stahl ihr einige hundert Euro aus dem Portemonnaie und entwendete in
ihrer Abwesenheit das Auto. All diese Geschehnisse sind bis heute ein großes Tabuthema und
werden von Chrissy geleugnet.
Durch die sexuellen Übergriffe, die sie in ihrer Kindheit erfahren hatte, wies sie immer wieder
sexualisiertes Verhalten auf. Mit gerade mal zwölf Jahren erklärte sie ihrer Pflegeoma, wie
man Männer anschauen müsse, damit sie einer „Frau“ nicht widerstehen könnten. Auch hatte
sie einen sexualisierten Sprachgebrauch. Leider brachte dieses Verhalten die Pflegemutter
dazu, dass sie daran zweifelte, ob Chrisssy damals wirklich sexuell missbraucht wurde bzw.
es eventuell provoziert habe. Dieses Verhalten ist nach sexuellen Übergriffen typisch für
Kinder.
Da es zu vielen Streitigkeiten zwischen der Pflegemutter und Chrissy kam, versuchte sie des
öfteren zu ihrer Oma zu flüchten. Für sie war diese Flucht ein Problemlösemechanismus, der
aber auf Unverständnis bei ihrer Pflegemutter traf.
Eine letzte Problemstellung entwickelte sich durch die Konkurrenz, die Eifersucht und den
ständigen Wettbewerb um Aufmerksamkeit mit ihrer Pflegeschwester, der dann sogar in einen
Suizidversuch endete, als die Pflegemutter sich nach einem schweren Autounfall
hauptsächlich um die Pflegeschwester kümmerte und Chrissy nicht länger im Mittelpunkt der
Pflegemutter stand.
Die Pflegschaft war durch all die oben genannten Probleme sehr angespannt und belastet.
Vielleicht hätte die Anwesenheit eines Pflegevater die Lage entspannt. Chrissy bezeichnete
sich selbst zumindest als „Papakind“ [124/31-]. Sie selbst glaubt, dass ein Pflegevater „das
alles e bissche neutralisiert.“ [124/33-125/1] hätte.
Das Verhältnis zur Pflegemutter
Das Verhältnis zwischen der Pflegemutter und –tochter wurde durch die vielen
Erziehungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten von Chrissy stark belastet. Nur die
Ausdauer, die Geduld und das Verständnis der Pflegemutter haben die Pflegschaft trotz all
dieser Konflikte letztendlich erfolgreich verlaufen lassen. („Das Verständnis meiner Mama,
also von meiner Pflegemama. Die hat halt unheimlich viel Geduld gehat. Ich gla´b wenn se
ungeduldige Person gewäst wär, oder eher so Verständnislose, dann hätt das von Anfang an
net funktioniert.“) [125/10-12] Chrissy sagt: „Mei Pflegemama is eigentlich mei richtichi
Mama. Mei leiblichi Mama is halt mei Erzeugerin, ja halt eher so e Freundin für mich.“
[112/23/24]
Der vorzeitige Auszug und die räumliche Trennung haben dann sogar eine enge, vertraute
Bindung zwischen den beiden Frauen ermöglicht. („..Ähm.. seitdem ich halt jetzt hier wohn,
is unser Verhältnis auch wesentlich besser!“) [122/6]
50
Verhältnis zu den Pflegegeschwistern
Als Chrissy zu ihrer Pflegemutter kam, lebte bei ihr bereits eine weitere Pflegetochter.
Chrissy war eifersüchtig auf die enge Bindung zwischen ihr und der Pflegemutter und
kämpfte mit allen Mitteln um Aufmerksamkeit.
Durch ihre Aufsässigkeit stand sie permanent im Fokus ihrer Pflegemutter. Erst als die
Pflegeschwester einen Autounfall hatte und monatelang im Krankenhaus lag, galt Silke die
gesamte Aufmerksamkeit der Pflegemutter. Das verkraftete Chrissy nicht. Sie wendete sich
an ihre Freundin und deren Mutter und behauptete, dass ihre Pflegemutter sie vernachlässigen
und ihr nichts zu Essen gäbe.
Der Höhepunkt dieser Phase wurde erreicht, als Chrissy sich die Pulsadern aufschnitt. Im
Krankenhaus behauptete sie, ihre Pflegemutter habe sie misshandelt. Diese Behauptungen und
die Tatsache, dass sie einen Suizidversuch begangen hatte um die Aufmerksamkeit ihrer
Pflegemutter wieder zurück zu erlangen, führte fast zum Abbruch des Pflegeverhältnisses.
Die leibliche Tochter von Frau M. hat Chrissy zwar kennengelernt, aber sie hat keine Bindung
zu ihr aufgebaut, da diese bei ihrem Vater aufwuchs. Sie berichtete, dass es fraglich sei, ob sie
die leibliche Tochter ihrer Pflegemutter heute überhaupt noch wiedererkennen würde.
Auf das Tagespflegekind der Pflegemutter war Chrissy ebenfalls nicht eifersüchtig. Das
Mädchen war nur ein paar Stunden am Tag in der Pflegefamilie und daher nahm Chrissy sie
nicht als Konkurrentin wahr.
Zu den heutigen Pflegekindern der Pflegemutter besteht kaum Kontakt.
Chrissy hat also zu keiner ihrer Pflegeschwestern ein geschwisterliches Verhältnis aufgebaut.
Kontakte zur Herkunftsfamilie
Nach der Inpflegenahme hatte Chrissy keinen Kontakt mehr zu ihrer leiblichen Mutter. Sie
traf lediglich ihre Großmutter regelmäßig und später auch den Bruder und die Tante.
Erst als Chrissy 14 Jahre alt war, hatte sie das Bedürfnis - nach drei Jahren - den Kontakt zu
ihrer leiblichen Mutter herzustellen. Erste Treffen fanden an neutralen Orten statt, wie nach
Besuchen bei der Großmutter.
Chrissy konnte feststellen, dass ihre Mutter sich bemüht hatte ihr Leben zu ordnen. Sie lebt
seit längerem in einer festen Partnerschaft und hat ihren Beruf als Prostituierte aufgegeben.
Chrissy´s Mutter wollte sie gleich beim ersten Treffen umarmen und küssen. Davor schreckte
das Mädchen jedoch zurück. Bis heute erträgt sie die körperliche Nähe ihrer Mutter kaum.
(„Sie hat des früher net gemacht, warum fängt sie jetzt an des zu mache? Sie hat mir des
früher net geb, also denk ich ... . - Ich kann´s von ihrer Seit äfach net han.“) [132/6-7] Ihrer
Mutter fehlt für ihre Reaktion jegliches Verständnis. Sie sieht sich immer noch als Chrissy´s
Mutter und kann die Abwehr gegen ihre „mütterlichen“ Liebkosungen nicht nachvollziehen.
Es scheint auch nicht möglich zu sein, dass sie mit Chrissy über die Inpflegegabe und deren
Gründe spricht. Die Mutter denkt, dass ihre Tochter ihr nur Vorwürfe macht und laut Chrissy
ist eine Unterhaltung mit ihr „uff em höhere Level“ [130/33] nicht möglich. Sie wechselt
sofort das Thema, wenn Chrissy die Pflegschaft anspricht „weil halt in dem Moment
irgendwas anneres durch de Kopp geht!“ [131/6-7]
Die Familie der Pflegemutter
Die Familie der Pflegemutter war von Anfang an gegen die Aufnahme von Pflegekindern.
Vor allem die Mutter und die Schwester von Frau M. versuchten ihr das Vorhaben, fremde
Kinder aufzunehmen, auszureden. Mittlerweile hat sich die Familie damit arrangiert.
Allerdings kann ihnen die Pflegemutter nicht alle Probleme, die sie mit den Pflegekindern hat
mitteilen, weil sie ihr dann entgegnen: „Wir haben´s dir ja gleich gesagt!“. [143/27]
51
Chrissy wird von der Familie der Pflegemutter bis heute nicht als Familienmitglied angesehen
und man schließt sie von Familienfesten aus.
Mit der Pflegegroßmutter gab es eine Schlüsselsituation auf einer Familienfeier, als sie zwölf
Jahre alt war. Da saß Chrissy draußen vor dem Haus auf dem Bordstein und erklärte ihrer
Pflegeoma, dass sie (als Frau) die Männer nur lang genug anschauen müsse, bis sie ihr nicht
mehr widerstehen könnten. Dieses sexualisierte Verhalten von dem Kind, hat die Großmutter
sehr geschockt und die Abneigung gegen das Pflegekind erhärtet. („Da war meine Mutter
schockiert. Die war ... schockiert.“) [144/13-14]
Auf einer anderen Familienfeier bei der Schwester der Pflegemutter, hat sie mit ihrem
Pflegecousin rebelliert. Sie hetzte ihn gegen seine Eltern auf und erklärte ihm, dass Kinder
gegen ihre Eltern vor Gericht gehen könnten. Die darauf folgende Auseinandersetzung muss
so heftig gewesen sein, dass Frau M. heute nur noch alleine zu Familienfesten ihrer Schwester
eingeladen wird. Auch denkt die Schwester, dass ihr Sohn sich anders entwickelt hätte, wenn
er Chrissy damals nicht kennengelernt hätte.
Das Mädchen spürte die Ablehnung. „Jo, also das Gefühl hat ich früher oft, wo ich gedenkt
hab:“Irgendwie gehör ich eigentlich gar net do her.“, a´ch wenn des nie irgend/also von
manche Leute kam des halt schon rüber. So ... Von meiner/von meiner Pflegemutter ihre
Mutter. Pflegeoma eigentlich! Die hat mich eigentlich immer spüre geloss, dass ich jo
eigentlich nur/dass ich eigentlich richtig dankbar sin müsst, dass mei Mutter mich uffgenomm
hat. (...) Die hat mich das spüre losse, a´ch wenn se´s net laut ausgesproch hat.“ [128/29-31 –
129/1-3]Chrissy hat die Ablehnung der Großmutter dann „äfach so hingenomm“ und hat „se
dann ignoriert“. Sicherlich von Vorteil war, dass die Eltern der Pflegemutter weit entfernt
leben und daher der Kontakt nicht so oft zustande kam. Daher „hab ich dann gedacht:
„Okay! Ich muss net mit ihr auskomme.“ [129/22-23] Der Vater der Pflegemutter hat Chrissy
schon eher als Enkelchen angesehen und die Ablehnung der Tante und des Onkels hat sie
nicht offen wahrgenommen, da Chrissy im Interview sagte, dass diese sie „sehr warmherzig
uffgenomm“ [129/9-10] hätten.
Aufnahme von älteren Pflegekindern
Chrissy´s Pflegemutter hatte sich aus zweierlei Gründen entschieden ältere Pflegekinder, ab
zehn Jahren, aufzunehmen. Zum einen, ist sie berufstätig und daher müssen die Kinder schon
so selbstständig sein, um alleine in die Schule und wieder nach Hause gehen zu können. Der
zweite Grund ist, dass viele Pflegefamilien Babys oder Kleinkinder bevorzugen, weil diese
noch keinen all zu großen Leidensweg erfahren haben und noch nicht von ihren
Herkunftsfamilien geprägt wurden. Frau M. wollte, nach eigener Auskunft, auch größeren
Kindern die Chance auf ein neues, glückliches Zuhause bieten.
Motivation der Pflegemutter für eine Pflegschaft
Frau M ist geschieden. Ihre leibliche Tochter lebte nach der Scheidung beim Vater. Sie wurde
von ihm beeinflusst und hatte bis zu ihrem Auszug beim Vater keinen Kontakt mehr zur
Mutter. Frau M. hat die Trennung von ihrem Kind als sehr schmerzlich erlebt und wollte
unbedingt wieder ein Kind in ihrer Nähe haben. Sie hat eine große Wohnung und viel Platz,
den sie gerne mit einem Kind teilen wollte. Aber vor allem wollte sie ihre Liebe einem Kind
geben.
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
Das Jugendamt hat die Pflicht die Pflegeeltern vor einer Pflegschaft über das Kind
aufzuklären. Das heißt, es muss den Pflegepersonen Auskunft über die Herkunft des Kindes,
die Gründe der Inpflegegabe und auch über Verhaltensauffälligkeiten und –störungen erteilen.
Dies wurde im Fall von Chrissy versäumt. Dem Jugendamt war bekannt, dass Chrissy lügt,
stiehlt und betrügt, aber sie setzten Frau M. darüber nicht in Kenntnis.
52
Ansonsten beschrieb die Pflegemutter die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt als überaus
positiv. Sie hat zu jeder Zeit Unterstützung und Beratung erhalten. Auch wurde sie in
Krisensituationen aktiv begleitet und bei Erziehungsproblemen stand das Jugendamt hinter
ihr. („Die sind/Jugendämter die sind immer Ansprechpartner, wenn man ein Problem hat,
man darf sich nur nicht scheuen hin zu gehen. Die helfen einem immer.“) [163/33-34] Man
hat ihr Einmalzahlungen für die Erstausstattung des Kinderzimmers für Chrissy ermöglicht
und auch eine Reiterfreizeit für das Kind nach dem Suizidversuch bezahlt.
Finanzielle Situation der Pflegefamilie
Frau M. beschrieb ihre finanzielle Situation mit Pflegekindern als zufrieden stellend.
Sie bekam für Urlaube und Jugendfreizeiten Zuschüsse, auch wenn die Beteiligung an
Familienurlauben ihrer Meinung nach etwas gering sind (300.- Euro). Auch bemängelte sie,
dass man heute schon stark rechnen müsse, wenn das Pflegegeld ausreichen soll. Die
Erstausstattung (Zimmerausstattung, Bettdecke und Kissen, Erstbekleidung, etc. ) wurde für
die Pflegekinder wurde der Pflegemutter auch nicht immer bewilligt. Dennoch reichte das
Pflegegeld und ihr Einkommen aus, um Chrissy Urlaube am Meer zu ermöglichen und ihr
Reitstunden zu bezahlen.
Vorurteile in der Gesellschaft
Chrissy hat sich nie diskriminiert oder ausgegrenzt gefühlt, weil sie ein Pflegekind war. Ihr
war es nicht unangenehm mit anderen Kindern oder Erwachsenen über ihre Pflegschaft zu
sprechen.
Lediglich die Frage nach den Gründen der Inpflegegabe war für sie belastend, da sie diese als
Kind selbst nicht kannte. Sie erklärte sich selbst die Inpflegegabe damit, dass ihre Mutter
keine Zeit für sie gehabt hätte. „Das Verständnis kam erscht e bissche später, ich denk ich
hab eigentlich eher do demit zu tun gehabt, dass ich am Anfang net wollt, un es net verstehen
wollt! Weil ich halt eigentlich bei meiner Mama bleibe wollt!“ [126/28-30] Erst später wurde
ihr von ihrer Pflegemutter und ihrer Großmutter erklärt, dass ihre Mutter Prostituierte war und
ihr Vater starker Alkoholiker. Beide Elternteile waren nicht in der Lage Verantwortung für
ein Kind zu übernehmen oder eine angemessene Erziehung zu gewährleisten.
Namensänderung
Chrissy hat zwar mit ihrer Pflegemutter über eine Namensänderung gesprochen, jedoch wollte
sie ihren Namen gerne behalten. („Nee, ich möchte eigentlich meine Name behalle!“)
[125/16]
Rückführung
Eine Rückführung zur leiblichen Mutter war bei Chrissy von Beginn an nicht vorgesehen.
Ihre Mutter hatte sich auch nie darum bemüht ihre Tochter zurückzubekommen.
Die eigene Wohnung
Kurz nach der Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik zog Chrissy, damals 16 Jahre alt, in
eine eigene kleine Wohnung in der Nähe ihrer Pflegemutter. Diese hatte ihr den Auszug
angeboten und das Jugendamt, welches von ihrem Suizidversuch und den erheblichen
Schwierigkeiten während der Pflegschaft wusste, hat den Auszug befürwortet. Die
Pflegemutter behielt aber die Betreuung für das Mädchen und stand ihr weiterhin zur Seite.
Seit dem Auszug von Chrissy hat sich das Verhältnis zwischen den Beiden deutlich
verbessert. Die räumliche Trennung und die damit verbundene Unabhängigkeit und
Selbstständigkeit von Chrissy haben sich aber nicht nur positiv auf die Bindung zwischen
Pflegemutter und –tochter ausgewirkt, sondern auf das ganze Verhalten des Mädchens.
53
Sie selbst berichtete mir, dass sie vor ihrem 18 Geburtstag nie länger als 23 Uhr ausgegangen
ist. Auch hält sie ihre Wohnung sauber, strukturiert ihren Tagesablauf selbstständig und
vollendet demnächst ihre Ausbildung zur Krankenschwester. („Also ich muss sa´n, ich hab
nie über die Strenge geschla.“) [122/26]
Rückblick
Chrissy wohnt heute immer noch in der kleinen Wohnung, in die sie mit 16 Jahren gezogen
ist. Sie hat einen festen Freund, den sie bald heiraten möchte. Ihre Ausbildung zur
Krankenschwester wird sie demnächst beenden und zur Pflegemutter, aber auch zur
Herkunftsfamilie, hat sie heute regelmäßigen Kontakt.
Rückblickend war es für Chrissy wichtig, dass die Pflegefamilie weit entfernt von ihrem
früheren Umfeld war. „Weil ich glaub, wenn ich/wenn ich weiterhin in Pi. wär, wär ich
net/hätt ich net die Entwicklung durchgemacht, die mich jetzt ... die mich zu das gemacht hat,
was ich jetzt bin.“ [121/25-27] Auch hält sie die Erziehung ihrer Pflegemutter für
ausschlaggebend, dass sie sich „zum Positiven gewandelt“ [121/31] hat. Vor allem „das
Verständnis meiner Mama, also von meiner Pflegemama. Die hat halt unheimlich viel Geduld
gehat. Ich gla´b, wenn´s e ungeduldige Person gewäst wär, oder eher so verständnislose,
dann hätt das von Anfang an net funktioniert.“. [125/10-12] Ihre letzten Worte im Interview
waren: „Ich bin meiner Mama (Pflegemutter) sehr dankbar!“ [136/14] – ich denke das
spricht für sich!
4.3.1. Zusammenfassung
Chrissy kam aufgrund ihrer Vernachlässigung und deren Folgen, sowie dem sexuellen
Missbrauch durch ihren Onkel mit elf Jahren in eine Pflegefamilie. Sie wurde direkt vom
Krankenhaus, in dem sie aufgrund ihrer starken Unterernährung lag, abgeholt und für ein
neun Monate in einer Notfallpflege untergebracht, bis man eine dauerhafte Pflegeunterkunft
für sie gefunden hatte. Sie lehnte die ersten ihr vorgestellten Pflegefamilien ab und rebellierte
gegen die Herausnahme aus ihrer Herkunftsfamilie.
Chrissy´s Pflegschaft bei Frau M. war sehr schwierig. Aufgrund der traumatischen
Kindheitserfahrungen und der belastenden Trennungssituation von ihrer Familie reagierte
Chrissy mit Rebellion und verschiedensten Verhaltensauffälligkeiten und –störungen. Auch
die Erziehungsdefizite waren erheblich. Diese Umstände führten dazu, dass die Pflegemutter
häufig überfordert war und schadete der Beziehung zwischen den Beiden. Nur aufgrund der
Geduld und dem Verständnis der Pflegemutter und ihrem unerschütterlichen
Durchhaltevermögen kann man die Pflegschaft von Chrissy letztendlich als erfolgreich
beendet ansehen.
Sie zog, auf den Vorschlag ihrer Pflegemutter hin, mit 16 Jahren in eine eigene kleine 2Zimmer-Wohnung. Seit dieser räumlichen Trennung wurde das Verhältnis zwischen der
Pflegemutter und –tochter zusehens besser. Frau M. betreute das Mädchen weiterhin, doch
durch die Selbstverantwortlichkeit und die Freiheit, entwickelte sich Chrissy schließlich zum
Positiven.
Neben den Erziehungsschwierigkeiten, den Verhaltensauffälligkeiten und den daraus
resultierenden, täglichen Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Tochter war auch die
erste Pflegetochter von Frau M. ein belastender Faktor in der Pflegschaft. Chrissy wollte bei
ihrer Pflegemutter im Mittelpunkt stehen und kämpfte mit allen Mitteln um ihre
Aufmerksamkeit. Den Höhepunkt erreichte diese Geschwisterrivalität, als ihre
Pflegeschwester einen Autounfall hatte und für einige Monate im Krankenhaus lag.
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Zuerst erzählte Chrissy ihrer Freundin, dass sie bei der Pflegemutter vernachlässigt werde und
nichts zu Essen bekäme, dann schnitt sie sich die Pulsadern auf und kam daraufhin erst ins
Krankenhaus und später in die Psychiatrische Klinik, in der sie den Ärzten berichtete ihre
Pflegemutter hätte sie geschlagen. Diese Sachverhalte und Lügen von Chrissy überforderten
ihre Pflegemutter so sehr, dass sie zuerst die Pflegschaft beenden wollte.
Nach Beratung mit den Ärzten und der Unterstützung durch das Jugendamt wurde die
Pflegschaft jedoch fortgeführt.
Chrissy selbst fehlte bei ihrer Pflegefamilie der Pflegevater. Sicher hätte die Anwesenheit
eines Mannes und die Unterstützung der Pflegemutter durch einen Partner Frau M. die Pflege
in einigen Momenten erleichtert und Chrissy hätte sich weniger aufgelehnt.
Die Familie der Pflegemutter lehnte Chrissy ab. Sie erkennen sie bis heute nicht als
Familienmitglied an und Chrissy wird nicht mehr zu Familienfesten eingeladen. Ihre
Pflegeschwester ist allerdings in dieser Familie integriert und wird angenommen (wenn auch
nicht als Familienmitglied). Dies förderte sicherlich zusätzlich das Gefühl im Wettbewerb mit
ihrer Pflegeschwester zu stehen und minderte ihr Selbstwertgefühl sowie ihr
Zugehörigkeitsgefühl zur Pflegefamilie.
Eine Rückführung war bei Chrissy von Beginn an nicht geplant. Ihre Mutter unternahm
keinerlei Bemühungen ihr Kind zurück zu bekommen. Im Gegenteil entfernte sie sich immer
mehr von ihrer Tochter, je mehr diese sich an sie klammerte. Daher gab Chrissy ihrer Mutter
die Schuld für die Fremdunterbringung und fühlte sich durch ihr Desinteresse und ihre
Ablehnung sehr verletzt.
Auch die Gründe der Inpflegenahme wurden ihr erst langsam klar. Eine Vorbereitung des
Kindes und eine Aufklärung, was mit ihr weiterhin geschehen würde, wurde vom Jugendamt
bei der Herausnahme leider versäumt. Die Folgen waren Unverständnis und Rebellion seitens
des Kindes.
Das Mädchen hat ihren Namen nicht geändert. Sie hat zwar mit ihrer Pflegemutter über eine
Namensänderung gesprochen, jedoch lehnte sie dies ab. Vermutlich, da sie mittlerweile
wieder Kontakt zu ihrer Herkunftsfamilie hat und die Gründe der Inpflegegabe
nachvollziehen kann. Durch die Beibehaltung des Geburtsnamens integriert sie ihre früheren
Erfahrungen in ihre Biographie und behält ihre biologischen Wurzeln bei.
Die Kontakte zu ihrer Großmutter, ihrer Tante und ihrem Bruder, sowie später auch zu ihrer
leiblichen Mutter erscheinen mir auf sie stabilisierend gewirkt zu haben. Sie bekam dadurch
die Gelegenheit die Geschehnisse nachzuvollziehen und erkannte, dass die Pflegschaft für sie
wichtig und positiv war.
Des weiteren war die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt für die Pflege von Chrissy von
Bedeutung. Nicht nur Chrissy selbst erkannte in den Jugendamtsmitarbeitern
Ansprechpartner, sondern auch ihre Pflegemutter wurde zu jeder Zeit von ihnen beraten und
unterstützt. Die Kooperation gründete auf einer großen Vertrauensbasis zwischen der
Pflegeperson und dem Amt, so dass in Krisensituationen gemeinsam eine Lösung gefunden
werden konnte.
Positiv waren sicherlich auch die Urlaube mit der Pflegemutter, die Jugendfreizeiten und die
Reitstunden, die Frau M. ihrer Pflegetochter ermöglichte. Die Finanzierung übernahm sie zum
Teil selbst, wurde aber auch mit Einmalzahlungen durch das Jugendamt unterstützt.
55
Heute hat Chrissy ihre Ausbildung zur Krankenschwester fast abgeschlossen, ist in einer
festen Partnerschaft und wohnt immer noch in der eigenen Wohnung. Die Beziehung zur
Pflegemutter ist mittlerweile sehr innig. Das Mädchen erkennt sie als ihre Mutter an und sieht
in ihrer leiblichen Mutter nur ihre Erzeugerin bzw. eine Freundin. Dennoch hat sie zur
Herkunftsfamilie auch regelmäßig Kontakt.
Die Pflegschaft von Chrissy erwies sich für alle Beteiligten als überaus schwierig und
belastend, wurde aber erfolgreich beendet und Chrissy ist heute dankbar um die Herausnahme
aus ihrer Familie.
56
4.4. FALLGESCHICHTE „SILKE“
4.5.
Interviews mit ehemaligem Pflegekind „Silke“ und deren Pflegemutter
Ich besuchte Silke zuhause. Das Interview fand im Garten ihres Elternhauses statt, indem sie
heute mit ihrem Ehemann und ihrer pflegebedürftigen leiblichen Mutter lebt.
Bei Silke gelang es mir nur schwer Vertrauen aufzubauen. Sie konnte sich nicht vollständig
öffnen, um mir detailliert von belastenden Erlebnissen in ihrem Leben zu erzählen und sie
wich mir aus, als ich sie nach den Gründen der Inpflegegabe und ihren Vorerfahrungen in der
Herkunftsfamilie fragte.
Die fehlenden Informationen erhielt ich dann im Interview mit ihrer ehemaligen Pflegemutter.
Frau P., Silke´s Pflegemutter, empfing mich direkt im Anschluss an das Interview mit Silke
bei sich zuhause. (Silke wohnt nur einige Kilometer von ihr entfernt.)
Als ich bei Frau P. eintraf wurde ich sehr herzlich empfangen und sie freute sich sichtlich
über meinen wiederholten Besuch. Da wir uns bereits durch das Interview im Fall Chrissy
kannten, war die Atmosphäre sofort sehr entspannt und vertraut.
Das Interview mit ihr verlief formal, wie auch inhaltlich perfekt. Sie verfügt über die nötige
sprachliche und soziale Kompetenz die Fallgeschichte von Silke sehr detailliert, gut gegliedert
und verständlich wiederzugeben.
Silke´s Pflegemutter kommt aus der ehemaligen DDR und spricht fast ausschließlich
Hochdeutsch, was auch die Abschrift vereinfachte, sowie das Lesen des Interviews.
Frau P. war auch die Pflegemutter von Chrissy. Damit die zwei Biographien dennoch einzeln
betrachtet werden können, hat die Pflegemutter. sich in dem Interview darauf konzentriert die
Geschichten ihrer beiden ehemaligen Pflegetöchter weitgehend voneinander zu trennen
- sofern das möglich war. Die biographischen Schnittstellen der beiden Geschichten hat sie
nur kurz angedeutet, so dass ich in der Auswertung gegebenenfalls auch auf das Interview mit
ihr über Chrissy zurückgreifen werde.
4.5.1. Gliederung der Interviews
Silke ist heute 27 Jahre alt. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann in ihrem Elternhaus,
welches sie nach dem Tod des leiblichen Vaters geerbt hat. Sie pflegt ihre Mutter und
kümmert sich um die Großmutter, die im Nachbarhaus wohnt. Ihr Mann hat bereits zwei
Kinder, welche manchmal am Wochenende zu Besuch kommen. Dennoch wünscht sie sich
später eigene Kinder. Sie hat den Beruf der Erzieherin gelernt, ist jedoch seit ihrem
Anerkennungsjahr arbeitslos und sucht derzeit eine Stelle.
Zu ihrer Pflegemutter hat sie auch heute noch ein sehr gutes Verhältnis. Sie telefonieren
häufig und sehen sich regelmäßig.
Auch zu ihrer ersten Pflegemutter und der Pflegeschwester aus jener Familie hat sie heute
wieder sporadischen Kontakt.
Die Herkunftsfamilie
Silke lebte mit ihren Eltern, welche beide gehörlos waren in einem kleinen Dorf. Ihre Mutter
war zudem geistig behindert. Geschwister hat Silke keine.
Der Vater war starker Alkoholiker. Er hat Silke regelmäßig verprügelt und auch sexuell
missbraucht. Die Mutter war nicht fähig ihrer Tochter zu helfen.
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Silke´s Großmutter lebte im Nebenhaus, zusammen mit Silkes Onkel und dessen
thailändischen Frau. Der Onkel und die Großmutter waren für Silke ein „ganz großes
Schutzschild“.[207/13] Sie haben von den Misshandlungen des Vaters gewusst und boten
Silke eine Zufluchtsstätte. Trotzdem schalteten sie das Jugendamt nicht ein. Ebenso wie das
ganze Dorf gesehen und gehört hat, wie der Vater seine Tochter misshandelte, ohne dass
jemand dem Mädchen half oder die Behörden verständigte.
Es kam nicht nur zu sexuellen Übergriffen durch den Vater, sondern auch durch die Frau des
Onkels. Mittlerweile hat sich der Onkel von dieser Frau scheiden lassen.
Auch konnte die Familie dem Kind keine „dem Wohl des Kindes“ entsprechende Erziehung
bieten. Silke trug schmutzige Wäsche und es wurde in der Familie nur alle 14 Tage gebadet.
In schulischen Belangen konnten die Eltern ihrer Tochter keine Unterstützung bieten. Ihre
Noten waren dementsprechend schlecht.
Mittlerweile ist Silke´s Vater verstorben und hat seiner Tochter das Elternhaus vererbt.
Notfallunterbringung bei der Klassenlehrerin
Auch wenn in Silke´s Heimatdorf jeder von den Misshandlungen des Vaters gegenüber seiner
Tochter gewusst hat, ebenso wie Mutter, Großmutter und Onkel, war jedoch niemand im
Stande Maßnahmen zu ergreifen.
Erst als die Klassenlehrerin von Silke, die im Nachbarort wohnte, ihre blauen Flecken sah und
sich Silke ihr anvertraute, wurde das Jugendamt eingeschaltet. Jedoch verblieb sie in der
Familie, bis eines Tages der Onkel aufgrund einer neuen Misshandlung des Vaters die
Lehrerin anrief. Diese fuhr sofort zu Silke nach Hause und nahm das Mädchen mit zu sich.
Silke blieb dann ein paar Wochen bei ihr, bis eine Pflegefamilie für sie gefunden wurde.
Die Zeit in der ersten Pflegefamilie
Nach der Notfallunterbringung bei der Lehrerin kam Silke, im Alter von elf Jahren, zu dem
Ehepaar R. . Diese konnten keine eigenen Kinder bekommen und wollten ursprünglich ein
Baby oder Kleinkind adoptieren. Da aus diesem Vorhaben aber nie etwas geworden ist,
entschieden sie sich ein Pflegekind aufzunehmen. Silke sagte aber, „Am Anfang han ich
gemerkt, dass die das han erscht noch begreife (mussten), dass ich kä Zwäjähriches bin,
sondern e Elfjähriches.“ [179/9-11]
„De erschte Tach, der war uffrechend. Ich hat Angst gehat, ich han mich gefreut, ich ... han
Pläne gemacht für die Zukunft un ... . Hm, jo? Hat sich alles so ingespielt dann von Tach zu
Tach, von Woch zu Woch.“ [169/19-21] Silke wollte alles richtig machen, damit sie von ihren
Pflegeeltern gelobt und geliebt wird. Es sollte werden, „wie´s bei annere Kinner a´ch is.“
[170/3-4]
In dieser Familie wurde Silke zu Hygiene und Sauberkeit erzogen. („Jo, un sie han´s fertich
gebrung, dass ich in die Schul gang bin un änes Taches bin ich nimmi gehänselt wor, weil ich
werklich sauwer war! Ich net gestunk han! Weil ich sauwere Kläder anhot! Jo! Hm.“)
[183/13-15] Auch bei den Hausaufgaben halfen die Pflegeeltern ihrer Pflegetochter.
Mit 13 oder 14 Jahren ermöglichten ihr die Pflegeeltern ein Pferd zu haben, da Silke Pferde
über alles liebte. Sie fühlte sich wie eine Prinzessin und stand im Mittelpunkt, denn keine
ihrer Klassenkameradinnen hatte ein eigenes Pferd. Das Pferd war alles für sie. („Des war/des
war mei Kumpel, des war mei Freind, des war mei Seelsorger, des war mei/mei/mei
Partygefährt, des/des war äfach alles.“) [174/6-8] Das Mädchen verbrachte sehr viel Zeit im
Stall und war zu dieser Zeit sehr glücklich in ihrer neuen Familie.
Eine besondere Rolle spielte für Silke der Pflegevater. Er „war immer mei Goldstick in dere
Familie.“ [181/8] Sie erlebte ihn als sehr ruhigen, intelligenten und arbeitsamen Menschen.
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Auch das Umfeld hat laut Silke´s Erzählungen das Pflegekind sehr freundlich aufgenommen.
„Dene/dene Friede zu han nimmi/dass nimmi jedi Minut, jeder Tach, de ganze Alltach von
Angst bestimmt is, das war´s Beschde an allem! Ja!“ [183/5-7]
Doch irgendwann verlor sie die Stellung der Prinzessin in der Familie. Zu Anfang hatte sie
alles bekommen was sie wollte und nun wurden ihr plötzlich harte Grenzen gesetzt.
Auch machte sich immer mehr bemerkbar, dass die Pflegeeltern sich ein kleines Kind
gewünscht hatten, das sie vollkommen nach ihren Vorstellungen hätten erziehen und ihm ihre
Liebe geben können. („Un dementsprechend hat mir halt a´ch Zuwendung, e bissche Liebe un
Verständnis gefehlt.“) [187/7-8] Es kam dann zu größeren Spannungen zwischen ihr und
ihren Pflegeeltern. Silke hatte viele Pflichten im Haushalt und musste neben der Schule und
der Hausarbeit noch im Stall arbeiten, um sich den Unterhalt für ihr Pferd zu verdienen. Das
ging irgendwann über ihre Kräfte.
Große Probleme machte Silke auch der unstrukturierte Alltag. Z.B. erzählte sie, dass ihre
Pflegemutter oft wochenlang nicht geputzt hatte, bis das Chaos herrschte. Dann brach sie in
Tränen aus, rief eine Familienkonferenz ein und jeder musste mithelfen und stundenlang
putzen, bis alles wieder sauber war.
Auch die einkehrende Härte dem Mädchen gegenüber wurde für das Kind immer
unerträglicher. Sie wurde z.B. von ihrer Pflegemutter beim Rauchen erwischt und bekam
dann die gesamten Sommerferien Hausarrest. Silke musste Bücher von Erich Kästner lesen
und schließlich einen Aufsatz darüber schreiben. In der Bestrafung war für das Mädchen
keinerlei Sinn zu erkennen.
Silke sagte auch ganz klar, dass sie zu Beginn „ihr Kind“ [180/23] war und „ein Argument
sich als Familie noch ausse hinstelle zu könne“. [180/24-25] Aber am Ende war sie „nur
noch e finanzielles Mittel.“ [180/28] Sie fühlte sich wie „e Fremdkörper“.[180/23]
Als Silke dann 15 Jahre alt war, erfuhr sie, dass die Pflegeeltern ein weiteres Mädchen
aufnehmen wollten. Schon vor der Ankunft des Pflegekindes war Silke eifersüchtig und hatte
Angst die Eltern und ihren Platz in der Familie teilen zu müssen. („Es kommt noch e
Pflegekind. (...) Wo meine Platz jetzt wahrscheinlich noch mit mir däle will. Des/des war ganz
furchtbar.“) [170/14-15] Dieses Konkurrenzdenken wurde noch schlimmer, als das Mädchen
in der Familie ankam. „War blondes Mädche, schlank – was ich nie war. Hübsch, wo ich der
Meinung war, dass ich das a nie war; nie sin were.“ [170/17-18] Zu Beginn der Pflegschaft
stand dann auch dieses Mädchen mit all seinen Problemen im Mittelpunkt. Silke brach
daraufhin die innerliche Bindung zu ihren Pflegeeltern endgültig ab. Sie beteiligte sich nicht
weiter an gemeinsamen Aktivitäten und beschränkte die Kommunikation mit den restlichen
Familienmitgliedern auf das Nötigste.
Nach einiger Zeit allerdings verbündete sich Silke mit ihrer Pflegeschwester und die Beiden
wurden zu sehr guten Freundinnen. („Ich/ich gla´b eher, dass ich früher das unbewuscht so
gemacht han, dass ich gedenkt han, jetzt musch dich super mit ihr anfreunde, dass sie, deine
Feind, als Verbündete kriesch, um dann die Eltre auszutrickse un in die/die Eck zu schiebe.“)
[171/5-8] Doch Silke hat sich dadurch immer mehr von den Pflegeeltern entfremdet. Sie
widersetzte sich ihren Regeln und riss nachts aus. („Ware eh net mei Eltre!“) [171/16]
Kurz vor ihrem 16. Geburtstag wandte sie sich dann an das Jugendamt und forderte einen
Abbruch der Pflegschaft. Sie wollte in ein „Betreutes Wohnen“.
Ab dem Zeitpunkt, zu dem die Pflegemutter über den Abbruch der Pflegschaft und Silke´s
Beschwerde unterrichtet wurde, kommunizierte sie nur noch schriftlich mit ihr. Auch einer
Verabschiedung ging sie aus dem Weg als Silke vom Jugendamt abgeholt wurde.
Auch der Kontakt zur Pflegeschwester wurde von Silke abgebrochen, da diese sich eigentlich
auch beim Jugendamt beschweren wollte, dies aber schließlich nicht getan hatte. Silke fühlte
sich von ihr verraten.
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Notfallunterkunft bei Frau K.
Silke sollte eigentlich nur so lange bei Frau P. bleiben, bis für sie ein freier Platz in einer
betreuten Wohngemeinschaft gefunden wurde.
Frau P. hat mir im Interview erzählt, Silke hat bei ihrer Ankunft „gezittert wie Espenlaub“.
[190/12] Da hat sie ihr sehr leid getan. Silke hingegen berichtete über die Pflegemutter: „Sie
war mir unwichtig – egal. Ich wollt jo e Wohnung, un wollt net bei dere Frau lebe.“ [172/13]
Sie fand die Pflegemutter zwar nett und hübsch, aber als Frau P. ihr erzählte, dass sie
geschieden sei und ihre eigene Tochter beim Vater lebe, dachte Silke: „Ajo, wersch e Drache
sin, wahrscheinlich. Un ich bin jo eh net lang do.“ [172/16-17]
Nach einem kurzen Gespräch, ließ Frau P. Silke erstmal in ihrem Zimmer alleine, damit sie
sich regenerieren konnte. Sie zeigte ein überangepasstes Verhalten. Sie „hat die Musik so
leise gehabt, dass se wirklich kaum im Zimmer zu hören war.“ [190/25-26], erinnerte sich die
Pflegemutter. „Und so waren die ganzen nächsten Wochen. Sie hat sich zusammengerissen
ohne Ende, sie hat also ..äh.. totale Rücksicht/aber sie wollte wirklich alles richtig machen,
ne?“ [190/30-32]
Zwar war die neue Pflegemutter Silke noch am ersten Tag gleichgültig, allerdings entdeckten
die Beiden schon ab dem zweiten Tag der Pflegschaft viele Gemeinsamkeiten. Z.B. sind beide
„Morgenmuffel“, schauen die selben Fernsehsendungen gerne, lieben es ins Schwimmbad zu
gehen und sich zu sonnen. Durch die entdeckten Gemeinsamkeiten und das positive
Zusammenleben verzichtete Silke später sogar auf die ersehnte Freiheit, Selbstständigkeit und
Unabhängigkeit, die sie sich von dem Betreuten Wohnen versprochen hatte.
Das Verhältnis zur Pflegemutter P.
Die ehemalige Pflegemutter von Silke beschrieb ihre Beziehung zu Silke mit den folgenden
Worten: „Es war/es war auch für mich war´s sehr schön. Und wir hab´n uns nach kurzer Zeit,
hab´n wir uns wirklich recht lieb gewonnen, muss ich wirklich sagen.“ [191/30-32]. Und:
„Eigentlich war se nie so – am Anfang, ja doch e klänes bissel – so Tochter-MutterBeziehung, aber dann mehr Freundinnen-Beziehung, eigentlich, ne?“ – „Und das is halt
immer, immer erwachsener geworden, das Verhältnis.“ [197/11-13] – Und durch die
Schwierigkeiten mit der zweiten Pflegetochter ist Silke „wie so´n/n Partner von mir
aufgestiegen.“ [192/2] Die Gefühle zu den Pflegetöchtern haben sich aus Sicht der Mutter
unterschiedlich entwickelt. Die Pflegemutter beschreibt Silke auch als sehr reif in ihren
Ansichten und schon sehr erwachsen. Auch das Vertrauensverhältnis zwischen Silke und ihrer
Pflegemutter war und ist heute noch „sehr, sehr groß.“ [200/14]
Silke sieht in Frau P. auf der einen Seite ein Vorbild, auf der anderen Seite eine
Bezugsperson. Die Liebe die sie von Frau P. bekommen hat, sieht sie auch nicht als
mütterliche Liebe an. Sie bezeichnet ihre Pflegemutter als Freundin. Trotzdem der nicht
erhaltenen elterlichen Liebe sagte sie, dass die Beziehung für sie „in Ordnung“ [188/19] war.
Pflegegeschwister
Wie bereits erwähnt, war Silke in der ersten Pflegefamilie sehr eifersüchtig auf die neue
Pflegetochter und fürchtete ihre Eltern und ihren Platz in der Familie teilen zu müssen. Auch
auf das Aussehen ihrer neuen Pflegeschwester war sie neidisch. Und als sich nach der
Ankunft des Mädchens, die Pflegeeltern erst mal nur um dieses Mädchen und deren Probleme
kümmerten, führte das auch zu dem inneren Abbruch der Bindung mit ihren Pflegeeltern.
Auch wenn sich die beiden Mädchen später anfreundeten, so nur zu dem Zweck sich gegen
die Pflegeeltern zu verbünden.
In der zweiten Pflegefamilie war Silke das erste Pflegekind. Sie war fast volljährig, als ihre
Pflegemutter ein weiteres Mädchen bei sich aufnahm. Hier verspürte sie keinerlei Eifersucht.
Die neue Pflegeschwester war ihr größtenteils egal. Silke war erstens schon älter, zweitens
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bestand zwischen ihr und ihrer Pflegemutter ein sehr gutes Verhältnis und die Neue war laut
Silke ein „Giftzwockel“ [178/16], mit der ihre Pflegemutter nur Streit hatte.
Chrissy war eigensinnig und stur. Frau P. erzählte, dass durch den dauernden Streit mit ihrer
zweiten Pflegetochter Silke zu ihrer Partnerin aufstieg. Ein weiterer Grund, dass zwischen
Silke und der neuen Pflegetochter keine Konkurrenz aufkam (von Silke´s Seite her) war, dass
sie nur noch kurz bei der Pflegemutter wohnte, nachdem das neue Pflegekind eingezogen war.
Eine Geschwisterbasis konnten die Beiden jedoch nie zueinander entwickeln. Die Neue war
Silke gleichgültig, ebenso wie die späteren Pflegekinder ihrer Pflegemutter, die sie zwar bei
Besuchen kennen lernte, aber nie eine Beziehung zu ihnen aufbaute.
Die Erziehung in den beiden Pflegfamilien
In der ersten Pflegefamilie hat man Silke vor allem zu Hygiene und Ordnung erzogen. Auch
wurde ihr bei den Hausaufgaben geholfen, dennoch schrieb sie weiterhin in der Schule
schlechte Noten.
Der gesamte Erziehungsstil war sehr hart und konsequent. Es gab sehr strenge Regeln, wenig
Freiräume für das Mädchen und überzogene Bestrafungen bei Fehlverhalten. Silke hat zwar
sehr viele Pflichten im Haushalt gehabt und auch Verantwortung für ihr Pferd übernommen,
dennoch fehlte es an Lob und Anerkennung.
Auch bei der zweiten Pflegemutter gab es ebenfalls Regeln und Pflichten, jedoch waren
Silke´s Freiräume hier größer und ihre Pflegemutter war von ihrem Fleiß, ihrer
Selbstständigkeit und Zuverlässigkeit sehr beeindruckt, was sie das Mädchen auch spüren
ließ. Die Beiden haben freitags gemeinsam geputzt, Silke hat einmal in der Woche freiwillig
gekocht und sich zuverlässig an die ihr gesetzten Grenzen und Regeln gehalten.
Wahrscheinlich hat sie anhand ihrer Vorerfahrung in der ersten Pflegefamilie alles richtig
machen wollen und war auch erleichtert, dass sie bei dieser Pflegemutter auch mit Respekt,
Lob, Freiräumen und Liebe belohnt wurde.
Durch die Pflegemutter hat sie gelernt auf ihre Ernährung zu achten und hat dadurch ihr
Gewicht reduziert. Frau P. hat ihr schicke Kleidung gekauft und ihr somit ein großes
Selbstbewusstsein gegeben. Silke sagt: „Ich han mich ganz annerscht/ich han mich gefühlt
wie so e Blume, wo uffgang is, es awer net gepackt hat die ganz Zeit so richtich sich zu
entfalte.“ [183/27-29]
Auch dass die Pflegemutter sich sehr viel Zeit genommen hat, wenn es ein Problem gab, hat
Silke beeindruckt. Sie hat so lange mit ihrer Pflegetochter geredet, bis sie gemeinsam eine
Lösung oder einen Kompromiss gefunden hatten. („Die Pflegemutter hat bei/bei allem immer
viel gered! Geredet, geredet, geredet! Geredet, selbscht wenn/wenn du gar nimmi wollscht,
hat die noch geredet. Die/es is so lang über irgendwas gered wor, bis e Lösung do war.“)
[173/29-31]
Diese Pflegemutter hat ihrer Pflegetochter als Vorbild gedient und sie motiviert. Auch gab sie
ihr emotionale Wärme, Rückhalt und Unterstützung in Krisensituationen, was dazu führte,
dass Silke sich zu einer selbstbewussten, starken Persönlichkeit entwickelt hat.
Frau P. hat ihr Handeln auch immer selbst hinterfragt. Silke war ihr erstes Pflegekind, und sie
musste selbst noch vieles lernen, wie sie mir erklärte: „Es war ja auch mein erstes Pflegekind,
ich musste ja auch lernen.“ [192/27-28]
Probleme mit Silke
Silke hatte sehr schlechte Zensuren als sie zu Frau P. in Pflege kam. Gleich nach ihrer
Ankunft erhielt sie einen blauen Brief von der Schule. Ihre Pflegemutter hat sie unterstützt
und mit ihr gelernt. Sie hat es geschafft, dass Silke den Ehrgeiz entwickelte einen guten
Abschluss zu erlangen. Die Mittlere Reife auf der Berufsschule für Hauswirtschaft hat sie
dann mit einem Notendurchschnitt von 2,1 geschafft, obwohl sie vorher in vielen Fächern auf
einer fünf stand.
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Auch ihre Erzieherausbildung im Anschluss hat sie mit einem guten Durchschnitt beendet.
Besonders stolz war sie dann, als sie ihr Examen auf der Abschlussfeier überreicht bekam.
Eines der größten Probleme stellte das Rauchen dar. Silke rauchte seit ihrem zwölften
Lebensjahr. Mit sechzehn Jahren war sie dann bereits starke Kettenraucherin (rauchte 1 ½
Päckchen am Tag). Damit hat sie auch in der Pflegefamilie nicht aufgehört. Allerdings hat sie
es akzeptiert nur in der Küche, ihrem Zimmer oder draußen zu rauchen. Sie wollte ihre
Pflegemutter nie mit dem Zigarettenqualm belästigen und diese war von ihrem
entgegenkommenden Verhalten positiv angetan. Aber auch wenn Frau P. immer versucht hat
sie von den negativen Folgen von Zigaretten zu überzeugen, raucht Silke heute noch - wenn
auch wesentlich weniger.
Auch Alkohol war ein schwieriges Thema. Silke selbst erzählte mir: „Alkohol war sehr
wichtich. (...) un noch re Zeit han ich feschtgestellt, wie viel Spass mir des macht. So bissche
benomme im Kopp zu sin un wie viel leichter a alles is dann häm zu komme un dir das
Gemecker dann anzuhäre.“ [184/30-34 – 185/1] Silke hat in ihrer damaligen Clique
angefangen Alkohol zu trinken und dann bemerkt, dass sie die Streitereien mit ihrer ersten
Pflegemutter im alkoholisierten Zustand „besser“ erträgt. Bei Frau P. hat Silke dann mit
ihrem Freund getrunken. Sie haben sich an der Hausbar „bedient“ [185/14]und die Flaschen
dann mit Wasser wieder aufgefüllt, damit es der Pflegemutter, die nur selten Alkohol trinkt,
nicht auffällt. Irgendwann kam sie dann doch dahinter und sperrte alle alkoholischen
Getränke in ihrem Schlafzimmer ein. Silke trinkt aber auch heute noch gerne mal ein Bier
oder Wein. Ihrer Pflegemutter ist ihr Alkoholkonsum zwar immer noch zuviel, jedoch mischt
sie sich heutzutage nicht mehr in Silke´s Angelegenheiten ein. Ihr ist auch bewusst, dass ihr
Einfluss auf Silke nicht mehr so groß ist, wie damals.
Silke´s Pflegemutter war auch der Meinung, dass Silke´s Partnerschaften problembehaftet
waren. In den Interviews wurde mir klar, dass Silke sehr abhängig von ihren jeweiligen
Partnern war. Ihr erster Freund wollte sich bei der Pflegemutter „einzunisten“ [193/13], was
dieser gar nicht zusagte. Sie fühlte sich damit überfordert. Der Freund versuchte sich über
Regeln hinwegzusetzen, verhielt sich als würde er bei der Pflegemutter wohnen und verleitete
ihre Pflegetochter zum Rauchen und Trinken, was der Pflegemutter missfiel. Silke hat für ihn
Diät gemacht, da er ihr gedroht hat sie zu verlassen, wenn sie dick werden würde. Sie war ihm
hörig. Es hörte sich für mich so an, als ob Frau P. auch mit seinem Alter (er war etwa fünf
oder sechs Jahre älter als Silke) ein Problem gehabt hätte. Schließlich trennte sich dieser
Freund von Silke vor der Sylvesternacht, und sie hatte daraufhin einen schlimmen Autounfall,
wobei sie sich die Wirbelsäule brach und mehrere Monate im Krankenhaus verbrachte.
Während der Zeit im Krankenhaus ging sie mit einem anderen Jungen eine Partnerschaft ein.
(„Der äne wollt mich nimmi, der annere hätt mich ger´e gehat. Un dann bin ich bei dene
gang.“) [175/7-8] Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verbrachte Silke sehr viel Zeit
bei ihrem neuen Freund. Irgendwann verlangte er, dass Silke sich an der Miete beteiligen
sollte. Silke´s Hauptwohnsitz befand sich zu dieser Zeit noch bei ihrer Pflegemutter und ihr
zweiter Wohnsitz war eine kleine Wohnung neben der Pflegemutter, welche die Miete dafür
trug. Eine weitere Mietunterstützung wollte und konnte Frau P. ihrer Pflegetochter nicht
geben. Silke selbst befand sich noch in der Ausbildung und konnte ihrem Freund selbst auch
keine Mietbeteiligung zahlen. Daraufhin machte er ihr Vorwürfe. Außerdem hat er sie
geschlagen. Silke hat ihre Pflegemutter nachts oft angerufen und geweint. Sie ging aber
immer wieder zu ihm zurück, während die Pflegemutter ständig die Angst hatte, dass ihr
(gerade nach ihren Operationen) etwas Schlimmes zustoßen würde. Aber jegliche Warnungen
und auch Beschimpfungen führten nicht dazu, dass sie sich von ihm trennte. Erst einige Zeit
später hat Silke von selbst bemerkt, dass diese Beziehung keine Zukunft für sie hatte.
Heute ist sie verheiratet. Ihr Mann ist gutmütig und sie scheint glücklich zu sein. Auch ihre
Pflegemutter hat keine Probleme mit ihrem Mann.
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Ein letztes Problem stellte bei Silke ihr Aussehen und in dieser Verbindung das Essen dar. Sie
war früher wohl eher „pummelig“, so dass sie unter ihrem Aussehen litt und Komplexe hatte.
Das zeigte sich schon in ihrer Bemerkung über ihre Pflegeschwester in der ersten
Pflegefamilie: „War e blondes Mädche, schlank – was ich nie war. Hübsch, wo ich der
Meinung war, dass ich das a nie war; nie sin were!“. [170/17-18] Auch ihr erster Eindruck
von Frau P. spricht dafür, dass Silke sehr viel auf Äußerlichkeiten fixiert ist: „Mir is uffgefall,
dass se unheimlich hübsch war.“[172/13-14] Als ihre Pflegemutter dann beim Essen immer
nur kleine Portionen aß, tat sie es ihr gleich. Sie dachte sich: „Ich mach´s jetzt a so!“ [184/56]. Durch die geregelte und gesunde Ernährung bei Frau P., aber auch durch die geringen
Mengen nahm Silke dann auch wirklich an Gewicht ab. Für ihren ersten Freund machte sie
Diät, da dieser sie unter Druck setzte sie zu verlassen, wenn sie dick werden würde. In der
Pubertät hatte sie dann ein Gewicht von etwa 54 Kilogramm und sie beschrieb sich selbst wie
folgt: „Han ich gut ausgesieh´n! Un das mit 16/17! Do muss mer doch richtich gut aussiehe!“
[184/10-13]. Auch nach der Pflegezeit schickte sie ihrer Mutter regelmäßig Fotos von sich
und fragte sie, ob sie zu dick geworden sei. Mittlerweile ist Silke 27 Jahre und hat eine
durchschnittliche Figur. („Natürlich is se dann e bissl voller geworden, aber das passte zu
ihr. Das stand ihr!“) [195/16-17]
Der Unfall
Als Silke´s damaliger Freund am Abend der Jahrtausendwende mit ihr Schluss machte, hatte
sie daraufhin einen Autounfall, bei dem sie sich die Wirbelsäule mehrfach brach. „Silke nicht
alleine sein kann, wenn die Probleme hat.“ [197/18] Silke verbrachte dann insgesamt etwa
ein halbes Jahr in Krankenhäusern und wurde dreimal an der Wirbelsäule operiert. Ihre
frühere Pflegemutter (Silke war bereits ausgezogen und lebte in einer eigenen Wohnung)
besuchte sie täglich. Frau P. sagte: „Die Silke is dreimal, derart schwer operiert worden.
((Stimme zittert)) Und sie brauchte mich/sie brauchte mich wirklich. Und ich bin dann jeden –
obwohl ich gearbeitet hab – bin ich jeden Tag nach Kl. gefahr´n, auch wo sie hier in Ku. noch
lag.“ [150/11-13] Gerade die ersten drei Monate beschreibt die Pflegemutter als die
schlimmste Zeit in ihrem Leben. Diese Unterstützung von seitens der Pflegemutter rechnet
Silke ihr heute noch hoch an: „Wo ich sa´n muss, wo die Pflegemutter kä Sekun vun mir
gewich is, in dere Zeit wo se hat müsse schaffe gehen. Des war toll – jetzt muss ich heile.“
[174/22-25]
Nach Silke´s Entlassung aus dem Krankenhaus wurde sie von ihrem damaligen Freund
abgeholt. Dies hat die Pflegemutter sehr geschockt und enttäuscht. Sie hätte ihre Pflegetochter
sehr gerne selbst vom Krankenhaus abgeholt („Weil das das Schönste is, wenn man so was
mitgemacht hat.“) [197/26-27]
Durch diesen Unfall und den gemeinsamen Leidensweg, wurde die Verbindung zwischen den
beiden Frauen noch intensiver.
Die Familie der Pflegemutter
Die Mutter und die Schwester der Pflegemutter wollten ihr das Vorhaben Pflegekinder
aufzunehmen unbedingt ausreden. Sie hatten Sorge, dass Frau P. dieser Aufgabe aufgrund
ihrer Berufstätigkeit und ihrer Gesundheit nicht gewachsen sei.
Allerdings haben sie Silke mittlerweile völlig akzeptiert. Sie sei die Integrierteste von allen
Pflegetöchtern innerhalb der Familie der Pflegemutter, sagte Frau P.! Auch wenn sie sich
diesen Stand erst verdienen musste. Heute ist Silke aber „total anerkannt“. [202/18-19]
Auch die Pflegemutter selbst wird von ihrer Familie heute unterstützt. Zwar muss sie sich
gelegentlich - sobald es Probleme mit einem ihrer Pflegekinder gibt - noch anhören: „Wir
haben´s dir ja gleich gesagt!“ [143/27], dennoch haben sie sich mit der Situation arrangiert.
Dies erreichte die Pflegemutter aber hauptsächlich, indem sie ihnen vorwiegend die positiven
Seiten der Pflegschaften aufzählte und viele Probleme verschwieg.
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Kontakt zur Herkunftsfamilie während und nach der Pflegschaft
Während der ganzen Zeit, die Silke in der ersten Pflegefamilie verbrachte, hatte sie keinerlei
Kontakt zu ihrer Ursprungsfamilie. Zwar wurde dies am Anfang vom Jugendamt vorgesehen,
aber als sie den Kontakt ablehnte („Sie han nimmi zu meiner Welt dezu gehärt, in der ich
dann jetzt gelebt han, un wollt dodefun a nix mi here un nix mi wisse.“) [172/4-6],
unterstützten sie die Pflegeeltern in ihrem Wunsch. Ich hatte sogar das Gefühl, dass es ihnen
sehr recht war keinen Kontakt zur Herkunftsfamilie haben zu müssen. Dies hätte auch nicht in
ihre Vorstellung einer „normalen“ Familie gepasst.
Als Silke schon einige Zeit bei Frau P. gelebt hatte, entwickelte sich langsam wieder der
Kontakt zur Mutter und zu ihrer Großmutter. Sie rief ihre diese heimlich an und die sagte ihr,
wann ihr Vater außer Haus war. Denn nur dann besuchte sie die restliche Familie. Diese
Kontakte waren zu Beginn nur zweimal im Jahr, wurden dann aber allmählich häufiger.
Nach dem Tod des Vaters erbte sie das Elternhaus und zog mit ihrem Mann dort ein. Heute
baut sie das Haus gemeinsam mit ihrem Mann um und pflegt ihre Mutter. Auch zu ihrer Oma,
die noch im Nachbarhaus wohnt, hat sie wieder täglich Kontakt.
Kontakt zur ersten Pflegefamilie
Nach dem Pflegschaftsabbruch bestand erst mal kein Kontakt zu der ersten Pflegefamilie. Die
Pflegemutter war sehr getroffen von Silke´s Beschwerde beim Jugendamt und ihrem
Entschluss die Familie zu verlassen. Von der zweiten Pflegetochter der Pflegefamilie fühlte
sich Silke verraten, da diese nicht mit ihr gemeinsam die Familie verlassen hatte, so wie die
Mädchen es vereinbart hatten.
Nach einigen Jahren traf sie ihre ehemalige Pflegeschwester zufällig wieder und sie
unterhielten sich, als sei nie etwas vorgefallen. Sie erzählte Silke auch, dass der Pflegevater
im Sterben lag, was Silke sehr betroffen hat, da sie zu ihm immer ein gutes Verhältnis gehabt
hatte.
Als der Vater starb ging sie auf die Beerdigung und traf dort zum ersten Mal nach Jahren
wieder auf ihre Pflegemutter. Diese tat ihr so leid, dass sie diese ein paar Tage später anrief.
So entwickelte sich langsam auch wieder der Kontakt zu ihr. Sie sehen sich heute etwa einmal
im Jahr. Silke hat vor ein paar Jahren auch von dem Mitarbeiter des Jugendamtes erfahren,
dass ihre erste Pflegemutter damals bei der Herausnahme aus der Pflegefamilie zu ihm gesagt
hat: „Gucke se, dass se (Silke) gut unner kommt, das hat se verdient!“ [187/20-21]. Seit Silke
das gehört hatte, hat sie ihrer ersten Pflegemutter alles verziehen und war dankbar, das
erfahren zu haben.
Bezugspersonen während der Pflegschaften
In der ersten Pflegefamilie waren Silke´s Bezugspersonen einerseits ihre Pflegeschwester,
andererseits die Schwägerin der Pflegemutter. Zu ihr ging Silke immer, wenn sie Probleme
oder Streit mit der Pflegemutter hatte. Sie hat ihr erzählt, was sie belastete. Zwar hat diese
Frau verbal nie Stellung bezogen, doch dadurch dass sie dem Mädchen zugehört hat, gab sie
ihr das Gefühl sie stehe hinter ihr.
In der zweiten Familie war die Pflegemutter selbst die Bezugsperson. In ihr sah Silke eine
Mutter, aber vor allem eine Freundin, die immer für sie da war. Sie haben sich gegenseitig
„gut behandelt“. [198/23-24]
Zusammenarbeit mit dem Jugendamt
Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt beschreiben Pflegetochter wie auch –mutter als sehr
gut. Silke wurde vom Jugendamt bei ihrem Abbruch der ersten Pflegschaft sowie ihrem
Auszug bei der zweiten Pflegefamilie unterstützt. Die Pflegemutter fühlte sich von den
Jugendamtsmitarbeitern immer verstanden und unterstützt. Zwar sagte sie, dass die
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Hilfeplangespräche vielleicht vom ein oder anderen Jugendamt zu ernst genommen werden,
aber sie versteht auch, dass hinter der regelmäßigen Kontrolle nur Fürsorge und kein
persönliches Misstrauen steckt. Dennoch beschreibt sie den Druck, der manchmal auf ihr
lastet eine „bessere“ Mutter zu sein und bezeichnet das Pflegekinderwesen als „gläserne
Erziehung“. („Pflege/Pflegeeltern, oder Pflegemutter zu sein, das is ne gläserne Erziehung.“
(...) „Das is wirklich en enormer Druck, manchmal.“) [213/3-4+20]
Finanzielle Situation in der Pflegefamilie
Die Pflegemutter versicherte mir, dass sie keine finanziellen Probleme hatte während der
Pflegschaft von Silke.
Dennoch betont sie, dass das Pflegegeld schon seit sehr vielen Jahren dasselbe sei, im
Gegensatz dazu wäre aber alles teurer geworden. Sie sagte, dass sie heute umgerechnet
doppelt soviel Geld beim Einkauf ausgibt als früher und das würde so langsam doch ein
Problem darstellen.
Frau P. möchte allen Pflegekindern ermöglichen in Urlaub zu fahren und andere Städte und
Länder kennenzulernen. Zwar sei der Zuschuss, den sie für eine Jugendfreizeit (200.- Euro)
erhält ausreichend, aber die Zuzahlung die sie für einen Familienurlaub bekommt (300.- Euro)
sei in der Relation zu gering. Sie würde ihren Pflegekindern z.B. gerne ermöglichen einmal
das Meer zu sehen, da sie nicht wisse, ob die Kinder später noch die Möglichkeit hätten sich
einen solchen Urlaub selbst zu finanzieren.
Sie bemängelte, dass die Kinder oft nur mit einem kleinen Koffer in die Pflegefamilien
kommen und wenig Kleidung besitzen. Aber die Jugendämter zahlen nur in den seltensten
Fällen die Erstausstattung. Frau P. kleidet die Pflegekinder daher nach ihrer Ankunft komplett
neu ein, um ihnen Beleidigungen von den neuen Schulkameraden zu ersparen, oder dass sie
gar zum Außenseiter werden, weil sie in alten, kaputten Kleidungsstücken in die Schule
gehen müssen.
Auch die Erstausstattung für die Kinder (Bettdecke und Kissen, Zimmerausstattung, etc.) hat
die Pflegemutter fast immer selbst bezahlt.
Vorurteile in der Gesellschaft
Silke bekam nie irgendwelche Vorurteile gegenüber Pflegekindern zu spüren und hat daraus
auch kein Geheimnis gemacht. Sie kann sich allerdings vorstellen, dass andere Pflegekinder
unter der Situation leiden und benachteiligt oder gehänselt werden.
Der Auszug und der Beginn der Ausbildung
Silke hat nach der Mittleren Reife eine Ausbildung als Erzieherin begonnen. Ihr
Vorpraktikum machte sie im selben Ort, in dem die Pflegemutter lebte. Danach zog sie in eine
andere Stadt um auf die Erzieherschule zu gehen und nahm sich dort eine Wohnung. Sie war
damals noch nicht ganz 18 Jahre alt, trotzdem wurde die Wohnung vom Jugendamt und auch
ihrer Pflegemutter bewilligt und finanziert. Nach Beendigung dieser Ausbildung ist sie wieder
zurück in den Ort gezogen, in dem ihre Pflegemutter wohnte und nahm sich eine kleine
Wohnung zur Miete direkt neben ihrer Pflegemutter. Dort hat sie dann ihr Anerkennungsjahr
gemacht, nachdem ihre Ausbildung abgeschlossen war.
65
Rückführung
Eine Rückführung zu Silke´s leiblichen Eltern war nie geplant. Zwar wollte das Jugendamt
anfänglich, dass das Kind noch Kontakte zu seiner Familie hat, darauf wurde dann aber nicht
bestanden, als sich Silke völlig dagegen gesträubt hatte. („Sie han nimmi zu meiner Welt dezu
gehärt, in der ich dann jetzt gelebt han, un wollt a dodefun a nix mi here un nix mi wisse.“)
[172/4-6]
Namensänderung
Eine Namensänderung hat bei Silke weder in der ersten, noch in der zweiten Familie
stattgefunden.
Heutiger Kontakt zur Pflegemutter
Silke hat während ihrer Ausbildung mehrmals wöchentlich mit ihrer Pflegemutter telefoniert.
Dadurch hatte sie das Gefühl ein Stück von zuhause bei sich zu haben.
Heute hat sie ihr eigenes Leben und viele Pflichten. Der Kontakt hat sich verringert. Dennoch
telefonieren sie regelmäßig alle 14 Tage miteinander und sehen sich auch gelegentlich, wenn
sie Zeit dazu finden. Die Pflegemutter ist etwas traurig über die Unzuverlässigkeit von Silke
und den selteneren Kontakt, aber sie versteht, dass Silke viele Pflichten hat und weniger Zeit,
als früher.
Rückblick
Rückblickend sagt Silke: „Es war alles okay, so wie´s komm is. Es hat alles seine Sinn un
Zweck gehat un es hat mir net geschadet, im Gejedäl.“ [188/2-3] Sie denkt, dass sie ohne die
Inpflegenahme keinen Beruf erlernt hätte und vielleicht noch nicht verheiratet wäre, bzw. ein
„Ekel“[188/11] geheiratete hätte.
Durch die Erziehung in den Pflegefamilien weiß sie sich heute zu benehmen. Sie hat
Essmanieren beigebracht bekommen und man hat ihr beigebracht Respekt vor anderen
Menschen zu haben.
Frau P. meinte, sie habe Silke auf alle Fälle beigebracht, wie wichtig Ordnung ist, und dass es
unbedingt nötig ist seinen Tagesablauf zu strukturieren. Ebenso wie sich Ziele im Leben zu
setzen und einen Beruf auszuüben, damit man selbst für seinen Lebensunterhalt aufkommen
kann. Dies alles hat sie ihr in der Zeit ihrer Pflegschaft vorgelebt.
„Also ich denk ämol, dass ich sa´n kann, dass ich wäß was Lewe häßt, ich wäß es zu schätze,
ich/ich bin dankbar für des was ich jetzt han un bin. Un, jo! Das/das/das wär alles mit
Sicherhät net so!“ [188/11-13]
4.4.3.
Zusammenfassung
Silke wurde von ihrer Lehrerin aufgrund starker Misshandlungen durch den Vater, sowie
sexuellen Missbrauch aus der Familie herausgenommen. Sie schaltete das Jugendamt ein und
behielt das Kind ein paar Wochen bei sich, bis eine Pflegefamilie für das Mädchen gefunden
wurde.
Silke kam mit elf Jahren in die erste Pflegefamilie und brach die Pflegschaft wegen der
konflikthaften Beziehung zu der Familie und den rigiden Erziehungsstils mit etwa 15 Jahren
ab. Danach kam sie für weiter zwei Jahre zu Frau P. in Pflege.
Die beiden Pflegefamilien unterscheiden sich grundsätzlich.
Die Pflegeeltern der ersten Pflegefamilie wollten ursprünglich ein Baby oder Kleinkind
adoptieren. Als ihnen kein Kind zugesprochen wurde, entschieden sie sich ein Kind in Pflege
zu nehmen.
66
Zuerst ermöglichte man Silke ein eigenes Pferd zu haben und verwöhnte sie. Später war die
Pflegschaft jedoch nur noch durch einen harten Erziehungsstil, keinerlei emotionale Wärme
und ein starres Regelwerk mit harten Bestrafungen gekennzeichnet. Silke selbst fühlte sich
nur noch als finanzielles Mittel. Und wurde zu vielfältigen Haushaltspflichten herangezogen.
Als die Pflegefamilie dann ein weiteres Pflegekind aufnahm, zerbrach in Silke endgültig die
innere Bindung zu ihren Pflegeeltern. Sie war anfänglich sehr eifersüchtig auf die
Pflegeschwester und befürchtete diese bekäme nun ihren Platz in der Familie und die gesamte
Aufmerksamkeit der Pflegeeltern. Später verbündete sie sich jedoch mit dem anderen
Mädchen gegen die Pflegeeltern, was dann gänzlich zu einem Chaos führte.
Positiv war sicherlich die Bindung zum Pflegevater, welchen sie immer sehr geschätzt hatte,
wegen seiner ruhigen und arbeitsamen Art. Auch wurden ihre Pflegeschwester und die
Schwägerin zu ihren Bezugspersonen, denen sie sich anvertrauete wenn sie durch ihre vielen
Pflichten überfordert oder sich durch die Behandlung der Pflegemutter verletzt fühlte.
Schließlich beschwerte sie sich beim Jugendamt und verlangte den Abbruch der Pflegschaft.
Ihre Pflegemutter war verletzt und kommunizierte die letzte Zeit, die sie in der Pflegefamilie
verbrachte nur noch schriftlich mit ihr. Dann kam sie zu Frau P. in Pflege.
Die Pflegschaft bei Frau P. war zu Beginn nur als Übergang geplant, bis man für Silke einen
freien Platz im Betreuten Wohnen gefunden hatte. Jedoch verstanden sich die Beiden von
Beginn an, entdeckten viele Gemeinsamkeiten und entwickelten sehr schnell eine vertraute,
freundschaftliche Beziehung. Wahrscheinlich durch ihre Vorerfahrungen geprägt zeigte sich
Silke bei dieser Pflegemutter als sehr fleißig und angepasst. Ihre Pflegemutter beschrieb sie
als sehr reif und erwachsen. Daher kam es zu keinen größeren Konflikten zwischen der
Pflegemutter und der –tochter.
Dadurch dass Silke schon in der Pubertät war, als sie zu ihrer Pflegemutter kam, war es ihr
aber kaum noch möglich die Erziehungsdefizite auszugleichen. Silke rauchte stark und trank
gerne Alkohol. Auch wenn sie die Pflegemutter über die negativen Folgen belehrte und ihr als
Vorbild diente, hat sie nie aufgehört zu Rauchen und trinkt auch heute noch gerne Alkohol.
Problemhaft zeigte sich auch ihr Verhalten gegenüber Männern. Silke unterwarf sich ihren
Freunden und war ihnen nahezu hörig. Sie machte für ihren ersten Freund Diät und hatte
einen schwerern Autounfall, nachdem er die Beziehung mit ihr beendete. Der zweite
verlangte von ihr Mietzuschuss und schlug sie. Der Einfluss ihrer Pflegemutter war in diesen
Fällen nicht groß genug, dass sie ihr diese Partner hätte ausreden können.
Auch das geringe Selbstwertgefühl und die Komplexe, die Silke wegen ihrem Äußeren hatte,
konnte die Pflegemutter ihr nur teilweise nehmen, denn bis heute schickt Silke ihrer
Pflegemutter Fotos von sich um sie zu fragen, ob sie nicht zu dick geworden sei.
Positiv auf diese zweite Pflegschaft wirkte sich sicher auch der langsam wieder entstehende
Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Großmutter aus. Ihre Pflegemutter unterstützte sie und
begleitete sie anfänglich zu den Besuchskontakten. Auch zu ihrer früheren Pflegeschwester
und Pflegemutter baute sie wieder sporadisch Kontakt auf.
Eine Namensänderung kam für Silke nicht in Frage. Zwar hasste sie ihren Vater, für das was
er ihr angetan hatte, aber sie wollte ihre biologischen Wurzeln nicht verleugnen und hatte
weiterhin eine emotionale Bindung zu ihrer leiblichen Mutter und ihrer Großmutter.
Auch wenn ihre erste Pflegschaft gescheitert ist, so bereut sie keine der beiden Pflegen. Sie
hat viel gelernt und nur durch die Pflegschaften hat Silke ihre Ausbildung beendet, wurde
selbstbewusst und steht heute mit beiden Beinen im Leben.
67
4.4. VERGLEICH UND AUSWERTUNG DER FALLGESCHICHTEN
4.4.1. Gemeinsamkeiten
Bei allen untersuchten Fallgeschichten handelt es sich um weibliche Pflegekinder.
Die Grundlage der Herausnahmen aus den Herkunftsfamilien waren sich sehr ähnlich. In allen
drei Fällen wurden die Mädchen von Familienmitgliedern sexuell missbraucht und die
psychisch/geistige Verfassung der Mütter spielte eine Rolle. In zwei von drei Fällen war der
leibliche Vater starker Alkoholiker (Chrissy und Silke) und es fanden massive
Misshandlungen statt (Silke und Aisha). Bei Chrissy kam die Vernachlässigung durch die
Mutter, aufgrund ihrer Überforderung mit dem Kind hinzu. Chrissy war dadurch stark
unterernährt und verwahrlost. Es handelte sich also vorwiegend um familiäre Hintergründe
und aus ihnen resultierenden Betreuungsmängeln. (vgl. Blandow 2004; S. 125-126)
In allen drei Fällen war daher schnelles Handeln seitens der Jugendämter nötig. Die Kinder
wurden ohne Vorbereitung in Obhut (§42 SGB VIII) genommen. Silke wurde von ihrer
Klassenlehrerin, welche auf die Missstände innerhalb der Familie aufmerksam wurde, für
einige Wochen aufgenommen, bis man eine Pflegefamilie für sie gefunden hatte. Chrissy
wurde nach einem Krankenhausaufenthalt wegen Unterernährung direkt von den
Jugendamtsmitarbeitern in eine Bereitschaftspflegefamilie gebracht, bis man für sie nach
einem dreiviertel Jahr eine dauerhafte Pflegefamilie gefunden hatte. Und Aisha holte man
ohne das Wissen des leiblichen Vaters aus der Schule ab und brachte sie direkt in die
Pflegefamilie, in der sie bis heute lebt. Durch die versäumte altersgemäße Aufklärung wurden
bei Aisha Ängste ausgelöst und Chrissy rebellierte sehr lange gegen die ihr nicht
verständliche Wegnahme von ihrer Mutter.
Bei allen drei Mädchen handelte es sich um eine Dauerpflegen, bei denen recht schnell sicher
war, dass keine Rückführungen in die Herkunftsfamilien stattfinden würden.
Bei der Motivation der Pflegefamilien, handelt es sich wohl um binukleare Gründe. Bei
Chrissy´s und Silke´s Pflegemutter war sicher der Wunsch nach einer Familie, nach der
Scheidung von ihrem Mann und der Trennung von ihrer leiblichen Tochter, ausschlaggebend.
Aber ebenso der Wunsch nach (weiteren) Kindern und die soziale Verantwortung
(„Helfermotive“). Dies spielte auch bei Aisha´s Pflegefamilie eine Rolle. (vgl. Blandow 2004;
S. 130-131)
Ich möchte bei allen drei Pflegefamilien von einem Ersatzfamilienkonzept sprechen.
Einerseits, war eine Rückführung nicht geplant, was dazu führte, dass die Hauptaufgabe der
Pflegefamilien darin bestand zu den Kindern Bindungen aufzubauen, ihnen eine geeignete
Sozialisation zu ermöglichen und ihnen über die traumatischen Kindheitserfahrungen hinweg
zu helfen. (vgl. Gehres 2005, S. 10)
Aisha war zum Zeitpunkt der Inpflegegabe sechs Jahre alt. Chrissy und Silke wurden mit elf
Jahren aus ihren Ursprungsfamilien herausgenommen. Aisha ist bis heute in ihrer
Pflegefamilie. Chrissy zog mit 16 Jahren in eine eigene Wohnung und Silke zog mit etwa 17
Jahren aus, um in einer anderen Stadt ihre Ausbildung zu beginnen. In allen drei Fällen wurde
die Pflegschaft durch die Verselbstständigung der Kinder in der Pflegefamilie beendet. Diese
sieht man allgemein als einen „erfolgreichen“ Abschluss an, auch wenn keine Rückführung
stattfand.(vgl. Blandow 2004; S. 141)
Alle drei Mädchen vollendeten in der Pflegefamilie ihr 16. bzw. 18. Lebensjahr. Hier kann
von einer dauerhaften Integration im Sinne des Ersatzfamilienkonzeptes gesprochen werden.
(vgl. Jordan 1996; S. 24)
68
Silke kam vor ihrer Pflegschaft bei Frau P. in eine andere Pflegefamilie. Die erste
Pflegefamilie, in der Silke lebte, wurde von ihr selbst sehr abrupt und endgültig abgebrochen,
da die Beziehung zwischen ihr und ihrer Pflegefamilie konfliktbehaftet wurde und ihr die
emotionale Wärme fehlte. Sie entschied sich für den Weggang aus der Familie, nachdem sie
fast drei Jahre dort gelebt hatte. (vgl. Blandow 2004; S. 142- 143)
Nun möchte ich noch einen Blick auf das Leben in der Pflegefamilie selbst werfen.
Bei allen drei Mädchen fand keine Namensänderung statt. Silke und Chrissy lehnten eine
Namensänderung ab. Wahrscheinlich, da beide heute wieder regelmäßigen Kontakt zu ihren
Herkunftsfamilien haben und die Gründe für ihre Inpflegegabe verstehen lernten. Die Kinder
wollen ihre biologischen Wurzeln behalten und nicht verleugnen. (vgl. Stolte-Friedrichs 2002;
S. 198-199) Aisha hätte den Namen ihrer Pflegefamilie gerne angenommen. Die Pflegemutter
wollte dies jedoch nicht. Begründet hat sie ihre Entscheidung damit, dass sie dadurch das
Gefühl gehabt hätte, dem Kind seine Wurzeln zu nehmen. Aisha hätte die Namensgleichheit
sicher ein größeres Zugehörigkeitsgefühl vermittelt und geholfen, Abstand zu ihrem
verhassten Vater zu bekommen. Sie hätte dadurch sicher auch mit ihrem bisherigen Leben
bildlich besser abschließen können. Zudem hat sie einen arabischen Namen. Durch die
Annahme des Namens der Pflegeeltern wäre sie eventuell Fragen zu ihrer Herkunft und
Nationalität entgangen. (vgl. Stolte-Friedrichs 2002; S. 194-199)
Keines der Mädchen fühlte sich durch die Tatsache ein Pflegekind zu sein in der Gesellschaft
benachteiligt oder wurde mit Vorurteilen konfrontiert. Aisha´s Pflegefamilie hatte vielmehr
mit Vorurteilen gegenüber Großfamilien zu kämpfen, da sie zeitweise sechs Kinder in der
Pflegefamilie hatten.
In allen drei Fallgeschichten kam jedoch die Sprache auf die Familie der Pflegemütter. Keines
der drei Mädchen wurde von den „Pflegegroßeltern“ als Enkelin anerkannt. Auch hatten die
Familien der Pflegemütter kein Verständnis für die Entscheidung Pflegekinder aufzunehmen.
Chrissy wurde offen von der Mutter und der Schwester der Pflegemutter abgelehnt und
ausgegrenzt. Silke musste sich eine Integration und Anerkennung erst „verdienen“ und Aisha
bekam zwar keine offene Ablehnung zu spüren, aber die Pflegemutter berichtete von den
Berührungsängsten und der Ablehnung ihrer Familie gegenüber Pflegekindern.
Die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt wurde von den Pflegemüttern, aber auch von den
Pflegekindern positiv erlebt. Sie erhielten Unterstützung vor und während der Pflegschaft.
Man gewährte verschiedene Einmalzahlungen und die Jugendamtsmitarbeiter wurden in
Krisensituationen nicht nur verbal sondern auch nonverbal aktiv. Lediglich im Fall von
Chrissy beklagt die Pflegemutter, dass das Jugendamt ihr Informationen über das Verhalten
des Mädchens (lügt, betrügt, stiehlt, etc.) vorenthalten hat.
Ihre finanzielle Situation erlebten die Pflegefamilien als zufriedenstellend. Jedoch wurde
angemerkt, dass die Preise seit Jahren steigen, und das Pflegegeld das Gleiche geblieben ist.
Auch die Zuzahlungen zu Urlaubsreisen mit der Pflegefamilie seien zu gering und die
Erstausstattung würde nur selten bewilligt (Zimmerausstattung, Kissen und Bettdecke, sowie
eine Erstausstattung für Kleidung).
Betrachten wir die Geschwisterproblematik in den Pflegefamilien: Bei allen drei Mädchen
kam es einmal zu Konkurrenz und/oder Eifersucht gegenüber anderen Pflegetöchtern. Aisha
steht in Konkurrenz zu ihrer heutigen, jüngeren Pflegeschwester, da sie das Gefühl hat der
Pflegeschwester gegenüber benachteiligt zu werden. (vgl. Schmidt-Denter 1993; S. 344-346)
Silke war eifersüchtig auf das später in die Pflegefamilie hinzukommende Mädchen und
wollte ihren Platz in der Familie und die Aufmerksamkeit der Pflegeeltern nicht teilen.
Außerdem war sie eifersüchtig auf das Aussehen des Mädchens. (vgl. Schmidt-Denter 1993;
S. 344-346)
69
Bei Chrissy ging die Eifersucht auf die erste Pflegetochter ihrer Pflegemutter so weit, dass sie
sich die Pulsadern aufschnitt, als sich die Mutter aufgrund eines Autounfalls vorwiegend um
die erste Pflegtochter kümmerte und diese täglich im Krankenhaus besuchte. Auch das soziale
Umfeld (Familie der Pflegemutter) hat die Konkurrenz gefördert. (vgl. Schmidt-Denter 1993;
S. 344-346) Unbewusst oder bewusst werden Geschwisterrivalitäten durch die (Pflege-)Eltern
gesteuert.
Hierbei spielt es eine Rolle wie sie die Geschwisterbeziehungen regeln und welche
Rollenbeschreibungen sie vornehmen. (vgl. Wiemann 2007; S. 2) Chrissy´s Pflegemutter hat
sich z.B. mit der anderen Pflegetochter über die Probleme mit Chrissy beraten und sie als
Partnerin angesehen. Aisha´s Pflegeschwester hat z.B. einen „neuen“ Computer bekommen,
während Aisha deren alten Computer bekam. In Silke´s erster Pflegefamilie stand sie nach der
Ankunft der zweiten Pflegeschwester nicht länger im Mittelpunkt. Auffallend war, dass
keines der Mädchen eifersüchtig auf die leiblichen Kinder der Pflegeeltern war. Allerdings
wohnte die leibliche Tochter der Pflegemutter von Silke und Chrissy bei ihrem Vater und die
leiblichen Kinder der Pflegeeltern von Aisha waren älter als sie und unterstützten sie. Laut
Schmidt-Denter nehmen vor allem jüngere Geschwister gerne Hilfe von älteren Geschwistern
an, da der direkte Vergleich nicht zur Konkurrenz führt. (vgl. Schmidt-Denter 1993; S. 345)
Meiner Ansicht nach hat sich die Pflegschaft in allen drei Fällen positiv auf die Mädchen
ausgewirkt. Sie haben alle drei eine (fast) abgeschlossene Berufsausbildung, Chrissy hat einen
festen Partner, den sie heiraten möchte und Silke ist bereits verheiratet. Sie sind Teil dieser
Gesellschaft und haben Pläne für ihre Zukunft. Keines der Mädchen hat die Pflegschaft im
Nachhinein bereut und alle sehen, dass ihr Leben bei Verbleiben in der Herkunftsfamilie
anders (schlechter) verlaufen wäre, wenn sie in ihrer Herkunftsfamilie verblieben wären.
4.4.2. Unterschiede
Die auffälligsten Unterschiede in den Fallgeschichten von Aisha, Chrissy und Silke sind die
Probleme, die jene Pflegefamilien mit den Kindern hatten. Alle drei Mädchen haben durch die
traumatischen Kindheitserfahrungen tiefgreifende seelische Verletzungen erlitten. (vgl.
Nienstedt/Westermann; S. 793-794) Diese äußerten sich allerdings sehr unterschiedlich:
Aisha hatte Ängste vor der Dunkelheit. Dies kam wahrscheinlich durch die nächtlichen,
sexuellen Übergriffe in ihrer Herkunftsfamilie. Auch hat sie eingenässt. Einnässen wird bei
Kindern, die sexuell missbraucht wurden oft unbewusst als Abwehr- und Schutzmechanismus
gebraucht. (vgl. Shapiro/Skinulis 2005; S. 217-219) Einmal kam es zu sexualisiertem
Verhalten gegenüber ihrem Lehrer. Sexualisiertes Verhalten zeigt sich sehr häufig nach
sexuellem Missbrauch. (vgl. Rensen 1992; S. 132-133) Ihr gestörtes Essverhalten (Fresssucht)
gründet wahrscheinlich auch auf ihre Vorerfahrungen in der Pflegefamilie. Ihr Vater hatte sie
immer zum Essen gezwungen, auch wenn sie keinen Hunger mehr hatte. Esssüchtige Kinder
fressen sich ein „dickes Fell“ an und wollen so die Leere in ihrem Inneren stopfen. (vgl.
Käsler; S. 617)
Bei Silke spielten Zigaretten und Alkohol eine wichtige Rolle. Sie rauchte seit ihrem zwölften
Lebensjahr und trank seit der frühen Pubertät. Durch diese „Genussmittel“ wollen die Kinder
häufig die ihnen aussichtslose Situation verdrängen und sich betäuben. (vgl. Käsler; S. 617)
Die Körperpflege musste Silke auch erst in der ersten Pflegefamilie erlernen. Für sie war sie
unwichtig und sie kannte diese Hygienemaßnahmen nicht, denn bei ihren natürlichen Eltern
hatte sie nur alle 14 Tage gebadet. (vgl. Shapiro/Skinulis 2005; S. 83-85) Silke zeigt auch bis
heute ein gestörtes Essverhalten und eine gestörte Selbstwahrnehmung. Sie litt sehr lange,
anhand ihres Äußeren, unter einem geringen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Zwar
hat sich dieses mit der Zeit entwickelt, dennoch schickt sie bis heute ihrer Pflegemutter Fotos
von sich, damit diese ihr sagen soll, ob sie zu dick geworden sei.
70
Bei Chrissy gab es zahlreiche Erziehungsprobleme, wie auch Verhaltensauffälligkeiten und –
störungen. Zu Beginn erlebte sie ihre Pflegemutter überangepasst. Sie gab sich ruhig und
schüchtern. Das ist anfänglich bei einer Pflegschaft oft zu beobachten. Die Kinder können
nicht von Anfang an gleich ihre Bedürfnisse frei äußern. Dazu benötigen sie erst die
Erfahrung, dass ihre kindlichen Bedürfnisse auch erfüllt und nicht sanktioniert werden.
(Nienstedt/Westermann; S. 796-797) Nach der Phase der Überanpassung, kam es zu
vielfältigen Problemen mit ihr. Sie verweigerte das Duschen und Zähneputzen, was in ihrem
Fall eventuell durch Trotz oder Rebellion gegenüber der Pflegemutter erklärt werden kann.
(vgl. Shapiro/Skinulis 2005; S. 83-85) Sie war total überfordert mit der Aufgabe jeden Freitag
ihr Zimmer aufzuräumen und sie sträubte sich dagegen der Pflegemutter im Haushalt zu
helfen. Dies kann allerdings darin begründet liegen, dass sie ihr Zimmer frei gestalten und
sich durch die Unordnung abgrenzen wollte. Die Überforderung kommt wahrscheinlich
dadurch, dass sie nie gelernt hatte sich zu organisieren und ihr die Vorteile von Ordnung nicht
bewusst waren. (vgl. Shapiro/Skinulis 2005; S. 100-105) Auch gab Chrissy häufig
Widerworte und provozierte damit fast täglich einen Streit mit der Pflegemutter. Laut Shapiro
und Skinulis sind Widerworte das deutlichste Anzeichen von Missachtung der Kinder ihren
Eltern gegenüber und zeigt, wie wenig Respekt sie vor ihren Eltern haben. (vgl.
Shapiro/Skinulis 2005; S. 70-73) Chrissy log ihre Pflegemutter auch sehr häufig an. Die
Gründe hierfür sind mannigfaltig. Entweder sie log um Sanktionen zu entgehen oder um zu
rebellieren. Auch lügen manche Kinder um zu beeindrucken oder zu manipulieren. (vgl.
Shapiro/Skinulis 2005; S. 52-55) Neben den oben genannten Erziehungsproblemen kamen
auch noch folgende Verhaltensauffälligkeiten und -störungen hinzu. Chrissy stahl der
Pflegemutter aus der Geldbörse etliche hundert Euro und entwendete ihr, während ihrer
Abwesenheit das Auto. Diebstahl ist bei Kindern erst mal kein unübliches Verhalten. Viele
Kinder stehlen, weil sie das Gestohlene einfach haben wollen, oder um damit Freunde zu
gewinnen. Oder sie sind es einfach gewohnt, dass man ihnen ihre Wünsche sofort erfüllt. (vgl.
Shapiro/Skinulis 2005; S.61-65) Das sexualisierte Verhalten, welches das Mädchen zeigte
(werbendes, verführerisches Verhalten und ein sexualisierter Sprachgebrauch) ist typisch nach
sexuellem Missbrauch. Die Gefahr hierbei ist, dass man dem Kind vorwirft, dass es die
sexuellen Übergriffe provoziert hätte oder ihm diese Erfahrungen gar nicht glaubt. Jedoch ist
dieses paradoxe Verhalten typisch und durchaus ernstzunehmen. Chrissy´s Pflegemutter hat
mittlerweile Zweifel an den Übergriffen oder kann sich anhand ihres Verhaltens vorstellen,
dass das Mädchen ihren Onkel provoziert hat. (Rensen 1992; S. 132-133) Auch kam es zu
einem tätlichen Angriff auf die Pflegemutter, den diese nur schwer verkraftet hat. Chrissy ist
auch wiederholt von der Pflegefamilie weggelaufen. Dieses Verhalten ist für Kinder eine
Problemlösestrategie. Durch die Flucht aus der Familie wollen sie Problemen mit den Eltern
oder in der Schule häufig entfliehen. (Morich; S. 601) Der letzte Punkt ist der Suizidversuch
von Chrissy. Mädchen kündigen ihre Absichten häufiger an als Jungen und wählen eher
Methoden (z.B. Pulsadern aufschlitzen) die eine Überlebenschance bieten. So war es auch bei
Chrissy. Sie verletzte sich kurz vor dem Besuch ihrer Freundin und schnitt sich die Pulsadern
auf. (vgl. Käsler; S.613-615) Die Gründe für ihren Suizidversuch sehe ich in einer Mischung
aus situativer Einengung („Ich darf nie mehr zu meiner leiblichen Familie zurück!“) und
zwischenmenschlicher Einengung („Niemand mag mich!“). Auch ein wenig dynamische
Einengung kann anhand ihrer Schwierigkeiten in der Schule eine Rolle gespielt haben („Ich
kann nichts!“). (vgl. Käsler; S. 613-615)
Auch die Kontakte zur Herkunftsfamilie verliefen unterschiedlich. Alle drei Kinder hatten
direkt nach ihrer Inpflegenahme keinen Kontakt mehr zu der Ursprungsfamilie. Bei Aisha
klagte der Vater sein Besuchsrecht zwar ein, aber nachdem diese aggressiv und provokant
verliefen wollte Aisha keinen weiteren Kontakt. Auch zu ihren Geschwistern hatte sie
zwischenzeitlich Kontakt, brach diesen aber in beiden Fällen nach einiger Zeit ab.
71
Die Pflegemutter hat sie bei allen Besuchskontakten begleitet. Sie akzeptierte aber auch den
Wunsch ihrer Pflegetochter derzeit keinen Kontakt zu den Familienmitgliedern ihrer
Herkunftsfamilie zu haben. Zwischen dem leiblichen Vater und der Pflegemutter herrschte ein
eher angespanntes Verhältnis, dass durch Provokation seitens der Pflegemutter und
Beleidigungen und Aggressivität seitens des leiblichen Vaters entstand.
Die Pflegemutter von Silke und Chrissy ist immer bemüht ein gutes, konkurrenzloses
Verhältnis zu den leiblichen Eltern der Kinder zu haben. Sie versucht den Kindern die Gründe
der Inpflegegabe zu erklären und ihnen klar zu machen, dass sie nur ein leibliches Elternpaar
haben. Silke und Chrissy haben während ihrer Pflegschaft langsam den Kontakt zu ihren
leiblichen Müttern und anderen Familienmitgliedern wieder hergestellt.
Eine Pflegefamilie ist ein „binukleares Familiensystem“, denn die Kinder haben häufig nicht
nur Beziehungen in der Pflegefamilie, sondern auch noch zu ihrer Herkunftsfamilie. (vgl.
Griebel/Ristow 2007; S.1) Oftmals sind die Wertevorstellungen der beiden Familien völlig
unterschiedlich und gerade ältere Kinder nehmen diese Erziehungsunterschiede bewusst wahr
und müssen sie erst noch in ihre Erlebniswelt integrieren. Dies war vor allem bei Chrissy ein
Problem. Die Konkurrenz und Uneinigkeit zwischen die beiden Familien stellte in Aisha´s
Fall ein Problem dar. Sie musste den Wechsel ihrer Lebenswelt erst verkraften und hat sich
entschieden eine Familie aus ihrem Leben auszugrenzen.(http://www.jugendamt.nuernberg.de
- August 2007) Nicht umsonst spricht man bei Pflegekindern von “Kindern mit zwei
Familien” oder von “Zwei Familien mit einem Kern”.
Ein weitere Unterschied zeigt sich in den Bezugspersonen der Mädchen während ihrer
Pflegschaft und dem Verhältnis zwischen den Pflegetöchtern und den –müttern.
Aisha und ihre Pflegemutter haben ein sehr inniges Mutter-Tochter-Verhältnis. Frau O. hat
Aisha vor ihrer Herkunftsfamilie beschützt, sie zu allen Terminen begleitet, sehr viel Zeit mit
ihr verbracht und sie beschützt. Sie ist für Aisha ihre „Mama“ und hat für sie Vorbildfunktion.
Auf meine Frage hin, wer ihre Hauptbezugsperson während der Pflegschaft war, antwortete
sie mir „Die Mama!“.
Silke hatte zu ihrer Pflegemutter in ihrer ersten Pflegefamilie ein sehr angespanntes
Verhältnis. Diese Frau war sehr hart und konsequent im Umgang mit dem Mädchen und es
entwickelte sich kein enges emotionales Band zwischen ihnen. Als ihre Bezugspersonen in
dieser Zeit nannte Silke die Schwägerin der Pflegemutter und später auch die
Pflegeschwester. Nach ihrem Abbruch der Pflegschaft, kam Silke zu Frau P.! Sie war bei
ihrer Inpflegenahme bereits fast 16 Jahre - sehr reif und erwachsen in ihrem Verhalten und
ihren Ansichten. Das führte dazu, dass sich zwischen den Beiden eine freundschaftliche
Beziehung entwickelte, jedoch war Frau P. für Silke während ihrer Pflegschaft ihre
Hauptbezugsperson.
Chrissy´s Pflegschaft war sehr schwierig und anhand der mannigfaltigen
Erziehungsproblemen und Verhaltensauffälligkeiten, sowie dem hieraus resultierenden
täglichen Streit war die Bindung zwischen der Pflegemutter und Chrissy sehr angespannt.
Trotzdem sprach Frau M. von „Liebe“ ihrer Pflegetochter gegenüber und für Chrissy ist sie
ihre „richtige“ Mutter. Als weitere Bezugspersonen zählte Chrissy ihre Großmutter und ihre
Tante aus der Herkunftsfamilie auf.
Kleinere Unterschiede gab es auch bei den Pflegefamilien selbst.
Aisha´s Pflegeeltern waren verheiratet, die Mutter ist Hausfrau und der Vater mittlerweile
Rentner. Sie sind etwas älter und besitzen ein Eigenheim mit Garten.
Die Pflegemutter von Chrissy und Silke ist berufstätig, geschieden und ihre Tochter wuchs
beim Vater auf. Sie lebt in einer Mietswohnung mit Garten. Über die nötigen sozialen
Kompetenzen, ausreichende finanzielle Sicherheit und stabile Familienverhältnisse verfügen
allerdings alle Pflegefamilien meiner untersuchten drei Fallgeschichten. (vgl.
http://www.familienhandbuch.de - Juni 2007)
72
Die Pflegemutter von Chrissy und Silke hat sich im Gegensatz zu vielen anderen
Pflegefamilien auch dazu entschieden ältere Pflegekinder aufzunehmen - einerseits durch ihre
Berufstätigkeit bedingt und andererseits weil sie auch älteren Kindern noch die Chance auf
ein intaktes, liebevolles Familienleben ermöglichen möchte.
4.4.3. Reflexion
Auch wenn meine Studie nicht als repräsentativ für alle Pflegschaften gelten kann, da ich nur
drei Fallgeschichten in meiner Arbeit untersucht und verglichen habe, so lassen sich dennoch
einige interessante Erkenntnisse ableiten. Besonders aussagekräftig erscheinen mir
Beobachtungen, die sich in allen drei Biographien machen ließen. Aber auch
einzelfallspezifische Ergebnisse können durchaus zum Nachdenken anregen.
Alle drei Mädchen wurden bei ihrer Herausnahme aus der Herkunftsfamilie nicht ausreichend
über das Geschehen und ihre zukünftige Unterbringung in einer Pflegefamilie aufgeklärt. Dies
hatte die Folge, dass eines der Kinder sehr große Ängste verspürte und ein anderes sich so
sehr gegen die Herausnahme wehrte, dass es die ihm vorgestellten Pflegefamilien ablehnte
und rebellierte.
Auffällig war, dass nicht in einem der Fälle die Familie (insbesondere die Eltern) der
Pflegemutter hinter der Entscheidung der Pflegemütter stand, Pflegekinder bei sich
aufzunehmen. Dies äußerte sich durch verbale sowie nonverbale Kritik an den Kindern. Die
Kinder fühlten sich durch die direkte oder auch indirekte Ablehnung und die
Berührungsängste ausgegrenzt und es minderte ihr Zugehörigkeitsgefühl zur Familie. Auch
die Pflegemütter selbst hatten unter der Kritik und den Vorbehalten ihrer Familie zu leiden.
Sie scheuten sich in Krisensituationen der Familie ihre Probleme anzuvertrauen und
unterlagen einem noch größeren Druck die Pflegschaften gut zu bewältigen.
Die Aufnahme mehrerer Pflegekinder zur selben Zeit halte ich für eine problematische
Entscheidung. Es kam bei jedem der drei interviewten Mädchen einmal zu Konkurrenz,
Eifersucht oder Wettbewerb gegenüber eines anderen Pflegekindes. Dem könnte man
entgegenwirken, wenn man sich erst zu einer weiteren Pflegschaft entschließt, sobald die erste
beendet ist.
Sichtbar wurde wohl auch, dass Liebe allein in einer Pflegefamilie nicht genügt, um den
Erziehungsdefiziten und dem Entwicklungsbedarf eines Pflegekindes gerecht zu werden. Es
kam in all meinen untersuchten Fallgeschichten zu Erziehungsproblemen,
Verhaltensauffälligkeiten und –störungen der Pflegekinder. Diese sind sicher auf die
traumatischen Kindheitserfahrungen und die belastende Trennungssituation von der
Herkunftsfamilie zurückzuführen.
Überraschend war für mich, wie gut die Zusammenarbeit mit den Jugendämtern funktionierte.
Zwischen den Pflegefamilien und den Jugendamtsmitarbeitern bestand eine Vertrauensbasis,
die sehr förderlich für die Kooperation war. In Krisensituationen wurden das Jugendamt aktiv
und stand den Pflegepersonen immer mit Rat und Tat zur Seite. Auch bei der Bewilligung
finanzieller Mittel zeigten sich die Ämter eher großzügig. Und auch die Pflegekinder selbst
sahen die Mitarbeiter der Jugendämter als Ansprechpartner und Vertrauenspersonen an.
Deutlich wurde ebenfalls, dass es vorteilhaft ist, wenn sehr schnell feststeht, ob eine
Rückführung in die Ursprungsfamilie vorgesehen ist oder nicht. In meinen untersuchten
Fällen waren keine Rückführungen geplant und dies wirkte sich sicher positiv auf die sichere
Zukunftsperspektive der Kinder in ihren neuen Familien aus, als auch auf den Aufbau
emotionaler Bindungen.
73
Bei keinem der Mädchen erfolgte eine Namensänderung. Zwei der drei Kinder lehnten diese
ab. Wahrscheinlich da sie so ihre biologischen Wurzeln behalten wollten und mit der Zeit
auch die Gründe für die Inpflegenahme akzeptieren und/oder respektieren konnten. Ein
Mädchen hätte gerne den Namen der Pflegeeltern angenommen.
Oftmals wollen diese Kinder durch die Namensannahme mit ihrer Vergangenheit nochmals
bildlich abschließen und können dadurch ein größeres Zugehörigkeitsgefühl zur Pflegefamilie
entwickeln.
Bei allen drei Pflegschaften kann man von dem Ersatzfamilienkonzept sprechen. Alle drei
Mädchen haben in ihrer Pflegefamilie eine „zweite“ Chance erhalten auf ein liebevolles,
intaktes Familienleben und verblieben in ihnen bis zu ihrem 16. bzw. 18. Lebensjahr. Sie
beendeten die Pflegschaft „erfolgreich“ durch ihre Verselbstständigung in der Familie. Zwei
zogen aus und ein Mädchen lebt auch heute noch in der Pflegefamilie. Dieses Konzept birgt
allerdings tatsächlich die Gefahr, dass der Druck auf die Pflegeeltern wächst, nicht nur dank
der „gläsernen Erziehung“, wie es Frau P. im Interview ausdrückte, sondern auch da man in
gewisser Weise beweisen muss, dass man besser ist als die leiblichen Eltern.
Zuletzt möchte ich noch erwähnen, dass es für die Kinder sehr relevant ist, ob sie Kontakt zu
ihrer Herkunftsfamilie haben oder nicht. Die Kontakte waren für zwei der drei Mädchen von
Vorteil. Sie behielten Bezugspersonen aus ihrem alten Umfeld und lernten so ihre bisherigen
Erfahrungen in ihre Biographie zu integrieren. Dies gelang sicher nur durch die
Kooperationsbereitschaft seitens der Pflegeperson. In einem Fall kam es zwischen dem
leiblichen Vater und der Pflegemutter zu Provokationen und Beleidigungen, was das
Verhältnis spannte. Das Mädchen hat die Kontakte zur gesamten Herkunftsfamilie
mittlerweile abgebrochen. Sicherlich einerseits wegen dem aggressiven Verhalten ihres
Vaters und den Lügen der Geschwister. Weiterhin stelle ich die These auf, dass auch das
gespannte Verhältnis der beiden Familien zu dem Abbruch beigetragen hat.
Ein letzter Punkt der noch vor der Inpflegenahme zu beachten ist, scheint mir die Motivation
von Pflegepersonen zu sein ein Kind aufzunehmen. Erhoffte finanzielle Vorteile, aber auch
der Wunsch das eigene Kind (z.B. nach einer Scheidung) ersetzen zu wollen, sind sicherlich
nicht förderlich für eine gute Pflege. Aber die soziale Verantwortung und der Wunsch Kinder
zu erziehen, sie zu fördern und zu lieben sind sicher eine gute Basis.
74
5.
ABSCHLIEßENDE BETRACHTUNG
Das Feld der Vollzeitpflege in Pflegefamilien bietet in meinen Augen ein sehr vielschichtiges
und interessantes Forschungsgebiet.
Auch wenn meine Arbeit nicht als repräsentativ gelten kann, da es unmöglich ist anhand von
drei Fallgeschichten Rückschlüsse auf alle Pflegschaften zu ziehen.Meine Untersuchungen
haben doch die erhofften Einblicke in Pflegefamilien ermöglicht und mir viele Probleme und
deren Ursachen sowie manche Ressourcen zur Problembewältigung aufgezeigt.
Ich möchte einige Thesen, die sich durch meine Forschungsarbeit ergaben, hier aufführen.
Diese sollten jedoch nicht als allgemein endgültig betrachtet werden, sondern vielmehr durch
weitere Forschungsarbeiten hinterfragt und dann bestätigt bzw. wiederlegt werden:
- Eine altersgemäße Aufklärung des Kindes über die Herausnahme aus seiner
Herkunftsfamilie und das weitere Vorgehen sind unbedingt nötig. Auch bei
Inobhutnahmen, welche aufgrund der Kindeswohlgefährdung umgehend vorgenommen
werden, müssen die Jugendamtsmitarbeiter sich die Zeit nehmen, um dem Kind ihr
Vorgehen zu erklären.
- Die Basis der Kooperation zwischen den Pflegepersonen und dem Jugendamt ist eine feste
Vertrauensbasis. Nur wenn diese gegeben ist, werden sich die Pflegeeltern in
Krisensituationen an das Jugendamt wenden. Und nur anhand deren Bitte um
Unterstützung kann das Jugendamt helfend eingreifen.
- Das Pflegegeld muss den heutigen Lebensunterhaltskosten angepasst werden und eine
Erstausstattung (Erstbekleidung, Möbel und Bettzeug) sollte bei Bedarf gewährleistet
werden.
- Eine Pflegefamilie sollte erst nach der Beendigung einer Pflegschaft ein weiteres
Pflegekind aufnehmen. Dadurch verhindert man, dass eine Konkurrenzsituation zwischen
den Pflegegeschwistern entsteht, welche die gesamte Pflegefamilie belastet.
- Die Pflegegroßeltern sollten von Beginn an in die Pflegschaft integriert werden. Dies kann
sicherlich helfen, bestehende Vorbehalte und Berührungsängste den Pflegekindern
gegenüber zu verringern. Die Akzeptanz der Pflegegroßeltern erhöht das
Zugehörigkeitsgefühl der Kinder zu ihrer Pflegefamilie und die Unterstützung der
Pflegegroßeltern entlastet die Pflegeeltern.
- Der Kontakt zu der Herkunftsfamilie sollte je nach Fall individuell gestaltet werden.
Prinzipiell kann sich auch bei Dauerpflegschaften der Kontakt zur Herkunftsfamilie positiv
auswirken, jedoch sollte er niemals dem Kind aufgezwungen werden. - Auch das
Verhältnis und die Kooperation zwischen den Pflegeeltern und den leiblichen Eltern kann
die Pflegschaft, aber auch den Kontakt zur Herkunftsfamilie positiv, aber auch negativ
beeinflussen.
75
- Ob eine Namensänderung bei einem Pflegekind vorgenommen wird, sollte individuell,
zugunsten des Kindeswohls, entschieden werden. Eine Namensänderung kann das
Zugehörigkeitsgefühl zu der Pflegefamilie erhöhen und dem Kind helfen besser mit seiner
Vergangenheit abzuschließen. Wenn das Kind jedoch noch einen guten Kontakt zur
Herkunftsfamilie hat und die Gründe der Inpflegegabe für das Kind verständlich und
nachvollziehbar sind, ist es besser, wenn das Kind seinen Namen beibehält. So kann es
seine biologischen Wurzeln zur Herkunftsfamilie besser in sein Selbstbild integrieren.
- Es muss den Pflegepersonen, sowie dem Pflegekind selbst, schnellstmöglich mitgeteilt
werden, ob eine Rückführung in die Herkunftsfamilie geplant ist oder nicht. Nur so lässt
sich die Unsicherheit aller Betroffenen überwinden und eine stabile emotionale Bindung
zwischen den Pflegepersonen und dem Pflegekind aufbauen.
- Kein Kind verkraftet tiefgreifende seelische Verletzungen durch die Eltern ohne Schaden
zu nehmen. (vgl. Nienstedt/Westermann; in: Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa, S. 793-794) Daher ist Liebe allein nicht ausreichend um den
verschiedenen – oftmals vielfältigen – Erziehungsdefiziten und dem Entwicklungsbedarf
eines Pflegekindes gerecht zu werden. ( vgl. Shapiro/Skinulis 2005; S. 256) Die
Pflegepersonen müssen viele soziale Kompetenzen besitzen und dem Kind emotionale,
familiäre und strukturelle Stabilität bieten.
Viele Fragen sind jedoch noch offen geblieben, von denen ich hier nur einige exemplarisch
erwähnen möchte:
-
Wie erleben Jungen ihr Leben in einer Pflegefamilie? Kommt es bei ihnen zu
ähnlichen Problemen?
-
Wie erleben Pflegeväter ihre Rolle und das Zusammenleben mit einem „fremden“
Kind?
-
Wie erleben Pflegefamilie und Pflegekind eine (gewollte oder ungewollte)
Rückführung in die Herkunftsfamilie?
-
Wie ist das Leben in einer Pflegefamilie, die nach dem Ergänzungsfamilienkonzept
agiert?
-
Wie kann man das nähere soziale Umfeld der Pflegefamilie in die Pflegschaften
integrieren und gegebenenfalls Vorurteile oder Berührungsängste abbauen?
76
6.
LITERATURVERZEICHNIS
6.1.
Literaturverzeichnis
BGB – Bürgerliches Gesetzbuch: (2003) 54. Auflage, München: Beck-Texte in dtv
Blandow, Jürgen: (2004) Pflegekinder und ihre Familien – Geschichte, Situation und
Perspektiven des Pflegekinderwesens. Weinheim und München: Juventa
Blüml Herbert: u.a. (1997) Handbuch für Pflege- und Adoptiveltern – Pädagogische,
psychologische und rechtliche Fragen des Adoptions- und Pflegekinderwesens –
Informationen von A – Z. 5. überarbeitete Auflage Idstein, München: Schulz-Kirchner Verlag
Bowlby, John: (1972) Mutterliebe und kindliche Entwicklung. München: Ernst Reinhardt
Verlag München/Basel
BROCKHAUS: (2000) Der Brockhaus in einem Band. Neunte vollständig überarbeitete und
aktualisierte Auflage. Leipzig: F.A. Brockhaus GmbH
Brühl, Katharina: (2005) Leben in der Pflegefamilie aus der sicht der leiblichen Kinder –
Ein deutsch-brasilianischer Vergleich. (Diplomarbeit) Siegen
Colla; Gabriel; Millham; Müller-Teusler; Winkler ( Hrsg.): (1999) Handbuch der
Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Neuwied, Kriftel: Luchterhand
Darius, Sonja; Müller, Heinz; Rock, Kerstin; Schmutz, Elisabeth; Teupe, Ursula: (2007)
Hilfen zur Erziehung in Rheinland-Pfalz – Die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen im
Kontext sozio- und infrastruktureller Einflussfaktoren. 2. Landesbericht. Mainz: ism
Gehres, Dr. Walter: (2005) Jenseits von Erstz und Ergänzung: Die Pflegefamilie als eine
andere Familie. In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, Heft 3, 2005 - S.246-271
Glinka, Hans Jürgen: (1998) Das narrative Interview – Eine Einführung für
Sozialpädagogen. Weinheim und München: Juventa
Jordan, Erwin: (1996) Vorzeitig beendete Pflegeverhältnisse. Aus: Gintzel, Ulrich, (Hrsg.):
Erziehung in Pflegefamilien. Auf der Suche nach einer Zukunft. Münster: Votum 1996 - S.
76-119
Griebel, Wilfried; Ristow, Dietmar: (2007) „Pflegefamilie als binukleares Familiensystem“
– eine Kernfamilie mit zwei Kernen. München
Jordan, Erwin; Sengling Dieter: (2000) Kinder- und Jugendhilfe – Einführung in die
Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen.
Weinheim München: Juventa
Kasten, Hartmut: (1998) Geschwister – Vorbilder, Rivalen, Vertraute. 2. aktualisierte
Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag
77
Markefka, Manfred; Nauck, Bernhard (Hrsg.): Handbuch der Kindheitsforschung.
Neuwied, Kriftel, Berlin: Luchterhand
Mrozynski, Peter: (1998) Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII). 3. Auflage, München:
C.H. Beck´sche Verlagsbuchhandlung
Napp-Peters, Anneke: (1984) Pflegekinder; in: Handbuch Sozialarbeit/Sozialpädagogik
(1984) Eyferth/Otto/Thiersch (Hrsg.); Neuwied und Darmstadt: Luchterhand
– S. 754-763
Paulick, Siegrun: (2000) Der Brockhaus, 9.vollständig überarbeitete und aktualisierte
Auflage. Leipzig: F.A. Brockhaus GmbH
Rensen, Ben: (1992) Fürs Leben geschändet – Sexueller Missbrauch und seelische
Verwahrlosung von Kindern. Stuttgart: TRIAS
Schmidt-Deuter, Ulrich: Eltern-Kind- und Geschwisterbeziehungen. In: Markefka, Manfred;
Nauck, Bernhard (Hrsg.): (1993) Handbuch der Kindheitsforschung. Neuwied, Kriftel, Berlin:
Luchterhand - S. 344 – 346
Schröder, Rita: (2005) Das Online-Handbuch – Pflegekinder und ihre Familien. In:
http://www.familienhandbuch.de (23.06.2007)
Shapiro, Stanley; Skinulis, Karen: (2005) Das SOS-Elternbuch – Wirksame Lösungen für
die häufigsten Erziehungsprobleme. Kirchheim: Oldenbourg Taschenbuch GmbH
Stolte-Friedrichs, Angelika: (2002) Die Bedeutung der Namensänderung für die
Identitätsentwicklung von Pflegekindern; in: unsere Jugend 5/2002. München:Ernst
Reinhardt-Verlag - S. 194-200
Wiemann, Irmela: (2007) Geschwisterbeziehungen bei fremdplatzierten Kindern und
Jugendlichen. Thesenpapier zum Seminar - Weinbach
http://www2.uni-siegen.de/~wolf – (Oktober 2007)
http://www.blja.bayern.de – (August 2007)
http://www.familienhandbuch.de – (Juni 2007)
http://www.jugendamt.nuernberg.de – (August 2007)
http://www.lsjv.rlp.de – (August 2007)
78
6.2.
Literaturempfehlung
Die hier aufgelistete Literatur habe ich selbst gelesen, jedoch nicht direkt für meine Arbeit
verwendet. Dennoch möchte ich sie hier aufführen.
Bei der Literatur für Erwachsene handelt es sich um Bücher, in denen Pflege- und
Adoptivkinder ihre Geschichten erzählen. Wer sich für die in meiner Diplomarbeit
geschilderten Fallgeschichten interessiert, der wird sicher auch von der hier aufgelisteten
Literatur begeistert sein.
Die Bücher für Kinder halte ich für sehr geeignet, um Kindern verständlich zu machen, was
eine Pflegefamilie bedeutet.
Für Kinder:
Korschunow, Irina: (2002) Der Finderfuchs. Wie der kleine Fuchs eine Mutter bekam. Dtvjunior
Riesen, Iris E.: (1990) Caramel und Picasso. Kinderroman. Zytglogge
Für Erwachsene:
http://www1.paderborn.de: (August 2007) – Erfahrungsbericht einer Pflegefamilie – Der
Pflegekinderdienst der sTadt Paderborn
Kowalczyk, Charles: (1998) Immerhin hatte ich Eltern – Biographien erwachsener Adoptivund Pflegekinder. 1. Auflage – Idstein: Schulz-Kirchner Verlag
Kowalczyk, Charles: (2006) MAMA und PAPA sind meine richtigen ELTERN – Pflegeund Adoptivkinder erzählen ihre Geschichte. 5. unveränderte Auflage – Idstein: SchulzKirchner Verlag
79
7.
ANHANG
7.1.
DIE INTERVIEWS
7.1.1. Narratives Interview mit Pflegekind „AISHA“ (21)
Abkürzungen
I.:
A.:
Z.:
G.:
M.:
S.:
Herr D.:
Sch.-Kü.:
Ortsteil Sa.:
Mie-Br.:
Ho.:
Pi.:
Zw.:
Be.:
La.:
1
I.:
Bedeutung
Interviewerin
Informantin „Aisha“
leiblicher Vater der Informantin
leibliche Mutter der Informantin
leibliche Schwester der Informantin
leiblicher Bruder der Informantin
behandelnder Psychologe der Informantin
Wohnort der Informantin und ihrer Pflegefamilie
Ortsteil des Wohnortes
Stadt
Stadt
Stadt
Stadt
Stadt
Stadt
„Die Informantin wurde über den Verlauf des Interviews aufgeklärt
2
und den ..ähm.. Sinn und Zweck des Interviews.
3
So, dann bitte ich dich jetzt ..ähm.. dich zurück zu erinnern ..ähm.. wie deine
4
Lebensgeschichte so war, und wie eins zum anderen kam!“
5
A.:
„Okay! ..((4)).. Also ich bin am 27. Januar 1986 gebor, in Pi. un ... meine
6
Eltre, also mei Vadder war Araber – is Araber, Plästinenser. Mei Mudder is
7
Deutsche ..ähm.. ja. ..((6)).. Ich wohn/hab in em Hochhaus gewohnt, im 3. Stock,
8
glaub ich, ich weiß nimmer so genau.“
9
I.:
10
A.:
„Mhm!“
„Ja, un ..((8)).. ja, das Leben dort … war eigentlich ..((5)).. Liebe kannt mer´s net
11
nenne, weil ..ähm.. de Z., de Vadder, ..äh.. uns immer geschla hat, das häßt ..ähm.. mei
12
Bruder de S. ...“
13
I.:
14
A.:
15
„Mhm, mhm!“
„...un mei Schwester, die M., un ..ähm.. ja - mit verschiedene Gegenständ hat er uns
geschla ..ähm.. .“
16
I.:
17
A.:
„Dich auch?“
„Ja, ... zum Beispiel mit em Gürtel, oder mit nem Stock, oder mit ... mit Schlabbe –
18
also Schuh ((lacht)). Ja, das war schon ziemlich heftig; hat a weh gedun – ganz
19
schön!“
80
1
I.:
2
A.:
3
„Glaub ich!“
„Un ja, ... ich weiß noch wie, … wie ..äh.. mei Bruder irgendwas Verbotenes gemacht
hat, un de Z. - ich sag immer Z. - weil des is kä Vadder für mich …“
4
I.:
5
A.:
6
„Hm..!“
„ ... ebe ..ähm.. hat das mitgekriegt un hat ..äh.. mei Bruder bestraft – also mit em
Gürtel geschla un dann noch ins Zimmer ingesperrt - un hat nix zu Esse kriegt ... .“
7
I.:
8
A.:
9
„Heftig.“
„Ja, un so wie´s damals ebe war, mei Schwester un ich sin in die Küch gang un han
was zu Esse geholt, un han die Tür uffgesperrt bei mei´m Bruder, un han dem was zu
10
esse gäb. Mei Vadder hat´s net mit`kriegt – ja – mir hatte uns damals, unnernanner
11
also geholf.“
12
I.:
13
A.:
14
„Ja, versteh ich!“
„Aber jo, dann noch änni Situation: ..Ähm.. mit meiner richtig Mudder, die G.
..((4))...“
15
I.:
16
A.:
„Hm.“
„Äh.. mir waren im Wohnzimmer un ..ähm.. han geredet un geredet, ja, un zwischen
17
Z. und G. sin Streit ausgebroch. Ja, un de Z. hat dann ebe e Aschebecher genomm
18
..äh.. und ((leiser bis *)) de G. uff de Kopp geschla (*), so dass sie e Loch ..äh../..äh.. e
19
Loch im Kopp hot. Ja!“
20
I.:
21
A.:
„Heftig!“
„Un da ... Mir hatten damals natürlich Angst geha`t!
22
(( A. verschüttet ihr Glas mit Sprudel – 5 Sekunden Unterbrechung ))
23
Un ..ähm.. sin dann ... hm ..((5)).. uff de Couch rumgehupst... Han/han a uns gefragt,
24
was is damals genau passiert? Wir wussten´s damals net! Genau so!“
25
I.:
„Du warsch jo noch ziemlich klein da...?“
26
A.:
„Ja, genau! Ich bin jo die Jüngst von dene Zwä, die annere ( Halbgeschwister ) kenn
27
ich jo überhaupt net ..((8)).. Jo! ..((4))..“
28
I.:
„Und wie hört die Geschichte auf?“
29
A.:
„So genau wäß ich´s a nimmi genau, weil ... ich war ziemlich klä. Keine Ahnung!
30
Uff jede Fall ..äh.. die G. is dann ärztlich versorgt wor ebe, jo! Die haben sich
31
geschied. ... Jo ... un das war so, eigentlich so, de schlimmste Teil, immer/immer die
32
Gewalt ..äh.. in de Familie - war Alltag irgendwie ..((6)).. . Ja, de Z. - weil er jo jetzt
33
geschied war - hat er sich dann so e Art „Mode-Frau“ kaaft.“
34
I.:
„Gekauft?“
81
1
A.:
„Genau, gekauft! Das war a`ch Ausländerin, die hat er a verschla un so ..((7)).. ja, un
2
..ähm.. ..((7)).. un irgendwann is die ..äh.. „Mode-Frau“ irgendwann a
3
verschwun..((6)).. jo.
4
Un dann als ich älter war ... - ich wäß nimmi genau, - sim mer dann ins Heim komm,
5
weil es Jugendamt nimmi wollt, dass mir in der Familie lebe, in der nur Gewalt
6
herrscht, un so. Un da sim mer dann ins Heim komm. Von dort han ich irgendwie
7
überhaupt kä Erinnerunge ...“
8
I.:
„Ja?“
9
A.:
„Ich wäß noch, wo ich hier gelebt hab/also hierher komm bin, hat uns die ..ähm.. hat
10
uns ne Schwester besucht von dem Heim.“
11
I.:
12
A.:
13
„Mhm.“
„Ja, un das war dann der änzige Besuch.
Ich erzähl ziemlich durcheinander?“ ((lacht))
14
I.:
„Macht nix. Das macht gar nix! So wie die Erinnerungen kommen ist es okay!“
15
A.:
„Okay!“ ((lacht))
16
Ja un ..((8)).. was noch so war, ..((10)).. ich wäß noch mir ware ämol im Zoo, des wäß
17
ich noch - was genau dort war? Keine Ahnung!“
18
I.:
„Wer war im Zoo?“ ((räuspert sich))
19
A.:
„Ähm.. De Z., S., M. und ich. Do war ich noch ziemlich klän, aber was genau – keine
20
Ahnung! Mir sin eigentlich nur die schlechte Sachen in Erinnerung geblieb!“
21
I.:
„Hm!“
22
A.:
„Weil de ganze Tag Schlä, Gewalt – das prägt irgendwie ...“
23
I.:
„Und der Zoo? Is der gut in Erinnerung?“
24
A.:
„Eher schlecht, weil ... .
25
Okay, de Z. is jo Palästinenser un er kommt aus em Gaza-Streife. Un dort sin die
26
Männer ebe brutaler, aggressiver. Verliere schnell die Beherrschung un ..((6)).. klar,
27
dass er dann ... zu Gegenständen greift und Leut prügelt. ... Ja halt/
28
Mir han jo im Hochhaus gewohnt. Un unne drunner hat noch annere Persone gewohnt.
29
Un mit dene hot ich immer gespielt. ... Zwä Mädcher, un das ware mei beste
30
Freundinne. Mit der äne han ich heut noch Kontakt, weil die ..äh.. in meiner Schul
31
war. Han ich mich a voll gewunnert.“ ((lacht))
32
I.:
“Das ist toll!”
82
1
A.:
„Ja? Un de Z. hat dann a versucht die Mudder von dene zwä Mäde irgendwie ... so …
2
..ähm.. zu beherrsche, a mit Gewalt un so – wollt die a schla´n. Un a mei Freundinne,
3
die zwä, jo un ...“
4
I.:
„Wieso? Hat ihm der Kontakt net gepasst?“
5
A.:
„Es gab eigentlich kä spezieller Grund, weil er von seiner Art her so war. ..((8)).. Jo,
6
un daher … hat er immer so was gemacht! ..((7)).. Jo, un irgendwann is dann ..äh.. e
7
Frau zu uns komm, die ..äh.. Familien... – oh Gott – ich wäß nimmi genau wie das
8
häßt – auf jeden Fall ist die zu uns rin komm un hat uns unterstützt, un hat mit uns
9
gespielt!“
10
I.:
„Vielleicht Sozialpädagogische Familienhilfe?“
11
A.:
„So was ähnliches, jo! Genau! Un mit der han ich heut noch Kontakt, ja! Un ..((8)).. de
12
Z. hat dann ((flüstert bis *)) auch versucht sie zu verprügeln (*) ... So grad/man musst
13
nur irgendwo hingeh´n, un dann hat er gleich wieder losgeschla un: „Nee, Du bleibsch
14
do!“ – un ja...
15
Un was noch so was, war mit dem Esse! Und zwar – das wäß ich heit noch, ich wäß
16
net wieso - auf jeden Fall, wenn´s was zu Esse gab – es gab immer was zu Esse – sieht
17
mer mir jo a´ch ahn.“ ((lacht)).
18
I.:
19
A.:
20
((lacht mit))
„Äh.. der hat immer zu mir gesa´t: „Du mussen essen!“ – also er konnt nicht richtig
deutsch.“
21
I.:
22
A.:
23
„Hm.“
„Du mussen essen!“ un ... klar han ich´s dann immer uffgess, obwohl ich dann
irgendwie kä Hunger hot - irgendwie - des war/des war schon so drin.“
24
I.:
25
A.:
„Mhm, mhm.”
“Von daher han ich jo alles immer ges ...((5)).. jo ..((7)).. . Das waren ebe so irgendwie
26
die größte Erinnerungen von/von damals, wo ich noch dort gelebt han ..((7)).. Ja! Un
27
dann ..((4))..
28
Ich erzähl mol dann, wo ich dann abgeholt wor` bin, wo ich dann in die Familie
29
hin`komm bin.“
30
I.:
„Mhm!“
31
A.:
„Okay?“
32
I.:
“Ja!”
33
A.:
“Okay, ..ähm.. ich hot Schul gehat, ich war jo in de erscht Klass ..“
34
I.:
„Mhm.“
83
1
A.:
“Un … ich bin dann irgendwie von de annere, von de Klassekamaradinne, ..ähm..
2
seperat ..äh.. in e annerer Raum komm wor, damit die annere das net mitkrien - denk
3
ich heut so - damals wusst ich´s net.“
4
I.:
5
A.:
„Mhm – bestimmt!“
„Ich gla´b das war e Turnraum. Un ich hab do uff em Bode gesitzt un hab mei
6
Hausaufgabe gemacht gehat. Un ich hot Angst. Jo un es Jugendamt is dann komm un
7
hat mich dann geholt un/un es is jo alles vorher geklärt wor. Die Mama und Papa han´s
8
jo a schon gewißt, dass ich komme.“
9
I.:
„Mhm. Wuscht Du an dem Tag, dass Du jetzt geholt wersch?“
10
A.:
„Nee!“
11
I.:
„Und warum hatsche Angst? Äfach weil des net/ weil Du net wuscht was jetzt
12
passiert?“
13
A.:
„Genau!
14
I.:
„Okay!“
15
A.:
„Ich war eigentlich immer mit annere Freunde oder Freundinne zusamme, aber in dem
Moment war ich ganz allän in dem Turnraum ..((7))..“
16
17
I.:
18
A.:
„Hm.“
„Ajo un es Jugendamt hat mich dann abgeholt un mir sin dann an dem Hochhhaus
19
vorbeigefahr wo ich drin gelebt han. Un do wollt ich unbedingt mei Kuscheldeck han.
20
Weil e Kind hat immer irgendwas Spezielles was wichtig für em is, un des war damals
21
bei mir ebe die Kuscheldeck. Un´s Jugendamt hat gemänt gehat: „Nee! Kriesch e
22
anneri Kuscheldeck.“, un/weil ..ähm.. die wollte nimmi mit mir ruffer geh´n, weil de
23
Z. war jo ...“
24
I.:
25
A.:
26
„Mhm, mhm.“
„... in dem Haus drin. Dann hätt´s wahrscheinlich ... wäß net wie´s ausgang wär. Keine
Ahnung! Jedenfalls sin mir dann hier her gefahr.“
27
I.:
28
A.:
„Also direkt von de Schul dann?“
„Ja! So über die Fahrt – keine Ahnung. Nur, dass ich Angst hot. (( lacht)). ..((6)).. Aja,
29
un... es Jugendamt hat jo de Schlüssel krie`t vom Haus, weil die Mama un Papa mit
30
de/mit de Kinner in de Schul war´n. Es war moiens. Ajo, un ich bin dann rin komm un
31
es Jugendamt hat mir dann alles so gezeigt, wo ich wohn/also wo ich drin leb/in
32
welchem Zimmer. Jo, ... un dann ..äh.. sin die annere komm. Un die anner han alles
33
gewißt gehat, dass e neues Mädche in die Familie rin kommt, Pflegekind un so. Ich
84
1
hab in dem Moment han ich Angst gehat, in dem Moment wusst ich net, dass ich
2
Pflegekind wär oder bin. Klar!“
3
I.:
„Die annere häßt: leibliche Kinner von deine Eltre?“
4
A.:
„Nur zwä, die annere sin ..ähm.. a Pflegekinner.“
5
I.:
„Mhm, okay!“
6
A.:
“Jo, … un dann, bin ich dann/han ich die groß Badewann do(( lacht bis* )) im Bad
7
gesieh´n (*) – es war bei jedem Pflegekind so – un bin dann sofort bade gang - keine
8
Ahnung – bei jedem Pflegekind war das so.“
9
I.:
((lacht bis *)) „Un dann war alles gut?“ (*)
10
A.:
„Net werklich! Ich hot Angst!“
11
I.:
12
A.:
„Mhm!“
„Un allän/allän im Zimmer, konnt ich a net schlofe, weil ich hab Angst vor
13
Dunkelheit, heit noch irgendwie. Deswe guck ich automatisch wenn´s dunkel wird,
14
oder wenn ich irgendein Geräusch hinnedran höre, automatisch zurück. Schon von
15
klän Kind/ wo ich e klänes Kind war, han ich des gemacht.“
16
I.:
17
A.:
„Mhm.“
„Un ich hat jo e Hochbett gehat, un ... mei grossi Schwester ..ähm.. hat dann mit mir in
18
em Zimmer geschlof. Sie owe un ich unne. Von daher... dann ging´s. Jo. ..((8))..
19
Na klar war alles neu und so. Am Anfang han ich a immer gesa´t gehat: „Ich will
20
zurück, ich will zum...“ - damals han ich a noch Papa gesa´t, weil ich nix anneres
21
gekannt han.“
22
I.:
23
A.:
„Mhm.“
„Ich will zurück un so!“, aber ...heut bin ich echt froh, dass ich draus komm bin. Weil,
24
wenn ich so drüber nodenke, dann wär ich garantiert ... uff de Stroß gelandet.
25
Sa mer mol so, weil mei grossi Schwester - mei richtigi Schwester die M. - ..ähm..
26
paar Mol abgedreht, nimmt Droge, trinkt ... jo, so ziemlich das volle Programm!“
27
..((6))..
28
I.:
„Mhm.“
29
A.:
„De S., der war mol im Gefängnis, ... jo... .“
30
I.:
„Wegen was?“
31
A.:
“Diebstahl, gla´b ich.“
32
Wege de Hautfarb noch was! Und zwar de S. is ..ähm.. dunkler als ich.“
33
I.:
34
A.:
„Mhm!“
„So ... richtig kaffeebraun!“
85
1
I.:
2
A.:
3
„Hm.“
„... genauso wie de Z.. Die M. un ich mir sin so hell. Ebe, das han ich/fand ich damals
witzig, das find ich heut noch witzig.“
4
I.:
„Das heißt aber wahrscheinlich, dass die G. war auch hellhäutig.“
5
A.:
6
I.:
„Deutsche?“
7
A.:
„Jo!“
8
I.:
„Hm.“
9
A.:
„..((5)).. Jo, un dann in der Pflegefamilie bin ich jo dann a in die Schul
„Ja genau!“
10
(Waldorfschule) rinkomm, wo die annere (Pflegekinder & leibliche Kinder der
11
Pflegeeltern) alle ware ... ..ähm.. jo ...mei Mudder hat jo damals im Hort geschafft, un
12
do bin ich dann immer no de Schul hingang.“
13
I.:
„Du meinsch jetzt dei Pflegemutter?“
14
A.:
„Genau.“ (( lacht))
15
I.:
„Gut.“
16
A.:
„Ich sa immer Mama.“
17
I.:
„Jo, es geht nur um´s Verständnis.“
18
A.:
„Ja,ja. ..((7)).. Un ..äh.. es war drauße/han drauß mit de annere Kinner gespielt. Un
19
irgendwie han ich mit`kriet, dass es Jugendamt komm is, gla´b ich. ..äh.. mit ner
20
Zeitung in de Hand. Do stand irgendwas druff ..ähm.. „Verzweifelter Vater sucht seine
21
Tochter“ – irgend so was. Also das häßt: Er hat mich gesucht! Weil de Z. wußt jo net,
22
wo ich lebe.“
23
I.:
24
A.:
“… un jo, …die han mich dann irgendwie alle gar beschützt, un so.“
25
I.:
„Deine Pflegefamilie?“
26
A.:
„Genau!“
27
I.:
„Hat Dich jemand erkannt von dere Zeitung her?“
28
A.:
„Kann jo jeder, deswe is es Jugendamt jo a komm.“
29
I.:
30
A.:
“Un a von de Schul her.“
31
I.:
„Erzähl mol genau. Was do passiert is, wie die Reaktione waren, was Du mitkrie`t
32
33
34
„Hm, hm.“
„Mhm, mhm.“
hasch.“
A.:
„..((5)).. Was ich mitkrie`t han, is/soviel is das a net. Des war gla´b ich noch in/in de
erscht Klass. ..Ähm.. han ich nur mitkrie´t, dass es Jugendamt do is un es Jugendamt
86
1
hat dann meiner Mama die Zeitung in die Hand gedückt/in die Hand gedrückt, un hat
2
..ähm.. gesa´t, dass de Z. mich sucht, un so. Un ..ähm.. un dann so... ich wäß net. Un
3
wo ich des mitkrie´t han, han ich Angst/die erscht Reaktion war ebe Angst. Weil, ich
4
war schon so in der Familie ..ähm..“
5
I.:
6
A.:
„Drin...“
„Drin, ja genau, dass ich dann nimmi zurück wollt weil ich hab jo dann was anneres
7
kennegelernt un/un e Kind kann jo dann irgendwie a – vom kindliche Verständnis her
8
– unnerscheide, was Gut und Böse is. Un es war ebe viel besser hier. ((lächelt))
9
Naja, ... ich ... ich hot Angst gehat – un bin dann ebe zu de` Mama gang, jo. Die
10
Familie hat mich dann beschützt, un so.“
11
I.:
12
A.:
„Die ganze Familie?“
„..((4))..Ei ..ähm... ..((6))... Oh Gott, das war ...Gerichtsverfahre,weil/dass de Z. mich
13
dann nimmi siehn darf ... un, dass ich dann a in dere Familie drin bleibe will ..((8))..,
14
jo.“
15
I.:
16
„Han dich uff diese/auf die Zeitung irgendwelche Leut uff de Straß angesproch oder in
de Schul oder...?“
17
A.:
18
I.:
19
A.:
„Von de Schul. ... Mei Klasselehrerin hat do de von jo was gewusst. ...“
„Mhm.“
„Weil, jo mei Mudder hat ..ähm.. mei Klasselehrerin – ehemalige Klasselehrerin – jo
20
do drüber informiert. Des häßt, die hat´s dann a gewisst. ... Jo...
21
Im Gerichtsverfahre war ich dann ... etwas älter ..((8)).. zwä oder drei Mol war mer uff
22
em Gericht. ..((6)).. Es ging a drum, ob er mich siehn will/ob er mich siehn darf un ich
23
wollt des jo net. Ajo, un ..((7)).. war mer in Zw. uff em Gericht un ..((9)).. ..äh.. ajo, un
24
der Richter hat dann gefro´t gehat ..ähm.., mit was für Gegenständ er uns schlat – ob er
25
uns überhaupt schla´t – ajo un dann hat er ..ähm.. aus seiner Jack - wo jeder gemänt
26
gehat hat, es wär e Pistol - ..ähm.. hat er ..ähm.. wie nennt man die Dinger wo man für
27
die Schuh benutzt, richtig anzuziehe?“
28
I.:
„Schuhlöffel?“
29
A.:
„Genau. Hat er e Schuhlöffel ..ähm.. aus de Jack rausgezo un hat gemänt gehat, nur er
30
schla´t mit dem Ding, war...“
31
I.:
32
A.:
33
„Okay“
“Ajo… Ei, er/er ..äh.. versorgt uns ziemlich gut – er hat uns immer was zu esse gäb un
er schla´t uns net un jo so Lüge ebe, damit er uns wieder behalle kann. ... Un ... Jo, un
87
1
dann ... un dann hat er noch so gesa gehat, ..ähm.. ich wär psychisch krank, un deshalb
2
so ... fett.“
3
I.:
„Hat de Z. gesagt?“
4
A.:
„Ja. Un weil jo die Mama mich manipuliert, indem Sinne, mir immer vorsa´t, was ich
5
sa´n soll.“
6
I.:
7
A.:
8
„Mhm.“
„Jo, ich fand das damals net grad so witzig. Aber heit kann ich nur so drüber lache,
weil so was is richtig armselig.“ ..((5))..
9
I.:
„Hasch Du des irgendwann das selber geglaubt? Dass sie dich manipuliert?“
10
A.:
„Nee! Nie!“
11
I.:
„Mhm!“
12
A.:
„Überhaupt net....“
13
I.:
„Ähm.. Un wie hat sie sich dabei gemacht bei dem Konflikt mit deinem...“
14
A.:
„Hat gelacht! Was soll man do groß – denk ich heut so – was soll man do groß sa´n.
15
Sie hat nur gelacht. Das is schon Reaktion genug. Das sa´t doch aus, dass/irgendwie
16
jo, des is dem sei Meinung, jo ...“
17
I.:
18
A.:
„Okay!“
„Ajo, un dann ging´s los mit de Besuche mit M. und S. ..äh.., weil die wollt ich damals
19
sieh´n, aber de Z. net. Des war ..ähm.. in Ho. beim ..((10)).. nee, das war net in Ho. -
20
Ho. war das, wo de Z. mich nochmol gesieh´n hat, beim Herrn/Herr D. ...“
21
I.:
22
A.:
23
I.:
24
A.:
„Sozialarbeiter, oder...?“
„Nee, Psychologe, gla´b ich.“
„Mhm.“
„...Un do wollt er mich a fotographiere un ich wollt des net. Ich bin/ich hab nur
25
geheult un bin unner de Tisch gekrabbelt. Un mei Mudder hat dann gemänt gehat, dass
26
ich das net will, un dass er das akzeptiere soll.“
27
I.:
28
A.:
„Hm.“
„Ajo, hat er als probiert mich weiter zu fotografiere un er hat´s irgendwie net
29
geschafft. Un dann hat der Herr D. a gesa´t, dass ich das net will, jo un dann war/dann
30
hat er´s ebe sin geloss. Aber für mich war des schrecklich, ganz änfach. ...“
31
I.:
32
A.:
((lacht bis *)) „Un deswe´n loss ich mich heut a net gern fotografiere.“ (*)
33
I.:
„Ja, kann sein. - Bei diesem Kontakt, also das war beim Psychologen, dein leiblicher
34
„Mhm.“
Vadder, dei Pflegemama un Du?“
88
1
A.:
„Ne, ne. Pflegemama/doch mei/mei Mama und de Z. waren dort. Jo! M. un S. noch
2
net. Die sin dann ... uff em Jugendamt ham mer ..ähm.. die sin dann komm un mir sin
3
a dort hin komm, also M. un S. . Ham mer uns dort besucht.. ..((6)).. Un ..((8)).. jo, des
4
war dann ... es waren immer Geschenke debei – unnötige Geschenke – so ... ämol
5
war´s so/so e Riesepupp wo/wo e Kerz in de Hand hot, wo ma amache kann, damit`s
6
leuchtet. Irgendwie so e komischi/unnötiger Kram.“ ((lacht))
7
I.:
8
A.:
9
((lacht mit)) „Un wer hat dir des geschenkt?“
„Ämol de Z., wo mer do bei dem/in Ho. bei dem Herrn D. waren un beim Jugendamt
han se mer immer so/so Kette geschenkt, wo ma so abknabbern kann.“
10
I.:
11
A.:
12
„Mhm, mhm.“
„Un noch so anner Kram ebe. Eß ich heut aber nimmi; kann ich heut alles gar nimmi.“
((lacht))
13
I.:
14
A.:
15
((lacht mit))
„Jo un damals han die jo noch gar net unser Adress gewißt. Un die wollten´s jo
unbedingt rausfinne.“
16
I.:
„Wer?“
17
A.:
„M. un Z. ..ähm.. M. un S., so. Ja, genau un dann war de Besuch war ebe zu End - also
18
die vorgeschriebene Zeit war ebe zu End. Un dann wollt mer zu unsrem Auto la´fe.
19
Die sin dann uns hinnerher. Un - also M. un S. – un de S. hat dann e Messer in de
20
Hand gehat. Sin uns hinnerher – un mir konnte jo schlecht an unser Auto, weil jo
21
anhand von dem Nummernschild kann man jo rausfinne wo man wohnt; un die ganz
22
Adress. Ajo, sin mir dann wie´re uff´s Jugendamt geloff un han das dem gesa´t der das
23
Ganze geleitet hat und der is dann mit unser´m Auto ..äh.. zu em Einkaufsmarkt gefahr
24
un mir sin dann mit dem seinem Auto a an den Einkaufsmarkt gefahr, und da ham mer
25
so die Autos getauscht un, jo so konnte`n se jo net rausfinde wo mer wohne.“ ..((4))..
26
I.:
27
28
„Dei Bruder hat e Messer in de Hand geha`t? Was wollt er da/damit erreiche?
Zweck?“
A.:
„..Äh.. Keine Ahnung! Mir han dene net druff angeschwätzt, weil ich han des erscht
29
gesieh´n un han das dann de Mama gesa`t, un sie hat dann gemänt gehat, mir gehen
30
dann direkt zum Jugendamt, sa´n das dene dort, un die vom Jugendamt han die dann
31
zur Rede gestellt, was das ebe soll, weshalb die mit em Messer ..äh.. hinner uns
32
herla´fe.“
33
I.:
„Hm.”
89
1
A.:
“Hm. ..((12)).. ..Jaaa. ..((7)).. Un dann, irgendwann, ..ähm.. hat die M. ... die Adress
2
rausgefun wo mir wohne, un hat uns angeruf. ..Ähm.. die M. hat dann/mir han gefro´t
3
gehat woher sie die Nummer hat un so. Ei, hat se gesa´t gehat, sie hat im Telefonbuch
4
no geguckt. Ich wäß net wie, obwohl se jo eigentlich/keine Ahnung hat ..ähm.. sie hat
5
uns/mir a e Brief geschrieb un do druff stand a Ortsteil Sa. – un des steht eigentlich so
6
net im/im Telefonbuch oder Adressbuch oder so. Steht jo nur Sch.-Kü., un daher war´s
7
irgendwie/hat se dann von irgend jemande gesteckt `kriet, dass/dass..“
8
I.:
„Wo Du bisch!“
9
A.:
„Ja, ja genau. Ajo.“
10
I.:
„Wieviel älter is dei/sin dei Geschwister?“
11
A.:
„Die M. müsst so ... des wäß ich selbst net.“ ((lacht))
12
I.:
„Etwa?“
13
A.:
„Ich bin 21. Die M. müßt dann so 22 oder 23 sin und de S. dann 24 oder 25 - so um
14
dene Dreh rum, aber so genau wäß ich das selbst net. ((lacht)) Nee, es intressiert mich
15
irgendwie a gar nimmi - die ganz Familie - irgendwie überhaupt nimmi.“
16
I.:
17
A.:
„Mhm.“
„Is mei Einstellung, ja. ..((25)).. ..Äh..
18
Ja, was war dann noch/noch so. Irgendwann hat uns dann die M. a besucht. Zuerst is
19
se mit em Jugendamt do herkomm. So, besucht für e paar Stunde. Un dann
20
irgendwann is se dann allän komm mit em Zug. Mir han se dann ..ähm.. in Mie./Mie.-
21
Br. abgehol - am Bahnhof, ajo, ham mer do/irgendwie hot mer kä Gesprächsthema
22
gehot, gar net. Es leie Welte zwische uns. Ham mer ebe Kuche noch geback oder/oder
23
damals wo noch die Zeit war mit dem Window-Colors – kennen se...“
24
I.:
„Mhm, mhm, mhm.“
25
A.:
„Okay.“
26
I.:
„Die Zeit han ich auch mitgemacht.“ ((lacht))
27
A.:
((lacht mit )) „Ajo, ham mer do ebe gesess un han mit dem/de Window-Color gemolt,
28
ja un Musik gehört, so .... Aber so richtg gesproch han mir eigentlich gar net. Nur so:
29
„Wie geht´s dir?“ – „Mir geht´s gut.“ – „Was machschen?“ „Was machschen do?“
30
„Wann machschen das?“, un so. Aber so irgendwie gar nix.“
31
I.:
„Hm, wie alt warsch damals?“
32
A.:
„..((5)).. Do war ich schon etwas älter. Do war ich so/wäß ich gar net/is gar net so lang
33
her/ vier, fünf Johr is bestimmt her.“
90
1
I.:
2
„Mhm. Un wie entstand der Kontakt, wenn ihr zwischen durch habt ihr das ja alles
gekappt, wenn ich Dich richtig verstan hab.“
3
A.:
„Ajo.“
4
I.:
„Ging das dann von ihr aus, oder vom Jugendamt, oder...“
5
A.:
„Sie hat mir e Brief geschrieb gehat un hat gemänt gehat, sie will mich mol sieh´n.“
6
I.:
7
I.:
„Hm.“
„Treffe un so. Kennen uns dort un dort treffe. Das erste Treffe war jo uff em neutrale
8
Bode. Also weit weg von dehäm. ... Des war irgendwo in em Cafe´ - so. Ja, ham mir
9
uns dort ebe getroff, han e Eis gess... .“
10
I.:
„Waren das nur ihr zwä?“
11
A.:
„Das Jugendamt, Mama, M. un ich.“
12
I.:
„Mhm.“
13
A.:
„Ja, un dann des weitere Treffe war dann/sie hat jo dann mei Adress gewusst, mir
14
han/dann ham mir das hier gemacht. Jo, das ging dann/das war vier, fünf Mol. Han mir
15
uns hier getroff, gla´b ich. Un irgendwann hat de S. do angeruf. Das war jo dann grad
16
net so toll.“
17
I.:
„Kann ich mir vorstellen.“
18
A.:
„Ajo han ich gefro´t gehat, woher er die Adress hat. „Aja ..ähm.. von de M.“ – Okay!
19
Han ich mol do net weiter/weiter gehakt, denn irgendwie wusst ich jo schon, es musst
20
in die Richtung geh`n.“
21
I.:
„Mhm“
22
A.:
“Ajo, aja er vermisst mich, er will mich sieh´n, treffe un, jo. Han ich gemänt gehat:
23
„Nee, des könne mir net mache, das will ich net“, un so. – Ajo, han ich uffgele´t, un
24
des war de änzige Anruf, seitdem nie wieder was gehört. Ich hab dene regelrecht
25
runner gebutzt.“ ((lacht))
26
I.:
„Wieso?“
27
A.:
„Weil, der mir/der mich a nur angelo hat, was bestimmte Sache angeht - von M. un so.
28
Ajo! Ajo un irgendwann hat die M. nochmol do angeruf gehot, un do han ich se
29
gefro´t gehat, ob sie ..ähm.. S. die Telefonnummer gäb hät. Hat se gemänt gehat:
30
„Nee“. Un das hat jo gar net gestimmt! Un die M. hat sich a versucht rauszurede, aja
31
die Telefonnummer hät uff em Tisch gelä un/un de S. hät´s entdeckt un so/so...“
32
I.:
33
A.:
34
„Hm, hm.“
“Was totaler Quatsch war. … Jo. … Un dann hat mich a/so kläne Lüge was/kläne
Lüge, ich fand´s ebe als Lüge. Ajo, sie macht/sie hat jo gar kä Abschluss, gar nix, weil
91
1
se jo die Schul geschmiss hat ... ..äh.. sie will in de Abendschule ihr Mittlere Reife
2
oder Hauptschulabschluss ..äh.. mache - keine Ahnung, irgendwas. Ich gla´b Mittlere
3
Reife. Es war Mittlere Reife. Ajo, un ..ähm.. sie krie´t vom Z. e Auto - Mercedes - un
4
er bezahlt ihr de Führerschein, ich män, er hat jo/er hat jo selbst kä Geld. ... Ajo, so/so
5
Sache. Un dann han ich ihr mol e Brief geschrieb, dass ..ähm.., dass es so kä Sinn hat.
6
Dass sie mich nur anlügt, was so was betrifft. Schwestern unternanner dun sich jo net
7
anlüge, ajo, un dass ich nix mi von ihr höre will. ... Jo, so richtig, frecher Brief
8
geschrieb ((lacht)) weil, alles loss ich mir a net gefalle! ... Find ich! ... Ajo, zuerst
9
keine Reaktion, un dann e halb Johr später, kam e Brief an. Aja, ich hätt sie verletzt
10
..ähm.. un so hat s´es aber net gemänt, jo un so was. So was ebe. Han ich nimmi druff
11
geantwort - han ich ebe s`in geloss. Un seitdem nie wieder was gehört. Jo, un
12
irgendwann. Mir han jo immer noch unsere Quelle. Un ... ajo han ich/ ham mer
13
Zeitungsartikel zugeschickt krie´t. ..Äh.. die M. hät bei irgendjemande ingebroch un
14
hätt ..äh.. Sache verka`f, Gegenstände – Fernseh, oder so was, ajo, un e Polizist a
15
zusammengeschla, un so. Jo, des is so de letzte Stand, was ich so han.“
16
I.:
„Hm. Also ging diese/der Kontaktabbruch von dir aus?“
17
A.:
„Ja!“
18
I.:
„Hasch´s bereut bis jetzt?“
19
A.:
„Nee!“
20
I.:
“Überhaupt kä Verlange mehr…?”
21
A.:
„Überhaupt net. Nee. Hier hab ich ..((6)).. Unterstützung, Liebe un das Ganze/un des
22
Ganze. Un do muss ich mich praktisch nur herum ärgre. Das is viel besser. Jo!”
23
..((11)).. ((lacht))
24
I.:
“Vielleicht fallen Dir noch irgendwelche Sache von deiner Pflegefamilie in? Do ham
25
mir relativ wenig noch drüber gesproch. Typische Situationen, oder irgendwas, wo Du
26
sagsch, das hat mich un mei Lebe beeinflusst. Das war e Auslöser, dass des geklappt
27
hat, oder net geklappt hat, oder...“
28
A.:
„Typischi Situatione?“
29
I.:
„Ja, wie ...“
30
A.:
„Pünktlichkeit! Ich war früher überhaupt net pünktlich. Un´ die Mama hat mich dann
31
irgendwie so erzo`, dass ich dann immer pünktlich bin. Ich bin...“
32
((TONBANDWECHSEL – fehlen etwa 3 Minuten))
33
Si.:
„Was is eigentlich mit de G.? Du hast im Vorgespräch gesagt, die is tot?“
34
A.:
„Jo, gestorb.“
92
1
I.:
„Warum?“
2
A.:
„Ei, das wäß ich a net so genau. Die hat immer gera`cht und getrunk. Ich soll jo a
3
die/han so e Schreibe krie´t. Die Beerdigungskoste bezahle...“
4
I.:
„Du?“
5
A.:
„Ja.“
6
I.:
„Okay.“
7
A.:
„Klar, woher/woher das Geld? Ajo ... war do noch Hin un Her mit em Jugendamt un
8
den han se ( ) Un so mußt ich ebe nix bezahle. Es waren, jo ich gla´b über dreihunnert
9
Euro. Soviel Geld han ich net.“ ..((12))..
10
I.:
„Okay.“
11
A.:
„Jo.“
12
I.:
„Ähm.. Du hasch vorhin am Anfang gesa´t, es Jugedamt is in die Schul komm, hat
13
dich dann geholt, do her gebrung?“
14
A.:
„Hm.“
15
I.:
„Ähm.. ((räuspert sich)) Gab´s/Des häßt also, es gab nie e Kontakt vorher zu deiner
16
Pflegefamilie, dass Du die hasch kennelerne könne, bevor du do wirklich unner
17
gebrung wurdsch un do gewohnt hasch?“
18
A.:
„Nhn.“ ((schüttelt den Kopf))
19
I.:
„Kä Vorbereitung vom Jugendamt aus oder mit em Sozialarbeiter, ein Treffen
20
organisiert oder ein Gespräch mit Dir do drüber, dass Du rausgenomm wersch, un in e
21
annere Familie kummsch?“
22
A.:
„Überhaupt net.“
23
I.:
„Gar nix? ( )“
24
A.:
„Nö.“
25
I.:
„Okay?!“
26
A.:
„Ich män, die Familie wo ich jetzt bin, die hat des jo/die han jo des gewisst, dass ich jo
27
komme. Un sie wollte ebe/ich war so/so/so Notfallkind. Hm. Schnell weg un
28
unnergetaucht - so praktisch...“
29
I.:
„Hätsche der/oder würdsche Dir do im Nochhinein do e anneres Vorgehe wünsche?
30
Mehr Vorbereitung oder Gespräche oder erst mal Besuche oder eine
31
Zwischenunterkunft, irgendwas? – Wie hasche dich gefühlt do debei?“
32
33
A.:
„Klar ich hot Angst, aber als klänes Kind, wenn ma vorher die Leut mo sieht ... ich/ich
wäß es net.
93
1
Ich hab die Mama jo erst hier kenne`gelernt un net vorher irgendwo in em Gespräch
2
oder so un ..((4)).. is irgendwie schwierig zu beantworte, find ich jetzt.“
3
I.:
4
dieses Fremde nehmen könne? Also wer war Bezugsperson oder ..ähm.. was hat dich
5
do so fasziniert, dass es/oder was hat dich begreife losse, do is es gut, do kann ich
6
bleibe, des is es in Ordnung ..ähm..?“
7
A.:
8
„Die Mama! ... Die war immer für mich do. Ja? Hat mich ja a unnerstützt un so. Is mit
mir a überall hin`gang. ..((6)).. Genau so...“
9
I.:
10
A.:
11
I.:
„Mhm.“
12
A.:
„Papa, die Geschwischder. ..((8))..“
13
I.:
„Aha, wer hat dir dann eigentlich erklärt, dass du Pflegekind bisch, un dass du nimmi
„Also war sie eigentlich Hauptbezugsperson dann?“
„Klar die ganz Familie hat mich unnerstützt.“
14
zurück nach Haus gehsch, un wie das jetzt ablaufe wird – was alles neu is? .. Warum
15
des so is? Weil als 6jähriges, hat mer jo net das Verständnis, wie ma´s heut hätt.“
16
A.:
„Ich wäß es nimmi. ... Ich wäß es werklich nimmi wer/wer mir das gesa hat. Aber
17
irgendwie hot ich´s a gewisst, ich wäß net. Ich hot´s werklich gewisst, dass ich nimmi
18
zurückkomme, un dass ich dann für immer do bleibe, han ich irgendwie gewisst.“
19
I.:
20
21
„Hm. Wenn Du so schätze würdsch – genau wärsch´s/wärsch´s a nimmi wisse – wie
lang hat´s gedauert, bis das dein zuhause war? Die Angst weg war, un...“
A.:
„Ziemlich lang. Ziemlich lang. Mei grossi Schweschder hat ja ewig lang bei mir im
22
Zimmer geschlof ..((7)).. un, ja. ... Jeder hat mir ebe geholf, ..äh.. dass/dass ich mich
23
richtig do/do inlebe kann.“
24
I.:
„Mhm. Dann/ja, also wenn ich mir das so anhöre, hört sich das a, als wär das schon e
25
Milieu/also Schichtunterschied dei Herkunftsfamilie und die Familie – geldlich
26
gesehen ..ähm.. von de Wohngegend gesehen, vom Sozialen Stand ..ähm.. „
27
I.:
„Un wer oder was hat dir dann die Angst wo Du als 6jähriges Kind gehat hasch un/un
A.:
„Is doch immer wenn e Kind in e Pflegefamilie kommt, muss/muss doch wohl
28
irgendwieUnterschied gäbe – find ich – egal was für e Unterschied, finanziell, oder...“
29
„Also dir is es a wichtig, das du aus der Armut rauskamsch, aus dere
30
Umgebung, aus der...?“
31
A.:
32
I.:
33
„Heut ja. Ja.“
„Es gibt ja auch so was, nennt sich milieunahe Unterbringung ( ) Muss net immer
schlecht sein.“
94
1
A.:
2
„Ja? Vielleicht is dann/wenn ich dann in e ärmeres Milieu rinkomme is dann vielleicht
mehr Liebe? Wäß me jo net.“
3
I.:
4
A.:
5
„Denksche des?“
„Denk ich schon. Es Jugendamt gäbt doch kä Kind irgendwie her wo/wo se eigentlich
wisse, dass es kä zuhause für e klänes Kind is.“
6
I.:
7
A.:
„Denk ich e mol. Ich wäß net ob´s stimmt.“ ((lacht))
8
I.:
„Okay. Du hasch vorhin erzählt, zwischendurch kam jemand - also wahrscheinlich
9
„Mhm.“
Sozialpädagogische Familienhilfe – hasch Du noch irgendwelche Maßnahme
10
mitgemacht? Ergotherapie? Psychologe besucht? Psychotherapie? Irgendwelche/noch
11
e Hilfestellung gehabt, außer Familie?“
12
A.:
„Jo, Psychologe.“
13
I.:
„Psychologe? Wie lang hasch dene etwa besucht?“
14
A.:
„Das wäß ich nimmi. So lang war des a net. Wäß ich nimmi.“
15
I.:
„Un mänsche, des hat dir was gebrocht? ... Also wahrscheinlich war das eher so
16
Spieltherapie oder habt ihr Gespräche geführt, oder... Wie is des abgelof?“
17
A.:
„Mir han do drüwer geschwätzt. Hm.“
18
I.:
„Würdsche im Nachhinein sage – rückblickend - dass hat mir a was gebrung, das hat
19
20
geholf? Oder war das eher unangenehm?“
A.:
„Klar jedes Mol is unangenehm wenn man so drüber schwätzt. ... Aber je mehr ma do
21
drüber schwätze kann, desto/desto mehr kann ma beweise ..ähm.. das is eigentlich gar
22
nimmi wichtig. Das heut und jetzt is wichtig. Was damals war, is eigentlich gar nimmi
23
so wichtig.“
24
I.:
25
„Mhm. Also das heißt, dass du jedes Mol wenn du drüber sprechsch, mehr damit
abschließen kannsch, a für dich.“
26
A.:
„Genau.“
27
I.:
„Ähm. ... du warsch ((hustet)) vor der Unnerkunft in einer Pflegefamilie in em
28
Heim...“
29
A.:
30
I.:
31
32
33
„Hm.“
„Wie lang war das ungefähr? Und weißt du warum du nicht im Heim geblieb bisch?
Es gibt ja auch Heimkinder bis 18 Jahre...“
A.:
„Aja. Das wäß ich a net. ..((5)).. Das wäß ich werklich net. ..((11)).. Da kann vielleicht
die Mama mehr drüber rede.“ ..((6))..
95
1
I.:
„Mhm. Du hasch ziemlich viel ..ähm.. über dei Geschwister erzählt – also dei leibliche
2
Geschwister – un auch, dass es zu dem Kontaktabbruch kam – von deiner Seit - ..ähm..
3
Wie steht die Pflegefamilie dazu?“ ..((10))..
4
A.:
„..Ähm.. ..((9)).. die han zu mir gesa´t, ich kann/kannsch mache, so wie du denksch.
5
Wenn gewisser Abstand do is, ... is a okay. Also die Mama hat mo gesa gehat:
6
„Wenn/heit/heit willsch se nimmi siehn, aber was is in zwä, drei, vier Johr? Willsch se
7
dann vielleicht siehn?“ – Ich wäß es net?!“
8
I.:
9
„Hm. Also waren/war dei Pflegefamilie war niemols diejenige, die gesa´t han, du
sollsch das unnerbreche...“
10
A.:
11
I.:
12
„Nee!“
„...oder sie halten do gar nix devon. Irgendwie in die Richtung dich beeinflusst –
manipuliert?“ ((lächelt))
13
A.:
„Nee. Überhaupt net.“
14
I.:
„Okay.“
15
A.:
„Ich hot schon e eigene Meinung zu dem Thema.“ ((lächelt))
16
I.:
„Ähm. Was mir noch uffgefall is. Du hasch vorhin, wie Du über/über dei leiblicher
17
Vadder gesproch hasch, gesa´t, dass er Araber is?“
18
A.:
„Ja.“
19
I.:
„Un ähm, da kamen so Sachen, dass er halt ..ähm.. dann zu/“Klar, dass er Gegeständ
20
greift und prüglet“ oder „Er is halt von seiner Art so“ oder ..äh.. „Er hat immer so was
21
gemacht“ ... Ja? Heißt das, du erklärsch dir dieses/dieses Verhalte auch von seiner
22
Herkunft/mit seiner Kultur...“
23
A.:
„Die Kultur: „Araber“ – die Fraue sin dort sowieso unnerdrückt. Un als Kind is er
24
wahrscheinlich a geschla wor. Ich wäß es net. Vielleicht nehmt er das Verhalte an, was
25
er als Kind erlebt hat. Ich wäß es net. Un weil´s a ..äh.. Sitte is dort.“
26
I.:
27
„Also das heißt aber, du beziehsch das schon auf die Kultur und die Art von dene
Menschen dort drübe?“
28
A.:
„Ja.“
29
I.:
„..Ähm.. dann hab´ ich mir noch vermerkt... Du hasch dann erzählt, ..ähm.. wie der
30
Artikel in der Zeitung war, dass ..ähm.. dei Lehrerin, das ja auch gewusst hat. Ähm..
31
das hat sich so e bissl angehört, als wär das unangenehm gewäst?
32
Dazu vielleicht noch der Punkt: Diskriminierung. Ähm.. kannsch Du do vielleicht
33
noch irgendwas erzähle, ob dir do mol/also erscht emol, wie das für dich selber is,
34
unangenehm is e Pflegefamilie/-kind zu sin, oder ob du mol von Nachbarn, oder
96
1
Schülern, Lehrern, irgendwelche Leut negative Erfahrungen gesammelt hasch, oder
2
gemerkt hasch, dass es eigentlich/ja, dass die Vorurteile han?“
3
A.:
4
I.:
5
A.:
6
„Mei ehemaligi Klasselehrerin, von der ich vorher geschwätzt han,...“
„Mhm, mhm.“
„Also, in de erscht Klass, die wollt mich jo gar net uffnemme, in die erscht Klass, weil
ich jo – wie soll ich en das sa´n - ...treudoofer Blick hot, so e bische...“
7
I.:
8
A.:
9
„Versteh ich net?“ ((lacht))
((lacht mit)) „Ich wäß net wie ich das erkläre soll. Ähm.. ..((5)).. bische
zurückgeblieb.“
10
I.:
„Mhm.“
11
A.:
„Bin ich aber net!“
12
I.:
„Gut!“ ((lacht))
13
A.:
((lacht)) „Hat sie aber gemänt.“
14
I.:
15
A.:
“Un/Ajo, deshalb wollten se mich jo net uffnehme.“
16
I.:
„Des war e normali Grundschul?“
17
A.:
„Nee. Das war so kä Grundschul, das war in Be. – Waldorfschul.“
18
I.:
„Waldorfschul?! Dann bische aber in die Klass. Un hat sich das dann weiterhin
19
20
„Mhm.“
geäußert...?“
A.:
„Öh? ... Jein! Hat a net so uff mich uffgepasst, wie die Mama das sich gewünscht hat.
21
Jo. Sie konnt jo a net schlecht/sie konnt a net uff mich immer ingehe. Es war jo 36
22
Schüler in e Klass. Un geht jo eigentlich dann gar net.“
23
I.:
24
A.:
„Hm. Verständlich.“
„Ajo. ..Ähm.. die Mama is dann ebe über Konferenz gang, damit die Lehrerin mich
25
ebe in die Klass uffnehmt. ..((6)).. Was noch so war: Das is/do kann ich nur so über
26
mich de Kopp schütteln. Weil, so was zu erzähle, das is peinlich, heut noch, kann ich
27
sa´n peinlich. Ich wäß net. ..Ähm.. mei ehemaliger Gartenbaulehrer, hat an de Tür
28
gestan un hat/es war ebe Sitte dort, immer „Gute Moie“ zu sa´n und die Hand zu gebe,
29
an de Tür. Ja ... un es war noch in de erscht Klass ((lacht)) un han ich/war mei Hand
30
plötzlich unne.“ ((schaut bedeutungsvoll und nickt))
31
I.:
((zeigt in den Genitalbereich))
32
A.:
„Ja ebe.“ ((lacht))
33
I.:
„Okay.“ ((lacht mit))
97
1
A.:
2
„Das war so was von peinlich. Als Kind han ich ( ) nimmi so drüber nachgedacht. Es
war wahrscheinlich a weil, de Z. so/so jo...“
3
I.:
4
A.:
„Ja.“ ((lacht))
5
I.:
„Reaktione?“
6
A.:
„Ja. Wenn ich das heut mache würd... Ich mach das heut nimmi...“
7
I.:
8
A.:
9
10
„...das gemacht hat?“
((lacht))
„Oh Gott, das war werklich peinlich. Wie peinlich wenn ich so drüber nochdenke. Es
war peinlich.“
I.:
11
„Okay. ..Ähm.. muss ich doch grad mol was gucke. ..ähm.. ..((26)).. Zu dem Thema,
du hasch doch geschrieb, sexuelle Übergriffe hat´s a gäb...?“
12
A.:
„Ja.“
13
I.:
„Von Seiten des Vaters... Bei dir un deiner Schwester, oder...?“
14
A.:
„Ja! Net nur Z., sondern a S. .“
15
I.:
„Das is übel! ..((4)).. Dann... von meiner Seite aus nur noch: Waldorfschul,
16
17
Hauptschul, un dann hasch du gewechselt uff die Realschul?“
A.:
18
„Was heißt Realschul? Das war in Be., war die Waldorfschul, dort han ich
Hauptschulabschluss gemacht... .“
19
I.:
20
A.:
21
„Mhm.“
„Un dann bin ich in die private Berufsbildende Schule in La. komm. Do han ich mei
Mittlere Reife gemacht, also Realschulabschluss.“
22
I.:
23
A.:
24
„Mhm.“
„Un dann bin ich die neue Schule, a in La., do han ich mei Sozialassistentin gemacht,
also muss man mache, wenn man Erzieher were will.
25
I.:
„Mhm.“
26
A.:
„Un in der gleich Schule mach ich dann weiter zum Erzieher.“
27
I.:
„Hm. Wie kommsche auf die Wahl zum Erzieher? Also Erzieher wäre zu wolle?“
28
A.:
„Weil ich immer gut mit Kinner umgehen konnt. Un ich schon mehrere Praktikas in
29
Kinnergarte gemacht han. Ich han erscht letzt mei Praktikum beendet in Sa. –
30
achthunnert stündiges Praktikum.“
31
I.:
„Is das viel?“
32
A.:
„Oja, das war knapp e Johr. Mhm. Das war ziemlich viel. Streß pur, müde.” ((lacht))
33
I.:
“Aber trotzdem der Erzieherwunsch?”
34
A.:
„Ja.“
98
1
I.:
2
A.:
3
I.:
„Okay. Gut.“
„Genau“
„Un später ..äh.. selber Pflegekinner aufziehe? Oder wie/wie sieht allgemein dei
4
Zukunftsvorstellung aus? Wünsche von Familie? Äh.. wohnen, Beruf, was hasch dir
5
vorgestellt?“
6
I.:
7
„Also zuerst mol Erzieher, un wenn ich weitermache, dann eventuell Sozialheil... wie
nennt ma das?“
8
I.:
9
A.:
„Heilpädagoge?“
„So was ähnliches. Oder so in die Richtung ebe. Un selbst Pflegekinner uffnehme?
10
Würd ich schon gern, awer mit dem ganze Papierkram... schreckt mich e bissche ab,
11
weil ja bei mir typisch so, jedes Mal wenn Post an/Post ankommt für mich – sei´s
12
Rente, irgendwas/oder/keine Ahnung, vom Jugendamt – les ich durch un versteh nix.“
13
I.:
14
„Is aber glaub ich normal. Das ging mir a net andersch. ( ) Du hätsch aber gern
Kinner?“
15
A.:
„Aja“
16
I.:
„Wenn Dir jetzt nix mi infällt...?“
17
A.:
„Eigentlich nix mehr. Ich hab so alles gesa´t.“
18
I.:
„Okay.“
19
A.:
((lacht))
20
I.:
„Dann bedank ich mich... “
21
A.:
22
I.:
23
24
((lacht)) „Bitte!“
„...für die echt spannend Geschichte un ..ähm.. für dei Mitarbeit un wär mich auf alle
Fälle noch mal melde, wenn die Arbeit fertig ist.“
A.:
„Mhm. Ich bin mol gespannt, wie des Ganze dann aussieht!“
99
7.1.2. Narratives Interview mit Pflegemutter von „AISHA“
Abkürzungen
I.:
O.:
A.:
Z.:
M.:
S.:
L.:
K.:
C.:
Schwester T.:
N.-Haus:
Pi.:
Sp.:
Ku.:
Bd.:
1
Bedeutung
Interviewerin
Pflegemutter
Pflegetochter Aisha
leiblicher Vater von Aisha
leibliche Schwester
leiblicher Bruder
weitere Pflegetochter
leibliche Tochter der Pflegeeltern
Pflegesohn
Schwester im Heim, in dem die Pflegetochter früher war
Name des Heimes, in dem die Pflegetochter früher war
Herkunftsstadt der Pflegetochter
Stadt
Stadt
Stadt
((TONBAND läuft erst nach einigen Minuten des Gesprächs))
2
O.:
„Jo, was darf ich jetzt erzähle?“
3
A.:
((lacht))
4
I.:
((lacht mit))
5
O.:
„Weiter erzählen...Weiter erzählen!“
„Weiter erzähle? - Ja, von der Schwester T., oder T., oder so ähnlich, wie die mit
6
Name hieß. ..Ähm.. un die hat erzählt, sie war im Heim, un sie kennt die A. Mehr weiß
7
ich net. Jahreszahl, weiß ich net.“
8
I.:
„N.-Haus?“
9
O.:
„N.-Haus. Vom N.-Haus. Ja!“
10
A.:
„Genau.“
11
O.:
„Aber/aber ich weiß es net. Jahreszahl un was, kann ich alles net sage. Weiß ich net.
12
Un ich kann a ihne/un de Papa kann ich a net frage, weil halt von ihm halt nix
13
kommt.“
14
I.:
15
O.:
„Mhm.“
„Jahreszahle, weiß er selbst net. Un von de Mutter her, von de leibliche Mutter, kann
16
ich auch net viel sage, die war psychisch krank. ..Ähm.. da kann man des halt auch net
17
alles so frage.“
18
I.:
„Ähm.. Was mich vielleicht aus ihrer Sicht a noch intressiert. Es war viel ..ähm.. von
19
de/von de Geschwister die Red. Oder a von de Herkunftsfamilie allgemein. Wie war
20
des für sie ..ähm.. ?“
21
O.:
„Och für mich war´s... „
100
1
I.:
2
O.:
„War des, ich wäß net... ?“
„Für mich war´s aufregend – sehr aufregend – ich war immer bemüht, ihm
3
(Pflegetochter) das so/so leicht wie möglich rüwer zu bringe. Un irgendwo in e Ecke
4
zu stelle: „Es is net zu gefährlich!“ - „Ach, die mache nur, die erzähle nur, die tun
5
nur!“, um ihm (Pflegetochter) das irgendwie zu erleichtern. Aber ich denke schon, sie
6
hat schon gespürt, dass ich Angst hatte. Also wir waren einmal bei einem Treffen in
7
Pi. – irgendwo beim katholische... – weiß ich nimmer genau – un da war ein Herr
8
dabei, der sollte mich beschütze. Der saß mir aber gegenüber ((lacht)), ja? Un das war
9
mit em Granatapfel – wäsch das nimmer? Wo er/er saß hier, du hier un ich hier. Un er
10
hat sein Messer immer an de Granatapfel. Hat er Granatäpfel mitgebracht, un hat eben
11
die Granatäpfel/un hat immer gesagt: „Du musst esse/esse!“. Mhm. Gut! Un dann hat
12
er mit em Messer mir immer halt gezeigt, wenn der/ wenn er wirklich gewollt hätte,
13
wär der Mann gegenüber viel zu spät. Un das war auch schon Angst.“
14
I.:
15
O.:
16
„Hm.“
„ Also ich war schon mit Angst. Aber ich hat immer so es Gefühl gehat, sie
(Pflegetochter) hat sich unheimlich sicher gefühlt, ((lacht bis)) wenn se irgendwie...“
17
I.:
„Das Gefühl hat ich im Interview auch, ja“ ((lacht)) (*)
18
O.:
„Also muss ich jo einichermaßen gut rüwer gebracht han, meine Stärke. Aber ich war
19
schon/manchmal han die Knie gezittert, muss ich schon sage.“
20
I.:
21
A.:
22
„Hm.“
„Du hasch dir aber irgendwie nie so/so anmerke geloss/hasch a so net drüber
geschwätzt?“
23
O.:
24
A.:
25
O.:
26
A.:
27
O.:
„Nee, gelacht un so.“
„Ja, gelacht...“
„Do konnt me jo nur...“
„Wie ich gesa´t han...“
„Ich han´s halt immer so e bissje ins Lächerliche gezo. Han ich gesa´t: „Ach der macht
28
doch nix, der macht nur so.“ – Ja. Ich weiß einmal, wir waren in Pi. Jugendamt
29
verabred, un da standen sie unne. Wir waren schon e Stunde früher un sie standen
30
schon unde un dann hat er/da war er schon so gemein, ihr (Pflegetochter)) gegenüber
31
schon, dass mich das eigentlich schon wieder gereizt hat.“
32
I.:
33
O.:
34
„Mhm.“
„Un da ich mich dann e klän bissje mit seiner Nationalität bissje beschäftigt hab, han
ich gewusst: Die Damen gehen hinner dem Herr. Un dann sin mir die Treppe hoch un
101
1
da han ich gesa´t: „Moment! Ich geh´ vor - mit ihr. Sie nach mir.“! ((lacht)) – Das war
2
dann der Ton un alles, da war er schon so fertig, un so gereizt, dann ging gar nix mehr.
3
Dann war die/der Besuchstermin eigentlich schon hin.“
4
I.:
„Also schon so bissl provoziert?“
5
O.:
„Provoziert, ja, ja. Das war schon/das hat mich schon ..äh.. das hat mich schon gereizt,
6
hat ihn dann auch gereizt. Ich han immer so´s Gefühl gehat, ich muss sie irgendwie
7
beschütze.“
8
I.:
„Klar!“
9
A.:
„Ich han immer hinner dir gestan.“
10
O.:
„Ja.“
11
A.:
„Nie newedran, sonnern immer e bische hinne dran.“
12
O.:
„Kann schon sein. Ja. Un das halt alles ins Lächerliche zu ziehe, also es war schon
13
manchmal gar net so einfach.
14
Sie war auch die Änzigscht, wo wirklich/wo ich immer Angst hat vor de
15
Herkunftsfamilie. ( ) mir han immer noch Kontakt/Kontakt mit Herkunftsfamilie, bei
16
de Jungs, die mir hatte, die leibliche Mutter immer noch in Kontakt, die kommt ab und
17
zu mol, wenn sie irgendwas hat, ruft se an.“
18
I.:
19
O.:
20
„Mhm.“
„Mir han Kontakt auch zu de anner Pflegetochter, L., leibliche Mutter, die kommt ins
Haus. Jo, in Urlaub bei uns.“
21
I.:
22
O.:
„Nur de leibliche Vater, das möchte ich eigentlich noch net.“
23
A.:
„Ich will net, dass der kommt.“
24
O.:
„Bitte?“
25
A.:
„Ich will net, dass der mo irgendwann hierher kommt.“
26
O.:
„Puh. Wenn sich´s Verhalte ändert un wenn er sich dann ändert?“
27
A.:
„Nee!“
28
O.:
„Un älter wird´, man wäß nie was kommt, A. !“
29
A.:
„Nee! Ich will/ich will ne überhaupt nimmi sieh´n.“
30
O.:
„Ach so, ..äh.. bei dir? Ich hät a nix dege, wenn dein Vadder kommt, ich hät überhaupt
31
nix degegen.“
32
A.:
33
O.:
34
„Hm.“
((lacht))
„Also, is kein Problem. Nur halt die Art un Weise? Is klar, wenn er kommt, un dann
sacht er erst: „Du musst, du musst und du mussen!“, und so kommt sie sofort un, ja:
102
1
„Ich mach gar nix!“. Macht sie sofort dicht und macht zu und dann is halt schon
2
vorbei.“
3
A.:
4
„Ich han was vergess zu sa´n. Un zwar, wie der Z. hier angeruf hat, der hat jo hier zwä
Mol angeruf, ... zuerscht/die Mama war net do, die war/hat Urlaub gemacht...!“
5
O.:
„In Frankfurt, ja.“
6
A.:
7
O.:
„Urlaub von der Familie.“
8
I.:
((lacht))
9
A.:
„Ja.“
((lacht mit)) „Ajo. Un de Papa is dran gang halt, und de Z. hat gemänt gehat ..ähm.. er
10
hat schon vorher mit ner Fra geschwätzt, un ihr Fra wär demit inverstan, dass/dass
11
..ähm.. er mit mir schwätze kann. ..Äh.. Papa hat gemänt gehat, er wäß dodevon nix
12
un...“
13
O.:
14
15
„Des kann gar net sin, ich bin jo ga net do, also muss jo irgendwas
wieder...“
A.:
„Jo, Mama is jo net do. Ajo, un Papa hat dann ebe uffgelet. Dann, irgendwann, hat er
16
nochmol angeruf, war die Mama do, is die Mama drangang un ..ähm.. hat dann gefrot
17
gehat, ob er mit mir schwätze darf, un...“
18
O.:
„Nee! Ich hab dann gefragt, ob er mit dir erzähle will.“
19
A.:
„Ach so, ja.“
20
O.:
21
„Un da hat er gesacht: ..Äh.. nee, er hat Angst devor. Der muss jo kä Angst devor han.
( ) Erzähle. Un do han ich nur gesacht: Eh, die Papa, das war dann zuviel!“
22
A.:
„Dann han ich gesa gehat: „Hallo Z.“ – extra Z. gesa´t, weil hm, jo!“
23
O.:
„Man will auch provoziere.“ ((lacht))
24
I.:
25
A.:
((lacht mit))
„Dann hat er schon losgele´t: „Ich bin net de Z. Ich bin die leiblicher Vadder. Du
26
kannsch ruhig Papa zu mir/zu mir sa. Ich bin dei Papa.“ – so, ne? „Nee, bische aber für
27
mich net, du bisch de Z.!“, hat er erscht e Mol/war erscht e Mol nix, un ja, was hat er
28
noch gesa´t, ich wäß es nimmi?“
29
O.:
„Es wär eigentlich ganz einfach! Es wär einfach. Es wär kä Problem. ...“
30
A.:
„Der tut das alles so verkompliziere.“
31
O.:
„Klar, muss mer jo a verstehe. Erschtens, wo kommt er her? Was hat er alles erlebt?
32
Was macht er alles? Aber es is unheimlich schwer, das zu vermitteln.“
33
A.:
34
I.:
„Überhaupt net...“
„Was er erlebt hat? Un was er macht?“
103
1
O.:
„Was er macht? Was er macht jetzt – klar – hm, ach,. wie soll ich en sa´n? Er is
2
ziemlich tief unde. Un er is en Mensch, der gerne eigentlich im Mittelpunkt steht, a
3
noch vorne geht. Was er sacht, hat er Recht. Un er selbst jetzt ..äh.. spürt das, weiß das
4
auch, will aber nach vorne jetzt do, ja?“
5
I.:
„Hm, hm.“
6
O.:
„ ... Schwer. ...Ach, tut mir jo läd, uff de änd Seit.“
7
A.:
„Ah, richtig armselig!“ ((lacht))
8
I.:
“Ja, is im Moment ihr Stand, ..ähm.. „
9
O.:
10
I.:
„Ja!“
„Und wie siehn sie dene Kontakt zu de leibliche Geschwischder? Wie is do ihr
11
Meinung dezu? Sie hat schon gesacht, sie hat des abgebroch, un verzicht do im
12
Moment eigentlich druff.“
13
O.:
„Ja, ..äh.. weil, sie halt ..ähm.. Ehrlichkeit is wichtig. Ehrlich muss ma sin, egal jetzt
14
wie, ma muss des halt sache, so un so is es, un das un das war jetzt. Aber wenn ma
15
halt/sie wird halt oft beloge un es stimmt halt alles net, un das is net wahr, un das is
16
net wahr. Ja, un...“
17
A.:
“Hat a Kontakt abgebroch, obwohl, ..ähm.. obwohl mir hier schon/obwohl´s
18
ausgemacht wor is, dass er an dem un dem Tag kommt, mir han a Kuche gericht,
19
Gescherr hingestellt, und so.“
20
O.:
21
22
„Un das muscht du alles mache. Noch net emol ich. Das war jo das
Schlimme noch. Da muschs a wegrame.“ ((lacht))
A.:
„Un hat net do angeruf gehat, dass se net kommt (leibliche Schwester). Das fand ich jo
23
a die Härte! Ich män, wenn ma/wenn ma net kommt, dann kann ma anrufe, tut mer led,
24
ich/ich kann net komme. Aber/aber nix sa´n.“
25
O.:
„Is schwer halt! Un sie sacht halt ..äh.. im Moment die Lebenssituation, wo sie jetzt
26
..äh.. is, will sie sich net uff die Stufe stelle, klar! Es kam noch so ein
27
Zeitungsausschnitt, was alles war. Un das gelese, un de S. is halt schon – ihr Bruder –
28
ziemlich brutal, also den hat se sehr brutal erlebt, vor Gericht un so. Un hat se Angst
29
gehat un er is auch so ähnlich, wie de leibliche Vater. ..Ähm.. ja ziemlich...“
30
I.:
31
„Do fallt mir jetzt noch was in. Waren dei Geschwister auch in e Pflegefamilie, oder
sin die beim Vater geblieb?“
32
A.:
„..Äh.. die war´n gla´b ich a`ch im Heim.“
33
O.:
„Die war´n in Sp. im Heim. Wie du weg kamsch, kamen die Beide auch in Sp. ins
34
Heim.“
104
1
I.:
„Zusammen?“
2
O.:
„Zusammen! Beide zusammen, un das war auch net das Wahre - nach meiner
3
Meinung.“
4
A.:
„Ham mir die net mol in Sp. besucht?“
5
O.:
„Ja, sim mir nach Sp. gefahren, besucht – halbe Weltreise gemacht ((lacht bis*)) um
6
die ganz Familie kennezulerne.“ (*)
7
A.:
„Aber do devon wäß ich nix!“
8
O.:
„Doch, mir war´n in Sp. zwämol. Zwämol in Sp. .“
9
A.:
„Das mir in Sp. ware ja, aber so was/was war, keine Ahnung.“
10
O.:
„Aja, das is normal! Ganz normal. – Die ham mir zwei Mol besucht, jo un das ging
11
dann halt auch ( ) nimmer gut. Do hat´s Geschirr gestan, un dann hat der geklaut, un
12
dann hat die geklaut. ((holt tief Luft)) Un ja. Ach, das geht net. Könn mir so net
13
mache. Ja, un dann han die halt mehr Freiheit gehat, dort, waren schon älter ( ) im
14
Heim klar, un do konnt de Vater irgendwann. E paar Woche, sin se abgehau. Un da
15
ware die wieder beim Vater! Un do hat ma gemerkt, des geht einfach net mehr. Für e
16
Pflegefamilie, waren die eigentlich nimmer geeignet. Wenn se getrennt, un weit weg,
17
dann ja, vielleicht noch die M., die Schwester, aber de S. war schon ... in dem Milieu
18
soviel, so viel Wurzeln geschla, ne? Un der wollte auch net.“
19
A.:
„Äns hab ich noch net verzählt. Aber ich bin mir da net sicher.“
20
O.:
„Du kannsch alles erzähle.“
21
((Pflegemutter bietet Sprudel an – kurze Unterbrechung von etwa 30 Sekunden))
22
A.:
„Und zwar: ((räuspert sich)) Als Kind war ich so Bettnässer.“
23
I.:
„Mhm.“
24
A.:
„Un ... un jedesmol wenn´s Bett nass war, hat de Z. mich a in Ruh geloss. ..((5)).. Jo.“
25
I.:
„Hasche des dann hier a noch gehabt?“
26
A.:
„Überhaupt nimmi. Gar net.“
27
O.:
„Hm, doch.“
28
A.:
„Wäß ich nimmi.“
29
O.:
„Kam immer wieder vor, vor Gerichtsverhandlung, vor irgendwelche...“
30
A.:
„Ei so was, aber so normal.“
31
O.:
„Normal nimmi, nhn.“
32
A.:
„Die Mama mänt ebe, das war irgendwie so Schutz! Schutz vor/vor dem Ganze drum
33
herum.“
105
1
I.:
„Ja, kann natürlich sein. ( ) ..Ähm, was mir noch ingefall is, ham mir am Telefon glaub
2
ich schon kurz ..ähm.. thematisiert. Diskriminierung über Pflegefamilie, Pflegekind.
3
Was für Erfahrunge ham sie do gemacht?“
4
O.:
„Also mei Erfahrung is früher war´s noch schlimmer wie heut. Es Jugendamt
5
überfordert wor eigentlich mit Pflegefamilie, mit Pflegekinder. Heut/mittlerweile is es
6
so weit, dass sie schon eim Hilfestellung gebe, es gibt Schulunge. Pflegeeltern
7
untereinander krie´n Hilfestellung, was ich jetzt do mitmach, alle vier Woche. Kl. mol
8
fahre, jüngre Pflegefamilie treffe, Rat wo ma a weiterhelfe kann. ... Es is eigentlich/es
9
Lewe mit Pflege ..äh.. Pflegekinner is leichter, wie vor zehn Jahren. ( ) Schulunge un
10
auch es Jugendamt – mehr Personal, mehr Bemühunge, besser geschult, mehr Personal
11
– das is jetzt mo bei uns so. Wie´s irgendwo annerschder is, in e Stadt is, wäß ich jetzt
12
net.“
13
I.:
„Mhm. Mhm.“
14
O.:
„Kann ich jetzt net sache. Pi./Jugendamt Pi., sowie Jugendamt Ku. – gibt kän Krach,
15
16
nee!“
I.:
„..Ähm.. das beantwort aber a fast schon die letscht Frach, die ich hab. Zum Thema
17
Unnerstützung. Was sie sich damals vielleicht mehr gewünscht hätten, oder ..ähm.. ja,
18
sie war wohl e Notfallunnerbringung, weil sie hat gesagt, es gab/es gab überhaupt kä
19
Erstkontakte.“
20
O.:
„Nee, nee! Es gab gar nix. Kein Kontakt, gar nix. Es war so, dass die e Situation
21
abgewartet han, wo - de Vadder hat jo die Kinner in die Schul gebracht un hat se
22
abgeholt – Situation ..ähm.. wo de Vadder nix merkt. Kinner raus – weg!“
23
I.:
24
O.:
„Mhm. Mhm.“
„So! Un das war/mir han´s wohl gewusst, schun e Tach vorher/mir probieren´s e mol
25
rauszuhole, awer ja... Ich war net do, ich han gesa´t, „De Schlüssel liegt da. Könnt ihr
26
rein. ..Ähm.. ich bin in de Schul, mei Mann is fort, Kinner sin weg!“, un es vielleicht a
27
besser, wenn ihr mit/wo sie euch kennt/hier reingeht un mol schon irgendwo e bissche
28
sich do dran gewöhnt, wenn wir komme. Ja! – mir waren´s eigentlich alle!“
29
I.:
„Was/was machen sie beruflich un ihr Mann?“
30
O.:
„Ich bin Hausfrau un mei Mann is Rentner!“
31
I.:
„Hasch du vorhin net irgendwas gesa´t, du bisch mit deiner Mama als in de Hort?“
32
O.:
„In de Hort? Ja, ja! Ich war/ja, ja Waldorfschul/solang wir in Waldorfschul ware, des
33
war immerhin sechs Kinner in de Walddorfschule, un das war jo doch – puh – hier klar
34
ziemlich viel Geld. ..Äh.. und ..ähm.. Jugendamt war jo der Meinung – was wie ich
106
1
denke, is ja gerecht - ..äh.. der Staat stellt mir jo ne Schule zur Verfügung, die kostet
2
nichts, also warum muss das die Waldorfschul sein? Ich hab immer gesacht mei
3
Kinner in de Waldorfschule, sin jo was Bessres wie Pflegekinner – kann ich net
4
mache. Mei Kinner geh´n in die Waldorfschul, die Pflechekinner in die normale Schul,
5
mach ich net, will ich net. Ja, un do war´s halt vom Geld her so, un dann han ich im
6
Hort mitgemacht, un das war dreizehn Jahr. Un do han ich umsonscht geschafft, bis
7
auf die letzte drei, vier Jahr, dann gab´s dann so e bissche – so zwä-, dreihunnert
8
Mark. Aber, ja... Han ich dann halt es Schulgeld verdient, in dem Sinn. Von moiens
9
zehn, bis mittags um äns. Un für/für die Pflechekinner war´s muss ich sache ..äh.. es
10
war für die gut. Für mei eigne Kinner...“
11
A.:
„Du warsch da!“
12
O.:
„Ja. Für mei eigne Kinner war´s net so gut! ..Äh.. wenn die Mama üwerall debei is.
13
Jeder Lehrer kam. Ach Gott! „Un der! Un das!“ Ich han/mittags kam ich häm un han
14
ich schon wieder alles gewusst! Für die Kinner is es jo eigentlich a net so, jo... Dene
15
hat das gar net so gut getan! Im Nachhinein beklage sich immer noch! Oder es K.
16
hat/wie´s K. es Abitur gemacht hat, un ich war: „Och Gott, mei Kind, un so!“, es erste
17
Mol. Hoffentlich schafft´s es, un so. Un ich üwer – des is es Mäusche, unser K., is es
18
Mäusche – ich üwer de ganze Schulhof geplärrt: „Mäusche, wie war´s?“. ((lacht)) Uh
19
Gott, war des peinlich! Es war mir jo selbst auch peinlich. Awer es kam halt grad so
20
raus. Ich war halt so..., jo! Es war peinlich!“
21
I.:
((lacht)) „Kann ich mir vorstellen!“
22
O.:
„Es war peinlich! Klar! Aber für die Pflegekinner, un für unser C. war´s so, ..ähm..
23
unser C. ...“
24
A.:
„Sa C. !“
25
O.:
„War C. – C. is C. !”
26
A.:
“Net unser!”
27
O.:
„Hä?“
28
A.:
„Net unser!“
29
O.:
„Es war trotzdem unser C.!“
30
A.:
„Jo.“
31
O.:
„Klar! Is halt so! Ja! Un der C., der war in der Schule wo mir/wenn der´s Auto
32
gesehen hat, un hat mich gehört oder geseh´n, un do ging´s. Ansonschten hat er de
33
Stuhl es Fenschter rausgeschmiss. Un die Lehrer ( ), also er war stark! Un dann saß
107
1
ich, gutes halbes Jahr, vor de Schultür. So lang wie der C. in de Klass drin war, saß ich
2
vor der Tür, oder stand vor der Tür.“
3
I.:
„Okay!“
4
O.:
„Ja! Un da war er/jo un dann hat er mich gesieh´n, un dann war´s gut! ..((5))..“
5
I.:
„Fällt mir noch was ein. ..Ähm.. so typische Situatione, hasch du/wie war denn dei
6
erschtes Weihnachtsfescht? Ich könnt mir vorstelle, dass es da auch Unnerschiede gab
7
zu de Herkunftsfamilie.“
8
A.:
„Erschtes Weihnachte war: Geschenke! Viele Geschenke! ((Biene umkreist A. – kurze
9
Pause von 30 Sekunden)) Viele Geschenke. Nützliche Geschenke, uff jede Fall mol.
10
Net so e komischi Pupp, wo ich mo geschenkt krie´t han, wo ich verzählt han. Jo, an
11
mehr kann ich mich gar nimmi dran erinnern. ((Handy klingelt – kurze Pause von 30
12
Sekunden)) Jo, mehr wäß ich gar nimmi.“
13
O.:
14
„Ich geh mol was kucke. Ich geh mol was kucke!“
((Pflegemutter verlässt den Balkon und geht ins Haus))
15
I.:
„Geburtstag?“
16
A.:
„Geburtstag war immer schän! Weil, die Mama hat dann immer e Tort geback. Sie hat
17
mich immer gefragt, was für Kuche ich esse will. Durft ich immer wähle. Honigtort
18
oder Rotkäppchenkuche. Durft ich mir alles aus suche, un dann a Kerze uff em Kuche,
19
also wie alt ich dann wer ewe. Ajo! Sin als immer Tante, Onkel, Oma, Opa komm.
20
Ham mer so gefeiert. Un dann an em annere Tach, han ich/durft ich dann mit de
21
Freunde oder Freundinne feiern. Das war dann immer schän!“
22
I.:
23
24
„Wie war die Aufnahme im weiteren Familienkreis? Tante, Onkel. Für die warsche
eigentlich erscht mol e fremdes Kind. Wie hasche das erlebt?“
A.:
25
„Wäß ich nimmi. Tut mir läd, awer wäß ich werklich nimmi.“
((Pflegemutter kommt zurück))
26
A.:
„..Ähm.. Mama?“
27
O.:
„Was denn?“
28
A.:
„Die Frache kam: Wie die Verwandte des uffgenomm han, dass ich/das erschtens, dass
29
sie mich erst mol gesieh´n han un wie die das uffgenomm han.“
30
O.:
„Du hasch se nimmi all!“
31
I.:
„Onkel, Tante, Oma, Opa.“
32
O.:
“Oma, also… “
33
I.:
„Ma war jo eigentlich e fremdes Kind!“
108
1
O.:
„Na sicher. Ich han jo vorher schon fremde Kinner immer gehat. Ich war immer schon
2
e Kinnernarr. Hat jeder gewusst. Jeder wo/wo net gewusst hat mit seine Kinner „Aja,
3
ei ich bring dir se!“, un so!“
4
A.:
„Wie du hasch se nimmi all?“
5
O.:
„Hat´s gehäß dann.“
6
A.:
„Ach so!“ ((lacht))
7
O.:
„Du hasch se doch nimmi all! Das war die erscht Reaktion! Jo! Un dann wie die L.
8
kam un do han se gesa´t: „Mir wunnere uns überhaupt net mehr!“, awer ..ähm.. also
9
von meine Eltre, von der Seite her waren´s eigentlich ..äh.. nie Enkelcher. Nie! Un von
10
Onkel un Tante, eichentlich a net! Das war´n lauter so bessere Leit! Lehrer – bessere
11
Leit! Un das war ( )„
12
I.:
13
O.:
„Also waren schon Berührungsängste do?“
((nickt)) „Ajo. Un vor alle Dinge, was kommt do nach? Was für Verwandtschaft bringt
14
das uns dann do mit, un so. ((lacht)) „Ja, hasche nit noch genuch Asoziales von Pi.?“,
15
so hat´s gehäß! – So war das! Jo, aber, so schlimm is mich das awer a´ch net
16
vorkomm.“
17
A.:
„Ei Dir!“
18
I.:
„Aber deshalb is/also für sie persönlich hat´s dann awer net so ..ähm.. e – wie sa ich –
19
20
Kontaktabbruch zu ihrer Familie geb, weil sie jetzt die Kinner uffgenumm han?“
O.:
„Nö! Nö! Ich hab das äfach überhört. Und ja jeder hat so sei/sei Meinung, sei
21
Ansichte, okay. Awer mit sechs Kinner zum Einkaufe gehe, also da is mer schon
22
asozial. Also ja, ich also. Es K. hat immer gesacht: „Geh mer esse?“, jo, „Ihr Kinner,
23
Markeklamotte anziehe, mir sin asozial, mir han sechs Kinner!“. ((lacht)) Ja!“
24
A.:
25
O.:
26
„In dem Pub do, wo mir esse ware,...“
„In Bd. im Faß. - Ah wo ich mit em K. in Kanada war, wo de Papa mit
euch hingefahr war?“
27
A.:
28
O.:
29
A.:
30
„Ja genau. De Papa is mit uns...“
„Das war die Sensation für euch!“
„...hingefahr, in Bd. In dem riesegroße Fass do, wo´s do gebt! Ajo, 6 Kinner, nee 5
Kinner un/und de Papa!“
31
O.:
32
A.:
„Alleinstehender Mann – ja!“ ((lacht))
„Genau! Un die/die Nachbartische so ((zieht Grimassen)). Schon ihr Teil gedacht, so.
33
Ja? Mir han uns wirklich prima benomm! Wie/richtich die beschte Maniere an de Tach
34
gebracht, so. Mit Messer un Gawel gess, net/net ..ähm.. net schnell gess, oder so.
109
1
Wie/wie mer ewe normal esst! Ajo! Un am Schluss, wo mir rausgang sin, han/han die
2
ganze Leut so uff de Tisch geklopft.“
3
I.:
4
O.:
((lacht)) „Klasse!“
„Ja, das sa´n sie! Ja gut...! – Un dann han mir uns e Tisch reserviert ..äh.. in/in an der
5
Bundesstrasse. Tisch reserviert für neun Personen. So. Aja, neun Persone. Gut,
6
wunderbar! Alles klar. Wir kamen an, un hatten e Schwanz Kinner hinnedran, hier, ja?
7
„Ja, aja, wir ham auch hier noch en Tisch!“, un dann han ich gesacht: „Entschuldigen
8
sie bitte, sie könne uns ruhig den Tisch gebe, den sie vorgesiehn han für uns. Unser
9
Kinner können mit Messer un Gawel esse!“.- Ja?“
10
I.:
„Mhm.“
11
O.:
„Ma is halt/ich mein irgendwo hat man/ich weiß wie das is. ..Äh.. wenn annere sa´n:
12
„Die behanneln mich... Oder so un so wird ma behannelt! ..Äh.. Ich bin doch kän
13
Asozialer.“, oder „Die behandeln mich wie e Asozialer!“, oder so. Ich kann des
14
verstehn. Ich kann des nachvollzieh´n. Ich wäß wie das is. Ich/ich kann mer vorstelle,
15
wie die Woch, war mir in Ku., han ich gesa´t: „Kuck mol do steh´n se vor dem ..äh..
16
((räuspert sich)) Ausgabe/Lebensmittelausgabe, da.“
17
I.:
18
O.:
„Mhm. Mhm. Mhm.“
„Han ich gesa´t: „Ach Gott, do steh´n se bis uff die/uff de/uff die Straß schon alle. Wie
19
die sich fühle müssen, un so!“. Han ich sofort gadacht: „Jo, würd ich mich hinstelle,
20
mit meine sechs Kinner, würd ich dodezu gehöre!“. Egal jetzt wie, ja? Un das von de
21
Gesellschaft her, des is schon traurich, awer... Ja! Es is traurich schon. Wie müsse die
22
sich eigentlich fühle, ne? Wie fühle die sich eigentlich in unsrer Gesellschaft? ... Un
23
dergleiche. Is halt so.“
24
I.:
„Und sonst noch was?“
25
O.:
„Ja es hat mich a´ch e Nachbarin gefro´t: „Warum machschen du das alles? Für was?“
26
Un wenn man mit sechs Kindern irgendwo auftaucht, wird man schon betracht... Jo!
27
Awer ich wollt/vorhin hasche was gesacht von Weihnachte. Un do wollt ich doch noch
28
was sa´n. Die K. hat mol gesa´t: „Ich find Weihnachte doof, weil die Pflechekinner
29
immer wenicher krie´n wie mir!“, so ne?"
30
((TONBANDWECHSEL – fehlen etwa 2 Minuten))
31
32
I.:
„Also wie war des mit Dir und de leibliche, nee mit de annere Pflechekinner. Gab´s do
vielleicht Konkurrenz?“
110
1
A.:
„Also mit de groß Schweschter eigentlich überhaupt net. Mit/mit em große Bruder a
2
net. Nur mit meiner kleine Schweschter, mit de L.! Ich wäß net! Mir hän dauernd
3
Streit. ((lacht)) Okay, mir hän uns mol geschla.“ ((lacht))
4
I.:
„Eifersucht?“
5
A.:
„Ja! Das spielt mit!“
6
I.:
„Um Aufmerksamkeit?“
7
A.:
„Hmmm, zum Teil. ... Weil, manchmol denk ich, irgendwie wird´s L. doch e bissche
8
bevorzugt, als ich!“
9
I.:
„Inwiefern?“
10
A.:
„Ich/ich wäß net so ganz? Hm. Zum Beispiel wenn ... es L. krie´t alles un/un ... zum
11
Beispiel mit em Computer. Es L. krie´t e neuer Computer, was häßt neu? Von/von
12
annere Leut de Computer ... wo mir geschenkt krie´t han. Un ich krie´n em L. sei
13
Computer, der schon etwas älter is – okay ich kann net gut mit em Computer umgehe
14
un ich kann net so gut schreibe – awer trotzdem! Ich krie´n dann immer die/die/die
15
abgelegte Sache!“ ((lacht))
16
I.:
„Woran denksche, dass es hängt?“
17
A.:
„Wo´s herkommt?“
18
I.:
„Warum des so is – sein könnte?“
19
A.:
„Keine Ahnung! Uff jeden Fall, stimmt schon, man kann´s noch gebrauche! Is noch
20
gut! Awer...“
21
O.:
„Es hat schon recht. Is so!”
22
I.:
„Mhm.“
23
((TONBANDWECHSEL – es fehlen 30 Sekunden))
24
I.:
„Gab es noch irgendwelche Dinge, die sie als nützlich und hilfreich empfanden?“
25
O.:
„Also das Jugendamt hat immer geholfen. Un mir hatten auch e zeitlang einen
26
Elternstammtisch mit lauter Pflegeeltern, aber der hat sich dann zerschlagen, denn
27
viele sind nach ner Zeit nicht mehr gekommen. Die wollte nur wisse: „Was bekommt
28
ma für Geld“ - „Was derf ich?“ – „Was derf ich net?“ - „Wie ist das Kind versichert?“,
29
ja un wenn se das wusste, kame se nimmi!“
30
I.:
„Aha. Gut. ... Ah, gab es eigentlich ne Namensänderung?“
31
O.:
„Also Aisha is ja nur e Fantasiename. Die häßt ganz annersch.“
32
A.:
„Ajo. Ich hass meine Name. Der is arabisch. Un erinnert mich an mei Vadder.“
111
1
O.:
„Alle kennen se nur als Aisha. Ich glaub es hätt gern unser Name, aber das hab ich nie
2
gemacht. Hätt do immer des Gefühl ich entfern se von ihre Familie. Nee! Des will ich
3
net. Das sin dene ihre Wurzle.“
4
I.:
„Okay, dann war´s das von meiner Seit aus. Wenn sie nix mehr zu erzählen haben? ...
5
Gut, dann ein ganz großes Danke und ich hab´ ihrer Pflegetochter schon gesagt, dass
6
ich mich noch mal melde.“
7
O.:
„Oh ja. Das interessiert mich.“
112
7.1.3. Narratives Interview mit Pflegekind „CHRISSY“ (21)
Abkürzungen
I.:
C.:
Ku.:
Pi.:
La.:
1
I.:
Bedeutung
Interviewerin
Informantin „Chrissy“
Wohnort der Pflegemutter
Herkunftsstadt
Psychiatrische Klinik
„Die Informantin wurde über Sinn und Zweck des Interviews aufgeklärt und ..ähm..
2
über den Ablauf des Interviews. Okay! Dann möchte ich dich bitten dich zurück zu
3
erinnern ..ähm.. über deine Lebensgeschichte und wie eins zum andern kam.“
4
C.:
„Also ich weiß, ((räuspert sich)) dass ich ziemlich oft, als ich noch bei meiner Mama
5
gelebt hab, ((räuspert sich)) un das ..ähm.. ich damals, oft im Krankehaus war. ..ähm..
6
aber, dass mir einer der Ärzte gesagt hat, dass ich net körperlich krank bin, sondern
7
dass es eher vom psychischen her kommt. Un da sich das halt gehäuft hat un oft un
8
immer länger wurde, hat die dann glaub ich es Jugendamt verständigt. ..Ähm.. dann
9
kam´s zu em Treffe un dann ham die aber auch schon feschgelegt, dass ..ähm.. ich
10
definitiv bei meiner Mama weggehol wer. Un dann kam´s auch schon im Krankehaus
11
zu em Treffe mit de Notpflegefamilie ( ) dann war ich e dreiviertel Jahr bei dene, auch
12
mal zwischendrin verschiedne Familie angekuckt, ..ähm.. bin dann zum Schluss bei
13
meiner Pflegemama gelandet.“ ((lacht))
14
I.:
„Mhm.“
15
C.:
„..Ähm.. am Anfang war das eigentlich e super Sach, mit meiner Mama. Also ich hab
16
mich super mit ihr verstan, aber mit de Zeit wurd das dann immer schwieriger, weil
17
ich halt einfach ..hm.. .. nie wirklich Grenze hatte. Un auf einmal war halt dann
18
jemand da, der war: Do geht´s lang, und do dran musche dich halle.“
19
I.:
20
M.:
21
„Mhm.“
„Un es war für mich ziemlich schwierig mich do dran zu halle, zu gewöhne, und da
ham mer immer gestritt, un ja.“
22
I.:
„Du redsch jetzt von deiner richtige Mama, oder deiner Pflegemama?“
23
C.:
„Meiner Pflegemama. Mei Pflegemama is eigentlich mei richtichi Mama. Mei leiblichi
24
25
Mama is halt mei Erzeugerin, ja halt eher so e Freundin für mich.“ ..((7))..
I.:
„Aha! ... Probier dich mal zurückzuerinnre ans Krankehaus. Wie is das da abgelaufe is
26
mit dene Erstkontakte, wie dir klar wurd, dass du aus de Familie raus müscht. Ja, wie
27
war das für dich?“
113
1
C.:
„Also ich hat mich damals eigentlich ziemlich stark an mei leiblichi Mutter eigentlich
2
geklammert. Aber ich hat so das Gefühl, je mehr ich mich an sie hefte, je mehr ich
3
eigentlich net von ihr weg will, je mehr hat sie mich eigentlich ..ähm.. von sich
4
weggestoß. Also ma hat gemerkt, sie is einfach mit mir als Kind total überfordert, weil
5
sie halt äfach annere Sache im Kopf hat.“
6
I.:
„Mh, warsch du allä?“
7
C.:
„Ja. Also ich hab zwar noch zwo Geschwischter, aber mei älterer Bruder, der is jo
8
schon ziemlich alt, der is zehn Johr älter wie ich, un der hat halt schon, der hat dann
9
bei meiner Tante gelebt, die hat dann Pflegschaft a übernommen. Un mit dem hat ich
10
eigentlich so gut wie kä Kontakt. ( ) Mei Eltre han sich dann mit 4 scheide geloss, ich
11
musst dann entscheide, der Richter hat mich dann entscheide geloss, wo ich hin will.“
12
I.:
„Mit 4 schon?“
13
C.:
„Ja. Un ..äh.. ich bin dann halt zu meiner Mama. Un/aber mir sin halt oft umgezo, mei
14
Mutter hot wechselnde Partner.“
15
I.:
„Mhm. Okay.“
16
C.:
„Es war im Krankehaus fand ich eigentlich immer relativ schön. Also mir hat´s immer
17
ganz gut gefall.“ ((lacht))
18
I.:
„Und was hat dir dort gefall´n?“
19
C.:
„Wäß net, halt ..ähm.. die Leut, war immer so/so Spielzimmer wo mer spiele konnt,
20
21
war immer jemand do. Ma hat immer Ansprechpartner gehat. Ja!“ ..((5))..
I.:
22
23
„..Ähm.. warum bische net zu deinem Vadder komm, nachdem man dann gemerkt hat,
dass du bei deiner Mudder, dass du, ja...“
C.:
„..Ähm.. hat/mei Vadder hat halt eigentlich sei eigeni Familie gehat, un er wollt mich a
24
nemme, aber dadurch, dass er halt starker Alkoholiker war, ..ähm.. hat es Jugendamt
25
dann halt gesagt: „Nee es is eben net sinnvoll, mich dann halt in so e Familie zu
26
stecke.“
27
I.:
28
29
„Hm. Und wie war des für dich? Wärsch vielleicht lieber dort hin, oder? Wie hasch
das gefun?“
C.:
„Also ich war/ich wollt eigentlich immer zu meiner Oma. Aber da mei Oma ((lacht))
30
..ähm.. halt ach schon relativ alt war, hat´s Jugendamt halt gesa´t, „Nee, sie is halt zu
31
alt. Un die Verantwortung für das Kind halt zu übernehme.“, un ich/ich fand´s
32
eigentlich net schlimm, dass ich net zu meinem Vadder konnt, weil ich mit meim
33
Vadder eigentlich ach net sooo – ich hab zwar schon Kontakt zu ihm – aber jetzt net
114
1
sooo regelmäßig, dass ich ich jetzt gesa´t krie, dass ich jetzt ( ) ich wollt zu ihm. Ich
2
glaub auch net, dass ..ähm.. ... dass ich das hät könne entscheide.“
3
I.:
4
5
„Mhm. ( ) Wie waren so die Kontakte mit dem Jugendamt für dich? Wie waren die
Leut? Wie hasche das erlebt?“
C.:
„Also am Anfang fand ich das sehr merkwürdig.Do kommt irgendjemand fremdes,
6
und hat mich dann über mich ausgefrot, un meiner Mama un es war alles sehr
7
komisch. Ich hab das net/am Anfang hab ich das net so verstan. Nur als ich dann in die
8
Pflegefamilie kam, in die Notfallpflegefamilie un der Kontakt eigentlich ständig da
9
war un ständig die Gespräche waren, un die mir dann erklärt han, okay, das is
10
eigentlich der Grund wieso mir des mache. Eigentlich um dich zu schütze, um dir e
11
geregeltes Lebe zu biete, dann hab ich das schon verstan, ja. Hab mich eigentlich
12
schnell dran gewöhnt. ( ) Bissche ungewohnt am Anfang, aber ...“
13
I.:
„Also dir wurd des in de Notfallpflegefamilie zum ersten Mol so erklärt?“
14
C.:
„Also die han ja am Anfang, als das erste Treffe da stattgefun hat, han se mir schon
15
erklärt, was Sinn und Zweck der Sache is. Aber ..ähm.. ich hab halt net verstan warum
16
ich von meiner Mama weg muss. Un, ja das wurd mir dann halt erklärt. .. Aber erst so
17
im Nachhinein kam das Verständnis bei mir an.“
18
I.:
„Hm. .. Ich hätt gern, dass du, wenn du zurückdenkst, dir – darfsch dir auch gern Zeit
19
nehme – dir ein paar typische Situatione überlegsch, die wichtig für die Lebenslauf
20
waren, zum Beispiel der letzte Tag bei deiner Mutter oder der erste Tag in der
21
Pflegefamilie. Wie is es abgelauf, was habt ihr gemacht?“
22
C.:
23
..((5)).. „Ich glaub ich bin direkt vom Krankenhaus in die Notfallpflegefamilie
gekommen, wenn ich mich richtig erinner.“
24
I.:
„War die Mama im Krankehaus anwesend, oder?“
25
C.:
„Ich glaub/ich glaub sie war beim erschte Treffe anwesend. Aber dann war´s glaub ich
26
nimmi.“ ( )
27
I.:
„Notfallpflegefamilie?“
28
C.:
„..Ähm.. des is, also die Notfallpflegefamilie, die mich nur uff e bestimmti Zeit
29
uffgenomm han.“
30
I.:
31
C.:
„Mhm.“
„Un eigentlich war ich länger do, wie ich eigentlich hätt dort sinn solle, laut Plan vom
32
Jugendamt. Also die hatten glaub ich drei Monate für mich ingeplant un ich war dann
33
e dreiviertel Johr do.“
34
I.:
„Mhm. Weil´s so gut dort war?“
115
1
C.:
2
„Weil´s halt schwierig war für mich irgendwie jemand zu finne, wo ich mich wohl
gefühlt hab.“
3
I.:
4
C.:
„Mhm.“
„Ich bin dann ziemlich ..äh.. ((lacht)) bissche schwierig, also ich war als Kind ziemlich
5
schwierig un ich hab halt/ich wollt das halt net. Ich wollt eigentlich zu meiner Mama
6
zurück un/aber des ging jo net un hab ich halt mit alle Mittel dagege gekämpft.“
7
((lacht))
8
I.:
((lacht mit)) „Un wie hat sich des geäußert? Treten, spucken, beißen?“
9
C.:
„Nee! So schlimm war´s net. ((lacht)) Also ..ähm.. ich hab halt ..ähm.. immer überlet
10
nee dort will ich net hin, un dort will ich net hin ( ) bis mir jemand erklärt hat, ich kann
11
halt in dere Notfallpflegefamilie net so lang bleibe, ach wenn se mich gern behal hätte.
12
Aber ..ähm.. ich sollt halt e Entscheidung treffe irgendwann halt dann. Un dann kam
13
halt mei jetztigi Pflegemutter, mei ehemalige Pflegemama, un mit der hab ich mich
14
halt gut verstan. Un hab gesa´t: „Naja, okay, des könnt ma probiere!“.
15
I.:
„Okay. Dort hat´s de Erstkontakt geb, bevor du hinkomm bisch?“
16
C.:
„Genau! Also erscht war des so, durft ich übers Wochenende ..ähm.. zu/dort hi un
17
durft mir des halt ankucke, a mo, glab drei- vier Mal, und dann musst ich halt sa:
18
„Okay, Ja, mir gefällt´s dort, ich fühl mich dort wohl, komm mit de Umgebung klar,
19
oder halt net. Des war in dene Familie vorher net.“
20
I.:
„Was war dort annersch? Was hat´s ausgemacht?“
21
C.:
„Ich erinner mich an änni Familie, die war ..ähm.. die ware sehr christlich un des hat
22
mir schon gar net gepasst. ((lacht)) ..Ähm.. ich war dann über Wheinachte dort un da
23
musst ma in die Kirche gehen und da gab´s halt auch noch annere Kinner un mit dene
24
hab ich mich ach net/also mit dere Tochter hab ich mich überhaupt net verstan. Des
25
war halt alles so e bissche spießig.“
26
I.:
„Hat´s Konkurrenz geb mit dene do?“
27
C.:
„Hm, nee, eigentlich net, aber mir han/mir hatte halt e net wirklich e Draht zueinanner.
28
Also des hat irgendwie/sie´s halt annerschder erzo wor wie ich.“
29
I.:
30
C.:
31
32
„Beziehungsweise, ich bin gar net erzo wore ((lacht)) aber, deswege/die wusst halt,
was sie zu mache hat un ich han mich halt so e bissche quergestellt.“
I.:
33
34
„Hm.“
„..Ähm.. du sasch, du hasch überhaupt kä Erziehung genoss, dann kommsche in e
Pflegefamilie, un da geht´s eigentlich schon drum, dir Erziehung zu gewährleischte...“
C.:
„Genau.“
116
1
I.:
2
3
„Dir Werte zu vermittle. Beschreib mir mal typische Situatione wie das von statte
gang is am Afang bestimmt net einfach.“
C.:
„Nee, ebe. Also bei meiner Mama war´s halt e Regel, ..ähm.. da wird jede Freitag
4
geputzt. Un ich hab mich do so degege gewehrt. Un ich hab – mei Mama hat mir des
5
erzählt – ich hab jede Freitag geweint. Un sie wusst enfach net warum. Bis se dann
6
mol rausbekomme hat, dass mich des so gestresst hat, ((lacht)) jede Freitag zu putze.
7
Oder halt, um die un die Uhrzeit daheim zu sein. Moiens uff zu stehe in die Schul zu
8
gehe. Des war schlimm! Des war wirklich schlimm! Des hat mich richtig fertig
9
gemacht.“ ((lacht))
10
I.:
„Ja, wie gesagt, des is schwierig, wenn du gar nix in der Hinsicht genossen hasch!“
11
C.:
„Ne, ich kannt ja mache was ich wollt. Ich war größteteils bei meiner Oma ore halt bei
12
meiner Tante. Aber wenn ich dann dort weg war, dann konnt ich wieder mache was
13
ich wollt. Es hat sich känner drum geschert, ob ich nachts um zwölf noch drauße rum
14
streif, oder so. Mei Mutter war fast nie daheim. Un dann entwickelt ma halt sei/sei/sei
15
eigene Vorstellunge wie´s ablaufe soll, un uff e Mol is dann jemand do, „Du bisch so
16
un so alt un da hasch dann un dann daheim zu sin“, un du hasch das un das zu mache.
17
Ma is es überhaupt net gewohnt. Es kann nur Uffreibereie gebe.“
18
I.:
19
20
„Mhm. Aber trotzdem hasche in der Familie dann gesagt: „Okay, das probier ich un do
bleib ich“?
C.:
„Am Anfang war des jo, also diese Wochenenden, die ich do verbracht hab, da war
21
des jo net so schlimm, do war ich/do bin ich jo net aus em Haus gang und do war/ham
22
mir jo meischtens zusamme was gemacht. Gekocht, oder spaziere gang oder so was.
23
Un dann kam ich dann dorthin ..ähm.. dann fing die Schule an, un des war halt ach
24
schwierig, am Anfang, neue Freunde, sich dort inzugewöhne. Ja, un dann Freunde
25
gefun, un dann geht ma natürlich a raus, klar, un dann denkt ma: „Ah, ich kann jo
26
mache was ich will“ un dann „Nee, du bisch aber dann un dann daheim.“ -Ja wie?“
27
((lacht))
28
I.:
29
„Mhm. ..Ähm.. ..ähm.. hasche dann/hasche net dene Vergleich zu annere dann gezo?
Vielleicht gesieh, die müssen halt a um zehn hem/dehem sin?“
30
C.:
„Ne gar net, weil annere immer länger raus durfte wie ich.“ ((lacht))
31
I.:
„Klar, is immer so. ((lacht)) Komischer Weise war des bei mir a´ch so.“ ((lacht))
32
C.:
„Also es war einfach schwierig. Un ich hab mich dann halt müsse füge, denn es blieb
33
mir jo nix annerers übrig, aber es gab halt immer Streit un ich war dann voll jähzornig
117
1
un ich war es halt enfach net gewöhnt. Un mich dann wirklich inzufinne, hab ich bis
2
zu meinem Auszug noch net wirklich ganz geschafft.“ ((lacht))
3
I.:
„Denkt ma zwischendurch an Abhauen?“
4
C.:
„Ja! Ich bin oft abgehau. Ich bin oft abgehau un hab gesa´t „Ich will nimmi un ich will
5
do nimmi lebe un ich wollt dann immer zu meiner/zu meiner Oma, oder so. Un die
6
Mutter hat mich dann immer am Bahnhof uffgegabelt.“
7
I.:
„Also die Oma aus de Herkunftsfamilie?“
8
C.:
„Genau!“
9
I.:
„Mhm. ..Ähm.. hasch´s mol weiter geschafft wie an de Bahnhof?“
10
C.:
„Ja, ich bin schon in Pi. ankomm.“ ((lacht))
11
I.:
12
C.:
„Mei Oma hat mich dann a gehol, aber später dann a wieder zurück gebrung.“
13
I.:
„Was geht einem in so Momenten in einem vor? Ich mein erscht mol sin des
((lacht mit)) „Okay!“
14
unkontrollierte Handlunge, geh ich davon aus, un macht man sich dann vielleicht im
15
Zug dann mol Gedanke, warum...“
16
C.:
„Man fühlt sich halt unheimlich ungerecht behandelt! Ja? Also in dem Alter fand ich
17
das unheimlich ungerecht, weil jeder darf mache was er will, nur ich, ich muss das
18
mache, was ma gesa wird. ((lacht)) Un... .“
19
I.:
20
C.:
„Ja, so Pupertät!“
21
I.:
„14?“
22
C.:
„Nee, erscht - 13, 14. Das war so die Ausreißerzeit.“ ((lacht))
23
I.:
„Gute Phase, ja!“
24
C.:
„Also ich kann sa´n ich han´s meiner Pflegemama net änfach gemacht.“
25
I.:
„Gab´s da auch Pflegepapa?“
26
C.:
„Nee!“
27
I.:
„Nur Pflegemama?“
28
C.:
„Mhm.“
29
I.:
„Un a kä leibliche Kinner?“
30
C.:
„..Ähm.. also sie hat leibliche Kinner, aber ihr leibliches Kind wohnt ..ähm.. beim Ex-
31
„Von welchem Alter sprech mir grad?“
Mann. Aber is mittlerweile a schon erwachse. Diplomarbeit als Zahnärztin geschrieb.“
32
I.:
„Mhm. Han die noch Kontakt?“
33
C.:
„Ja!“
34
I.:
„Un du hasch dann a Kontakt gehabt?“
118
1
C.:
2
„Also sie hat se mir ma vorgestellt, aber mit ihr Kontakt gehat ..., ich glab a net, dass
ich se noch mol erkenne würd.“ ( )
3
I.:
„Was für Persone waren für/in deinem Lebenslauf wichtig?“
4
C.:
„Also mei Tante auf jeden Fall,...“
5
I.:
„Herkunftsfamilie?“
6
C.:
„Genau. Herkunftsfamilie! ..Ähm.. mei Oma – mei Oma hat mich unheimlich
7
8
unnerstützt. Des Ganze halt durchzustehe. Un es Jugendamt halt.“
I.:
9
„Also du hasch a als Kind schon das Gefühl gehat, das Jugendamt is schon do für
dich?“
10
C.:
„Genau!“
11
I.:
„Ansprechpartner?“
12
C.:
„Also als des dann ..ähm.. so in die Wege geleitet wurde/ich bin a in meiner
13
Notfallpflegefamilie als e mol ausgeriss. Weil ich alt/do ware drei leibliche Kinner do,
14
un ich komm halt als Fremdes do rin un dann gibt´s halt a mo Reibereie unnernanner,
15
wie des halt unner Kinner so is. Un dann/un die Jugendamtbetreuerin von do owe hat
16
genau e Stroß unne drunner gewohnt, un dann bin ich als zu der ausgebüchst. „Ich will
17
nimmi!“.
18
I.:
19
20
„Das is glaub ich auch der Grund, warum Sozialpädagoge net im Telefonbuch stehe
sollte.“ ((lacht))
C.:
„Un´s Jugendamt war jo ach net weit, des häßt, ..ähm.. in Pi. war´s Jugendamt früher
21
..ähm.. do, wo jetzt die Post is, do un ich hab direkt im Sch. Gewohnt, also des
22
war...net weit.“
23
I.:
24
25
„Okay. Was war´n unheimlich tolle Erlebnisse in der Pflegefamilie, oder unheimlich
schlechte?“
C.:
26
„Hm. Also mei schlechtesti Erfahrung war als ich mer die Pulsadre uffgeschnitt hab.
Un des war e Phase ..ähm.. wo ich gedacht hab „Jeder losst mich allein.“.
27
I.:
„Erzähl genau!“
28
C.:
„Also mei, mei Schweschter, also mei/mei Mama hat damals noch e Pflegekind gehat,
29
un die hat e Autounfall gehat, un mei Mutter hat sich nur noch um mei Schweschter
30
gekümmert. Un ich hab halt/ich fand halt, sie losst mich im Stich. Weil, dort halt hätt
31
ich se halt ach gebraucht. Ich hab Schwierigkeite in de Schul gehat, un mei Freunde
32
mit dene hat des halt a nimmi so geklappt. Un dann kam das halt dezu un dann war sie
33
kaum deheim. Sie war halt oft im Krankehaus un so, un dann bin ich/jo un dann han
34
ich halt gesa´t „Ach, is doch alles scheiße!“
119
1
I.:
„Schulschwierigkeite, Probleme mit Lehrer, Schüler?“
2
C.:
„Ja.“
3
I.:
„Die Leistunge sin runner gang?“
4
C.:
„Genau. Genau, weil ich halt äfach im falsche Freundeskreis war.“
5
I.:
„Was für Freundeskreis war des?“
6
C.:
„Also ..ähm.. war jetzt net unbedingt e schlechter Freundeskreis. Aber die Persone
7
ware halt sehr falsch. Sehr/äfach kä Umgang eigentlich. Also ich män, die
8
unnernanner sin gut klar kumm also dann/sin halt so Leut, die hinnerrüks üwer em
9
erzähle, schlechte Sache un em vornerum ins Gesicht lache.“
10
I.:
11
12
awer die Leit war´n falsch?“
C.:
13
14
„Wie mänsche denne Satz ..ähm..: „Es war eigentlich kä schlechter Freundeskreis,
„Also ich hab mich eigentlich ziemlich immer wohl gefühlt. Bis ich dann gemerkt hab
..ähm.. was eigentlich Sache is. Un.. .“
I.:
15
„Also eigentlich schon schlechter Freundeskreis, bloß die war´n in dem Moment
grad...?“
16
C.:
„Genau!“
17
I.:
„..Ähm.. Droge, Alkohol?“
18
C.:
„Nee! Ja, Alkohol, awer halt jetzt net im Übermaß, oder so. ... Ich män, wenn e
19
20
Feschtche is, oder so dann awer, ich bin eh net so der Alkohol-Fan.“
I.:
„..Ähm.. Mir fallt grad in, die Gründe, großteils ..ähm.., dass Du überhaupt
21
aus/aus/von deiner Mutter weg muscht. Also diese Herunnergekommene, kannsche
22
des nochmol ausführe?“
23
C.:
„Also ich sa´ wußt das gar nimmi. Also die Gründe, warum ich in e Pflegefamilie
24
komm bin, sin mir eigentlich nie wirklich gesa wor. Ich hab die jetzt eigentlich mehr
25
durch mei/durch mei/durch mei Pflechemutter halt ..hm.., erfahr! Weil ich halt jetzt
26
nochmol nachgehakt hab. Un ..ähm.. ich bin mir eigentlich domols net so
27
herunnerkomm vorkomm. Also ich män ich bin ((lacht)) wie jedes annere Kind halt in
28
die Schul gang un, kä Ahnung. ..Ähm.. des mit dem Ernährungszustand, des hat mir
29
mei Oma später erscht gesa´t. Das die Ärzte müssen ihr gesa´t han ..ähm.. dass wenn
30
ich halt e Woch später ins Krankehaus gekomm wär, dass se dann nix mehr für mich
31
hätte mache könne.“
32
I.:
33
34
„Des häßt, auch do hat dir dei/dei Wahrnehmung dir eigentlich gar net gesa´t wie dürr
un...“
C.:
„Genau!“
120
1
I.:
„Du bisch...“
2
C.:
„Also mir war/mir war des/mir war des net bewusst!“
3
I.:
„Un ..äh.. du warsch jo damals schon in de Schul, oder?”
4
C.:
„Genau!“
5
I.:
„Ja, Rückmeldunge von Klassekamerade wie du aussiesch, oder...?“
6
C.:
((schüttelt den Kopf)) „Nhn!“
7
I.:
„Gar nix?“
8
C.:
„Nhn.“
9
I.:
„Lehrer nix gesagt?“
10
C.:
„Nee. Also mei Ufftrete in de Schul damals, das war halt ..ähm.. ich war halt .. sehr ..
11
ruppich, sa ich mol. Also ich hab mich halt immer durchgesetzt, un wer mir halt zu
12
doof kam, der hat dann halt a´ch mol äns uff die Nuss bekomm.“
13
I.:
„So wirksche gar net!“ ((lacht))
14
C.:
„Ma wird klüger, deshalb.“ ((lacht))
15
I.:
„Okay!“
16
C.:
„Ja, aber ..ähm.. ich hab a mol e Schulverweis gehat, bin von de Schul suspendiert
17
wor, für drei Tage.“
18
I.:
19
C.:
„Mhm. Un was is do vorgefall?“
„Ja, hot ich wieder Schläerei gehat. Un mei Lehrer hat mer halt domols schon
20
angedroht, wenn des halt nochmol vorkommt, un dann ... darfsche mal drei Tage
21
daheim bleibe!“ ..((5))..
22
I.:
„Mhm. Was für Situatione waren des, das ma zuschlat? Was hat dich provoziert?“
23
C.:
„Ja hauptsächlich halt die Jungs, mit ihre Kommentare, un .. hm ..“
24
I.:
„Kommentare?“
25
C.:
„Ja! Ich kann mich do jetzt nimmi dran erinnern, was die als genau gesa´t han, awer
26
halt ziemlich provokativ un ja! Ich hab halt in de Grundschul schon schlechte
27
Erfahrunge gemacht – bin ich schon von de Jungs verghau wor, weil ich halt ziemlich
28
klein war un halt auch ziemlich zierlich. Un ich hab halt gesa´t, wenn ich jetzt in die
29
nächscht Schul komm, dann passiert mir das net!“
30
I.:
„Mhm. Also eigentlich war das dann auch nur Ausdruck der Gegenwehr?“
31
C.:
„Ja. ..((6))..“
32
I.:
„..Ähm.. ..((5)).. im Vorgespräch kam noch so zum Gespräch, so was dei Mama
33
gemacht hat, was dei Papa gemacht hat. Kannsche das noch mal erzähle?“
121
1
C.:
„Mei Vadder war halt starker Trinker un ..ähm.. mei Mama, was die gemacht hat, hab
2
ich jo net mitbekomm, weil die jo eigentlich nie da war. Ich wäß jetzt halt nur, wie
3
ich/durch mei Pflegemama, dass mei Mudder damals schun mit denne anschaffe gang
4
is. Ich wusst, das se was gemacht hat, als ich schon in de Pflegefamilie war, do hab ich
5
das mitbekomm. Weil sie mir des auch erzählt hat. ( ) Aber domols, als ich in die
6
Pflegefamilie komm bin, wusst ich des net.“
7
I.:
„Heißt aber, dass das net zuhaus abgelauf is?“
8
C.:
„Nee! ( ) Ich war eigentlich immer allein daheim. Ich war eigentlich, wirklich seit
9
sechs Jahr oder so, wie ich in die Schul bin, bin ich eigentlich schon allän in die Schul.
10
Mei Oma hat mich zwar unnerstützt, awer... .“
11
I.:
„Wie ging´s euch finanziell?“
12
C.:
„Also ich glaub net so gut! Wie gesa´t mei Mudder hat halt viel wechselnde Partner
13
gehat un mir sin dann immer zu dene gezo.“
14
I.:
„Wie hasche das erlebt? Wie fandsche die Kerl? Was war´n das für Typen?“
15
C.:
„Also die meischte konnt ich net leide. Un mei Mudder wusst des auch. Bis uff/bis uff
16
eigent/bis uff änner, mit dem bin ich/also bei dem waren mir ziemlich lang, awer der
17
war halt auch schon älter. Der war halt – kä Ahnung – 51 oder so ((lacht)) un bei dem
18
ham mir halt auch ziemlich lange Zeit gewohnt. Des war noch in meiner
19
Grundschulzeit. Un als der dann gestorb is, un dann ging des halt erscht richtig los mit
20
dene wechselnde Partner, un dauernd umziehe, un so.“ ..((4))..
21
I.:
22
„Hat dei/du hasch vorhin gesa´t´s gab wie du in die Pflegefamilie komm bisch auch e
Ortswechsel.“
23
C.:
„Genau!“
24
I.:
„..Ähm.. würdsche das im Nachhinein als gut bezeichnen?“
25
C.:
„Ja! Als sehr gut sogar. Weil ich glaub, wenn ich/wenn ich weiterhin in Pi. wär, wär
26
ich jetzt net/hätt ich net die Entwicklung durchgemacht, die mich jetzt ... die mich zu
27
das gemacht hat, was ich jetzt bin.“
28
I.:
„Mhm. Warum denksche das?“
29
C.:
„Ja, wie gesa, mei Pflegemama hat mir halt Grenze gezeigt, bis dahin un net weiter.
30
Mir vieles ermöglicht ..ähm..ich gla´b durch die Erziehung, die ich dann doch für e
31
paar Johr genoss hab, hm hat sich mei Entwicklung zum Positiven gewandelt gehat.“
32
I.:
„Un wie lang hasche dort gewohnt?“
33
C.:
„Fünf Johr, also ich bin mit 16 wieder ausgezo.“
34
I.:
„Un warum mit 16 schon? Des is ja eigentlich a relativ früh?“
122
1
C.:
„Ja! Also es war halt so, dass mei Pflegemama un ich uns halt oft gestritt han, weil ich
2
halt a´ch e sehr schwierig Kind war. Un es war eigentlich ihr Idee. Sie hat mich
3
gefro´t, was ich halt devon halle würd, wenn ich mit 16 ausziehe. Un da ich halt der
4
Meinung war, dass uns ..äh.. e räumlichi Trennung, weil mir halt immer uffenanner
5
gesess han, hab ich halt gedacht, okay, räumlichi Trennung is vielleicht net schlecht!
6
..Ähm.. seitdem ich halt jetzt hier wohn, is unser Verhältnis auch wesentlich besser!“
7
I.:
8
9
„Ich hab gar kä Ahnung – wenn man mit 16 auszieht, braucht man dann net irgendwie
die Einwilligung der Eltern?“
C.:
„Nee, da jo die Vormundschaft jo mei Pflegefamilie/mei Pflegemutter hat, war das
10
üwerflüssig. Un es war jo dann so, dass es Ku. Jugendamt dann für mich zuständig
11
war. Un mir das dann beantragt hatte bei dene, un die sofort „Nee!“, gesa´t han.“
12
I.:
„Okay!“
13
C.:
„Die hatten´s gleich abgelehnt. Un dann is mei Pflegemama halt gesa´t ..ähm.. das lost
14
sie sich net gefalle, un hat sich ans Pi. Jugendamt wieder gewandt, un die han sofort
15
gesa´t: „JA!“. Die han dann sofort alles in die Wege geleitet, die han gesa´t, okay mir
16
müssen e Wohnung suche, das mache, das mache. Un...“
17
I.:
„Lag net awer die Zuständigkeit net aber mittlerweile beim Ku. Jugendamt?“
18
C.:
„Genau. Also ..ähm.. es Pi. Jugendamt war ziemlich lang zuständig für mich,
19
eigentlich länger als normal. Un ich gla´b es Ku. Jugendamt war eh nur dann für mich
20
zuständig, un nachdem sie dann dene Antrag abgelehnt han, hat Pi. Jugendamt wieder
21
übernomm.“ ..((6))..
22
I.:
23
„Wie/wie hasche dann, so die erschte Schritte in selbstständiger Wohnung/in eigener
Wohnung selbstständig erlebt?“
24
C.:
25
I.:
26
C.:
„Also ich hab mich... .“
„Ohne jemand, der dir dann wieder erzählt: „Füsse vom Tisch!“ „
„Also ich muss sa´n, ich hab nie über die Strenge geschla. Selbscht/also es hieß dann
27
immer, okay um halb neun bische dehem, unner de Woch, am Wochenende awer
28
späteschtens um elf. Ich hab mich do noch Jahre lang dran gehal. Ich war dann
29
wirklich nie länger weg, unbewußt awer. Ich war dann nie länger weg wie neun, weil
30
ich wusste, ich muss nächschte Tach in die Schul un war a´ch am Wochenende net
31
wirklich länger weg. Ich glaub es war erscht so mit 18 wo ich mol richtig lang weg
32
war.“
33
I.:
„Un ..äh.. Freitag wird geputzt?” ((lacht))
123
1
C.:
„Also ich muss sa´n, am Anfang hat das e bissche zu wünsche übrig geloss, awer/awer
2
ich war dann, ich war net dreckig, aber ich war unordentlich. Also, aber mittlerweile
3
kann ich das nimmi han. Also/also... .“
4
I.:
5
C.:
6
((lacht))
„Des änzigschte, das manchmol e bissche unordentlich is mei Schlafzimmer, awer
jo.“(lacht mit))
7
I.:
„Hab mir schon gedenkt, heut is Sonntag, Freitag war Putztag, jo!“ ((lacht))
8
C:.
„Nein: Hab halt a´ch, also ich putz zwämol die Woch, un also ich hab dann a´ch schon
9
meine eigene Rhythmus. Mama kann´s immer noch kaum glaube, aber mein/man
10
merk, man wird halt älter, un denk dann: „Ah, kännt jo Besuch komme, un wie sieht
11
das dann aus?“, macht sich dann doch schon sei Gedanke! Un denk dann halt „Sie hat
12
jo doch wieder Recht gehat!“
13
I.:
„Wahrscheinlich!“
14
C.:
„Ja, find ich a´ch. Also ich denk für mich war alles gut.“ ( )
15
I.:
„Gab´s irgendwann noch Gewalt in deiner Familie?“
16
C.:
„Nhn. Also, dass ich jetzt irgendwie misshannelt wor bin, es gab zwar von meiner
17
Familie sexuelle Übergriffe, von meim Onkel her, die dann a´ch/e
18
Gerichtsverhandlung kam, wo ich dann a´ch, ..ähm.. Kontakt mi´m Kinnerschutzbund
19
uffgenumm hab, beziehungsweise, er wurde uffgenumm vom Jugendamt halt her. Also
20
ansonste nix!“
21
I.:
„Wie kam´s raus?“
22
C.:
„Hm, ja, mei Schuld. ..Ähm.. ich war domols mit meiner Oma/also mir war´n immer
23
mit meiner Oma in Urlaub un do ware die mit uff Österreich, un ich hab ( ) do wollt
24
ich unbedingt des Tagebuch han. Un dann hat mei Oma mir dann das Tagebuch dann
25
ka´f, un ich hab/ich hab irgendwann mol nachts schlecht geträumt von dene
26
Übergriffe, un hab das dann nin geschrieb. Aber dann hab ich gedacht: „Oh nee, das
27
siehsche jo dann immer un dann kommt das jo immer wieder.“, un ich wollt das
28
eigentlich nur vergesse, han das dann in de Mülleimer geschmiss, un die Haushäl/also
29
die Hauswirtin von dem Haus, wo mir waren, die hat mei Oma halt ziemlich gut
30
gekannt, un die hat das dann gefun un hat das dann meiner Oma dann erzählt!“
31
I.:
„Un dei Oma hat dann weitere Schritte...“
32
C.:
„Genau! Also die hat das geles, was ich eigentlich e ziemlichi Unverschämtheit fand.
33
Awer ..ähm.. die hat´s dann meiner Oma erzählt, un mei Oma hat´s dann
34
weitergeleitet.“
124
1
I.:
„De Onkel is de Bruder von...?“
2
C.:
„Meiner Mudder!“
3
I.:
„Mhm. War das zeitlich begrenzt? Und wie alt warsche da?“
4
C.:
„..Äh.. 6 bis 14. Das Luschtige war jo, ich hab das meiner Mudder erzählt, un die hat
5
ne dann gefrot, un der hat´s nadürlich abgestritt. Außerdem hat se mich dann als
6
Lügnerin hingestellt!“
7
I.:
8
C.:
()
„Genau! ( ) Wie gesagt, dann kam des halt raus, dass das net nur bei mir so war,
9
sondern ( ) dann kam´´s eigentlich zur Gerichtsverhandlung. ( ) Das Verfahren wurde
10
dann wegen Mangel an Beweisen ingestellt. Die Aussage von uns waren net genug!“
11
..((4))..
12
I.:
„Okay. ..Ähm.. und noch dere Gerichtsverhandlung, bisch... .“ ( )
13
C.:
„ ( ) Wie gesagt, es gab e paar Jahre, da hab ich zu meiner leiblichen Mutter überhaupt
14
kä Kontakt gehat. Ich wollt des net. Weil ich halt so enttäuscht von re war, dass sie
15
mich halt weggäbt!“
16
I.:
„Es kam also alles raus, als du schon in Pflege warsch?“
17
C.:
„Genau!“
18
I.:
„Mhm. ..((8)).. Beschreib mol dein Pflegeverhältnis in drei Worten? Und würdest Du
19
sie eher als Ersatz- oder Ergänzungsfamilie ansehen?“ ( )
20
C.:
21
I.:
22
C.:
„Also ich würd se auf jeden Fall als mei Familie bezeichnen.“
„Also eher Ersatz?“
„Genau! - ..Ähm.. in drei Worte? Schwierig. ..Ähm.. es war uff jede Fall: schwierig
23
das Pflegeverhältnis ..ähm.. aber uff de anner Seit sehr effektiv ..(10)).. is so gemischt!
24
Es gab halt diese Streitigkeite, es gab aber a´ch halt gute Seite!“
25
I.:
26
„Aber immer der Streit, mit dere Basis, dass du im Nachhinein sagen kannst, es war
gut – die Basis, dass es heut so gut läuft.“
27
C.:
„Richtig!“
28
I.:
„Gab´s irgendwas, was du dir gewünscht hättsch, was es leichter gemacht hätt?“
29
C.:
„E Pflegevater!“
30
I.:
„Der hat schon gefehlt?“
31
C.:
„Ja, fand ich schon. Weil eigentlich, ich war immer e Papakind, a´ch wenn ich zu
32
meinem Papa kä ..äh.. Kontakt hot, aber so wenn er halt dann do war, war ich immer
33
bei dem, un immer um den drum herum – früher halt a. Ich gla´b halt a, das hätt das
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1
alles e bissche neutralisiert. So war halt änni Person do. Ich gla´b, das/das hat schon e
2
bissche gefehlt!“
3
I.:
„Du warsch jo noch in re annere Familie und hasch jo dann nach Pflegefamilie
4
geschaut. Dann wunnert es mich aber, warum du ausgerechnet in die Familie wolltsch,
5
wo nur e Mama war.“ ( )
6
C.:
„Ja. Also in meiner Notpflegefamilie war ich a´ch immer beim Pflegepapa, wenn ich
7
irgendwie Probleme gehot han, bin ich eigentlich eher zu dem gang, wie ..ähm.. zu
8
de/wie zu/wie zu de damalige Pflegemutter.“
9
I.:
„Fällt dir noch irgendwas ein, was es erleichtert hätt, oder vielleicht erleichtert hat?“
10
C.:
„Das Verständnis meiner Mama, also von meiner Pflegemama. Die hat halt
11
unheimlich viel Geduld gehat. Ich gla´b, wenn´s e ungeduldige Person gewäst wär,
12
oder eher so Verständnislose, dann hätt das von Anfang an net funktioniert.“
13
I.:
„E Namensänderung hat´s bei dir nicht gegeben?“
14
C.:
„Nee, also sie hat mich zwar in Pflege genumm, aber ich hot mich auch dagege
15
gewehrt. Also mir hatten dadrüber gesproch gehat, aber ich hab dann gesa´t gehat:
16
„Nee, ich möchte eigentlich meine Name behalle!“
17
I.:
„Okay. – War eigentlich Rückführung geplant?“
18
C.:
„Von Anfang aber net. Weder von der Pflegefamilie, noch von de anner Seit.“
19
I.:
„Hat die Pflegemama dir eigentlich mal gesagt, warum sie dich genommen hat und
20
21
kein Kleinkind, is ja normaler?“
C.:
„Ja. Also sie hat zu mir gesa´t ..ähm.. sie möchte heranwachsende Jugendliche, da ich
22
ja ziemlich spät kam, und mei/mei/das annere Pflegekind kam jo a´ch erst mit 16, un
23
sie hat halt gesa´t, dass viele Pflegeeltern Kinner übernemmen, wenn sie noch klein
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sind. Wenn se Babys sind, oder ..äh/äh.. Kindesalter halt. Hat sie halt dene Stand
25
gehat, ma sollt dene annere halt o´ch e Chance gebe. Und das war halt der Grund,
26
warum se jetzt noch ..ähm.. ältere Pflegekinner nehmt.“
27
I.:
„Wie sehn die Kontakte aus, zu beide Familie – heut?“
28
C.:
„Also zu meiner leibliche Mutter hab ich ziemlich regelmäßig Kontakt, also mir
29
telefoniere mindestens ämol in de Woch. Un dann hab ich noch Kontakt, zu meiner
30
Tante, zu meiner Oma, meinem Bruder. Un ..ähm.. zu meiner jetzige Pflegefamilie,
31
hm meiner Mama, hab ich eigentlich a, mir telefoniere mindestens dreimol in de
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Woch, oder so? Also schon regelmäßig! Ich sieh se zwar net so oft, weil halt jeder
33
seine Dinge no geht, un sie hat halt jetzt wieder Pflegekinner, aber ..ähm.. is gut.“
34
I.:
„Besuchsch du se heut noch?“
126
1
C.:
„Ja, gelegentlich! Wenn ich Zeit hab!“
2
I.:
„Es klang jetzt so... kommt man dann nicht mal dazu wenn´s mal Konflikte gibt, und
3
4
denkt man sich dann nicht... das kenn ich?“
C.:
5
„Hm, ja! Aber sie hat erstaunlicher Weise immer noch die selbe Geduld und die selbe
Verhalte, was sie bei mir o´ch hat.“
6
I.:
„Sprichst du dann eigentlich mit de heutige Pflegekinner?“
7
C.:
„Selten! Aber irgendwie ..ähm.. das heutige Pflegekind, was se hat, also das zweite
8
kenn ich gar net, das jetzige Pflegekind is älter, das is schon 18 ..ähm.. un mit dere
9
unterhalt ich mich schon mol, aber jetzt net so über die Pflege an sich.“ ( )
10
I.:
„Also Geschwisterkontakte sin eigentlich nie entstan?“
11
C.:
„Also mit dem erste Pflegekind von meiner Mutter, ja ich glaub mir hatten uns noch
12
en Jahr, oder zwä gesieh´n, aber die hot e Freund, und war eigentlich fascht nie dehäm,
13
ne! Aber eigentlich, ich hab mich mehr gefühlt wie e Einzelkind!“
14
I.:
15
16
do?“
C.:
17
18
„Also war des gut oder schlecht – oder war vielleicht der Wunsch nach Geschwister
„Ich män, ich war´s jo von vorher gewohnt. Das war also von daher kä Umstellung für
mich!“
I.:
„Ja, noch e Punkt: Diskriminierung. Hasche da bei Nachbarschaft, in Schul,
19
irgendwann mal dumme Kommentare gehört gekriegt. War´s dir unangenehm
20
gewesest e Pflegekind zu sin?“
21
C.:
„Hm ... Nee, eigentlich nicht. Also wenn/wenn´s zur Sprache kam, dann hab ich des
22
schon gesagt. ..Ähm.. unangenehm war mir des net. ( ) Net dass ich mich dran erinnere
23
könnt. Am Anfang war mir das eher unangenehm, wenn jemand gefragt hat. Das
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Problem war halt: Ich konnt dene net wirklich Antwort gebe. Ich hab dann halt immer
25
gesagt: „Ja, mei Mutter hat halt kä Zeit mehr für mich gehat!“, weil ich´s halt net
26
besser wusst, a´ch in dem Alter.“
27
I.:
„Also war eigentlich die Aufklärung spät?“
28
C.:
„Das Verständnis kam erscht e bissche später, ich denk ich hab eigentlich eher do
29
demit zu tun gehabt, dass ich am Anfang net wollt, un es net verstehen wollt! Weil ich
30
halt eigentlich bei meiner Mama bleibe wollt! Aber das ging ebe net, und irgendwann
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kam das dann halt! Und ich män, ich wollt jetzt net unbedingt sa´n: „Naja, mei Vadder
32
is Alkoholiker...Ja, hab ich halt gesagt: „Ja mei leibliche Eltre konnten net“, also ich
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bin immer gefrot wor: „Warum?“ – „Wäß ich net genau“, was jo eigentlich net gelo
127
1
war dann. Ich män, dass mei Vadder Trinker war, das wusst ich! ( ) Aber hat lang
2
gedauert.“
3
I.:
4
5
„Das heißt aber mit dem Alkoholproblem von deinem Papa warsche schon
konfrontiert?“
C.:
„Ja! Wenn ich bei dem war, wenn ich den gesieh han – immer! Nur hat ma des damals
6
– damals war des halt normal! Ma hat das jetzt net irgendwie/also ich hab das jetzt net
7
irgendwie, net als irgendwie ungewöhnlich empfun. Ich kenn ihn/ich kannte ihn net
8
annerscht.“
9
I.:
„Wie hat sich das bei deinem Vater geäußert? Es gibt jo breite Spanne?“
10
C.:
„Er war/er war/er war der Trinker und war dann ruhig. Also jetzt net aggressiv, oder
11
12
mault, oder so. Er war dann eher/hat dann alles ins Lächerliche gezo.“
I.:
13
14
„Und die Entziehungskur? Die Bereitschaft von ihm was zu ändern, die war jo damals
schon do?“
C.:
15
„Also eigentlich hat er das nur gemacht, weil ihm das Arbeitsamt gesa´t hat, wenn er
das net macht, dann streichen se irgendwie es Geld.“
16
I.:
„Aber genützt hat´s nix?“ ((lacht))
17
C.:
„Nee! Er is jo immer wieder rückfällig wor. Ich gla´b der hat vier/vier
18
Entziehungskure gemacht.“ ( )
19
I.:
„Und hot er wieder Familie, war er wieder verheirat?“
20
C.:
„Nhn. Er hat zwar e Freundin, bei dere hat er a´ch gewohnt.“
21
I.:
„Die Eltre waren verheirat?“
22
C.:
„Ja! Die han sich scheide geloss, als ich vier war.“
23
I.:
„Mhm.“
24
C.:
„Un ..äh.. ich hab jetzt halt e Halbbruder, jo. Also mei älterer Bruder is a nur mei
25
Halbbruder. Mir han zwar die selb Mutter, aber net de selbe Vadder. Un mei Jüngerer,
26
de selb Vadder, aber net die selb Mutter.“
27
I.:
28
„Okay – Gut! – Ja. Gab´s irgendwelche typische Situatione in deiner Pflegefamilie?
Geburtstage feire, Weihnachten feire?“
29
C.:
„Och Weihnachten!“ ((stöhnt))
30
I.:
„Wie lief es ab?“
31
C.:
„Furchtbar!“ ((lacht))
32
I.:
33
C.:
34
I.:
((lacht mit))
„Das schlimmschte Fescht im Johr! Also...“
„Wieso? Sollt man net meinen!“
128
1
C.:
((lacht)) „Eigentlich sollt ma meinen es is es schönste Fescht, ja aber ich fand halt
2
schon immer, dass Weihnachte halt ziemlich materiell bezo is. Eigentlich net der Sinn
3
eigentlich hat, warum ma Weihnachte eigentlich feiert. Ich mein, es war e Punkt, der
4
Nebeeffekt mit dene Geschenke, aber ich fand, mei Mutter hat´s dann e bissche zu
5
übertrieb.“
6
I.:
7
C.:
“Mit Geschenke?“ ((grinst))
„Nee! Mit dem auße rum. Bei dere war dann, wenn dann die ganz Familie do war,
8
dann wurd dann gess ((Katze stört – kurze Unterbrechung von ca. 20 Sekunden)) wurd
9
dann gess, un dann sin alle ins Wohnzimmer gang, un dann wurd Geschichte vorgeles,
10
Gedichte uffgesa´t, un dann wurd noch gesung. Un das find ich alles so lächerlich!
11
Weil ich halt in dem Alter schon war, wo ich mir dann gedacht hab: „Oh Gott!“, ich
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män ich hätt´s verstan wenn jetzt ganz kläne Kinner debei wär´n. Aber mei Cousin war
13
mittlerweile a´ch schon zehn, elf. Un, nee! Als nervig empfun – heut noch!“ ((lacht))
14
I.:
((lacht mit))
15
C.:
„Heute noch!“
16
I.:
„E paar Rituale!“
17
C.:
“Ja, Rituale! Die Geschichte loss ich mir noch gefalle, aber das Singe! Vor alle Dinge:
18
Mei Mutter hat mich jo dann auch in Gesangsstunde gesteckt, weil ( ) sie gefun hat,
19
dass ich e schöne Stimme hab. ( ) Hat´s gehäß gehat: „Nee, ich sing net!“ – „Doch du
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singsch!“. Da sin schon einige Weihnachte do dran zerbroch!“
21
I.:
22
C.:
((lacht))
„Wo dann die Laune extremst umgeschwenkt hat, wo dann mei Cousin un ich
23
rebelliert han, un net wollte, un wieder gezwung wor sin. ((lacht)) Also Weihnachte is
24
schlimm. Vor alle Dinge, an Weihnachte wird mir halt immer wieder bewusst/fühl ich
25
mich irgendwie so zwiegespalte. Irgendwie schon in ner Familie, aber irgendwie doch
26
net dezu gehöre.“
27
I.:
28
29
„Das heißt aber irgendwo bei dir drin, is schon noch e bissel der Gedanke an die
Herkunftsfamilie un, dass das anner halt „nur“ Ersatz is?“
C.:
„Jo, also das Gefühl hat ich früher oft, wo ich gedenkt hab: „Irgendwie gehör ich
30
eigentlich gar net do her.“, a´ch wenn des nie irgend/also von manche Leute kam des
31
halt schon so rüber. So... .“
32
I.:
33
C.:
34
„Von wem zum Beispiel?“
„Von meiner/von meiner Pflegemutter ihre Mutter. Pflegeoma eigentlich! Die hat
mich das eigentlich immer spüre geloss, dass ich jo eigentlich nur/dass ich eigentlich
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1
richtig dankbar sin müsst, dass mei Mutter mich uffgenomm hat. Un ich wär jo
2
dann/was wär aus mir geworde. Die hat mich das spüre losse, a´ch wenn se´s net laut
3
ausgesproch hat.“
4
I.:
„Durch was für Aktione?“
5
C.:
„Durch ihr Haltung mir gegenüber. Die hat e schlechtes/e total schlechtes Bild von mir
6
gehat, die hat mir mit vierzehn an de Kopp geschmiss, dass ich doch sowieso nur do
7
rum hur. Wo se danach de Stress mit meiner Mutter hat.“
8
I.:
„Sozusa die Ersatzoma.“
9
C.:
„Ja! Aber ansonste, mei Tante, mei Onkel, die han mich eigentlich sehr warmherzig
10
uffgenomm. A´ch mei Pflegeopa, von dem/do war halt jetzt e neues Enkelche, un
11
fertig!“ ((lacht))
12
I.:
13
„Hm. War dann von dir vielleicht so der Versuch irgendwann ..äh.. zu gefalle?
Gefallen zu wolle?“
14
C.:
„Nee!“
15
I.:
„Eher Rebellion?“
16
C.:
„Nee, hab ich noch nie. Ich hab dann des dann äfach so hingenomm. Ich hab dann halt
17
..ähm.. ich war dann halt ihr gegenüber a´ch net so, wie´s eigentlich hätt sin solle. Also
18
ich hab dann/ich hab se dann ignoriert, un dann war das okay! Mir sin uns dann
19
gegenseitig aus em Weg gang, un das war´s dann!“
20
I.:
21
C.:
„Okay! Ich stell mir das verletzend vor, oder?“
„Nee! ... Es/es war mir egal! Weil, sie wohnt net hier in de Nähe, sie wohne jo drübe
22
im Oste, un da der Kontakt net so oft war, hab ich dann gedacht: „Okay! Ich muss net
23
mit ihr auskomme.“ ..Ähm.. wenn sie halt do is, un dann reiß ich mich halt zusamme,
24
mei Mutter halt a´ch zu Liebe, aber ansonste.“
25
I.:
26
27
„Hasche das Gefühl gehat dass du vielleicht das Verhältnis zwische deiner Mutter un
ihrer Mutter gestört hasch?“
C.:
„Nee! Gar net. Ich män, mei Oma hat dann schon mal gesa´t:“ Ja, denksche“, kä
28
Ahnung, die hat halt schon mol meiner Mama komische Andeutungen gemacht, aber...
29
Mei Mutter war halt 24 Stund mit mir zusamme, un wusst halt a´ch, was eigentlich
30
dann a´ch dann a´ch ignoriere/ne ignoriert. Aber ansonste, han die e ziemlich enges
31
Verhältnis!“
32
I.:
33
C.:
„Naja, man muss net alles gut finden, was annere gut finne!“
((lacht))
130
1
I.:
„Okay! ..Ähm.. ((hustet)) ((räuspert sich))die/was ich jetzt gar nimmi wäß, ..ähm..
2
Kontakte zu deiner Mutter während deinem Pflegeverhältnis – ham mer noch gar net
3
drüber gesproch?“
4
C.:
„Zu meiner leibliche Mutter?“
5
I.:
„Mhm.“
6
C.:
„Also am Anfang gar kä Kontakt. Weil ich in diese Notpflegefamilie komm bin un
7
a´ch später naus, als ich hier in Ku. schon war, wollt ich des net!“
8
I.:
„Also du wolltsch des gar net?“
9
C.:
„Genau! Ich denk sie hat bestimmt versucht Kontakt mit mir uffzunehme, aber ich
10
hab/ich hab das von mir abgewehrt. Weil ich hot halt immer noch so den Gedanke im
11
Kopp: „Sie hat mich weggäb!“.“
12
I.:
„Also ihr die Schuld gäb?“
13
C.:
„Genau! Ich män im Grunde genumm war´s a´ch ihr Schuld. ((lacht)) Wenn mer´s mol
14
aus re neutrale Situation betrachtet. Aber ..ähm.. irgendwann hab ich dann gedacht:
15
„Okay! Du kannsch jetzt net die Lebe lang die Mutter für ihr Fehler bestrofe.!“, ich
16
denk sie is gestroft genug! Un dann hab ich halt irgendwann/dann kam der Kontakt
17
halt wieder zustande!“
18
I.:
19
„Aber ihr die Schuld gäb? Find ich ganz intressant ..ähm.. sie hat dich weggäb. War jo
eigentlich gar net so. Also sie/wie gesagt, dich hat ma ja aus´m Krankehaus geholt.“
20
C.:
21
I.:
„Ja!“
„Sie is jo net mit dir uff´s Jugendamt, und hat gesagt: „Bitte schön!“, sondern ihr
22
Schuld lag jo, wenn ma mit dem Wort Schuld hantiert, eher in dieser Verwahrlosung,
23
in diesem/Ignoranz irgendwo.“
24
C.:
„Schuld in dem Sinn vielleicht net, aber warum ich sa´n, es war ihr Schuld, dass se
25
mich weggäb hat war, dass se halt nix defür unnernomm hat, um mich wieder zurück
26
zu bekomme.“
27
I.:
28
C.:
29
30
„Ganz sicher! ((lacht)) Das sin Sache, wo ich dann sag, okay, da kam nix um
irgendwie/dass se mich dann wieder zurück han wollt in dem Sinn.“
I.:
31
32
„Hm, weisch du das sicher?“
„Han ihr heut mol drüber gesproch, ob sie ..ähm.. wie es ihr ging? Also ob sie
Schuldgefühle hat/gehat hat, oder?“
C.:
„Also sie sa´t zwar, hm, dass/dass sie dene Fehler gemacht hat, dass sie das o´ch
33
insieht, aber ma kann mit meiner Mutter net ..ähm.. uff em höhere Level rede. Da mei
34
Eltre halt aus re ziemlich ..ähm.. unnere soziale Schicht komme, sa ich jetzt mol.“
131
1
I.:
2
C.:
„Mhm.“
„Is halt ..ähm.. es Verständnis a´ch dementsprechend net vorhande. Also sie wäß zwar
3
was passiert is, aber ..ähm.. sie versteht es a, aber kann´s net umsetze – hab ich
4
manchmol es Gefühl. Also wenn ich/ich hab versucht mit ihr dadrüber zu rede ..ähm..
5
dann sa´t sie: „Ja, mir hat das jo a´ch weh gedu!“, im selbe Moment wechseltse dann
6
es Thema. Net weil´s ihr unangenehm is, drüber zu rede, sondern weil halt in dem
7
Moment irgendwas anneres durch de Kopp geht!“
8
I.:
9
„..Ähm.. du hasch gesagt, am Anfang, wolltsch du kein Kontakt. Hasch später naus
Kontakte gehat?“
10
C.:
„Ja! Also als ich dann ..ähm.. uah, ja/sie kam dann do her, un ..ähm..“
11
I.:
„Also gar net in de Pflegefamilie, sondern schon wie du die Wohnung gehabt hasch?“
12
C.:
„Nee, nee! Wo ich noch bei meiner Pflegemama war. Un dann war die Pflegemama da
13
dabei, un da ham mir uns getroff zum Eis esse, un dann bin ich mol nach Pi. gefahr.
14
Un war dann bei meiner Oma. Hab mich mit ihr getroff un ja, das hat sich dann
15
irgendwann so erweitert, dass ich dann a´ch irgendwann bei ihr übernachtet hab. Sie
16
hat dann a´ch ..ähm.. e Freund gehabt, den ich eigentlich ziemlich gern gemocht habe.
17
Mit dem se eigentlich bis jetzt immer noch hat. Un das fand ich halt schon ziemlich
18
gut, weil das hat mir gezeigt sie gibt sich Müh ihr Lebe endlich mol uff die Reih zu
19
bekomme. Weil dauernd ware halt diese wechselnde Partner do, und jetzt hat se halt
20
wirklich mol änner, mit dem se für e längerer Zeitraum zusamme is.“
21
I.:
22
C.:
23
I.:
24
C.:
„Genau!“
25
I.:
„..Ähm.. erzähl mir mol vom erschte Kontakt dann – da waren bestimmt Jahre
26
„Was is länger?“
„Ja, ich gla´b das sin jetzt schon fünf Johr? – Kann ma schon als länger!“
„Ja. Annere Leut heiraten do.“
dazwischen.“
27
C.:
„Drei Johr gla´b ich! Drei?“
28
I.:
„Wie war das? Ma sieht sich wieder, was hat ma sich so zu sa? Hat ma sich überhaupt
29
30
was zu sa?“
C.:
„Es war halt/sie kam halt dann gleich umarme un, oh. Ich wollt des jo gar net han, ne?
31
Ich kann des heut noch net han! Wenn mei Tante, oder so des macht, dann/dann is es
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mir egal, aber wenn sie des macht, dann e Kuss uff de Backe gewe will – ich kann´s
33
net han. Das wäß se a. Des sa ich ihr dann a. Ich sa: „Mama ich kann/ich mag des net,
34
lass des!“, un sie versteht dann halt überhaupt net warum!“
132
1
I.:
2
3
„Kannsche diese körperliche Nähe generell net han, oder nur von deiner Mutter noch
net?“
C.:
„Ah, ich gla´b das bezieht sich nur uff sie, weil ich kuschel a´ch mit meiner Tante,
4
oder so. Wenn ich mei Tante sieh, un die nehmt mich in de Arm, gebt mir e Kuss uff
5
de Mund, oder so. Des stört mich net. Aber wenn sie das macht, dann... . Ich mag´s
6
net! Sie hat des früher net gemacht, warum fängt se jetzt an des zu mache? Sie hat mir
7
des früher net geb, also denk ich... . Ich kann´s von ihrer Seit äfach net han. Ne? Ich
8
hab zu ihr gesa: „Du willsch des immer mache, also wenn ich von mir aus komm,
9
dann is es okay! Aber bitte zwing mich net dezu, das zu mache. Ich mag´s net!“
10
I.:
„Akzeptiert se´s?“
11
C.:
„Ja! Also mittlerweile. Un sie hat dann: „Oh, aber das is doch normal, dass e Mama ihr
12
Kind küsse will!“ Bla. Aber ich hab gesa´t: „Bitte akzeptier das. Ich mag´s net!“. Un
13
wenn ich von mir aus komm, dann is es ja auch okay, dann is es ja a´ch in Ordnung.
14
Aber so lang ich des net will, un dann lass es bitte!“
15
I.:
16
„Mit deiner Pflegemama hasche die Nähe/die körperliche Nähe aber? Kuschle, in de
Arm nehme?“
17
C.:
„Ja! Wenn mir uns sieh´n schon.“
18
I.:
„Un wie/wie/wie war ... wie war die Gestaltung vom ersten Kontakt dann?“
19
C.:
„Hm, also viel erwartet hab ich net! Aber ich hab halt gedacht: „Okay, ich treff mei
20
Mama. Hm, toll!“.“
21
I.:
„Wie alt warsche do?“
22
C.:
„Ja so vierzehn?“
23
I.:
24
C.:
„Hm. Okay.“
„Ja, so vierzehn, ja. ..Ähm.. viel erwartet hab ich net. Also ich hab dann gedacht: „Toll
25
– hm – ja – okay – mal kucke, was jetzt passiert!“, ja, das war dann okay. Wir ham uns
26
unnerhal, bis uff dene Zwischefall, wo ich dann: „Bitte net!“, ..ähm.. war´s okay. Mir
27
ham uns dann so unnerhal, was sie halt so macht, wie´s in de Schul, die normale Sache
28
halt. Aber so, dieses Verhältnis, jetzt Pflegefamilie und sie, eigentlich kaum.“
29
I.:
„Also eher small-talk?“
30
C.:
“Genau!”
31
I.:
„Un wann war dann der Zeitpunkt, dass man mal drüber gesproch hat?“
32
C.:
„Das kam erscht, als ich schon lang, lang do gewohnt hab. So vor zwä Johr vielleicht.“
33
I.:
„Un wer hat de Anfang gemacht? Du?“
133
1
C.:
„Des kam irgendwie so. Weil, es kam irgendwie aus em Konflikt heraus. Wo se dann
2
gesa hat: „Ja, hm.“ ... Sie denkt immer, ich mach ihr Vorwürfe, dass se mich halt
3
weggäb hat. Aber eigentlich mach ich ihr die net! Weil ich/weil ich halt jetzt weiß,
4
dass se damals äfach überfordert war. Also ich sa net:“Un das is die Schuld, dass du
5
mich weggäb hasch! Un du hättsch solle mache. Un bah!“, des is net. Aber ich sa halt,
6
es war net richtig ..ähm.. wenn halt so was/ich män halt des gleiche is mit meinem
7
Bruder im Ähnliche passiert, ja? Gesa´t, okay, mit dem Bruder is die selb Sach
8
passiert, un dann sollt ma sich halt Gedanke mache, ob ma dann wirklich halt noch
9
mol e Kind han will. Aber zu dem Zeitpunkt, hm. Wie gesa´t mei Mutter hat halt
10
11
immer annere Sache im Kopf.“
I.:
12
„In wie fern, erlebsch sie heut als immer noch die gleich Person, beziehungsweise e
anneri Person, wie se damals war?“
13
C.:
„Sie hat sich net viel verännert! Net also/net/net wirklich.“
14
I.:
„Übt sie ihr Job noch aus?“
15
C.:
„Hm. Ja, im Moment is se auf Arbeitssuche, aber sie bemüht sich schon irgendwie zu
16
arbeite. Aber ich gla´b net dran, do is se zu bequem dezu.“
17
I.:
„Oh. Aber die Prostitution macht se weiter?“
18
C.:
„Nee!“
19
I.:
„Un die Partnerschaft hat sie verännert?”
20
C.:
„Also ich denke schon, dass die Partnerschaft mit dem Mann, den/den sie jetzt hat,
21
dass sich des positiv uff sie ausgewirkt hat. Aber so rein so vom Wese her, hat die sich
22
net werklich verännert.“
23
I.:
24
25
„Fallt mir grad noch was ein. Gab´s eigentlich zusätzliche Maßnahmen, die du
gemacht hasch? ..Äh.. Psychologe, Physiotherapie,... .“
C.:
((lacht)) „Als ich den Suicidversuch hat, war/hat mei Pflegemama des Ultimatum
26
gestellt, ..ähm.. sie nimmt mich nur wieder zurück, unner der Bedingung, dass ich e
27
Psychotherapie mach! Aber die C. is jo net doof, un die C. hat sich dann halt mit alle
28
Tricks un Möglichkeite do herausgewun, die Therapie net zu mache.“ ( )
29
I.:
„Un wie hat die C. das gemacht?“
30
C.:
„Also das/das Erstgespräch mit der Therapeutin stand fat/fand statt, un da hab ich
31
gedacht: „Das kann ch mir net andun.“
32
I.:
„Psychotherapie wahrscheinlich?“
33
C.:
„Genau! Nee. Un, ja ich hab de Termin vergess, un bin dann äfach net hin, un ..ähm..
34
zu de Mama gesa´t, ja ich muss net hin heut, die hat des abgesa.“
134
1
I.:
„Des is aber bestimmt irgendwann rauskomm?“
2
C.:
„Ja! Weil sie hat/die Psychotherapeutin hat dann gesa ..ähm.. sie sieht das net in,
3
((lacht)) sie hält sich do Termine für mich frei, un ich komme halt äfach net!“
4
I.:
„Un dann?“
5
C.:
„Mama war am koche, aber – Nee, nee, irgendwie gar net, das hat mich eigentlich
6
selber gewundert. Die hat halt dann zu mir gesagt, „Das geht net!“, un ich hab dann
7
halt gesagt: „Ich will das aber net!“, jo un dann hat sich die Sach irgendwie gess.“
8
I.:
„Un e Heimunnerkunft gab´s a´ch net?“
9
C.:
„Nhn. Nee! Un da bin ich eigentlich a ganz dankbar drum.”
10
I.:
„Was für Vorstellunge/also was denksche dann, was jetzt an Pflegefamilie besser war,
11
12
wie´s in em Heim wahrscheinlich gewest wäre?“
C.:
„Also ich gla´b e Heim, do is mer jo mit mehrere Kinner ..äh.. konfrontiert, sa ich mol.
13
Un ich wäß net, ich hätt mir des/ich kann mir des jetzt noch net vorstelle, wie des
14
eigentlich so. Weil ich hab eigentlich gar kä Vorstellunge, wie es in em Heim abläuft.
15
Un ..ähm.. mei Pflegemutter hat gesa´t, sie glaubt, wenn ich in e Heim/also in em
16
Heim hätt müsse aufwachse, wär ich jetzt im Knascht!“ ((lacht))
17
I.:
18
C.:
19
I.:
20
C.:
„Hab ich mir dann a´ch gedacht!“
21
I.:
„Betont eigentlich noch mal, dass du e Einzelkind warsch, un das es gut war!“
22
C.:
„Ja, ich denk schon.“
23
I.:
„Hört sich dann schon an, dass du auch dein Raum gebraucht hasch?“
24
C.:
„Auf jede Fall! Ich hab/mei/mei/mei Raum – hm – die Person, die für mich do is,
25
((lacht)) „Eindeutig. Gut! ((lacht)) Klare Worte!“
„Alles klar!“ ((lacht))
((lacht))
wenn ich se brauch, oder a´ch net! ((lacht)) Un es war, war schon gut so wie´s war!“
26
I.:
„Okay!“
27
C.:
„Aber es hat mich net gestört, wie mei Mutter dann so e Tagespflegekind hot. Das war
28
nur so zu uns kam, um Hausaufgabe zu mache un halt äfach unner Uffsicht is, wenn
29
die Schul vorbei is.“
30
I.:
31
C.:
32
33
„Mhm.“
„Es hat mich net gestört. Hm. Im Gegenteil, ich hab mich mit dem eigentlich ganz gut
verstan.“
I.:
„Aber das ging dann auch wieder?“
135
1
C.:
2
3
schon kurz vor meinem Auszug. Dann läuft des alles schon.“ ( )
I.:
4
5
„Ich gla´b auch net, dass es/ich män ich war halt schon fünfzehn, oder so. Es war halt
„Nochmol kurz zu dem Suizidversuch, der ging vorhin schon unner. Was genau
hasche dort veranstalt?“
C.:
6
„Also ich hab versucht mir die Pulsadre uffzuschneide. Un bin dann/mei Freundin hat
mich dann gefun, un dere ihr Eltre han mich dann ins Krankehaus gefahr.“
7
I.:
„Wo war das? Warum hasche das gemacht?“
8
C.:
„Dehäm.“
9
I.:
„Bei deiner Pflegemama?“
10
C.:
„Genau!“
11
I.:
„Okay!“
12
C.:
„Un Auslöser halt Schulprobleme, Einsamkät.“
13
I.:
„Beschreib mir mal die Schulprobleme.“
14
C.:
„Ja, halt mit de Lehrer net klar komm un mei Note ware schlecht, un dann hat mich die
15
Mutter halt immer fertig gemacht: „Warum sin dei Note so schlecht? Warum lernsch
16
dann du net?“. Das kam dann noch dezu von dere Seit. Ich hab mich gefühlt, als ob
17
jeder uff mich inwirke wolle. ((lacht)) So alle/un trotzdem is dann doch käner do!“
18
I.:
„Freundeskreis war a irgendwie zerbroch gewest dann?“
19
C.:
„Ja, das war halt so der Zeitpunkt, wo ich wirklich gemerkt gehat han, wie´s halt
20
wirklich abgeht bei dene. Und, jo! Ich hot dann eigentlich gar käner mehr!“
21
I.:
22
C.:
23
„Hm. Es hat sich aber danoch/nie wieder passiert?“
„Nee! – Ja, bin dann ins Krankehaus komm, wurd ich dann versorgt. Un dann von dort
aus, bin ich dann gleich no ..ähm.. no La.! Also no/in die Psychiatrie.”
24
I.:
„Also dort warsche a drin?“
25
C.:
„Genau! Ich gla´b drei, vier Woche, oder so. Stationär!“
26
I.:
„Was wurd dort mit dir gemacht?“
27
C.:
„Therapie, Ausgangsverbot ..ähm.. das fand ich aber net schlimm, denn ich hab dort e
28
Freund gefun.“ ((lacht))
29
I.:
30
C.:
„Okay!“
„..Ähm.. ja, Gruppetherapie war, Gespräche, Spiele. Un erscht so nach un nach wurd
31
jo dieser Ausgang wieder gewährt.Die stufe des jo in, je nachdem, ob ich noch
32
gefährdet wär. Ja!“
33
I.:
„Hat´s was gebracht?“ ( )
136
1
C.:
„Also Erfahrung/ich bin an Erfahrung reicher, sa mer´s mol so! Aber dass es mir jetzt
2
irgendwas gebracht hat, eigentlich net! Ich hab dort eigentlich nix anneres gemacht,
3
als diese Therapie, un ansonste, konnt mer jo so gut/wenn mer kä Plan hatte, kä
4
Therapieplan, wie´s Gruppegespräch, oder so, dann konnt mer jo mache, was mer
5
wollte.“
6
I.:
7
8
„Kommt des bei em an, wenn man dann von jemand annerem hört, er hat das a
veranstalt?“
C.:
9
„Mhm. Un vor allen Dinge wird man dann klar, wie belanglos mei Probleme
eigentlich sin. Wenn ich meine mit dene ihre verglich hab.“
10
I.:
„Also der Vergleich war ganz gut?“
11
C.:
„Genau!“
12
I.:
„Okay! Ja, noch irgendwas, was dir infallt, was dir uff em Herz liegt? Was ..ähm.. zu
13
dem Thema intressant wäre?“
14
C.:
„Nee! – Ich bin meiner Mama sehr dankbar!“
15
I.:
„Okay! ((lacht)) Alles klar! Gut, dann Danke schön!“
137
7.1.4. Narratives Interview mit Pflegemutter von „CHRISSY“
Abkürzungen
I.:
M.:
C.:
T.:
J.:
K.:
E.:
Y.:
Frau K.:
Herr B.:
Frau B.:
Dr. F.:
Pi.:
Ku.:
Kö.:
Be.:
Kl.:
Ho.:
Ma.:
Lu.:
La.:
1
I.:
Bedeutung
Interviewerin
Pflegemutter von „Chrissy“
Pflegetochter „Chrissy“
weitere Pflegetochter der Pflegemutter
heutige Pflegetochter 1
heutige Pflegetochter 2
leibliche Tochter der Pflegemutter
Neffe der Pflegemutter
Sozialarbeiterin vom Pflegekinderdienst Pi.
Sozialarbeiter vom Pflegekinderdienst Pi.
Sozialaarbeiterin vom Jugendamt Ku.
behandelnder Arzt von „Chrissy“
Ort des zuständigen Jugendamtes
Wohnort der Pflegemutter
Stadt
Stadt
Stadt
Stadt
Stadt
Urlaubsort im Ausland
Psychiatrische Klinik
„Die Informantin wurde über Sinn und Zweck des Interviews aufgeklärt und ich würd
2
sie jetzt einfach mal bitten ..ähm.. aus ihrer Perspektive zu erzählen, wie sie das erlebt
3
haben, wie das anfing ..ähm.. ja, und wie eines zum andern kam.“
4
M.:
„Ja, ... ich hab vom Jugendamt ..äh.. in Pi. die C. vermittelt bekommen. ..Ähm.., es
5
hieß ..äh.. sie ..äh.. hat fast nur auf der Strasse gelebt, eine Person hat sich um sie
6
ge/die war ab/also die Mutter ((leiser bis)) Prostituierte (*), wenn ich das so sagen
7
darf?“
8
I.:
9
M.:
„Mhm.“
„Sa ich immer e bissl leise. Der Vater schwerer Alkoholiker. Die haben sich nicht
10
kümmert oder kümmern können. Und die Oma hat sich etwas um sie gekümmert. Und
11
sie wär beinah verhungert. Sie leg/sie hat ..ähm.. ein paar Wochen, auf Leben und Tod
12
– angeblich – ..ähm.. im Krankenhaus gelegen. Vom Krankenhaus aus, is sie in eine
13
..äh.. in Obhutnahme, also das heißt Notfallpflege gekommen, nach Pi. – die Familie
14
hab ich auch kennengelernt.“
15
I.:
16
M.:
17
„Hm.“
„Wir hatten einmal eine Zusammenführung in Pi. im/in der Eisdiele da, an/in
dieser/dieser Fußgängerzone, un da hab ich die C. dann kennengelernt. Und ..äh.. ich
138
1
war dann doch schockiert, wie sie Rad-schlagend, Handstand-machend durch die ..äh..
2
durch die Eisdiele geturnt is.“
3
I.:
4
M.:
5
I.:
6
M.:
((lacht))
„Hab ich gedacht: „Um Gottes Willen, werde ich das schaffen?“ ((lacht))
((lacht mit))
„Da hat ich/da hat ich die T. schon. So. „Werde ich das schaffen?“ – Da hab ich schon
7
e bissl Angst gekriegt, muss ich ehrlich sagen. Ja, aber die C. war begeistert, hat
8
gesagt ..äh.. nachdem die Frau K. und der Herr B. sie gefragt haben: Kannst Du Dir
9
vorstellen, bei M. zu bleiben?“ Un dann hat se genickt ganz doll, ja un dann ging das
10
ganz raz faz, ging´s ganz schnell: Die C. war bei mir! ..Ähm..“
11
I.:
„Im Alter von... .“
12
M.:
„Elf Jahren. Elf Jahren. Ja? ..((5)).. Die C. ja, wie soll ich weiter machen? .. Hm, ich
13
muss ganz vorsichtig sein, weil die C. wirklich ein sch/schwieriges, schwieriges Kind
14
war. Sie hat mir am Anfang vorgespielt, dass sie ..ähm.. also sehr schüchtern und
15
zurückgezogen ist, obwohl sie´s ..äh.. mit dem Rad-schlag und das in der ..äh..
16
Eisdiele war schon anders, aber sie hat/ich hab ihr Bücher vorgelesen, da hat sie sich
17
geduldig dazu/also geduldig muss ich ja im Nachhinein sagen – ich hab gedacht, das
18
gefällt ihr.“
19
I.:
20
M.:
((lächelt))
((lacht)) „Ja! Und bin mit ihr spazieren gegangen und was man halt so am Anfang
21
macht, um sich kennenzulernen. Und im Nachhinein, hat ihr das überhaupt nicht
22
gefallen. Hab ich dann so später nach em halben oder viertel Jahr, hab ich das dann
23
alles so gecheckt. Sie hat ..äh.. Pflegekinder haben an sich – das muss ich jetzt auch
24
mal sagen – sie verstellen sich zeitweise, die/sie wollen, dass die Pflegeeltern/die
25
Pflegemutter – ich bin alleinstehend - ich bin/also ich red jetzt mal nur von
26
Pflegemutter, dass die Pflegemutter ..äh.. von ihnen die beste Seite sieht. Ne?“
27
I.:
28
M.:
„Mhm.“
„Sie ver/sie verstellen sich, zum Beispiel ..ähm.. ja, zum Beispiel selbst mit em Essen.
29
Ich/ich/ich bin halt sehr schlank und ich ess nicht so viel, so. Und ..ähm.. dann haben
30
sich die Pflegekinder, oder sach me ma, ja – hat/hat halt ein Pflegekind ..ähm.. oder
31
auch die C. – die haben dann am Tisch nicht so viel gegessen, ne und/aber ich hab da
32
ehrlich gesa´t am Anfang, das war alles normal für mich, ne? Bis ich dann gemerkt
33
hab, wenn ich von der Arbeit kam, – ich bin übrigens berufstätig – ..ähm.. dass ..äh..
34
der Kühlschrank dann doch immer leer war. Ja?“
139
1
I.:
2
M.:
((lacht))
„Ja. Und dann hab ich mir meine Gedanken gemacht. Und bis ein Pflegekind mal zu
3
mir sachte: „Naja, ..ähm.. Du isst so wenig, da getraut man da sich ja nicht
4
reinzuhauen, un so.“ Un da hab ich gesacht: „Um Gottes Willen!“ . ((lacht))
5
I.:
6
M.:
((lacht mit))
„Un dann ham wir da mal drüber gesprochen, dann hat sich das auch geändert, aber
7
ich wollt nur sagen, die ..äh.. verstellen sich manchmal. Am/vor allen Dingen auch am
8
Anfang, weil sie wollen, dass du gut von ihnen denkst, dass Du/dass Du ..äh../äh/äh..
9
sie liebst und so. Un/un das machst du ja auch nach ner gewissen Zeit ne. Vor allen
10
Dingen, man hat sie schon ins Herz geschlossen wenn man den Leidensweg erfährt.“
11
I.:
12
M.:
13
„Mhm.“
„So, ..ähm.. ja, ich/ich wollt – darf ich mol noch was allgemeines sagen – noch am
Anfang?“
14
I.:
15
M.:
„Sicher!“
„Ich wollte große Kinder aus zwei Gründen – also Kinder über zehn Jahren – erstens,
16
weil die nicht mehr genommen werden gern, - von Pflegeeltern – weil viele
17
Pflegeeltern sagen, die haben/die sind schon in ihren Charakter gefestigt, die haben ihr
18
Elend erlebt, die sin nicht mehr zu ändern.“
19
I.:
20
M.:
„Hm.“
„Und ich will aber große Kinder haben, eben weil die niemand will und weil man
21
immer/weil ich mir einbild - ich hatte viele, viele Bücher gelesen - weil ich mir
22
einbilde, man kann immer noch was machen. Un zweitens, weil ich meinen Beruf
23
nicht aufgeben wollte. Ich arbeite im Finanzamt.“
24
I.:
25
M.:
„Mhm.“
„Aber ich bin keine Finanzbeamtin, ich bin nur Verwaltungsangestellte, und arbeite ¾,
26
also 75%. Un ich wollte die Arbeit nicht aufgeben, ne? Und deswegen ..äh.. sollten die
27
Kinder schon etwas selbstständig sein. Also dass se/nadürlich frühstücken wir
28
gemeinsam – ne - aber dass se dann allein in de Schule gehen können und wieder
29
zurück. So, un deswegen hab ich die großen Kinder genommen.“
30
I.:
„Mhm.“
31
M.:
„Ja! Wie ging´s mit der C. weiter? Die C. – wenn sie jetzt was Bestimmtes/auf ein
32
bestimmtes Beispiel, oder/oder bestimmte Geschehnisse/können sie mir ruhig auf die
33
Sprünge... .“
34
I.:
„Mhm. Ich frag später. Sie erzählen.“
140
1
M.:
„Später? Okay. Und ..ähm.. die C. war wirklich sehr schwierig. Ich hatte, bevor ich sie
2
bekommen hab´ - ich sach´s ihnen jetzt offen und ehrlich – muss ja hoffentlich nicht
3
das Jugendamt erfahren, oder?“
4
I.:
„Nee. Ist auch alles Datenschutz. Sowieso!“
5
M.:
„Gut, genau.“
6
I.:
7
M.:
((lacht))
„Ich hatte/wir haben so Pflegeelternstammtisch, wo sich die Pflegeeltern so treffen. Da
8
hab ich von einer Pflegemutter, die auch Kinder aus Pi. hat/hatte, hab ich gehört, da ist
9
ein Kind zu vergeben, das klaut, das stiehlt, ..äh.. das lügt, das ruft laufend es/es
10
Jugendamt an, was die Pflegeeltern jetzt nicht unbedingt immer gerne haben. Und is
11
unwahrscheinlich schwierig. Un da hab ich dann/und das hab ich aber erst erfahr´n/ne
12
das war/ich hat es erscht erfahr, als ich die C. schon hatte. Und da hab ich gesagt: „Das
13
ist nicht die C. .“ Das kann die nicht sein, weil das Jugendamt muss solche
14
Informationen, zum Beispiel stehlen, weitergeben. Und ich hab dann aber schnell
15
gemerkt, nach viertel Jahr, oder ach nicht mal, hab ich schnell gemerkt – das muss das
16
Kind sein. Die C. hat gestohlen. Und ich hab´s aber selber/ich hab´s wirklich selbst
17
dabei erwischt, wie se mir Geld aus em Portemonnaie genommen hat.“
18
I.:
19
M.:
„Okay.“
„Ähm.. ich hat ne Weile/es hat schon ne Weile gedauert und ..ähm.. Sie hat mich
20
belogen, sie hat mich betrogen, ((zittert)) ..((5)).. sie hat also .. mir wirklich es
21
Leben/a/a/vor allen Dingen ( ) bis ich das alles begriffen hab, sehr, sehr schwer
22
gemacht. Ich muss richtig/regelrichtig/richtig/ regelrecht richtige Kämpfe mit ihr
23
ausfechten. ..Ähm.. sie war aber eine gute Schülerin, das is se heute auch noch. Sie hat
24
..äh.. in der Schule nicht so viele ..äh.. also so schlechte Zensuren gehabt, un so. Und
25
ich konnt se auch immer dazu animieren. Die C. is en Typ, du sagst ihr was: „Bitte
26
mach das so und so!“ und dann gibt´s en riesen Streit. Dann gibt´s erst mal en
27
Riesenstreit. „Neiiin! Das mach ich nicht!“ Und es hat nadürlich ne Weile gedauert,
28
bis eben ich gemerkt hab, sie braucht zwei, drei Tage zum Nachdenken.“
29
I.:
30
M.:
„Hm.“
„Und dann hat sie´s sich durch en Kopf gehen lassen, und dann sieht se doch ein, dass
31
ich Recht hab/also, dass ich mit meiner Argumentation einfach Recht hab, und
32
dass/dass es ..ähm../äh../äh.. bestimmt besser so is, ne? Un/aber ehe ich das ja gemerkt
33
hab – ich bin ja auch nicht perfekt, ich mach ja auch Fehler... .“
34
I.:
„Mhm,mhm.“
141
1
M.:
2
„Und das hat schon ne Weile gedauert. Aber wo ich dann begriffen habe, dann ging
das e klänes bissl besser, ne? Dann hab ich se austoben lassen – erst mal - .“
3
I.:
4
M.:
((lacht))
((lacht mit)) „Und dann ..äh.. hab ich gedacht: „Na wart nur!“ – des wird schon
5
werden. Und es ging dann auch. Also zu 60 Prozent hat das dann geklappt, so wie
6
ich´s mir vorgestellt hab. Ja, die C. is abgehauen .. da hat ich keine Erfahrung dabei/da
7
drüber. Sie hat ..äh.. Eins weiß ich noch: Die C. hat ja praktisch auf der Strasse gelebt,
8
und sie hatte keine Regeln, keine Pflichten, keine Gesetzmäßigkeiten, kein
9
Familienleben – nichts! So! Und einmal hat sie sich dann beim Jugendamt ganz stark
10
beschwert: „Ja! Die M., immer wenn ich von der Schule komm, will se alles wissen!“
11
((lacht)) „Das ist furchtbar. Ich muss das immer erzählen!“ – Und da hat der Herr B.
12
und die Frau K., die haben natürlich sich bald totgelacht, ne? Das is ja das, was ne
13
Pflege.“
14
I.:
15
M.:
„Ja.“
„Was Eltern ausmacht, dass sie über ihr Kind informiert sind, dass sie mitreden
16
können, dass sie wissen was ihr Kind macht, ne? Und das war natürlich köstlich für
17
sie. Aber für die C. war das eben schwer. Es war für sie schwer. Sie hat ..ähm.. .. Ich
18
bin berufstätig, un die/un die Kinder, nicht nur die Pflegekinder, auch mein eigenes
19
Kind, müssen mit im Haushalt helfen, damit alles funktioniert. Das is ne Frage der
20
Organisation. Die meisten/also fast/ich kenn keine Pflegemutter, die noch arbeitet ..
21
außer mir.“
22
I.:
23
M.:
„Hm.“
„Kenn ich keine! So, und jetzt hatte nach ein paar Wochen, hatte die C. – gut sie war
24
erst 11 – sie hat natürlich nicht so viele Aufgaben, aber sie hat dann die Aufgabe
25
gekriegt ..ähm.. ihr Zimmer in Ordnung zu halten. Freitags wird geputzt! So..“
26
I.:
27
M.:
„Mhm.“
„Nun hatte die C. ja noch nie Pflichten. Und dann hab ich ..äh.. is se dann immer
28
freitags is se heimgekommen und hat geweint. Rotz und Wasser. Hat gesa/hab ich
29
dann immer gefragt: „C. was ist denn los? Hat dich jemand verhauen?“ – „Neiiin!“
30
..äh/äh..– „Hattest de ne sechs gekriegt, oder was is en passiert – erzähl mal!“ –
31
„Neiiin! Neiiin! Es is alles in Ordnung. Es is alles in Ordnung.“ – Und ehe ich das
32
raus/die hat geweint, weil se freitags ihr Zimmer sauber machen musste. Wochen
33
lang!“ ((lacht))
34
I.:
((lacht mit))
142
1
M.:
„Und die hat´s aber nicht rausgelassen, ne. Ich war dann selber todunglücklich, dass
2
ich nicht wusste, warum se weint. Bis ich dann mal auf die Idee gekommen bin, un
3
dann hab ich die Frage gestellt. Un da hat se genickt.“
4
I.:
„Och Gott!“
5
M.:
„Un dann wusst ich dann worum´s geht, ne? Oder auch regelmäßige Mahlzeiten, ne?“
6
I.:
„Mhm.“
7
M.:
„Das war für die C. auch ungewöhnlich, ne? Das musste die sich/wir/oder ich musste
8
se praktisch bissl dazu zwingen. Die hat dann eben gegessen, wann sie Lust hatte, ne?
9
Un das geht einfach nicht. Man hat ja denn auch keine Übersicht: Essen se nur
10
Süßigkeiten, wie ist die Ernährung un so, ne? Und ..äh.. auch überhaupt, Gemüse und
11
Obst zu essen – bei allen Kindern – das is am Anfang ganz, ganz schwer.“
12
I.:
13
M.:
„Hm.“
„Ja? Die C./auch die Hygiene – hat mir jetzt grad ne andre Pflegemama/mir haben
14
jetzt grad ..äh.. Treffen gehabt/da hat mir ne andre Pflegemama so Horrorgeschichten
15
erzählt von ihrer älteren Pflegetochter. Die haben eben schon/die kann man schlecht
16
ihre neuen hygienischen Maßnahmen anerziehen. Weil die ihr Leben ja wirklich
17
schon/die haben ihre Gewohnheiten, selber mit sich, ne? Und die C., die hat sich dann
18
regelmäßig eingeschlossen, im/ins Badezimmer. Und des mag ich nicht, weil ich/man
19
kann dann nicht helfen, wenn irgendwann die zusammenklappen oder so.“
20
I.:
21
M.:
„Hm. Hm.“
„Aber auf der andern Seite, sollen die ihre Privatsphäre haben. Und es war schlimm.
22
Aber ich hatte da so einen Verdacht. Un einmal hab ich dann, an die Tür getrommelt,
23
und hab gesagt: „C. ich brauch unbedingt das und das. Du musst mich jetzt reinlassen.
24
Bitte, bitte mach die Türe auf!“ Und da ka/hat se dann getan als wenn sie aus der
25
Wanne raussteigt, hat en Bademantel rübergezogen, un hat mir aufgemacht. Ich hab
26
dann getan, als wenn ich was brauchte. Hab ich gesagt: „C. Du siehst so dick aus? Was
27
is denn los?“ – da hab ich den Bademantel auseinander gemacht – natürlich war se
28
angezogen. Also die war nicht in der Badewanne, nur Wasser laufen lassen – nix. Un
29
von da an, bin ich rigoros gewesen. Un da hab ich ..ähm.. den Schlüssel vom
30
Badezimmer abgezogen, aber ich bin natürlich dann nicht immer rein, wenn se da im
31
Badezimmer war. Aber sie wusste, ich kann reinkommen und sie/ich kann das
32
kontrollieren. Und solche Sachen sind dann halt, ne? Das tägliche Zähne
33
putzen/zwei/mindestens zweimal Zähne putzen – dreimal is unmöglich an zu erziehen.
34
Das tägliche Zähne putzen, des Waschen, .. das also das is/das Duschen. Also jeden
143
1
Tag Duschen, kriegen sie nicht geregelt, auch die anderen Pflegekinder. Die T./bei der
2
T., ja. Alle andern, ausser bei de T. is/is unmöglich. Aber ich hab schon viel erreicht,
3
wenn sie wenigstens dreimal die Woche Baden oder Duschen. Da hab ich schon viel
4
erreicht. .. Ja – ..ähm.., bei der C. is es dann besser geworden, wie es mit de Jungs
5
dann los ging. Muss ich einfach so sagen, ne? .. Ja, uns wurde halt auch gesagt,
6
..ähm.., dass die C. ne sexuelle Misshandlung hatte, .. und da bin ich ja ganz
7
sensibilisiert.“
8
I.:
9
M.:
„Hm.“
„Und ..ähm.. ich war auch ganz vorsichtig mit ihr, hab auch ..äh.. mit ihr drüber
10
geredet. Das kann man erst nach Wochen und Monaten machen – die/die können sich
11
nicht gleich so öffnen.“
12
I.:
13
M.:
„Mhm.“
„Das/das/die brauchen erst ma Vertrauen, ne gewisse Nähe, ne gewisse ..ähm.. ..
14
Erklärungsbereitschaft innerlich, und das kam also ..ähm.. nicht gleich, aber sie hat
15
sich mir dann anvertraut, aber ich hab von Anfang an gemerkt, wie die C. auf Jungs
16
fixiert war. Also C. und Jungs, das ist ein endloses Thema.“
17
I.:
18
M.:
„Hm.“
„Ich hab dann ne Schlüsselsituation erlebt – eigentlich mehr mit meiner Mutter. Im
19
Übrigen hab ich Schwierigkeiten mit meiner/mit meiner/mit meiner eignen Familie,
20
das mit den Pflegekindern ..ähm.. nicht rüber zu bringen, sondern ..ähm.. dass die das
21
anerkennen. Ich hab am Anfang, als ich den Entschluß gefasst habe – meine Schwester
22
war bitter böse, meine Mutter: „Neiiin! Das kannst Du nicht machen!“ – also ich hatte
23
große Probleme mit ..ähm.. meiner eignen Familie! Mittlerweile haben sie sich
24
notgedrungen damit arrangiert.“
25
I.:
26
M.:
„Mhm.“
„Und sie achten jetzt auch langsam das was ich mach, aber wenn ich irgend/wenn ich
27
ma heul und ma anruf/wenn ich fix und fertig bin: „Wir haben´s dir ja gleich gesagt!“
28
– das können se sich einfach nicht verkneifen. Aber die Familie kam am Anfang
29
überhaupt nicht damit zu recht, ist dann/is immer besser geworden. Un jetzt tun se
30
mich auch mal loben. Aber es war sehr schwierig.
31
Was hat ich denn grad davor erzählt? Auf was/ja – die Schlüsselsituation mit meiner
32
Mutter. Wir hatten ne Familienfeier – es war nicht selbstverständlich, dass ich die
33
Kinder dazu/dazu mitbringen kann, aber ich hab das durchgesetzt und jetzt is es Gang
34
und Gebe.“
144
1
I.:
2
M.:
„Mhm.!“
„Ähm../hm.. .. da stand, oder saß die C. draußen auf em Bordstein. Meine Oma hat
3
sich/meine Mutter hat sich bissel mit ihr unterhalten/kam/stieß zu ihr und wollte sich
4
mit ihr unterhalten. Und gegenüber ist dann ein LKW und eine war/noch en/en
5
Konsum ..äh/äh.. en/en Supermarkt, oder irgend so was, in der Art, un da hat en Mann
6
– ein junger, gut aussehender Mann – hat ..ähm.. Colakästen und Bierkästen abgeladen
7
und so weiter. Und der hat draußen am LKW/und am Straßenrand gearbeitet. Und da
8
sagt die C. – und sie war zwölf – und sie guckte immer so von unten raus zu dem
9
Mann hin – und da sagte meine Mutter: „Was machst du denn hier?“ – „Oma, Oma,
10
Oma, ich will dir mal was zeigen. Kuck ma, wenn ich den jetzt immer ankuck – du
11
musst ihn immer ankucken, als Frau, als Frau. Dann ..ähm.. dann/dann wird der ganz
12
nervös. Kuck ma, ich hab den jetzt so weit, der is/kuck e mal wie nervös der wird. Und
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dann guckt er immer zu mir rüber, das wirst du erleben.“ – Da war meine Mutter
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schockiert. Die war .. schockiert.“
15
I.:
„Mhm!“
16
M.:
„Aber das is typisch C. .“
17
I.:
18
M.:
„Hm.“
„Die war immer so. Einmal hat se gesa´t zu mir, sie geht fort. Da war se dreizehn.
19
Und/mit ihren Freundinnen treffen. Und dann häng ich im Trockenraum – da war
20
des/da sind so kleine Fenster... .“
21
I.:
22
M.:
„Ja.“
„Das ist also praktisch hier Einliegerwohnung, da oben is es höher – da war so
23
Kellerfenster, das war auf, ich hab so/ja so Ruhe im Haus/ich hab so Wäsche
24
aufgehangen. Hör ich auf einmal de C. ihre Stimme und von em Junge. Und da ham –
25
da war die dreizehn Jahre ((lacht leise)) – un da han die sich ..äh.. hier oben im Garten,
26
des is/war zu der Zeit unbewohnt - ..ähm.. han die sich da gemütlich gemacht. Un da
27
..äh.. hat die ..äh.. C. so richtig sexsistische Bemerkungen gemacht. Und auf einmal
28
sacht die zu dem/da sacht der: „E wo greifst´n du mir hin?“ – un da sacht die C.: „Na,
29
ich will ja nur wissen, ob du Linksträger oder Rechtsträger bist!“
30
I.:
„Aha!“
31
M.:
„Ich erzähl ihnen das jetzt nur... .“
32
I.:
„Ja?“
33
M.:
„Und das möchte ich nicht, dass das Jugendamt das erfährt – ich erzähl ihnen das nur,
34
weil, ich so hoch sensibilisiert war, wegen diesem/diesem Missbrauch.“
145
1
I.:
„Hm.“
2
M.:
„Hm. .. Und es fällt mir schwer zu sagen ..((12)).. ((zittert)), dass die C., also
3
im/während sie bei mir war, manchmal regelrecht drauf angelegt hat. Das fällt mir
4
ganz schwer zu sagen. Aber im Fall von der C. .. war das e bisschen so.“
5
I.:
6
M.:
7
8
„Und/und ich könnt jetzt gleich anfangen zu heulen, ((zittert stark - hat Tränen in den
Augen – Stimme wird brüchig)) aber das war ganz, ganz schwer für mich.“
I.:
9
10
„Ja?“
„Die ..äh../dass die C. sexuelle Übergriffe gehabt hat, wussten sie aber – das hat man
sie schon gesagt?“
M.:
11
„Ja, aber ich hab das/ich hab das natürlich/selbstverständlich geglaubt, aber ich muss
dann ehrlich sagen, weil ich auch gemerkt hab, wie die C. lügt, also sie is... .“
12
I.:
13
M.:
14
I.:
15
M.:
16
„Mhm.“
„Sie war ganz schlimm im Lügen.“
„Mhm.“
„Und deswegen konnt ich ihr nicht mehr glauben, und das konnt ich niemandem
sagen.“
17
I.:
„Mhm.“
18
M.:
„In/in dieser Beziehung, ne?“ ..((4))..
19
I.:
„Von wem sollten eigentlich die Übergriffe stattfinden, das weiß ich gar nicht!“
20
M.:
„Ein Onkel.“
21
I.:
22
M.:
23
„Ah ja, stimmt.“
„Also es soll ei/eigentlich nur ein/einer/einmal soll´s eigentlich bloß ..äh.. gewesen
sein. Das hat sie ihnen erzählt?“
24
I.:
„Mhm.“ ((nickt))
25
M.:
„Das hät ich nicht gedacht. Hm.“
26
I.:
„Jetzt wo sie sagen Onkel, ja ...“
27
M.:
„Also es war nur/ein, zwei Mal/ein/ein Onkel, ne?“
28
I.:
„Der wohl bei der Mutter ein- und ausging, und...“
29
M.:
„Genau, genau, ne?So.
30
So, das hab ich/das wollt ich heut/das musst ich heut mal sagen, weil das in mir nagt.
31
Ich konnte das noch/ich kann em Jugendamt nicht sagen, die haben da keinerlei
32
Verständnis dafür. Obwohl ich sehr gut mit de Fau K. und em Herrn B. hab ich sehr
33
gut zusammen gearbeitet. Auf die lass ich nichts kommen. Aber das/das/ich musste
146
1
das heut mal sagen, dass ich das einmal ausgesprochen hab. .. Weil ich hab ja auch/ich
2
kann/ich hab ja praktisch niemanden groß, mit dem ich da drüber reden könnte.
3
So, die C. war trotzdem eine gute Schülerin. Mit der Schule hab ich kaum Probleme
4
gehabt. Äh.. mit ihren Pflichten sehr große Probleme – das durchzusetzen. Sie ..ähm..
5
oder/oder so hilfsbereit war sie überhaupt nicht, dass ma mal „Oh C. kannst du mir
6
mal...“, da musste man Monate lang, ne Wochen lang, musste man vorher sagen: „C.
7
an dem Tag, da brauch ich dich. Da musst du mir helfen, es ist ganz wichtig!“. Ja und
8
dann/aber es war immer jeden zweiten Tag, war ne riesen Auseinandersetzung. C. ist
9
sogar mit em Messer auf mich losgegangen. Des muss man erst mal verkraften. Die C.
10
hat mich bestohlen -also finanziell in erheblichem Maße. Ich weiß gar nicht, was sie
11
mir für Geld aus ( ) Portemonee, aber alleine/alleine in meinem Schlafzimmer, wo ich
12
manchmal ..ähm.. Geld verwahrt habe, da sind etliche hundert DM weggekommen.
13
Und die war aber eiskalt, die C. . Ich hab gesagt, es konnte nur sie gewesen sein, denn
14
die T. hat dann nicht mehr hier gewohnt. Und ..ähm..
15
((Unterbrechung durch die zweite, derzeitige Pflegetochter, die nach Hause kommt
16
und klingelt – etwa 4 Minuten Unterbrechung))
17
Und ..äh.. die C. war dann/ich wusst mir nicht mehr zu helfen, und da hab ich gesagt:
18
„Ich geh zur Polizei!“ – ich wusst mir nicht mehr zu helfen, weil immer wieder Geld
19
weggekommen is, und/und da hab ich noch nicht mal das was aus meinem Portemonee
20
raus/das hab ich noch nicht mal/das hab ich en halbes Jahr nicht mal gemerkt, oder
21
sogar ein Jahr lang nicht – hab ich das nicht gemerkt. ( ) Wissen sie was sie jetzt im
22
Moment ganz genau im Portemonee haben?“
23
I.:
((lacht)) „Gar nichts!“
24
M.:
((lacht mit bis*)) „Ach so! (*) Nee,... .“
25
I.:
„Hm. Klar!“
26
M.:
„Wenn sie dann zwei Kinder haben, und da is ja auch viel Bürokram und so. Gut! Und
27
das hat sie überhaupt nicht gejuckt. Gar nicht. Kein bisschen. „Ja“ hat se dann gesagt,
28
„dann geh doch!“ und so ne? Und wenn ich die/sie heute/sie würde das heute auch
29
nicht zugebeben. Sie wär jetzt bitter böse, wenn sie wüsste, dass ich ihnen das erzähl.
30
Und ich konnte das noch niemandem erzählen. Noch niemandem! Weil, sie ist/sie ist
31
dann sooo hart. ... Die kann nicht zugeben. Die hat auch mein Auto kaputt gefahr´n.
32
..Ähm.. die hat einfach den Schlüssel entwendet, während ich im Urlaub war. Und die
33
hat das bis/ne ich kann´s ihr schwarz auf weiß beweisen, dass sie das Auto
34
rausgenommen/ich hab Zeugen, die/die/die sie gesehen haben - die gibt das nicht zu,
147
1
selbst heute nicht. Das is en Tabuthema. Und ich kann auch mit niemandem drüber
2
reden. So!“
3
I.:
„Waren sie auf de Polizei, oder war das nur ne Drohung?“
4
M.:
„Nein! Wie sollt ich´s beweisen? Wie/wie und, ne? Gegen Pflegekinder, nein das... Es
5
war zwar nur eine Drohung, und es war unmöglich. Aber dann bin ich auf eine andre
6
Idee gekommen. Und sie werden das bestimmt nicht gut finden, aber/aber ich mach
7
das seitdem. Und zwar hab ich dann mein Schlafzimmer verschlossen.“
8
I.:
9
M.:
„Ja!“
„Es ist auch immer ..äh.. Alkohol dann - also ich/ich trink ja so gut wie gar nichts, aber
10
ich hab für Gäste natürlich hier in meiner Bar, hab ich dann doch mal was zu trinken,
11
aber en Cocktail, hab ich schon mal/mal gern, also so was weiß ich, alle zwei
12
Monate/hab ich/und da brauch man halt verschiedene Sachen, und das war dann
13
immer leer – und da hab ich das dann alles in mein Schlafzimmer gestellt, und seitdem
14
verschliess ich mein Schlafzimmer.“
15
I.:
16
M.:
„Mhm.“
„Des is/ich hab dann ..äh.. den/den Beiden gesa´t warum und wieso und ..äh.. – vor
17
allem de C. . Und die hat dann/konnte dann natürlich nichts dagegen sagen, ne? Und
18
sie hat auch/sie hat auch/wenn/wenn se unschuldig gewesen hät se gesa´t/ „Ah, wieso
19
vor mir da zuschließen?“, so, aber sie wusste ganz genau, warum ich das gemacht hab.
20
Und sie hat das auch ohne Murren, hat sie das akzeptiert.“
21
I.:
„Also heimlich getrunken auch?“
22
M.:
„Ja, aber ma zwei, drei Jahre lang, aber das war die Erprobungsphase. Wissen sie wo
23
alle Jugendliche – aber mehr die T./die T. mehr – aber bei de C. war das nur so ne
24
Phase wo sie alles entdecken wollte und das tu ich noch nicht mal so/so, aber es war
25
halt so, und ich wollt´ halt unterbinden – fertig. Heutzutage trink sie gar nichts mehr.
26
Also nur mal, wenn se Geburtstag, oder so hat, ne? Zum Beispiel zu ihrem 18.
27
Geburtstag da hat se soviel getrunken, dass se sich übergeben musste, aber sie ist
28
dazu/dadurch dass sie das getestet/richtig ausgetestet hat, is sie dazu gekommen,
29
„Nein, das will ich nicht, ich will nicht besoffen rumfallen. Ich will, dass mei...“ – ich
30
hab ihr natürlich immer erzählt, dass da Gehirnzellen absterben – und ist ja auch die
31
Wahrheit, ne?“
32
I.:
„Mhm.“
148
1
M.:
„Und sie hat dann nach zwei/nach drei/drei Jahren vielleicht, hat se dann beschlossen,
2
dass se das/dass se nicht trinken will. Und das find ich/da bin ich dann wieder froh,
3
dass das so war, dass sie immer getestet hat, weil es hat was genützt.“
4
I.:
5
M.:
6
„Mhm.“
„Bei de T. hat´s halt nichts genützt. So! Und das find ich/das gefällt mir an de C. sehr
gut, dass se das/dass das geschafft hat, ne?“
7
I.:
„Mhm.“
8
M.:
„Ja ..((10)).. jetzt wenn ich zurück blick, was ich jetzt gesagt hab, dann is das en
ziemlich negatives Bild über die C. . Aber es war so. .. Und ich war zutiefst schockiert,
9
10
wo sie mit em Messer auf mich losgegangen is, und vor allen Dingen auch wo se
11
abgehauen hat/wo se abgehauen is zweimal. Da/da konnt ich auch/das konnt ich
12
schwer verwinden, .. aber... .“
13
I.:
14
M.:
15
„Was waren die Auslöser?“
„Tag, täglicher Streit, irgendwas. Was wäß ich, weil sie ihr Zimmer mal wieder/mal
putzen sollte, oder es waren Banalitäten.“
16
I.:
17
M.:
„Mhm.“
„Ne? Sie wollt´s einfach austesten, wie ich dann reagier. Und die is sooo raffiniert
18
gewesen, nee! Ich hab se dann/ich hab dann/bin dann abgesucht/alles/überall/ganz Ku.
19
ab... . Und dann hab ich gedacht, vielleicht will se nach Pi. fahr´n, vielleicht will se
20
dorthin. Un dann bin ich auf en Bahnhof gerast, mit en Auto. Da stand auch ein Zug.
21
Bin in den Zug, hab den ganzen Zug durchsucht, die C. war dort nicht, bin wieder
22
nach hause gefahr´n. Und die war in dem Zug, hat mich kommen sehen, und hat sich
23
auf die Toilette eingeschlossen. Das müssen/da muss man wirklich/also da muss man
24
wirklich raffiniert sein, ohne Ende! Und die C., die is clever, die is raffi/raffiniert. Um
25
die C. hab ich keine Angst, dass die unter die Räder kommt. Weil irgend/also das/die
26
hat wirklich ne Schläue/jetzt nicht unbedingt jetzt/also in de Schule, dass se
27
hochintelligent ist, aber die hat eine Lebensschläue.“
28
I.:
29
M.:
„Mhm.“
„Und da bin ich dann, wo ich das dann erkannt hab, war ich zufrieden, weil die kommt
30
mal/sie hat jetzt den/die Richtung hat se angenommen, die ich se geleiten wollte, ne,
31
die/sie/Berufsausbildung und so. Das hat se angenommen, und ich glaube, jetzt wenn
32
se jetzt nicht en Mann kriegt, der Alkoholiker is, oder der halt sonst wo auf der Strasse
33
liegt, dann glaub ich, dass sie ihr Leben meistert. Ich trau ihr sogar zu, nach de
34
Berufsausbildung einen Job zu kriegen. Hm. Das trau ich ihr sogar zu. Und bete und
149
1
hoffe natürlich, dass es so wird. Ihre/ihr dass se die Schulbildung/Berufsausbildung
2
abschliesst, da hab ich gar keine/gar keine Bedenken. Ja!
3
..((12)).. Ich hab ihr/ich hab ihr eigentlich/ich hab ihr viel geboten. Ich hab/ich möchte,
4
dass meine Pflegekinder soviel/die ham/die sin ja nie irgendwohin gekommen.
5
Verreist, oder so. Und ich wollte, dass meine Pflegekinder ganz viel mitkriegen. Ne?
6
Wer weiß, ma weiß es ja nicht, ob se dann, wenn se Erwachsen sind, und nicht mehr,
7
mit mir zusammenleben, ob se dann auf die richtige Bahn/ob se Geld genug haben
8
oder ob se Sozialhilfeempfänger/Hartz IV, was weiß ich. Ob se´s sich je noch mal
9
leisten können. Und ich hab deshalb ..ähm.. bin ich mit/mit der T., der C. viel/mir sin
10
verreist. ..Äh.. schäne Urlaube – und ..äh.. ich hab se auch immer in
11
Jugendfreizeitgeschickt, weil se/weil se immer was erleben sollen/sollten. Oder/oder
12
halt da sind solche Hefte, die J. zum Beispiel, zum Kirchentag nach Kö. – die total
13
begeistert.“
14
I.:
15
M.:
„Mhm.“
((leise bis )) „Die J. is übrigens geistig behindert! Das is wieder so en Kapitel für sich.
16
Das hat ich nämlich auch noch nicht. (*) Ja! Und ..ähm.. und ich glaube, dafür war mir
17
die C. dankbar. Ich glaub das hat sie gerne/das hat sie gerne mitgenommen.
18
Ja, und dann – hm – war´s halt. .. Ja dann kam/dann kam diese ganz, ganz schlimme
19
Situation. ... Ich muss jetzt/ich muss jetzt was von de T. sagen, sonst können sie das
20
nicht verstehen.“
21
I.:
22
M.:
„Ja, ja.“
„Ich muss das jetzt einfach sagen. Die große Pflegetochter, die T., hat ihre Liebe
23
verloren, der Mann/ich war mit der C. in Be., des is ..äh.. – das wollt ich ihr auch
24
unbedingt bieten, damit sie das erleben kann, und zwar: Jahrtausendwende!“
25
I.:
26
M.:
„Hmmm!“
„Des war was ganz Gigantisches. T. wollte nicht mit. So. Ich war mit ihr in Be. .
27
Sylvester, also ein paar Tage. Sylvester dort verbracht un Neujahr. Dann bin ich mit
28
der C./und an dem Sylvesterabend hat der T. ihr Freund, am Sylvesterabend mit ihr
29
Schluss gemacht. Und die T. ist ein Mensch, die kann nicht alleine in Notsituationen
30
sein. In solchen Situationen. .. Die wo/konnte nicht alleine sein. Die hat das nicht
31
ertragen. Ich bin dann am 2. Januar mit der C. nach Hause gekommen und die ..ähm..
32
.. ja ich weiß nicht, ob ich ihnen das jetzt sa/jedenfalls hat die T. einen Unfall mit sich
33
selber gehabt.“
34
I.:
„Mhm.“
150
1
M.:
2
I.:
3
M.:
„Weil sie das halt nicht verkraftet/weil se alleine war/ich war nicht da.“
„Mhm.“
„Und hat die Wirbelsäule gebrochen. Ganze Wirbelsäule. ... So! Die T. musste ins
4
Krankenhaus, dort ham se sie zur Wahl gestellt: En viertel Jahr liegen, oder Operation
5
in Kl. . Und die T. hat zu mir/die hat mich angefleht: „Bitte lass mich operieren, ich
6
kann hier nicht en viertel Jahr liegen.“. Da hab ich gesagt: „Okay.“. Drei Ärzte waren
7
dafür, zweie waren dagegen. Ich wollte das, was die T. will. Und dann haben wir uns
8
nach Kl über/überweisen lassen. Das waren die schlimmsten drei Monate in meinem
9
ganzen Leben., die ich je hatte, ((zittert stark)) obwohl ich geschieden bin.“
10
I.:
„Mhm.“
11
M.:
„Die T. is dreimal, derartig schwer operiert worden. ((Stimme zittert)) Und sie
12
brauchte mich/sie brauchte mich wirklich. Und ich bin jeden - obwohl ich gearbeitet
13
hab – bin ich jeden Tag nach Kl. gefahr´n, auch wo sie hier in Ku. noch lag. Ich hab
14
die C. genommen und hab zu C. gesagt: „C. wir müssen jetzt zusammen halten. De T.
15
ist das und das passiert. Die T. kann querschnittsgelähmt sein, bei jeder Operation, bei
16
jedem Schritt den se macht, kann se querschnittsgelähmt sein. Du weißt wie de T. is,
17
in solchen Fällen, wenn/wenn irgendwie was schief geht, braucht die T. mich.“ – „Ja,
18
ja!“, hat se C. zu mir gesa´t. „C., ich komm von der Arbeit halb zwei, ich kann jetzt
19
nicht groß kochen, ich/komm wir essen Müsli. Bitte versteh das. Such dir auch mal
20
selber was. Tu dir mal selber Brot schmieren. Einkaufen geh ich natürlich. Aber ich
21
..äh.. es wird jetzt sehr hart für uns sein. Stehst du das mit mir durch?“ – „Ja, das steh
22
ich mit dir durch!“. So. Ich bin viertel Jahr, vier Monte, jeden Tag nach ..äh.. Kl.
23
gefahr´n. Und das war ne Strapaze. Vor allen Dingen, die T. so zu sehen, das war ne
24
Strapaze. Bis mich dann äne Freundin/ne von der C. ne Freundin, ihre Mutter
25
angerufen hat, und gesa´t hat: „Also M., so geht das nicht. Sie lassen das Kind
26
hungern. Sie kümmern sich nicht um das Kind. Also das find ich nicht richtig.“. So,
27
was hat die C. gemacht? Sie hat draussen rumerzählt, sie kriegt nichts zu essen. Ja?
28
So!“
29
I.:
„Mhm!“
30
M.:
„Sie kriegt nichts zu essen, es wird sich nicht um sie gekümmert, und so weiter.“
31
I.:
„Wie alt war die C. zu der Zeit?“
32
M.:
„2000 – warten se – warten se – jetzt is se 21 – minus sieben Jahre... .“
33
I.:
„Vierzehn.“
151
1
M.:
„Ja, vierzehn. Vierzehn, vierzehn, fünfzehn. Genau. So. Und das war ein Schock für
2
mich. So, dann .. hab ich mit ihr gemeckert, weil ich hatte käne Nerven mehr. Ich hatte
3
einfach keine Nerven mehr. Da hab ich geschimpft. Und dann hab ich gebeten, an
4
einem Sonntag, hab ich gebeten – da ging´s de T. e kleines bissl besser, aber sie
5
brauchte den täglichen Besuch, die brauchte das einfach.“
6
I.:
7
M.:
„Mhm.“
„Und da hat die/da hab ich gesagt: „C. du kommst heut mal mit. Es ist deine
8
Pflegeschwester, du musst die doch auch mal besuchen, hast du gar nicht ..äh.. das
9
Bedürfnis die mal zu sehen?“ – „Nö!“. Hab ich gesagt: „Aber du/ihr/wir leben doch
10
hier zusammen seit zwei, drei Jahren. Du/du/das macht ma doch, wenn/wenn die
11
Schwester so en große Verletzung hat, dann muss ma doch mal hin?“ – „Hm?“ macht
12
se dann. Hab ich dann gesagt: „Komm jetzt bitte mit!“, sonntags war das mal. „Nee,
13
ich komm nicht mit!“. Und da haben wir uns gestritten. Haben wir uns ganz doll
14
gestritten. Un da hab ich dann .. gerufen/geschrien, hab ich dann gesagt: „So, und du
15
bleibst heute zuhause. Ja? Ich verbiete dir, dich mit Freunden zu treffen, wenn du nicht
16
mal für deine Schwester eine Stunde Zeit hast, die zu besuchen, dann brauchst du auch
17
keine anderen zu sehen.“. – Ich war mit den Nerven am Ende, ehrlich gesacht.“
18
I.:
19
M.:
„Ja.“
„Das ging ja schon drei Monate so. Un dann bin ich zur T. gefahr´n, sie konnte es erste
20
Mal aufsteh´n – wir sind im Park dort spazieren/also spazieren, ich hab sie mehr
21
geschleppt als/und ..äh..“
22
I.:
23
M.:
„Hm.“
„Un die war immer sehr dankbar. Die wusste genau was ich für sie/ich saß einmal
24
neun Stunden/wo se in de Intensivstation war/ah, ich kann ihnen gar nicht erzählen,
25
was ich dort erlebt hab/und da saß ich neun Stunden an ihrem Bett, und das vergisst sie
26
mir bis heut nicht. Aber, sie weiß kaum noch was in dem Krankenhaus war, die T.,
27
obwohl sie 26 is.
28
So, un dann komm wir zurück auf die Station, un da sacht ..ähm.. eine Schwester zu
29
mir – die Stationsschwester – „Sie sind doch die M., ne?“, und da hab ich gesacht:
30
„Ja?“ – „Hier is grad Telefon für sie. Da is es Krankenhaus Ku. am Apparat. Gehen sie
31
mal bitte ran.“. Hab ich gesacht: „Krankenhaus Ku.?“, vielleicht wollen die, die T.
32
wieder zurück verlegen, oder was. Bin ich ran gegangen. Und da hat die Frau gesa/hat
33
en Arzt – „Ich bin Doktor sowieso. Ihre Tochter C. hat einen Selbstmordversuch
34
begangen, ich hab sie jetzt nach La. eingewiesen.“. Ich hab das/ich hab überhaupt
152
1
nicht begriffen, was der meint. Ich/ich hab/ich saß da kreidebleich, mir is es ganze
2
Blut aus em Gesicht ge/gegangen. „Wie/wie Selbstmordvers...?“ – „Ja, sie hat sich die
3
Pulsader aufgeschlitzt“.
4
I.:
„Ganz ruhig!“
5
M.:
„..Ähm.. – ah ich/ich ((fängt fast an zu weinen/zittert)) Das belastet mich jetzt sehr.
6
Hmmm. .. „Sie hat sich die Pulsader aufgeschnitten, und ich hab sie jetzt“, ganz
7
vorwurfsvoll, ganz anklagend, „ich hab sie jetzt nach La. eingewiesen.“. Und da konnt
8
ich dann nur noch sagen: „Was is en La?“, ich wusste das nicht. Ich kannte das nicht.
9
„Ja, das is so ne Psychiatrische Klinik.“ Und da hab ich gesacht: „Kann ich da heut
10
noch hin fahr´n?“ – es hat geschneit, es hat draußen rumgesaut, ich/ich bin hier
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ortsfremd - ich, wie sie hören, komme aus der ehemaligen DDR, und ich bin erst seit
12
1989 hier - und Geographie is nich so mein Ding. – Ja und ..äh.., dann hab ich
13
auf/dann hab ich aufgelegt, bin zu T. gegangen, und hab beschlossen/hab Rotz und
14
Wasser geheult. Ich konnt nicht mehr. Das war ein/also da wollt ich sterben, ehrlich
15
gesagt. Also da wollt ich nicht mehr leben, das war einfach zuviel.“
16
I.:
17
M.:
„Ja, das ist auch heftig.“
„Dann bin ich/dann is zum Glück ein Freund noch von de T. gekommen, der hat mich
18
dann geschnappt, und das war ja für die T., war das ja auch sehr schwer, mich so zu
19
sehen, grade wo´s angefangen hat e bissl besser zu werden bei ihr. Ja .. dann ja, ..äh..
20
hat der Freund/da hab ich den/hab ich gesagt ..ähm.. – ich weiß gar nicht mehr, wie
21
er/hieß er denn gleich/ich wäß nicht mer/ich hab´s jetzt vergessen, vor lauter Schreck.“
22
I.:
23
M.:
„Mhm, macht nix.“
„Ähm.. „Fährst Du mich dort hin?“ Also ka/ich weiß nicht wo ich hinkomm, es gab
24
noch keine Navi, ich hab noch keine Navi, ich wusst überhaupt nicht, wo das is. Und
25
das hat draußen geschneit und wissen se, da war so halb gefroren auf em Boden, ne?
26
Ich hatte keine Winterreifen drauf. Es war/und da hat der gesacht: „Ja, fahr einfach mir
27
immer nach!“. So! Und es war ja schon gegen Abend. Dann sind wir dortzwei
28
Stunden/zwei, drei Stunden dort hingefahren, weil das so gesaut hat, konnte man nicht
29
schneller fahr´n. Und da bin ich da eingetroffen, und dann ..ähm.. hab ich die C. aber
30
nicht zu Gesicht bekommen, da hat mir nur/die Ärztin hat mich empfangen und hat mit
31
mir geredet. Un natürlich total vorwurfsvoll und total ..ähm.. ... ..ähm.. anklagend
32
schon. Da hat sie mir eben gesagt, dass die C. sich an der linken Hand Pulsader/also
33
längs, nicht so (quer), sondern längs...“
34
I.:
„Mhm.“
153
1
M.:
„Weil die C. is ja schlau. Die is intelligent, halbwegs, und die weiß genau, wenn ma
2
sich töten will – aber sie wollte sich nicht töten, weil sofort nachdem sie hat´s/wir
3
konnten dann ganz, ganz lange nicht drüber reden, und aber doch dann irgendwann, da
4
hat se zu mir gesagt: „Wo ich das gemacht hab/also so längs/wo ich das gemacht hab,
5
da hab ich dann gedacht: „Was machsten du hier eigentlich? Was für ne Scheiße
6
machst den du?“. Hm – warten se mal, ich muss jetzt de Reihe nach erzählen. So, und
7
da hat die Ärztin gesagt, ja, ich hätte se vernachlässigt un, sie hätte ihr gesacht, dass
8
ich sie mit em Kopf da gegen Türpfosten geschlagen hätte, un/un also noch so ein,
9
zwei solche Sachen. Und ich war/da bin ich dann wütend geworden, da bin ich dann
10
ganz, ganz wütend geworden. Un ich hab genau begriffen, warum die C. das gemacht
11
hat. Die C. stand nämich nicht im Mittelpunkt. Sondern die T. stand im Mittelpunkt, in
12
diesen letzten/in diesen zwei, drei Monaten. Und die C. - ich geb´s zu – es/es war/ich
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konnt mich nicht so viel um sie kümmern in dem Moment/in den Monaten, aber ich
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hat ja mit ihr drüber geredet. Sie wusste doch warum und wieso. Und die C. stand
15
nicht im Mittelpunkt und sie wollte wieder im Mittelpunkt stehen. Und das ist der C.
16
ihr großer Manko: Sie will i m m e r gern im Mittelpunkt steh´n. Aber ich war auch so,
17
wie ich jung war. Muss ich ehrlich sage, das sachen mir heut noch manche Leut
18
((lacht)), ne? Aber solche Sachen hab ich bei weitem nicht gemacht. Und das hab ich
19
versucht der/der Ärztin zu/zu sagen. Un es war wirklich aus de/aus der Luft gegriffen:
20
I c h un en Kind mit em Kopf an en Türpfosten hau´n. Nie im Leben! Un da is mir es
21
erste Mal passiert, dass ich so was ganz Negatives erfahren hatte ..äh.. was mir als
22
Pflegemutter passieren kann, wenn man große Kinder hat.“
23
I.:
24
M.:
„Mhm.“
„Davon hätt ich/da hät ich nie/nie wär ich dadrauf gekommen. Und mit der K. is mir
25
jetzt noch mal so was passiert. Also nich mit ihr selber, aber mit den Eltern. So! Un
26
das war für mich ne Erfahrung, da bin ich dann heimgefahr´n un hab gesacht: „Warum
27
tust du dir das an? Warum tust du dir das an?“ – und da hab ich dann keine Antwort an
28
dem Tag gefunden.
29
Ja? Dann bin ich weiterhin jeden Tag zur T. gefahr´n, hab immer mit den Lehrern
30
..äh.. mit den/mit den Ärzten telefoniert und hab dann gefracht. Un trotzdem – ich
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konnte se/ich hät ja bloß sag´n können: „Jugendamt, ich will nicht mehr! Macht mit
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dem Kind was ihr wollt!“. Jugendamt hat mir sehr geholfen. Ich hab sofort, den
33
nächsten Tag den Herrn B. angerufen, un hab dem das erzählt. Der war schockiert. Hat
34
aber gemerkt, wie außer/wie ich außer mir war. Hat mich eingesackt und dann sin mer
154
1
nochma zusammen dorthin hingegangen/hingefahren, nach paar Tagen. Un der hat mit
2
denen/wir haben zusammen/gemeinsam mit denen gesprochen. Un ..ähm.. – muss
3
runter kommen - ((zittert))und ..ähm.. .. ..ähm.. und der Herr B. hat eindeutig zu den
4
Ärzten gesagt: „Wir haben keine höher qualifizierten Kräfte als Frau M. . Wenn die C.
5
das nicht will, dann kann se nur no ch in ein Heim kommen. Das is die einzige Option,
6
die´s jetzt noch gibt!“. Un das hat mir wieder Kraft gegeben. Muss ich ehrlich sagen,
7
das hat mir Kraft gegeben.!“
8
I.:
9
M.:
„Mhm.“
„Dass der Herr B., das über mich gesagt hat. Und ..ähm.. dann hab ich/dann ..äh.. hat
10
er gesagt zu mir, wir zwei alleine, wie´s/was ich denk wie´s weitergehen soll. Da hab
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ich gesagt: „Ich muss mir jetzt im Klaren werden, ob ich die C. wieder nehme, oder
12
nicht“, ne? Und sie hatte ja/sie hatte ja gesagt sie will nicht mehr zurück – zu den
13
Ärzten, erst die ersten zwei Tage – ne? Und so was zu erleben, das hat mich/das hat
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ich/das hab ich nicht gewusst, dass so was passieren kann/hm könnte. Aber das weiß
15
ich halt jetzt. Es kann so was passieren.
16
Lange Rede, kurzer Sinn! ..Ähm.. ich hab dann gesacht, ..äh.. dass ich die C. nicht
17
mehr will. Un dann is aber nach paar Wochen, zwei, drei Wochen, is dann bei de/sie
18
sollte erst mal dort bleiben - is dann bei der C. dann doch wieder der normale Verstand
19
eingesetzt. Und dann hat se gesacht, dass se wieder zurück will. Und aus gekränkter
20
Eitelkeit, hab ich natürlich not gesacht, das muss ich mir erst mal noch überlegen, ne?
21
Ich bin jo och nur en Mensch!“
22
I.:
23
M.:
„Hm.“
„Und dann ..äh.. is die Oma - die hat sich auch immer um die C. e bissl mit gekümmert
24
..äh.. is die dann ausfallend gegen mich geworden. Und wir haben dann ne ganz große
25
Beratung gehabt: mit den Ärzten, mit em Jugendamt, ich und die Oma, und die C. .
26
Und da is die/war die C. dabei? Ich weiß nicht mehr. Jedenfalls, ..äh.. war die C. da uff
27
de geschlossenen ..ähm.. Anstalt will ich nicht sachen.“
28
I.:
29
M.:
„Station!“
„Station, ne? Ich glaub sechs Wochen lang. Und da bin ich ja dann auch immer noch
30
hin gefahren, regelmäßig. Und die T. jeden Tag in Kl. . Jedenfalls, es Ende vom Lied:
31
Ich konnte nicht mich dazu zwingen mich/dazu die C. in em Heim zu lassen. Ich weiß
32
genau die wär/die hätte dort... Die hätte überlebt, weil sie stark is. Aber die wär, wie
33
man so sacht in der Gosse gelandet. Das weiß ich ganz genau! Und ich konnte/ich
34
hab/ich hab gewusst, was auf mich zukommt, wie schwer das werden wird weiterhin,
155
1
und/aber ich konnte es/ich hab so viel Gefühle ihr gegenüber – trotz allem – ihr
2
gegenüber entwickelt gehabt, dass ich nicht sagen konnte: „Nein, ich nehm die nicht
3
mehr!“. Ich konnte es nicht, und am Ende ham wir dann gesacht/ich hab zur
4
Bedingung gestellt, dass se ne Therapie macht, ne? Und noch was, aber das andre is
5
mir jetzt entfallen, ich weiß es nicht mehr. Die Ärzte haben dann vorgeschlachen, dass
6
mir en Vertrag machen, dass die C. paar Punkte sachen kann, was sie an mich für
7
Forderungen stellt, und ..äh.. was ich für Forderungen stelle. Und bei de C. war´s zum
8
Beispiel, dass sie sich mal eine Klamotte alleine kaufen darf ((zieht eine Grimasse)).
9
Hm. Das war doch Kinkerlitzchen, ne? Das/dadrüber kann man doch reden, das is
10
doch Kinkerlitzchen, ne?“
11
I.:
12
M.:
„Hm.“
„So, dann is die C. wieder zurück gekommen. Und es lief auch/also es lief besser als
13
vorher, ne? Und ..ähm.. ja, ich hatte ja dann auch wieder Zeit, weil die T. dann aus em
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Krankenhaus draußen war. Und ..ähm.. und das Ende vom Lied is aber, dass ich aber
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..äh.. ne Krankheit davon/also ich bin dann krank geworden, ..ähm.. ja, vier Wochen
16
war ich dann krank, also mit meinem/also magenkrank, ich hab ne ganz schwere
17
..äh/äh.. Schleimhautentzündung gehabt und ich hab in den Ohren hab ich
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Neurodermitis gekriegt, in den Gehörgängen, ham se so was schon mal gehört? Und
19
das is halt ne Krankheit, die sich durch diesen permanenten Stress, durch die
20
wirklich/ich war ja nur noch auf 108, also ..äh.. nich/nich, dass ich jetzt aggressiv war,
21
aber ich war ja nur noch am obersten Level, hab ich geschwebt, un da hat sich halt die
22
Krankheit gebildet, un die hab ich heut noch, un die wird nie wieder mein Leben weg
23
gehen. So!
24
Und dann, war´s aber ((räuspert sich)) dann fing das natürlich wieder alt/wieder in alte
25
Muster an zu verfall´n, un da hab ich dann gesagt, ..äh.. zum Herrn B., dass ich mit der
26
C. halt ..ähm.. nicht mehr so zusammenleben kann, und es war aber schon angedacht,
27
in der Klinik, dass vielleicht die C. mit sechzehn Jahren dann doch ne eigene
28
Wohnung, dass mer dass mal versuchen wollen. Und da hab ich dann mit der C.
29
drüber geredet, und da hat se gesagt: „Okay, wir können das versuchen.“. Und ich hab
30
dann mit em Herrn B./also erst mit em Jugendamt Ku., die waren in der Zwischenzeit
31
hier zuständig, aber die wollten´s dann nicht. Und dann hab ich den Herrn B. zur Hilfe
32
gebeten, ham mer große Konferenz gemacht, und der Herr B. hat dann das Jugendamt
33
Ku. überzeugt. Und mir han´s dann gemacht.“
34
I.:
„Hm.“
156
1
M.:
„Und von dem Tag an, lief alles super! Mir haben noch einmal negatives Erlebnis
2
gehabt, wo die C. mich nicht in die Wohnung gelassen hat - also ich sollte sie
3
betreuen, ich wollte sie auch betreuen, und sie wollte das auch - ..ähm.., dass sie mich
4
nicht reingelassen hat, und da hat der Herr B. ma gemeckert, und da ging das dann
5
wieder. Der Herr B. hat schon/also der hat mich immer sehr unterstützt, und hat dann
6
auch, wenn Not am Mann war so ma/also die zwei Mal so en Machtwort ((lacht)) dann
7
gesagt, ne? Und das/das hat/weil eben kein Vater hier vorhanden ist, wenn vielleicht
8
ein Vater vorhanden gewesen wär, wär´s vielleicht auch wieder e bissl anders ..äh..
9
gewesen, ne? Da hät sich vielleicht die C. manchmal e bissl mehr zusammen
10
ger/gerissen, oder mich als Mutter, wissen sie, vielleicht wie mit ihrer Mutter: „Ja
11
Mama, du meinst es ganz gut mit mir, aber ich mach trotzdem was ich will“, ne? So
12
auf die Tour. So war´s bei de C. genauso, ne? Un von dem Tag an lief alles sehr, sehr
13
gut! Das kann ich wirklich nur sagen. Diese räumliche Trennung hat uns einfach gut
14
getan. Sie hat dann mit der Zeit/ich hab halt sie intensiv betreut, immer Einkaufen,
15
Wäsche waschen, alles hab ich gemacht, ne? Und ..ähm.. sie brauchte das auch
16
einfach, sie brauchte ne gewisse Eigenständigkeit, oder Unbeobachtetheit! Ne? Dass
17
se halt machen kann, was sie will. Und das ist uns Beiden sehr bekommen. Und in
18
den/in der Zeit also jetzt seit sie sechzehn war, sind wir uns dann immer näher/sind wir
19
uns immer näher gekommen. Un ich hab dann auch gemerkt, dass trotz der
20
kranzen/ganzen Kämpfe, trotz allem .. was war, dass sie im Endeffekt doch an Lehre
21
genommen hat. Dass sie im Endeffekt doch gesehen hat: „So will ich leben und nicht
22
auf der Strasse! Nicht als Alkoholikerin. Ich will en Beruf haben.“, un vor allen
23
Dingen nimmt mich es Jugendamt jetzt/also, die nehmen mich gerne, weil ich den
24
Kindern vorleb, dass ma nur mit eigenem, verdientem Geld en gutes Leben führen
25
kann. Ich lebe denen vor, dass man für sein Leben/für sein Lebensunterhalt arbeiten
26
sollte, ne? Das man dann solche und solche Möglichkeiten hat, ne? Und das hat se
27
begriffen. Das hat sie total begriffen. Und/und dann, wir haben die ganze Zeit dann
28
beratschlagt, „Was willst du werden?“, und so. Und das mit der Berufswahl, also das
29
ging ganz klasse mit ihr. Eines Tages: „Naja, was hälst denn du von
30
Krankenschwester?“. Und sie war in der Schule immer so ne 2er-Schülerin, ne? Hab
31
ich gedacht, na ja, sehr anerkannter Beruf, ne? Vielleicht mit der/wird immer
32
gebraucht, ne? Un da hab ich gesacht: „C., pass uff, mir machen das so, du machst mal
33
en Praktikum.“. Ham wir se/bin ich hoch gegangen mit ihr, die Be/die zuständigen
34
Stellen, und „Ja, machen se Praktikum!“ ... .“
157
1
2
((Tonbandwechsel))
M.:
„Sie wollte natürlich nicht, es war ja in ihren Ferien, und ..ähm.. sie wollte das net/aber
3
ich hab´s dann e bissl, ne? Und sie hat dann auch gehört und das war es Beste, was wir
4
machen konnten. Dadurch, dass sie drei Praktika gemacht und immer wieder
5
gekommen ist, hat sie dann ..äh/äh.. in Angriff genommen. „Freiwilliges Sozialjahr“
6
also, das ma für Krankenschwester ja braucht. Und weil sie dreimal dort war, haben
7
sie zu ihr gesacht: „Mir sehen, dass du das ernst meinst, und mir nehmen dich an.“. Is
8
sie erst mal angenommen worden. Waren mer happy und glücklich. Und das hat se
9
eiskalt durchgezogen – hat sich gut gemacht – und da is se dann, als mir uns beworben
10
haben, is se dann auch genommen worden. Weil diese Vorgeschichte war. Und
11
dadrauf bin ich megastolz – mit ihr zusammen!“
12
Noch mal ein kleiner Einwurf. Sie hat diese Therapie nicht gemacht! Sie war/sie war
13
so raffiniert und so in der Lage, diese Therapeutin gegen sich aufzubringen. Sie hat
14
eben Termine abgesagt, ohne mein Wissen, und es ist nicht zustande
15
genommen/gekommen. Aber die Therapeutin war auch net richtig hinterher, das nehm
16
ich der heut noch übel. So!
17
Ja? Und das hat geklappt! .. Ein Jahr jetzt wieder ..äh.. im ersten Schuljahr, nee im
18
zweiten Schuljahr hat se hier am/am Ellbogen was gebrochen gehabt, wo se bei ihrer
19
Mutter/sie ihre Mutter besucht hat.“
20
I.:
21
M.:
„Mhm.“
„Und ..ähm.. das wär ein Krankenschein von sechs/fünf/sechs Wochen gewesen, aber
22
nein, C. macht eben acht, neun, zehn Wochen draus – ich weiß nicht mehr genau. Ich
23
hab se irgendwann mal gebeten/ich hab immer gebeten: „C. geh jetzt wieder in die
24
Schule. Du brauchst doch nichts zu machen. Du/du sitzt doch nur da, lässt jemand
25
anderen mitschreiben.“ – „Nein! Andre sind auch so lange krank. ..äh.. Ich geh nicht!
26
So lange mich der Dr. F. krank schreibt“. Und er hat se auch immer wieder krank
27
geschrieben. So, und was war´s Ende vom Lied im letzten Teil des zweiten
28
Lehrjahres? ..Ähm.. der/die Schüler/die Lehrer haben zu ihr gesacht, sie hat viel zu
29
wenig Praxis, weil Teil Praxis, Teil Theorie war das, und ..äh.. ihr fehlen
30
grundsätzliche Voraussetzungen, sie haben gemerkt, sie hat nur noch schlechte
31
Zensuren geschrieben, die sie mir aber verheimlicht hatte. – Aber des war jetzt nicht
32
so bösartig. Sie wollt einfach nicht so drüber reden. – Und ..äh.. es Ende/und da hat se
33
gesacht – es ist ihr nahegelegt worden, das Schuljahr zu wiederholen – da hat se
34
gesacht: „Nein! Niemals!“, hat se getobt, ne? Und ..äh.. , dann hab ich gesacht: „C.“,
158
1
hab ich ihr eingeredet, hab ich gesagt: „Kuck mal es ist doch auch/es ist doch auch gar
2
nicht so schlecht. Kuck mal, du hast jetzt einfach schlechte Zensuren. Wenn du das
3
jetzt noch mal machst, denn bist du die Beste in de Klasse, weil du das alles schon mal
4
gemacht hast.“, hab ich sie dann so versucht zu lacken/zu locken und so. Und nach
5
vierzehn Tagen ((bekreuzigt sich)), hat se gesagt, ich mach´s noch mal.“
6
I.:
7
M.:
8
((lacht))
„So un dann hab ich das dann erreicht. Also dann/sie wurde dann/immer
zugänglicher.“
9
I.:
10
M.:
„Mhm.“
„Seit wir uns getrennt hatten, ne? Im übrigen will ich noch was dazu sagen: Ich bin
11
eine Pflegemutter, die immer ..ähm.. .. ich hab mir das angelesen, dass die Kinder, die
12
Pflegekinder, die können noch so schlimme Sachen erlebt haben, das will ich Ihnen
13
unbedingt mitgeben.“
14
I.:
15
M.:
„Mhm.“
„Die können misshandelt, mißbraucht, geschlagen, verhungert, und nichts zu essen
16
und nicht umsorgt, aber die lieben immer noch ihre Eltern in einem Winkel des
17
Herzens. Und das kriegen die nicht raus. Und das hab ich mir angelesen, und das hab
18
ich immer befolgt. Und ich hab mit allen Eltern, wirklich einen sehr guten Kontakt.
19
Mit der C. ging das soweit, dass alle beide Eltern ..äh.. im mit mir/gemainsam und der
20
C. im Amtsgericht mir das Sorgerecht übertragen haben. Ja, da war ich ganz stolz. Die
21
war´n/die sin auch gute Eltern im Endeffekt dann wieder geworden, weil se gesehen
22
haben, ihr geht´s bei mir gut.“
23
I.:
„Mhm... Also ihr Verhältnis ..ähm.. zu den ganzen Herkunftsfamilien...“
24
M.:
25
I.:
„...is eigentlich gut?“
26
M.:
„Is sehr gut, bis auf de K. . Da muss ich ihnen dann später noch mal erzählen, da is
„Is...“
27
was passiert. Und selbst/also die ..äh.. bei de/bei de J., bei/bei de T., das is alles sehr
28
gut, weil ich eigent/ eben och da drauf achte. Die T./äh/die C. hat ..ähm.. hab ich
29
immer dafür gesorgt, dass ihre Mutter ihr näher gebracht wird, weil die Oma hat die
30
Mutter nur schlecht gemacht, weil sie ((leiser bis )) halt Prostituierte war und so (*)?
31
Und ich hab aber gesacht: „Kuck mal C. ma hat in seinem Leben eigentlich nur ne
32
richtige Mama, die einen geboren hat, ne?“, und so is dann nach Jahren/hat sie dann
33
ganz langsam Kontakt zur Mutter aufgebaut. Und dadruff bin ich auch stolz. Und die
34
hat heut auch/auch wenn se natürlich jetzt gesagt hat – hat sie ihnen erzählt, was mit
159
1
ihrem Bruder passiert is? Oder war das/nee, das war jetzt/das war jetzt nachdem sie
2
dort waren. Die hat ihre Mutter und ihren Bruder besucht, jetzt vorige Woche, und da
3
haben sie über Mütter geredet. Und da hat dann die C. gesacht: „Naja, ich hab zwar
4
meine Mutter gerne, a/unsre Mutter gerne, aber meine richtige Mutter is eigentlich die
5
M. .“ . Da hab ich/was se mir das erzählt hat/war ich perplex.“
6
I.:
7
M.:
8
I.:
9
M.:
„Das hat sie mir erzählt.“
„Hat se ihnen erzählt, auch?“
„Dass sie die Mama sind, ja.“
„Ja? Hör´n sie zu. Und ..ähm.. hat se nur so gesagt „Warum? Wir haben Höhen und
10
Tiefen; wir haben alles Leid durchlebt.“, so hat se´s mir erzählt. Un da hat der Bruder
11
gesacht: „Naja, ich find´s zwar jetzt komisch, aber na gut!“, un dann ham se noch
12
weiter geredet, un de nächste Tag hat er sie an den Bahnhof geschafft, ne? Und abends
13
kommt ne SMS von ihm, vorige Woche: „Was du gesacht hast über Mutter und so, das
14
finde ich zum Kotzen. ..Äh.. ich find das unverständlich wie du/das deine/das unsre
15
Mutter nicht deine Mutter is. Für mich bist du als Schwester gestorben.“, hat se vorge
16
Woche/die hat Rotz und Wasser/mir haben ne halbe Nacht darüber geredet, das hat ihr
17
sehr weh getan.
18
Aber, jedenfalls wollt ich nur noch mal sagen, dass ich versucht hab, auch zu ihrem
19
alkoholkranken Vater/die hat immer Kontakt/ich hab se ja selbst/Monate lang ..äh..
20
Jahre lang immer einmal im Monat, oder alle zwei Monate nach Pi. geschafft, dass se
21
ihre Familie dort/die Oma und so/sehen konnte.“
22
I.:
23
M.:
„Mhm.“
„Ne? Also das/das war mir wichtig, dass der Kontakt irgendwie bestehen bleibt.
24
..((4)).. Ja! ... Ja. Und jetzt is es halt so, dass sie mir halt offenbart hat, dass se heiraten
25
will, hat se ihnen des auch gesag´t?“
26
I.:
„Heiraten nicht, aber so ein paar Zukunftspläne.“
27
M.:
„Ja. Ja, genau. Net wie/das weiß ich ja alles ( ). Jetzt freu ich mich, obwohl ich allen
28
Kindern gesacht hab, sie sollen nicht unter 25 heiraten.“ ((lacht))
29
I.:
30
M.:
((lacht mit))
„Zweie haben´s durchgezogen, aber bei/bei. Die C. hat immer hat se gesacht: „Ich will
31
kein – wo se vierzehn war - ich will keine Kinder haben.“, sach: „Warum willst denn
32
du keine Kinder?“. „M. wenn ich seh, was die für ein Stress machen!“ ((lacht)) Hat se
33
sich selber/doch dann/so intelligent is die/die hat das genau gesehen. Hab ich gesacht:
34
„Na, C. warum streitest Du dich da immer? Warum bist denn du? Warum? Warum?“,
160
1
da hab ich gesagt: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass du mit einem Freund zusammen
2
leben kannst“, un da sagt se: „Das weißt Du nicht.“, hab ich gesacht: „Ich kann es mir
3
einfach nicht vorstellen.“ – „Ja, ich hab auch eine Sei/andere Seite noch, die kennst du
4
nicht.“ – gegenüber Männern, ne – hab ich gesacht: „Ich kenn dich genau!“ – „M.,
5
wenn ich will, dann kann ich!“, hab ich gesacht: „Warum willst denn du bei mir
6
nicht?“, damals noch, ne? „Ja das Kämpfen gehört dazu. Ich will eben manchmal
7
nicht. So bin ich eben.“. Also die hat das genau durchschaut. Die wusste genau was sie
8
mir antut, aber es musste eben/das war ihre Art, vielleicht auch ihre Vergangenheit zu
9
verarbeiten.“
10
I.:
„Mhm. Ich hab mir ein paar Stichpunkte gemacht, und das ganz, ganz große Thema is
11
eigentlich ..ähm.. ich hab so das Gefühl, dass vieles für sie neu war. Dieses
12
sexualisierte Verhalten, der Suicidversuch, dieses Abhauen, die Geschwister-
13
/Pflegegeschwisterkonkurrenz. ..Ähm.. hätten se sich irgendwas gewünscht, ..ähm.. ja,
14
vielleicht ein Vorbereitungskurs, um ihnen klar zu machen das und das kann passieren,
15
das und das kann Folge sein von der Herkunftsfamilie, das und das Folge sein ..äh..
16
wenn ein Kind in die Pflegefamilie geht ..äh.. . Da hab ich so ein bisschen das Gefühl,
17
das Vorwissen fehlte und das musste man sich alles selber erarbeiten. Wär´s vielleicht
18
leichter gewesen wenn man so´n Art Fortbildungskurs vorher gehabt hätte mit ein paar
19
Fachleuten, die einem das erklärt hätten?“
20
M.:
„Also da hab ich ne ganz drastische Meinung. Darf ich die ihnen die jetzt sagen?“
21
I.:
„Sicher!“ ((lacht))
22
M.:
„Ich sage ganz eindeutig: „Nein!“.
23
I.:
24
M.:
25
„Mhm.“
„Andre Eltern werden das nicht sagen. ..Äh.. ich denke ich hab mir ja viel
angelesen,ne?“
26
I.:
27
M.:
„Mhm.“
„..Ähm.. ..((10)).. hm, für manche Eltern wär das vielleicht was gewesen, aber ich bin
28
berufstätig, ich hab dann die Pflegekinder gehabt, und nebenbei noch einen Lehrgang
29
machen, oder/oder solche Seminare besuchen, oder alles, das wär für mich über meine
30
Kraft gegangen. Und ich finde, man kann am Mann nur richtig lernen, also sprich am
31
Kind.“
32
I.:
33
M.:
34
„Mhm.“
„Ich steh auf dem Standpunkt: Ich musste das alles durchleiden, damit ich ne gute
Pflegemutter werd. Ich musste das alles kennenlernen – in der Praxis. Theorie is
161
1
Theorie. Ma/ma kann/auch in Büchern: Ich bin der Überzeugung, dass ich im Buch
2
auch so ein Beispiel bestimmt gelesen hab, und das einfach: „Ach, ja, ja, das passiert
3
mir nicht!“, und so drüber weg gelesen hab. Bin ich der festen Überzeugung. Aber ma
4
muss einfach Erfahrungen sammeln. Und ..äh.. jetzt wird das ja langsam, durch die
5
vielen schlechten, negativen Beispiele in der Öffentlichkeit, wird ja von den
6
Jugendämtern angestrebt, dass die Seminar/also so richtige Lehrgänge machen. Zum
7
Beispiel die Tagespflegemütter, müssen jetzt ein ¾ Jahr Lehrgang machen. Ich sag
8
ganz offen und ehrlich, wenn ich das machen muss, hör ich sofort auf. Das kann/das
9
schaff ich einfach nicht.“
10
I.:
11
M.:
„Einfach zeitlich nicht!“
„Ja, ne? Un/un dann noch eimal in meinem Alter mit Prüfungen und Arbeiten und
12
Tests und so. Nein! Dann/dann hör ich sofort auf. Und da verlieren se ne ganz
13
qualifizierte Kraft!“ ((lacht))
14
I.:
15
M.:
16
I.:
17
M.:
„Klar, is es vielleicht...“
18
I.:
„Gibt es vielleicht irgendwas, was ihnen einfällt, wo sie sagen, das hätte mir/das hat
19
((lacht mit))
„Ja, weil ich ja jetzt schon elf Jahre bin ich Pflegemutter.“
„..Ähm..“
mir gefehlt, oder das hätte mir geholfen?“
20
M.:
„Ich hab lang drüber nachgedacht...“
21
I.:
„Ähm.. vielleicht auch, das hat vielleicht auch den Kindern gefehlt? ..Ähm..“
22
M.:
„Ich hab lange drüber nachgedacht, un das Jugendamt, der Staat tut so viel für die
23
Kinder. Und die Öffentlichkeit weiß das nicht. Die will das nicht wissen. Die sehen da
24
nur einmal im Jahr, en Kind is verhungert, Jugendamt is dran Schuld. Die tun so viel.
25
Auch/auch unser Jugendamt in Ku. die machen ..ähm.. die bieten schon Seminare an.“
26
I.:
„Sie haben auch vom Elternstammtisch gesprochen?“
27
M.:
28
I.:
„Wie entstand der? Privat, oder?“
29
M.:
„Ja, Eigeninitiative, aber auch vom Jugendamt mit gelenkt.“
30
I.:
31
M.:
„Ja, wir haben zum Beispiel... .“
„Mhm.“
„Das muss ich sagen. Aber das Jugendamt hat dann ne Weile mitgemacht, und dann
32
han die aber den Eindruck gehabt, dass die Pflegeeltern nich so aus sich rausgehen,
33
wenn die dabei sind.“
34
I.:
„Mhm.“
162
1
M.:
„Un da ham die sich zurück gezogen. Und der Pflegeelternstammtisch ist dann ..äh..
2
eingeschlafen, ne? Das muss ich auch sagen. Die zwei Organisatorinnen, haben sich
3
dann auch immer mehr/da sind immer weniger dann gekommen. Das is halt en
4
Zeitfaktor, ne? Wissen sie, was man als Pflegemutter auch für ein Aufwand hat ..äh..
5
zum Beispiel jetzt wieder die Riesenprobleme Kindergeld überhaupt zu kriegen. Was
6
sie da für/solche Stapel ausfüllen müssen. Dann wenn se in Therapie gehen soll´n,
7
oder mit der Schule. Sie woll´n/sie sin ja/sie sind ja ständig gefordert, bei den
8
Pflegekindern. Ständig mit irgendwas. Und das geht dann/dieses staatlich Verordnete,
9
also jetzt so diese Lehrgänge zum Beispiel, die kommen sollen, das geht mir, also mir
10
persönlich, ich kann nur für mich sprechen, über die Kraft. Ich kenn noch drei
11
Pflege/wir ham jetzt wieder so was – ich bin jetzt in die Notfallpflege gewechselt, das
12
bedeutet, ich möchte kein Dauerpflege mehr haben, Notfallpflege, das kann auch
13
manchmal bis zwei Jahre dauern – und diese/seit zwei Jahren ungefähr/und diese Frau
14
vom Jugendamt, die Frau B., die macht das. Mir treffen uns drei Mal im Jahr, und das
15
wird durchgezogen, und das find ich/ich geh jedes Mal jetzt hin. Ich will das und das
16
gibt mir viel. Und die Frau bleibt auch immer mit dabei. Die Frau B., also die heißt
17
halt so, ne? Und ..äh.. das hab ich mir jetzt ganz fest vorgenommen, wenn ich keine
18
Lehrgänge mach, un alles so weiter, aber das will ich weiter durchzieh´n. Und da hab
19
ich viele Pflegeeltern kennegelernt noch, und also, zwei Drittel sagen, dass sie diesen
20
Lehrgang auch nicht mitmachen würden. Sie können/das geht einfach über die Kraft
21
dann.“
22
I.:
23
M.:
24
I.:
„...wobei so ein Stammtisch mit Gleichgesinnten, ähm geholfen hat?“
25
M.:
„Ja, ja, des find ich gut!“
26
I.:
„Und...“
27
M.:
„Manchmal aber nicht mehr angenommen wird, weil einfach die Zeit und über die
28
29
„Ja.“
Kraft manchmal geht.“
I.:
30
31
„Mhm. Also Zeit- und Kraftfaktor,... .“
„Und Öffentlichkeitsarbeit, wenn ich sie da richtig verstanden hab, das fehlt eigentlich
noch? Nach außen hin zu gehen, und... .“
M.:
„Ja, mal/mal die guten Seiten von Pflegefamilien zu zeigen. Ich finde,
32
dass in der Öffentlichkeit, das is so durch die Medien so rausgestellt Pflegekinder,
33
oder Pflegefamilien, schrecklich, furchtbar. Verhungern, vernachlässigen. Des is ja es
34
ganze Gegenteil. Heim hat jo sowieso auch ne total negativen Touch, ne? Überhaupt,
163
1
wird in der Öffentlichkeit nicht publik gemacht, was der Staat un´s Jugendamt alles für
2
die Kinder tun.“
3
I.:
4
M.:
„Mhm.“
„Ich muss ihnen ehrlich sagen, für mein eignes Kind, konnte ich nicht so viel machen,
5
wie für ich die Kinder machen kann. Zum Beispiel bekommen se 200 Euro – damals
6
400 DM – jedenfalls jetzt 200 Euro für ne Jugendfreizeit, ne? Und das nutz ich
7
regelmäßig ((lacht)) jedes Jahr für die Kinder aus. Dann 300 Euro, wenn mer
8
zusammen wegfahr´n – das find ich bissl wenig, ich bezahl, wenn wir in Urlaub
9
fliegen, zum Beispiel nach Lu. für die Kinder und für mich natürlich 1200 Euro –
10
kostet mit eine/für eine Person, Flug und Halbpension – und davon kriegen sie 300
11
Euro. Das is/also das andre müssen se von ihrem Geld nehmen. Also das muss ja auch
12
von Pflegeeltern sehr enthusiastisch sein. Aber trotzdem zahlen die das Geld. Die
13
machen Angebote für die Kinder, also das konnt ich meiner eignen Tochter nicht alles
14
bieten.“
15
I.:
„Was für Angebote?“
16
M.:
„Na, zum Beispiel ..ähm.. ..((4)).. jetzt hab ich mich versprochen. Also das is mir/das
17
is mir doch/also zum Beispiel so Jugendfreizeitheft, ne?“
18
I.:
19
M.:
„Mhm.“
„Von de Kirche, vom Staat. Was die da/zum Beispiel nach Kö. zum Kirchentag fahr´n,
20
ne? Oder bei der C., zum Beispiel, da wo die C. in der Psychiatrischen Klinik war, da
21
hat ..ähm.. die Oma gesacht, wenn du/die C. rauskommt, wenn Ferien sind, nimmt se
22
die und fährt mit der weg. Einfach mal ohne mich, damit se ma rauskommt, noch e
23
mal, und Abstand gewinnt. Und dann hat die Oma ihr Wort nich gehalten. Und
24
dann/und ich ..äh.. wollte vom/das hat es Jugendamt gut gefunden, dass ich für mich
25
alleine wegfahr, weil ich brauchte auch mal Abstand, um Kraft zu tanken, um alles zu
26
verarbeiten. Und da sagt das Jugendamt auf einmal: „Frau M. suchen sie irgendwas
27
raus, wir bezahlen das!“, also is ne einmalige Sache.“
28
I.:
29
M.:
„Mhm.“
„Un da han die 800 D/DM war das damals, für ein Reiterhof, was der C. und mir
30
unheuer/ungeheuer viel gebracht hat. Seitdem, hab ich die dann regelmäßig in en
31
Reiterhof, die war dann Pferdenärrin geworden. Die weiteren Male musste ich dann
32
von mir selber bezahlen, aber es war egal. Aber diese eine Mal – Batzen – haben mir
33
auch sehr geholfen. Die sind/Jugendämter die sind immer Ansprechpartner, wenn man
34
ein Problem hat, man darf sich nicht scheuen hin zu gehen. Die helfen einem immer.
164
1
Grad jetzt. C., das und das ist passiert. Ich hab gedacht, die machen mir die bittersten
2
Vorwürfe, nein, die ham geholfen, wo es nur ging. Oder wenn/auch wenn ich mal –
3
was wäß ich – wenn es um ne Bezahlung von ner Spritze geht, ich 3/400 Euro auf
4
einmal selber tragen soll, die helfen mir! Oder auch nicht nur finanziell. Auch so mit
5
Rat und Tat.“
6
I.:
7
M.:
„Mhm.“
„Also ich/ich lass nichts auf/manchmal Pi. – bin ich nicht mehr ganz so gut zu
8
sprechen, außer Herr B. und Frau K., weil die mit em Geld wirklich/die dachten
9
manchmal, sie müssten das von ihrem geben, so ham die gefeilscht um jeden Cent. Pi.
10
– sachen se das nicht weiter!“
11
I.:
12
M.:
„Liegt nicht unbedingt an den Mitarbeitern.“
„Ja, eben. Das hab ich dann auch gemerkt. Ich bin ( ). Da hab ich ne Eingabe gemacht,
13
und da bin ich vor den Kadi geladen – also das war auch ne ganz schlimme Erfahrung
14
– ich komm dort rein, da waren acht Leute drinne, keiner hat sich vorgestellt, ich
15
wusste nicht mit wem ich´s zu tun hatte, und sollte da plötzlich sagen, was ich da für
16
die C. erkämpfen will, ne? Und da hab ich nach zwei Minuten gemerkt/da hab ich erst
17
mal gefragt: „Ach sie sind die Jugendamtsleitung?“, hab ich gefragt. Ich hab nach zwei
18
Minuten gemerkt, dass ich hier verlier, un bin frech geworden. „Ach so, sie sind die
19
Jugendamtsleitung? Jetzt merk ich das erst.“, ich bin dann ganz frech geworden. Aber
20
ich hatte verloren nach zwei Minuten, wusst ich das. Ja, gut.
21
Aber hier Ku., und ich hab jetzt auch mit Ho., die J. is jetzt halt Ho. Und also ich lass
22
eigentlich nichts auf Jugendamt kommen. Und bei andren: „Ach Jugendamt,
23
Jugendamt, mir wollen nichts mit denen zu tun haben.“. Die helfen, wo sie können!
24
Selbst die Eltern betreuen die noch mit, teilweise.“
25
I.:
26
M.:
27
28
„Hm.“
„Die/die aus der Herkunftsfamilie.So, jetzt sind wir wieder vom Thema abgekommen,
ne? Also, sie haben gefragt, ..ähm.. was ma noch machen könnte, ja?“
I.:
„Was ihnen und ihren Pflegekindern fehlt, bzw. was geholfen hat. ... Und was ich halt
29
..ähm.. zum ersten Mal gehört hab, alleinstehend, geschieden, eigenes Kind eigentlich
30
beim Vater, trotzdem Pflegemutter?“
31
M:
„Mhm. Woher wissen sie das mit dem Vater?“
32
I.:
„Vom Interview.“
33
M.:
„Von de C.? Das hat se preisgegeben, das hät ich nicht gedacht.“ ((lacht))“
165
1
I.:
2
3
((lacht mit)) „Hat mich gewundert. Weil, also erstens von ihnen aus, und dann auch
vom Jugendamt aus.“
M.:
„Also, das hat sich folgendermaßen verhalten: ..Ähm.. Ich hatte ne ganz schwere Ehe,
4
ne ganz, ganz schlimme Ehe. Und mein Mann, der is so halber Psychologe, also der
5
hat Psychologie mit studiert, und da können sich ja vorstellen, dass die Frau null
6
Chancen hatte, ne? Und ..äh.. deswegen is das Kind ..ähm.., wie soll ich denn sagen, ...
7
er hat halt diese geistige Raffinesse besessen, das Kind auf seine Seite zu ziehen. Und
8
das ist jetzt unwichtig. Jedenfalls/jedenfalls war das so, das ich allein war, und ich
9
konnte nicht allein sein. Und ich hab mein Kind so vermisst und so gekämpft, aber er
10
is natürlich stärker. Und ..ähm.. dann hab ich gedacht: Ich will en Kind adoptieren, ne?
11
Kucken se mal, ich hab ein riesengroße Wohnung, ne? Ich hab so viel Liebe in meinen
12
Herzen gehabt. Mein Kind hat mir so gefehlt. Und, natürlich durft ich das em
13
Jugendamt nicht sagen, dass das Ersatz für mein Kind sein soll, aber so war des auch
14
nicht. Es war mir egal. Ich will die Liebe loswerden. Und da bin ich zum Jugendamt
15
gegangen, und wollt en Kind adoptieren, und da haben die glei gesacht:
16
„Alleinstehend? Niente! Da werden sie kein Kind/kein Adoptionskind kriegen.“, und
17
irgendeiner – ich hab nicht locker gelassen, ich kann sehr hartnäckig sein – irgendeiner
18
hat dann ma gesacht: „Na wie wär´s denn mit Pflegekindern?“. Und ich wusste gar
19
nicht, was das is, ich wusste gar nicht, dass das gibt. Dann ham die mir Broschüren
20
gegeben. Fragebogen. Da hab ich gelesen, Bücher über Bücher, und ..äh.. konnt mich
21
nicht dazu entscheiden, weil die gesagt haben, was das für schlimme/zum Beispiel
22
wenn die sexuell geschädigte Kinder kommen, ob ich damit klar/das vergess ich nie
23
die Frage, ob ich damit klar kommen würde, wenn ich Besuch krieg männlichen, dass
24
das Kind sich an denen reibt, dass das Kind sich an die anhängt, und so weiter, ob ich
25
damit klar kommen würde.“
26
I.:
27
M.:
„Mhm, mhm.“
„Da haben sie einen schon vorbereitet, also in den Büchern. Man muss als
28
Pflegemutter, oder –vater, Bücher lesen! Und da hab ich dann ein Jahr überlegt, und da
29
hab ich gesagt, doch ich will das, ich will das, ich will meine Liebe, die muss aus mir
30
raus.“
31
I.:
32
M.:
„Mhm.“
„Und dann hab ich die ganzen Formulare ausgefüllt, und es kam nichts. Die haben
33
mich nicht genommen. Und dann hab ich gemerkt, von andern Pflegeeltern. Ja, da
34
muss man eine Familie sein, also ein Ehepaar, möglichst mit eignem Haus, der Vater
166
1
horente Summe verdien, die Mutter zuhause sein. Das is die Idealvorstellung vom
2
Jugendamt für eine Pflegefamilie, dem hab ich nicht entsprochen. Da hab ich einen
3
Urlaub gemacht, in/bei meinen Eltern in Sa., dort stand ne riesen Anzeige“Pflegeeltern
4
gesucht“, un dann bin ich dorthingegangen, wollten die mir sofort ein schwarzes/einen
5
schwarzen, 7jährigen Jungen mitgeben. Und da bin ich dann/da hab ich gedacht: „Um
6
Gottes Willen!“, das sah süss aus – kannst ja nicht nur nach em Äußeren – gesacht:
7
„Was machst du jetzt?“, dann hab ich/in das Kuhdorf Ku. willst du ein schwarzes Kind
8
mitschleppen, da is weit und breit kein schwarzes Kind zu sehen, da hab ich
9
Pflegemutter, ne andre angerufen, die hat gesacht, sie kennt eine Familie, die auch ein
10
schwarzes hat auf´m Dorf, das is mit 14 Jahren abgehauen und lebt seitdem in
11
Frankfurt auf´m Bahnhof. Und da hat´s mir es Herz zerissen, aber ich hab nein
12
gesacht. In dem Moment, wo ich dort war, war hier Pflege ..äh.. es Jugendamt, und
13
wollte mir ein Kind bringen. Und ich war nicht da und die waren sauer!“
14
I.:
15
M.:
16
I.:
17
M.:
„Ach!“
„Aber wie das en Jahr/ein Jahr tut sich nichts.“
„Klar!“
„Und dann auf einmal ging´s Schlag auf Schlag. Dann kam die T., die sollte eben, das
18
is mein Vorteil gewesen, sexuell auch missbraucht, ich weiß nicht/ich glaub nicht, dass
19
sie´s ihnen offenbaren kann, ich weiß es nich, un die sollte in eine/möglichst eine
20
Familie/also ohne Vater, ohne Mann im Haus!“
21
I.:
22
M.:
„Mhm, mhm.“
„Das war/das hat sich dann zu meinem Vorteil entwickelt. Das kein Mann im Haus
23
war. Ich krieg auch – nicht nur, aber – viele Mädchen, die eben sexuelle
24
Missbraucherfahrung haben, da soll möglichst kein Vater da sein. Das hat sich zu
25
meinem großen Vorteil entwickelt. Am Anfang: Alleinstehend, ne?“
26
I.:
27
M.:
„Die T. war´s erschte Pflegekind.“
28
I.:
„Dann hat ma wahrscheinlich sowieso auf sie zurückgegriff, weil ma dann gemerkt hat
29
„Also war sie de erschte Fall?“
– des klappt!“
30
M.:
„...dass das läuft, ja“
31
I.:
„Mhm.“
32
M.:
„Und weil bei de C. eben auch sexueller Missbrauch war, und die C. hat/sollte aus Pi.
33
weg, mit all dem dort nichts mehr zu tun haben, und ich hab wahrscheinlich en guten
34
Leumund, also wie sacht me?“
167
1
I.:
2
M.:
„Mhm.“
„Also jemand, der halt gut über mich gesprochen hat, und da haben die mich dann
3
ausgesucht. Und so ging das die ganze Zeit. Dann is noch ein Vorteil von mir, dass ich
4
halt arbeiten gehe, dass ich den Kindern vorlebe: „Arbeite für dein Lebensunterhalt!“,
5
und so is das nach und nach gekommen.“
6
I.:
„Jetzt grad noch persönliche Frage auf sie. Verhältnis zu ihrem richtigen Kind?“
7
M.:
„Hervorragend im Moment. Wir haben, als dann das Kind, aus den Fängen meines
8
Mannes kam, sprich ... .“
9
I.:
10
M.:
„Achtzehn?“
„...studiert hat in Ma., und dort sich ne Wohnung genommen hat, un nich mehr so oft
11
heimgefahr´n is, ihren Lebensmittelpunkt in Ma. Gefunden hat, sim mer von Tag zu
12
Tag, von Woche zu Woche näher gekommen. Da is se ((zeigt auf ein Bild)).“
13
I.:
„Hm, ich seh schon.“
14
M.:
„Ne, und ..äh.. wir haben jetzt die letzten zwei Jahre vom Studium gemeinsam, sie is
15
halt 26, ..äh.. vom Studium die letzten ..äh/äh.. mit durchleben und durchlitten, sie
16
weiß alles, sie kennt fast alle meine Pflegekinder ..ähm.. Fragt viel, besonders T.,T. is
17
ihr Lieblings-/ihre Lieblings-/wie sacht me denn? Pflegeschwester? Ja, ne? Ja. Und
18
weil sie das Alter/selbe Alter haben. Und ..äh.. so. Ja, sie fragt auch immer und ..äh..
19
und unser Verhältnis is jetzt wirklich sehr gut. Nächste Woche fahr ich hin zu ihr
20
wieder. Nach Ma. Da woll´n wir die Doktor ..äh.. –titel feiern, die se bekommen hat,
21
allerdings merk ich, dass se mich immer noch .. vor ihrem Vater verheimlicht. Also,
22
dass se mit mir so engen Kontakt hat.“
23
I.:
24
M.:
„Hm.“
„Das is mir scheißegal, soll se das machen, es ist traurig, von einem studierten
25
Menschen, ..äh.. so ne Reaktion/so ne/so was zu fordern. Dass das Kind mit de Mutter,
26
oder/er versucht halt die Mutter aus em Kind aus em Herzen zu reissen. Und was
27
unmenschlicheres kann ich mir nicht vorstellen. Und deswegen – also des is ein
28
studierter, hochintelligenter Mensch – ich kann keine Achtung mehr empfinden. Und
29
des is nicht gelungen. Und ich akzeptier, dass se/mach ich einfach mit/dass die E. mich
30
vor ihm verheimlicht. Des is mir scheißegal. Ne? Und sie kennt alle meine
31
Pflegekinder. Also des is/sie hat sich seit sie nicht mehr dort is, sehr sehr gut
32
entwickelt. Und ich bin wahnsinnig dankbar und glücklich dadrüber. Sie hat mir sehr,
33
sehr, sehr gefehlt. Und die Kinder, darf man nicht sagen, aber die haben mir dadrüber
168
1
hinweg geholfen. Es war kein Ersatz, sollte nie Ersatz sein. Aber ich wollte meine
2
Liebe loswerden, und die bin ich losgeworden an alle Kinder.“
3
I.:
„Mhm. Und so von ihrer leiblichen Tochter Konkurrenz?“
4
M.:
„Überhaupt nich.“
5
I.:
„Also die hat nie gesagt, so: „Was hast denn die jetzt? Hast die jetzt lieber wie mich?“,
6
7
oder irgendwie?“
M.:
„Niemals! Niemals! Im Gegenteil. Ich hatte am Anfang den Eindruck, dass se, als se
8
weggegangen war, über Nacht, also ne, eigentlich wo ich auf Arbeit war. Hat sie ein
9
ganz, ganz – im Nachhinein – ganz, ganz schlechtes Gewissen gehabt, mir gegenüber,
10
mich einfach so fallen zu lassen, ne? Und als se dann – wir die ersten Kontakte hatten
11
– und sie hat das dann gehört, da hab ich den Eindruck gehabt, sie war froh, dass ich
12
nicht allein war, dass ich ein andres Kind genommen hab. Also, dass/dass ich nicht
13
alleine war, ohne Kind. Dass en andres Kind die Rolle übernommen hat. Da brauchte
14
sie nicht mehr so en schlechtes Gewissen zu haben.“
15
I.:
„Und wie lang war da kein Kontakt?“
16
M.:
„Na zwei Jahre bestimmt. Zwei Jahre war´n das schon, ne? Ja, das war auch/das war
17
schlimm, aber wie gesacht... Un ich hab immer/ich saß hier und hab gedacht: „Mensch
18
du kannst so viel geben, du kannst so viel geben. „Bitte lieber Gott, lass mich das
19
irgendjemand geben.“, und es hat da alles funktioniert.“
20
I.:
„Okay, jetzt muss ich grad kucken.“
21
M.:
„Ja?“ ((lacht))
22
23
((TONBAND kurz hängen geblieben))
M.:
„Ja. Also wenn man Skripts vom Jugendamt bekommen würde, das fänd ich einsame
24
Spitze und hervorragend, weil man sich da in Ruhe für sich selber damit auseinander
25
setzen kann, ne? Ma hat da nicht hundert Lehrer um sich rum, oder so. Ma kann
26
einfach das auf sich wirken lassen. Und dann hat man ja auch Kontakt zu anderen
27
Pflegeeltern, mit denen man da/darüber reden kann.“
28
I.:
„Ja, dann vielen Dank!“
169
7.1.5. Narratives Interview mit Pflegekind „SILKE“(27)
Abkürzungen
I.:
S.:
G.:
K.:
J.:
T.:
H.:
Ku.:
Tr.:
La.:
Sp.:
A.:
Sch.:
1
I.:
Bedeutung
Interviewerin
Informantin „Silke“
Pflegemutter 1
Pflegevater 1
Pflegemutter 2
Pflegekind der Pflegeeltern 1
Pflegekind der Pflegemutter 2
Wohnort der Pflegemutter 2
Stadt
Stadt
Stadt
Einkaufsmarkt
Einkaufsmarkt
„Die Informantin wurde aufgeklärt über Sinn und Zweck des Interviews, ja.
2
Und dann bitt ich dich jetzt einfach, mir deine Lebensgeschichte zu erzählen, und wie
3
eins zum andern kam.“
4
S.:
„Okay, ..ähm.. in Pflege geb wurd ich, weil ..äh.. mei Eltre gehörlos sin, un ..äh..
5
zudem mei Vadder a noch Alkoholiker war, des ware dann zwe Extreme, die/die dann
6
äfach nimmi gepasst han. Un ..äh.. des war mei Lehrerin, ((räuspert sich)) mei
7
Klasselehrerin, die dann gewisse Sache bemerkt hat, un was unnernum hat, un so bin
8
ich dann zu re Pflegefamilie komm. Aber Auslöser war ewe diese Klasselehrerin,
9
ansonste hätt ich wahrscheinlich früher das net ingesieh bei meine Eltre wegzugehe“
10
I.:
„Mhm.“
11
S.:
((lacht))
12
I.:
„Okay!“
13
S.:
„Jo, dann ..äh.. hab ich bei meiner Klasselehrerin circa drei Woche gelebt, bis dann e
14
Pflegefamilie für mich gefunden wurd, un – ja – bin dann dort hin. Das war e
15
verheiratetes Paar, konnte kä Kinner krie´n, wollte eigentlich ..ähm.. e Kleinkind oder
16
e Säugling adoptiere, hat nie funktioniert, un dann han se halt e Elfjähriges in Pflege
17
genumm.“
18
I.:
19
S.:
„Mhm.“
„Jo, hat alles/alles geklappt. De/de/de erschte/de erschte Tach, der war uffrechend. Ich
20
hat Angst gehat, ich han mich gefreut, ich ... han Pläne gemacht für die Zukunft un...
21
Hm, jo? Hat sich alles so ingespielt dann von Tach zu Tach, von Woch zu Woch. Des
22
kann ma jetzt so schlecht sa´n.“
170
1
I.:
„Was für Pläne?“
2
S.:
„Pläne, was? Aja, jetzt wird alles anerschter, un dann paschte jetzt a in de Schul e
3
bissje uff, un schreibsch gude Note, un dann were die dich bestimmt lowe, un so wie´s
4
bei annere Kinner a´ch is.“ ((lacht))
5
I.:
6
S.:
„Mhm. Okay.“
„So/so in der Form. ..Ähm.. jo ... ..äh.. ich hab eigentlich alles/alles krie´t, was ich
7
gewollt hawe, ich war schon von/von Kind uff e unheimlichi Pferdenärrin, das han mei
8
Pflegeeltre gemerkt, un han mer dann – also wie gesagt mit elf bin ich zu ne komm –
9
un mit dreizehn oder vierzehn ermöglicht, e eigenes Pferd zu han. Das war dann
10
natärlich, des/des war mei Welt. Ich war glab ich a mi im Stall, wie dehäm, ich - jo! Es
11
hat alles super bombich geklappt,... .“
12
I.:
13
S.:
„Hatten die schon das Pferd, oder is es für dich dann angeschafft... .“
„Nee, jo! Hat alles super bombisch geklappt. Ich war glücklich. Aber irgendwann hieß
14
es: Es kommt noch e Pflegekind. Un des, jo. Woh – noch äns ! Wo meine Platz jetzt
15
wahrscheinlich noch mit mir däle will. Des/des war ganz furchtbar! Der Tach kam, des
16
Pflegekind kam. Es war e blondes Mädche – wart emol, wie alt war ich dann do, do
17
war ich, ja ich män vierzehn, fuchzehn – war e blondes Mädche, schlank – was ich nie
18
war. Hübsch, wo ich der Meinung war, dass ich das a nie war; nie sin were.“ ((lacht))
19
I.:
20
S.:
„Och!“
„Un gut! Dann/dann war sie halt do. Un uff ämol, ging es nimmi nur um mich, do
21
ging´s am Afang hauptsächlich nur um sie, weil sie nei war. Sie hat a ihr Probleme
22
gehat. Un ich war dann halt auße vor. Un, das – ich wäß net – dann war alles
23
irgendwie in mir zerbroch. Des/des war furcht/furchtbar. Ich hab dann zu meine
24
((räuspert sich)) Pflecheeltre/ich hab, so ich sa´n mol, de innerliche Kontakt han ich
25
abgebroch.“
26
I.:
27
S.:
„Hm.“
„Es nädichschte han ich gemacht, „Gu Moie!“, „Hallo!“ un „Ja, dort mit hin fahr ich
28
a.“, aber dass ich jetzt gesa´t han, ..ähm.., dass ich jetzt gesa´t han „Un, wie sieht´s
29
aus, spiele mir heut Owend e mol Romme´?“, oder „Känn mer mol in de Zoo fahre?“,
30
des war/war äfach nimmi, war mir alles egal!“
31
I.:
32
S.:
33
I.:
„Mhm.“
„..Ähm...“
„Sie war jünger wie du?“
171
1
S.:
„E halb Johr älter wie ich, oder e Johr? E Johr, wie ich. Die war älter. Mhm.
2
Irgendwann hat sich des so/so arg gewand ... weil ..äh.. uff ämol hab ich mich super
3
mit ihr verstan. Super mit ihr angefreundet. Mir ware ä Kopp, ä Arsch.“
4
I.:
„Mhm. Gab´s do e Auslöser? Irgend e Erlebnis, dass sich das geännert hat?“
5
S.:
„Nee! Es gab gar nix! Ich/ich gla´b eher, dass ich früher das unbewuscht so gemacht
6
han, dass ich gedenkt han, jetzt musch dich super mit ihr anfreunde, dass sie, deine
7
Feind, als Verbündete kriesch, um dann die Eltre auszutrickse un in die/die Eck zu
8
schiebe.“
9
I.:
„Mhm.“
10
S.:
„Kann ma das versteh´n, wie ich das... .“ ((lacht))
11
I.:
„Mhm. Verbünde gegen die Pflegeeltre?“
12
S.:
„Ja! Ja, genau!“
13
I.:
14
S.:
((lacht))
„Ja, un dann kam die Pubertät, un, dann hot ich mei Verbündete gehat, un es war ä
15
Chaos! Mir han uns genanner ausgespielt, ich hab gemacht, was ich gewollt han - bin
16
nachts abgehau – ware eh net mei Eltre! ((lacht)) Jo? Hm. Hm!“
17
I.:
„Das heißt Du hasch sie als Eltre nie angesieh?“
18
S.:
„So richtich net! Das war/war von Afang a, wie ich in die Pflechefamilie komm bin,
19
war´s mei Traum gewest, das sin jetzt die Eltre un es wird alles so wie bei annere
20
a´ch.“
21
I.:
„Mhm.“
22
S.:
„Aber das is nie richtig ingetret. A das Gefühl do devor net.“
23
I.:
„Mhm.“
24
S.:
„Jo, gut? Uff jede Fall ham mer immer mi Streit krie´t, un des war äfach unerträglich
25
für beide Seite. Des/des/des han ich gemerkt un des han die a gemerkt, des... Uff jede
26
Fall bin ich dann irgendwann uff´s Jugendamt gang, han gesa´t „Ich will nimmi, han
27
kä Luscht! Bin jetzt 16! Do gebt´s doch irgendwas, Betreutes Wohne, irgendwas muss
28
es doch gebe?“. Ja! Un ... dann kam/kam de Sozialarbeiter vom Jugendamt, un der hat
29
mich dann äfach mitgenomm, mit em Köfferche, mit e paar notdürftige Sache drin. Un
30
hat gesa´t, dass kä Wohnung frei is oder kä Platz in rer Wohnung. Jedefall musst ich
31
vorübergehend in e anneri Pflechefamilie. Und so kam ich dann zu de J.! Jo!“
32
I.:
„Mhm.“
33
S.:
„Hm. ... Irgendwann, ..äh.. Kontakt zu Herkunftsfamilie, also in der Zeit, wo ich in
34
meiner erschte Pflegefamilie war, han ich in dene ganze Johre vielleicht nur zwämol
172
1
mei leibliche Eltre gesiehn. Un des a nur, we Todesfall von jemandem, weil ich uff de
2
Beerdichung war.“
3
I.:
4
S.:
„Mhm. – Ging des von dir net aus, oder von ihnen?“
„Von mir net! Ich wollt absolut do nix zu due han. Sie han nimmi zu meiner Welt dezu
5
gehärt, in der ich dann jetzt gelebt han, un wollt a dodefun a nix mi here un nix mi
6
wisse.“
7
I.:
„Mhm.“
8
S.:
„Geännert hot sich das, erscht gut ab dere Zeit, wo ich dann bei de J. war. Do hot sich
9
das geännert! Do ware zwar/do war ich zwar net wöchentlich bei meine Eltre, aber so
10
zwämol im halbe Johr, bin ich dann doch schun mol hingefahr. Jo!“
11
I.:
„Mhm.“
12
S.:
„Gut! Jo, de erschte Tach bei de J. , sie war mer unwichtig - egal. Ich wollt jo e
13
Wohnung, un wollt net bei dere Fra lebe, des... Jo, sie war nett. Mir is uffgefall, dass
14
se unheimlich hübsch war. Glei am erschte Tach, hat se mir erzählt, dass se e eigeni
15
Tochter hat, die in meinem Alter is, aber seit ewe auch elf, zwölf gar nimmi bei ihr
16
lebt. Han ich mir gedenkt: „Ajo, wersch e Drache sin, wahrscheinlich.“. Un, ich bin jo
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eh net lang do.“
18
I.:
19
S.:
((lacht))
((lacht)) „Aber ich muss sa´n, schon so ab em zwäte Tach, hat äfach/hat alles
20
gestimmt. Gleiche Fernsehsendunge gern geguckt, moiens beim Frühstück käner gern
21
was gesa – wunderbar, ((lacht)) un ..äh.. wenn´s häß war, in de prall Sonn gele un
22
geschwitzt un net gejammert do debei, sonnern das gern gemacht. Leidenschaftlich
23
gern ins Schwimmbad gang, un alles was halt so .. dann passt´s!“
24
I.:
25
S.:
„Mhm!“
„Un es war a uff ämol, bei ihr, es war so e Struktur do. Freitags wird gebutzt! Montags
26
wird gebüchelt! Das hat ich vorher alles gar net gekannt. In meiner erschte
27
Pflechefamilie, war do alles/do war alles Chaos! Do is ämo fünf Woche lang net
28
geputzt wor, un uff ämol is die G., die Pflechemudder, in Träne ausgebroch über des
29
Chaos, was se hat. Un dann Familiekonferenz, un jeder inberuf, un hat müsse jeder
30
zuerscht ämol drei Stund do dranklotze un mithelfe, un mache. Oh.“
31
I.:
32
33
34
((lacht)) „Un von deiner Herkunftsfamilie kennsche das Putze un die Rechle
wahrscheinlich a net?“
S.:
„Nee! Do han ich jo noch net ämol her gekennt, wie ma sich wäscht! Also die G., do
bei de erscht Pflechefamilie, die muscht mir des bitter bös beibringe, ich han des gar
173
1
net ingesieh. Mindeschtens alle zwä Tach dusche! Nee! Bei uns is alle 14 Tach
2
samschtags gebad wor. Mit em gleiche Badewasser, wo/wo vorher drin war. Zuerst
3
mei Vadder bade gang, dann mei Mudder un dann zum Schluß ich. Ham mer derfe
4
bissche warmes Wasser no lafe losse, jo! Aber... .“
5
I.:
6
S.:
„So richtig alte Strukture noch!“
((lacht)) „Jo! Gut, bei de J.! ..Ähm.. irgendwann hieß es, es is was gefun wor, un ich
7
han mich tierisch gefreut. E Art WG, un. Jo, es musst nochmol abgeklärt were, ab
8
wann, wie un wo. Un, jo! Owends an dem Tach, mir han gla´b ich Fernseh geguckt,
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die J. un ich, ich wäß es net, uff jede Fall hab ich zu re gesa´t: „Mir gefällt´s hier bei
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dir sehr gut! Eigentlich würd ich gern bleiwe!“, un da hat sie gesa´t: „Ei, dann bleib
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doch! Nadürlich, do – bleib!“, un, jo!. Un dann war diese eigne Wohnung un die/die
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zuvor gedenkte Freihät, die do des mit sich bringt, war uff ämol doch nimmi so
13
wichtig. Han´s also werklich in Kauf genomm, um dann – wie lang durft ich raus bei
14
de J. , ich glaub bis um neun, halb zehn muscht ich dehäm sin. Vorher in de erscht
15
Pflechefamilie, bei de G., mit 16, also siewe Uhr also han ich misse dehäm sin, wie
16
grauehaft, schlimm, schrecklich. Un ich gla´b neun/neun han ich müsse dehäm sin. Ich
17
ham mir zwar vorgestellt, wann de in re WG lebsch, dann kannsche drauß bleibe, bis
18
moiens um fünf, ore wie a immer. Am Wocheend. Aber gut, wie gesa´t, do druff han
19
ich dann verzicht.“
20
I.:
21
S.:
„Mhm!“
„Jo? Un dann - hm! Uff ämol is a in de Schul uffwärts gang, ich hab ..äh.. die Mittlere
22
Reife uff de Berufsfachschul für Hauswirtschaft gemach. Un wie ich zur J. kumm bin,
23
ich gla´b ich han überall uff fünf gestan, oder so, ..ähm.. es hat e Stück Arwet vun ihr
24
koscht, aber sie hat mich werklich so weit gebrung, dass ich de Ehrgeiz hot,
25
einichermaße gut abzuschließe. Un da han ich mei Mittlere Reife gla´b a mit 2,1 ore so
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abgeschloss, wo eichentlich vorher für mich undenkbar gewäst wär. Do wär´s/do wär´s
27
schun viel geäst, wenn e 3 wenichschtens vorm Komma gesatn hät.“ ((lacht))
28
I.:
29
S.:
„Ja, is e Leischtung! Wie hat se des gemacht?“
„Wie hat se das gemacht? Die J., die hat bei/bei allem immer viel gered! Geredet,
30
geredet, geredet! Geredet, selbscht wenn/wenn du gar nimmi wollscht, hat die noch
31
geredet. Die/es is so lang über irgendwas gered wor, bis e Lösung do war. Un wenn
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das fünf Tach lang gang is. Un die hat immer druff hin/hingeschafft, dass die Lösung
33
positiv is. Un sobal wie/wie du alles negativ abgedun hasch, oder/oder e negativer
34
Weg ingeschla hasch un dann is es halt wieder vun vorne losgang.“
174
1
I.:
2
S.:
„Mhm! Okay.“
..((6)).. „Hm, jo, dann noher. ... Also ich muss sa´n es änzigschte, was mir gefehlt hat,
3
war mei Perd dort! Also mei Pferd han ich jo, bei de erscht Pflechefamilie, han ich do
4
müsse uffgebe. Ich hab´s in die Zeitung ningesetzt, un hab´s verka´f. Un des is mir
5
unheimlich schwer gefall, aber der Wille für dort weg, der war irgendwie greßer. Ja un
6
bei de J., dann es änzigschte was ich vermisst han am Afang, war äfach mei Pferd. Des
7
war/des war mei Kumpel, des war mei Freind, des war mei Seelsorger, des war
8
mei/mei/mei Partygefährt, des/des war äfach alles!“
9
I.:
10
S.:
„Mhm. Mhm.“
„Es... Ah, awer des war nur die Anfangszeit. Irgendwann war de Freind dann doch so
11
wichtich wor, dass mer ans Pferd nimmi gedenkt hat. .. Hm. Jo? Dann wollt ich
12
Erzieherin were, hab e Johr Anner/Annerkennungsjohr/net Annerkennungsjohr,
13
Vorpraktikum bei de Lebenshilfe in Ku. gemacht, in diesem Johr mich beworb, un do
14
hat ich e Zusach gehot von Tr., La. un Sp.! Un Tr – wäß net – Tr. bedeut für mich nix,
15
La. war mir zu nah, also han ich dann Sp. genumm.“
16
I.:
17
S.:
18
„Mhm.“
„Un es hat dann ach, von Seite vom Jugendamt so gut geklappt, dass ich ..ähm.. dass
mer die Möglichke´t dann dort bestan hat, e eichni Wohnung dann dort zu nehme.“
19
I.:
20
S.:
„Mhm.“
„So kam das dann alles. Un dann war ich drei Johr in Sp., in dere Zeit hot ich noch e
21
schwerer Autounfall gehat, wo ich die Wirbelsäul gebroch hot, lang im Krankehaus
22
gele, zich Operatione gehat - wo ich sa´n muss, wo die J. kä Sekund vun mir gewich
23
is, in dere Zeit wo se hat müsse schaffe gehen.“
24
I.:
25
S.:
„Mhm.“
„Des war toll - jetzt muss ich heile - gut, nee! Aber weiter ..ähm.. jo, des/des war, do
26
han ich noch e Johr müsse länger mache bei de Ausbildung. Grad we diesem Unfall,
27
weil ich viel zuviel versäumt hot.“
28
I.:
„Do bisch bestimmt lang ausgefall?“
29
S.:
„Ich glaub e halb Johr, wo sich die Krankehausgeschicht do hinausgezo hat. Un
30
die/war jo Monate lang wo allä es Sitze hat müsse gestaffelt were. Am Afang han ich
31
derfe am Tach nur e halb Stund sitze. Damit sich do alles wieder… .“
32
I.:
„Mhm.“
33
S.:
„Jo des, hm, ... .“
175
1
I.:
2
„Ajo, des häßt, du warsch dann eigentlich schon in Sp., also weg von ihr un trotzdem
is sie dann ins Krankehaus komm – immer weiter?“
3
S.:
„Ja, ja! Ja,ja!“
4
I.:
„Mhm.“
5
S.:
„Hm. Un ..äh.. ei noch diesem Unfall, wo alles wieder in Ordnung war, is alles wieder
6
seine Gang gang. Ich war in Sp. die Woch über. Bin freitags hämkomm, montags
7
moiens weggefahr. ... Dann hat do mei Freund gewechselt gehat. Der äne wollt mich
8
nimmi, der annere hätt mich ger´e gehat. Un dann bin ich bei dene gang.“ ((lacht))
9
I.:
10
S.:
((lacht mit))
„Un ..äh.. jo un dann han ich bestimmt e halb Johr, Johr die Wocheende bei meim
11
Freund verbrung un bin nur manchmol noch zu de J.! Wobei mir aber die Woch über,
12
wo ich in Sp. war, mindeschtens drei-, viermol delefoniert han, un am Wocheend a.“
13
I.:
„Un das is eigentlich bis heut so der Kontakt?“
14
S.:
„Ah, ich muss sa´n, der Kontakt so/so innig un häufig wie frier, is er heut nimmi. Es is
15
((räuspert sich)) also alle 14 Tach telefonier mir. Nimmi viermol die Woch. Gut! Des
16
is, weil es hat sich alles geänert. Ma hat uff ämol e Haus, ma is verheirat, es is/es sin
17
Kinner do – zwar net vun mir, von meim Mann, die/die wo als ämol komme, un
18
die/mei Mudder, bei der ich jo jetzt bin, die is pflegebedürftig, die muss gepflecht
19
were. Die Oma, die is nimmi uff de Höh, do. Das/es is nimmi so, wie frieher, wo ma
20
kä Probleme hot. Un/un jo!“
21
I.:
22
„Mhm. Also des häßt, du bisch jetzt/das is die richtigi Mudder jetzt, die wo du
pflegsch?“
23
S.:
„Ja, ja! Mhm.“
24
I.:
„Also des machsche jetzt schon? Vorhin hasche jo gesa´t, der Kontakt, das wolltsche
25
dann irgendwo nimmi.“
26
S.:
„Nee! Mei Vadder war jo noch do.“
27
I.:
„Also war dei Vadder eigentlich de Hauptgrund?“
28
S.:
„Ja! Ja, ja. Ich han ne gehasst! Was häßt gehasst? Ich han Angscht vorm gehat. De
29
Vadder is letscht Johr im Januar gestorb un ich bin do ingezo. Dann ham mir agefang
30
umzubaue un mich um mei Mudder zu kümmre.“
31
I.:
„Hm. Des is dann a dei... .“
32
S.:
„Elternhaus.“
33
I.:
„Elternhaus. Okay.“
176
1
S.:
„Mhm. ..Ähm.. jo so von de Lauf-/Pflegelaufbahn, bin ich do jetzt eigentlich fascht
2
schon am En – no de schulisch Ausbildung in Sp. ... bin ich wieder zurück no Ku.,
3
aber hab e eigeni Wohnung gehat. Hab do noch mei Anerkennungsjohr gemacht. Die
4
eigene Wohnung war aber direkt neber de J. ((lacht)), da war grad e frei!“ ((lacht))
5
I.:
6
S.:
((lacht mit))
„Un, jo? … Hm. Also de Kontakt, wie gesa´t, der is heit uff jede Fall noch do, aber es
7
is nimmi so viel wie frieher. Ich han/a´ch in de Ausbildung, ich hab se a trotz allem
8
immer noch gebraucht. Ich war in Sp. ich han kä Mensch gekannt. Un des war/ich
9
wollt a äfach immer noch e Stück vun dehäm doch bei mer han. Vielleicht war´s a
10
deswe, dass die alles so/häufiger war, jetzt wie/wie heit. ... Jo! – Ich war zu schnell,
11
gell? Alles runner gerattert!“ ((lacht))
12
I.:
13
S.:
14
I.:
„Kä Problem! ..Ähm.. Okay! Dann staffel ich jetzt nochmol die Frage... .“
„Hm!“
„Von vorne uff. ..Ähm.. ... ja! Dann noch zum Afang: dei Klasselehrerin hat was
15
bemerkt, ..ähm.. dass/dass se sich ans Jugendamt ge/gericht hat. Was hat die
16
gemerkt?“
17
S.:
„Mhm. ... Ich wäß net. Ich war domals e Kind, des kann ich net sa´n. Ich kann das jetzt
18
so/ich kann das jetzt mit dene erwachsene Aue, was sie domals hot, sa´n. Ich wäß net.
19
Ich wäß nur ämol, an em moie, hot ich blaue Flecke im Gesicht. Un do hat se mich
20
angeguckt, so wie ..äh..: „Aha!“, awer es hat dann trotzdem jo noch e zeitlang
21
gedauert. Was dann awer alles so ausschlaggebend war, ich wäß es net genau.
22
Wahrscheinlich war ich oft mied moiens, still, so!“
23
I.:
„Also das häßt, es hat a Gewalt gäb.“
24
S.:
„Mhm, mhm.“
25
I.:
„Dann wahrscheinlich vom Vadder ausgang?“
26
S.:
„Nee, ja. Do/do war/also sie hat wohl was/was mitkriet, kund wahrscheinlich nie was
27
mache, sonscht hät ses jo schon eher gemacht. Aber mei Onkel, der do newedran
28
gewohnt hat un immer noch wohnt, der hat, weil mei Vadder ausgerascht is we/we
29
irgendwas, was das war, wäß ich gar nimmi, wuscht der sich nimmi anerschder zu
30
helfe, als diese Lehrerin anzurufe. Un ..äh.. die wohnt do im Neweort, un die is dann a
31
glei komm, un hat gesa´t: „So, Schluss, aus. Do, insteije, mir fahre weg.“ ((lacht))
32
I.:
„Also war die Lehrerin damals eigentlich e wichtigi Person?“
33
S.:
„Jo!“
177
1
I.:
„Mhm. Okay! ..Ähm.. .. dann es Kennelerne von deine erschte Pflecheeltre! War das
2
bei dir - das hab ich net richtig rausgehärt – war das e Notfallunnerkunft, oder hat ma
3
dich vorbereit, hasch die mol kennelerne könne? ..Ähm..“
4
S.:
„Also die Notfallunnerkunft war jo bei meiner Lehrerin. Do bin ich jo zwä, drei
5
Woche, bin ich dort geblieb, so lang, bis e Pflegefamilie/also es hat gehäß, mir müsse
6
Pflegefamilie suche, un so lang, weil hem kannsche jo net, bleibsche do bei deiner
7
Lehrerin. Jo.“
8
I.:
„Mhm.“
9
S.:
„Un dann is diese Pflechefamilie gefun wor. Un – phh – han müsse mei Sache packe,
10
un bin dort hingebrung wor. Jo?“
11
I.:
„Okay!“
12
S.:
„Ich nehm an, wenn ich gesa´t hätt noch re Woch, do gefallt´s mer net, aber so do ...
13
wär´s mit Sicherhät/also is jetzt net so zu versteh´n, dass ich do hin, do bleibsche jetzt,
14
kannsche mache was de willsch. Bis zu deine Kinner- un Jugendjohre so war´s jetzt
15
net. Aber es war halt abgehol wor un dort hin gefahr wor.“
16
I.:
„Mhm. Okay. War eigentlich damals e Rückführung geplant? Wäsche das?“
17
S.:
„Was häßt Rückführung? Zu meine Eltre?“
18
I.:
„Das ma druff hinarweit... .“
19
S.:
„Nee! War nie geplant, also im Gejedel, am Afang, mei Pflecheeltre han gesa´t, ja
20
wenichschtens ämol im Monat, dass de ämol im Monat wie´re hingehsch, un/un.
21
Irgendwie war´s a gla´b ich so, dass es Jugendamt das befürwortet hätt. Wäß net, uff
22
jede Fall, ich han mich mit Hoor un Füß degeche gesträubt. Un mei Pflechemudder hot
23
mit dem bearbeitende Mann do vom Jugendamt gered, un der hat dann gesa´t, dann
24
losse mer´s halt sin. Dann muss es nimmi hin gehe.“
25
I.:
„Mhm. Aber von de Pflecheeltre war also schon die/die/also die han sich bemüht, dass
26
dieser Kontakt zu deiner Herkunftsfamilie eigentlich bestehe bleibt. Die han dir des
27
jetzt net madich gemacht?“
28
S.:
„Am Afang, awer/awer die han jo gemerkt, dass ich „nhn“, un do sin se sofort in die
29
Volle dann. Also dann net dehem: „Probier´s doch noch emol.“.Nee. Glei gesa´t:
30
„Wie, du willsch net? Okay, nee! Aus! Fertig! Dann gucke mir jetzt, dass de das
31
nimmi mache musch!”
32
I.:
33
34
„Mhm. Okay. ... Gut! ..Ähm.. ja, dann hab ich mer uffgeschrieb, du hasch erzählt, in
de erschte Pflechefamilie kam jo dann dieses annere Pflechekind...“
S.:
„Mhm!“
178
1
I.:
„Das war dann natürlich ..ähm.. ja, Platz teile, Konkurrenz? Jetzt wäß ich, bei deiner
2
spätere Pflechemutter, die hat jo dann a noch e Pflechekind gehat. Wie war´n das
3
Verhältnis?“
4
S.:
„Die H. war viel jünger wie ich. ..((4)).. Hm. Wie war´n do es Verhältnis? Es hat gar
5
kä Verhältnis gäb. Es hat zwische/nee, es hat kä Verhältnis gäb! Die hat do mit
6
gewohnt, un ich han jo mei Ding gehat, ich war jo schon 16! Ich/ich war a´ch jetzt net
7
so, dass ich ständig dann irgendwas müsse mache, weil/Karte spiele, oder sonst
8
irgendwas. Nee, hat kä/hat kä Verhältnis gäb. Muss ich jetzt werklich so sa´n. Die war
9
halt do. Die hat moiens mit gefrühstückt, die hat mittags mit gess un owens mit gess,
10
un an sonschte hat sie ihr Ding gemacht, un/un ich mei Ding gemacht.“
11
I.:
„Also uff die warsche dann a nimmi eifersüchtig?“
12
S.:
„Aja, also ich män, erschtens war ich aus dem Alder raus un zwätens das war/war so e
13
Giftzwockelche gewest! Wie soll ich dann uff des eifersüchtig sin?“ ((lacht))
14
I::
„Hat sich geäußert wie?“
15
S.:
„Was geäußert wie?“
16
I.:
„Giftzwockel?“
17
S.:
„Die war schon von Afang an arich ... zickich un stur un eijesinnig. Des hat halt dezu
18
geführt, dass/die han ziemlich viel Streit gehat, die J. und die H., das mir das äfach
19
zuviel war und zu dumm! Do we/we jedem „Nee, moie ziehsche das an!“, hat des
20
manchmaol owens Diskussione vun re Stun geb. De/do bin ich liewer in die Stub
21
gang. Nix! Vun doher sa´n ich doch, do war kä Verhältnis. Des war mir äfach zu
22
bled!“
23
I.:
„Sprecht awer eher für e schlechteres Verhältnis. Weil, wenn ich mir üwerle, Du mit
24
einer Pflechemudder sehr gut, un sie kommt dann, un dann gebt´s do halt e Haufe
25
Probleme.“
26
S.:
„Ja! Ich/ich wäß net. Mir ware a zusamme dann in Urlaub mit ihr. Des/des war immer
27
okay. Ich konnt mit ihr lache, Witze erzähle un/awer trotzdem – es war jetzt awer a
28
net/ nee, es war net so, dass mer e schlechtes Verhältnis hotte. Sie war mer äfach/sie
29
war mer egal! Hat mich net intressiert!“
30
I.:
„Mhm. Also uff gar käne Fall e Geschwisterbasis?“
31
S.:
„Nee! Nhn.“ ((schüttelt den Kopf))
32
I.:
„Mhm. Gut! ..Ähm.. Ja, was immer intressant is – probier dich mol zurück zu erinnre –
33
grad so die ..äh.. typische Situatione in de Pflechefamilie, oder a bei deiner
34
Pflechemudder später. Positive Erlebnisse un Probleme die´s gab. Unner nanner, und
179
1
mit Geschwister, im Umfeld. ..Ähm.. wie sieht´s mit der Familie von deiner
2
Pflegemudder aus?“
3
S.:
4
„Hm. Also bei de erscht Pflechefamilie – es Umfeld, des hat mich eigentlich recht
freundlich uffgenumm gehat. Do war/des war alles kä Problem.“
5
I.:
„Häßt Umfeld jetzt Nachbarn, Freunde, oder häßt Umfeld... .“
6
S.:
„Alles! Ihr Eltre, also ihr Familie, un/un Freunde un Bekannte. Also alles/es war/war
7
mo nix, was mir uffgefall wär. Ich han mich do a wohlgefühlt – in diesem Umfeld! In
8
der Familie selwer – am Afang hab ich gemerkt, dass se/ich war jo schon elf un das is
9
annersch als wie wenn die e Kind krie´n, wo erscht zwä is. Am Afang han ich
10
gemerkt, dass die das han erscht noch begreife, dass ich kä Zwäjähriches bin, sondern
11
e Elfjähriches. Un das hat sich a im Laufe der Zeit, is mir das immer meh bewuscht
12
wor, un ich hot a gemerkt, warum die eigentlich e Kläkind, ore e Säugling adoptiere
13
wollte, un eigentlich von Afang a kä Pflechekind han wollte. Das han ich no re Zeit
14
erzählt krie´t. Weil ich han dann gefrot: „Ja un wie is das jetzt komm, dass ihr mich
15
han wollte?“, un dann han se das dann so erzählt wor.“
16
I.:
17
18
„Un wie kam´s? Weil wenn man jo eigentlich adoptiere will, dann nehmt mer jo kä
Pflechekind?“
S.:
((räuspert sich)) „Ich wäß es net! Sie, die G. hat immer erzählt, do war die/das Zimmer
19
net groß genuch, oder/un immer han se gesa´t „Mir warte noch!“. Uff jede Fall is das
20
irgendwie nie zustande komm.“
21
I.:
22
„Mhm, mhm. Wahrscheinlich a verbun damit/mit de Bestimmunge die´s gebt, um
jemand zu adoptiere!“
23
S.:
„Jo!“
24
I.:
„Mhm. Probleme? Was? Jo! Was hat gefehlt? Was gab´s für Stresssituatione in de
25
26
Familie/Pflechemudder?“
S.:
„In de erscht Familie, hat/hat, wie gesa´t, do hat diese/diese das Verständnis gefehlt.
27
Oder wenn ich irgendwas angestellt han – in de Sommerferie – ich han mit zwölf
28
schon angefang zu rache – un ..äh.. un dann verwischt wor bei änner Zigarett, un dann
29
– in de erscht Woch von de Sommerferie – un dann hat´s gehäß: De Rescht von de
30
ganze Sommerferie bleibsche dehem, ich kaf der Bücher – Erich Kästner, ich hass ne
31
((lacht)) – un die ware geles, un schreibsch do drüwer e Ufsatz. Des war halt/des war
32
hart! Do/do merkt mer dann a kä Gefühl, dann drin. Wenn´s gehäß hätt un jetzt
33
bleibsche mol e Woch dehem, zun es werd net geracht, un in dere Woch helfche mol
34
do, un dann wär´s okay gewest. Aber die ganze Ferie! Nur weil ich jetzt ä Zigarett
180
1
geracht han! Do/do hasche gemerkt, do fehlt was. Un das/das war es Hauptproblem
2
in/in allem! Es war äfach alles zu hart! Uff de ä Seit, „Da, hasche e Pferd!“, du liebsch
3
e Pferd, da! Un uff de anner Seit, efach immer nur/nur ganz harte Rechele un
4
Konsequenze, die/die eigentlich für e Kind, in dem Alter in dem wo ich dann war,
5
äfach net zu tra´n war, un zu hart waren!“
6
I.:
„Des han se a werklich durchgezo?“
7
S.:
„Das han se durchgezo!“
8
I.:
„Weil ich män Eltre sa´n öfter mol was... .“
9
S.:
„Nee! Das han se durchgezo´n.“
10
I.:
„Wirklich durchgezo?“
11
S.:
„Ja.“
12
I.:
„Un wahrscheinlich konntscht du dann a kä Verbindung zwische Erich Kästner und
13
Rauche e Verbindung zu finde?“
14
S.:
„Bestimmt net.“ ((lacht))
15
I.:
„Do hät ich e Uffsatz über´s Ra´che jo noch sinnvoller gefun. Okay. Also war das so
16
17
die altmodisch Schiene.“
S.:
„Ja. Ja. – Ansonschte falle mir kä Probleme in. Wie gesa´t, das Noher mit dieser
18
Eifersucht, weil/weil die sich nur uff die T. konzentriert han, die Zeit vorher un a´ch
19
während dessen, un do de no, wo die T. do war, diese Härte, wo se immer hotte.
20
..((4)).. Jo, un das des äfach, dass nirgends Struktur drin war. Jo.“
21
I.:
22
23
„Hasch du des Gefühl gehat, sie han dich als „ihr Kind“ angesieh oder warsch du halt
schon immer noch Fremdkörper? – Ich wäß jetzt net, wie man´s annerschder sa soll.“
S.:
„Fremdkörper. Es war e Fremdkörper. Am Afang war ich ihr Kind. Un ihr neies/ihr
24
neies Familiemitglied un ihr/ihr – ich wäß net – ihr Argument sich als Familie noch
25
ausse hinstelle zu könne. Deswe, also ich men/wie gesa´t, ich han jo alles krie´t, ich
26
han e Pferd krie´t, ne! Ich han/awer dann noher, ich muss ganz hart sa´n, ich han, das
27
sa´n ich a heit noch, noher muss ich sa´n, es/es/sa mer mol no´m/no de erschte 1 ½
28
Johr dort, war ich äfach nur noch e finanzielles Mittel. ... Also annerschder...“
29
I.:
30
S.:
„Mhm. Das hasche a gemerkt?“
„Ah, nadierlich han ich das gemerkt! .. Das, ja, ich/ich, am Afang: „Gehsche mit in de
31
Sch.?“ – „Ajo!“ – „Was willsche für Shampoo han?“, un do ham mir do vorm Regal
32
gestan, un welches Shampoo, un jawoll. Un dann noher, aus em A. e Shampoo
33
mitgebrung krie´t. Un wenn de dran gewähnt bisch der es neischte uff em Markt hole
34
se dürfe, dann hasche nadierlich protestiert. Un: „Nee, gebt jetzt nix mi. Gebt nur noch
181
1
des was mer mitbringe!“, ja un des war alles/es war alles komisch wor. Es war alles
2
egal wor.”
3
I.:
4
“Mhm. Hat sich das dann erscht gewandelt, wie das anner Mäde dann do war,
oder…?”
5
S.:
„Nee, vorher schon. Das war schon. Das war schon.“
6
I.:
„Ja, das is übel. Hasch du zu dem anner/oder hasch du überaupt noch zu dene
7
8
Kontakt? Zu dere Pflegefamilie?“
S.:
„Hm, jo! De K., des war immer mei Goldstick in dere Familie. Des war der Mann, der
9
Pflechevadder. Des war e ruhicher, intelligenter, meiner Meinung no, e intelligenter,
10
lieber Mensch, wo de ganze Ta uff de Arwet war, un owends hem komm is un kaputt
11
un mied war.“
12
I.:
„Was hat er gemacht?“
13
S.:
„..Ähm.. bei de Bahn, Beamter war er. Hm.“
14
I.:
„Okay.“
15
S.:
„Der is gestorb, vor drei Johr, an Krebs, un dene Leidensweg han ich a so e bissche
16
durch die T., durch das zwäte Pflechkind von dere, mitkrie´t, weil die mich angeruf
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hat, öfters, un mir das alles so geschildert hat. Wie alles la´ft, un jo! Der is gestorb un
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des/des war/war für mich/des war schlimm für mich! Obwohl ich kä so Bindung mi
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dorthi hot, aber es war schlimm für mich. Un do war ich halt uff de Beerdigung, un
20
han die G. gesieh. Un/un die war so fertich, un die hat mir von Herze, sooo led gedun,
21
dass ich äfach es Gefühl hot,no dere Beerdigung, zwä, drei Tach später, sie anzurufe
22
un zu fro wie´s ihr geht, halt ob ich was mache kann. Un bin dann a mol hingefahr.
23
Un, jo, seitdem höre oder siehn mir uns ämol im Johr.“
24
I.:
25
26
„Do dezu fallt mir in, du hasch jo dann/du hasch jo gesa´t, du bisch von dir aus zum
Jugendamt, hasch gesa´t, das will ich dort nimmi.“
S.:
„Mhm. Die G. war stinksauer! Die hat kä Wort mi mit mir gered. Kä Wort! Noch net e
27
mol an dem Tach wo/wo - es hat jo bestimmt noch e ganzi Woch gedauert, oder wie
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lang, waren sogar zwä Woche, ne - also sie hat kä Wort mit mer gered. Hat für mich a
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nimmi mitgekocht. Jo! ((lacht)) Han mir dann mei Esse selwer mache. Alles mit
30
Zettelcher! Ne, also a so Uffgawe wie Spielmaschin ausrame, oder „Koch dir was!“, is
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alles mit Zettelcher/is do kommuniziert wor. Jo, die hat kä Wort mit mer gered. An
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dem Ta wo ich dann abgehol wor bin, ich han se noch gesucht, ich wollt Tschüß sa´n.
33
Es war jo, die han mich net misshannelt, net gar nix. Es war jetzt/ich han mich sogar
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zum Schluss so gefühlt wie hm, ne... .“
182
1
I.:
2
S.:
„Schuldgefühle?“
„Jo! Un ..äh.. ich han se gesucht, ich hat se im ganze Haus net gefun. Wie gesa´t, ich
3
wollt nur Tschüß sa´n, aber sie war net do. Dan, bei de J., wie ich bei de J. dann war,
4
wie´s dann hieß ich bleib do un dann, ich hat jo noch mei Sache bei de G. gehat.
5
Mei/mei Möbel, ich hat mei Möbel selbst ka´f – mei Traummöbel, von meinem
6
Taschegeld erspart. Un die han jo müsse noch abgehol were. Un do bin ich mit de J.
7
un meim damalige Freund dorthin gefahr wieder um die Sache abzuhole, un han ich
8
gedenkt, vielleicht is die G. jetzt do, awer sie war net do. ((lacht)) Awer gut, dann war
9
se halt a wieder net do. Jo, des bledie Kuh han ich gedenkt!“
10
I.:
11
12
„Hm, sie war eigentlich die Erwachsene in dem Spiel. ..Ähm.. Kontakt zu dem annere
Pflechekind hasche also a noch?“
S.:
„Zur T., ja, han ich/han ich noch. Das hat wieder angefang, dieser Kontakt. Also, wie
13
ich gesa han, ich geh zum Jugendamt, ich will nimmi do bleibe, die T. hat gesa´t, sie
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macht das a.“
15
I.:
„Mhm.“
16
S.:
„Un sie hat´s dann net gemacht.Hat gesa´t: „Och, ich/ich wart e Mol ab. Ich bleib mol
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noch e bissche do, vielleicht wird´s besser!“. Oh, ich war sooo stinkig uff die. Un a´ch
18
eifersüchtig, weil ich gedenkt han, jetzt hat´s die für sich allen, jetzt wird´s vielleicht
19
besser. Jo, un dann hot ich de Kontakt abgebroch ..((4)).. zu dere. Un dann wie/wie
20
ich/ich war mit de Erzieherausbildung fertich, un Jahre do deno, han mir uns zufällich
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uff em Fescht getroff. Un dann äfach wieder agefang zu erzähle, wie wenn nix gewes
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wär. Un do hat´s dann a gesa´t, dass se zwar dort geblieb is, awer dass es/dass es alles
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ganz schlimm wor war un dass se sehr, sehr unglücklich war. Un dass se mittlerweile
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so e großer Streit han, dass se sogar e Anwalt inschalte muscht we irgendwas. Un dann
25
war das wiere mei aldi T., wo ich jetzt Jahre dodeno noch uff die Pflecheeltre schelle
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konnt.“ ((lacht))
27
I.:
„Mhm.“
28
S.:
„Jo! Un heit sieht´s so aus, dass mir uns ab und zu e mol treffe ore telefoniere.“
29
I.:
„Un sie is bis 18 dann dort geblieb?“
30
S.:
„Ja! Jo, ich men es wär fascht 18 gewest, ja!“
31
I.:
32
S.:
„Hm.“
33
I.:
„Besonnerscht positive Sache?“
„Okay.“
183
1
S.:
„Die Freihet zu han, e eigenes Pferd zu besitze. Ich war/ich war/ich war jo die
2
Prinzessin! ((lacht)) Meiner Klass hat kä ens e Pferd, ich glaub in meiner ganze Schul
3
net! ((lacht)) Ich war schon/schon, als Kind war ich schon e bissche ich wollt/wollt im
4
Mittelpunkt stehn! Nadürlich! Das wollt ich schon. Hm, wenn´s gang wär a mit alle
5
Mittel. Ajo. Das war naderlich was, was ganz tolles. Dene/dene Friede zu han
6
nimmi/dass nimmi jedi Minut, jeder Tach, de ganze Alltach von Angst bestimmt is.
7
das war´s Beschde an allem! Ja!“
8
I.:
„Hm. Kann ich mir vorstelle!“
9
S.:
„Jemand zu han, der dir bei de Hausaufgabe helft. Am Afang war´s dumm, awer no re
10
Zeit han ich gemerkt, dass/so bringsch se wenichschtens mol einichermaße korrekt in
11
die Schul. Un kriesch net immer e Rüffel we irgendwas.“
12
I.:
„Also das han die dann schon gemacht?“
13
S.:
„Aja, nadierlich. Jo, un sie han´s a fertich gebrung, dass ich in die Schul gang bin un
14
änes Taches bin ich nimmi gehänselt wor, weil ich werklich mol sauwer war! Ich net
15
gestunk han! Weil ich sauwere Kläder anhot! Jo. Hm.“
16
I.:
„Okay!“
17
S.:
„Un bei de J. noher do war äfach alles super!“ ((lacht))
18
I.:
„Gut!“
19
S.:
„Nee... ich han mich wohl gefühlt bei rer. Sie war uff de änd Seit e super Freundin un
20
uff de anner Seit schun irgendwie wie e Mudder. So alles. Mit allem unnerstützend un
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immer helfend, un/un für jedes Problem do, un in sofern do, dass es geläst wird. Un
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dass ma des a werklich macht. Un a´ch ..ähm.. e offenes Fenschder für alles. In Sache
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wie, ma brauch net immer weite T-Shirts aziehe. Ma kann a mol was Schickes
24
anziehe, was aus sich mache. Do drauß hat jo noher gefolgt, dass ich e ganz anneres
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Selbschtbewußtsein krie´t han. War immer dorum geloff, wie de letschte Honk. Weite
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Sache, also jetzt net, dass ich unsauwer war, awer weite Sache, ich wollt net, dass mer
27
a´ch nur irgendwas von mir sieht. Un noher, das/ich han mich ganz annerscht/ich han
28
mich gefühlt wie so e Blume, wo uffgang is, es awer net gepackt hat für die ganz Zeit
29
so richtich sich zu entfalte. Un dort war´s ewe so bei de J. !“
30
I.:
„Mhm. Ja, is gut!“
31
S.:
„Wie/wie schun gesa´t in de Schul war´s dann berchuff gang. Ich war vorher/ich
32
war/ich Pummelche, gla´b 70 kg hot ich gehat, un bei ner Größ von 1,54m. Bei de J.
33
han ich abgenomm gehat, weil die J. acht sehr uff sich. Die acht uff ihr Äußeres, die
34
acht also druff was se esst. Sie hat mir nie vorgeschrieb wie viel ich zu esse han, ore
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1
was ich zu esse han. Sie hat äfach nur für sich das gelebt, wie sie´s denkt, dass mer kä
2
sooo Portion esst, sondern dass ma so äni esst. Un das hat sie alles so gemacht, un do
3
han ich gedenkt – also a) han ich mich geschämt am Afang, dass ich beim dritte Deller
4
immer noch net satt war un die no de erscht Hälft schon – un dann han ich so – wie
5
gesa´t gesa´t hat sie nie was, awer irgendwann han ich gedenkt: „Ich mach´s jetzt a
6
so!“. Un do is moiens ewe nur e bissche gefrühstückt wor un/un mittags kä drei Deller
7
gess, sondern nur äner un owends was Leichteres. Un uff ämol han ich gesieh wie/wie
8
die Pfunde purzele, un dann halt a´ch dementsprechend Ehrgeiz entwickelt un e
9
richtichi Diät gemacht, wo sie mich debei unnerstützt hat. Un dann – was han ich dann
10
gewo, ich gla´b 53 oder 54 Kilo. Das war/das war dann optimal! Han ich gut
11
ausgesieh´n!“ ((lacht))
12
I.:
13
S.:
14
I.:
15
16
„Ja!“
„Un das mit 16/17! Do muss mer doch richtich gut aussiehe!“ ((lacht))
((lacht bis *)) „Genau! Des war wichtig! Okay! (*) ..Ähm.. fallt mir in,
ja ..äh.. fallt mir in, wie sieht´s denn aus mit dene typische Probleme Droge, Alkohol?“
S.:
„Also .. ich war immer – wie gesa´t mit zwölf agefang zu ra´che, das war zwar am
17
Afang zwar mi paffe, wie sonst was, awer mit 14 war das dann schun e richtiches
18
Ra´che dann. Un mit 16 dann, wo dann wo de in de Öffentlichket ra´che durftsch, do
19
han ich beschtimmt mei 1 ½ Päckcher am Tach gepackt! Heit bin ich soweit, dass ich
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üwer Da kä ra´ch, awer nur noch owends mei zwä, drei. ..Ähm.. mit Droge... .“
21
I.:
22
„Hasch du bei deiner Pflechemudder noch weiter ra´che dürfe? Weil sie raucht ja
glaub ich net.“
23
S.:
„Bei de J.? Ja, ja.“
24
I.:
„Also das hat se dann schon erlaubt?“
25
S.:
„Ja! Awer nur in de Kich. Wohnzimmer wollt se net so. Nur in de Kich, wo ma dann
26
glei es Fenschder hat könne uffstelle. Ja. ..Ähm.. wo war ich jetzt steh´n geblieb?
27
..((5)).. Filmriss. Wo war mer jetzt?“
28
I.:
„Alkohol, Droge.“
29
S.:
„Ach so. Droge. Ich han ämol an em Joint gezo, ich fand´s so furchtbar! Seitdem hot
30
ich do nix mi angerührt un nix mi ausprobiert. Alkohol war sehr wichtich wie mer so –
31
wäß net – so ab 15 rum. Unser Clique domols. Jeder hat irgendwann mol irgendwas
32
organisiere känne, un do han mir im Schulhäusche gehockt un han was getrunk un no
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re Zeit han ich feschtgestellt, wie viel Spass mir des macht. So bissche benomme im
34
Kopp zu sin un wie viel leichter a alles is dann häm zu komme un dir das Gemecker
185
1
dann anzuhäre un wiere Erich Kästner lese zu müsse un der ganze Rotz! Jo dann/do
2
war´s dann so, dass dann do schon werklich/dass de geguckt hasch, dass du irgendwo
3
e Flasch Sekt herkriesch. Die hasche versteckelt, un wenn dir denoch war, hasch se
4
ewe ganz getrunk.“
5
I.:
„Also schon allän, oder so. Halt nur...“
6
S.:
„Jo, schun allä mol. Mhm.“
7
I.:
8
S.:
„Awer des hot sich a irgendwann wieder verlor gehat!“
9
I.:
„Bei de J. immer noch?“
10
S.:
„Nee, do war´s nimmi so. Do war´s dann so, dass mei Friend domols, der hat a
„Mhm.“
11
ziemlich viel getrunk gehat. Was heißt ziemlich viel getrunk? Der hat gern änner
12
getrunk. Un somit han ich dann a mol änner mit getrunk. Un die J. hat ..äh.. - hat se
13
immer noch – e Schnapsbar gehat, in ihrem Wohnzimmerschrank. Un immer wenn se
14
net do war, ham mir uns do dran bedient! Un das Ganze mit Wasser uffgefüllt. Sie
15
hat´s gemerkt! Hot nix gesa/nix gesa, weder gescholl, noch sonst was. Sie hat´s
16
gemerkt un hat ewe alles wiere rausgeramt un hat´s bei sich in die Stub gestellt un hat
17
zugesperrt!“ ((lacht))
18
I.:
((lacht mit)) „A e Mittel!“
19
S.:
„Gut, ..äh.. irgendwann hot se dann schun mol gesa´t: „Wäsch jo, Alkohol is jetzt
20
käner mi do un ...“, nee. Hm. Ich wäß net, ich trink heit gere noch änner. So am
21
Wocheend, wenn mir weggehe, do trink ich a mol änner üwer de Dorscht.“
22
I.:
23
S.:
„Mhm.“
„Unner de Woch selde. So jetzt wenn ma vielleicht grille dät unner de Woch, dass ich
24
owends zwä, drei Biercher trinke dät, awer des hot sich, wie gesa´t irgendwann dann
25
verloff.“
26
I.:
27
„Mhm. Gut. ..Äh.. die/die J. hat doch dann/hat die/nee, du hasch gesa´t in der Zeit bei
der J., hat der Kontakt do her (leibliche Mutter) wieder angefang?“
28
S.:
„Mhm.“
29
I.:
„Weil sie des unnerstützt hat, oder...?“
30
S.:
„Nee, die J. hat do eigentlich... .“
31
I.:
„Des is von dir nur ausgang, oder...?“
32
S.:
„Is von mir ausgang. Ich hab dann mit de Oma han ich öfters telefoniert. Wollt awer
33
net herkomme zu rer, weil mei Vadder jo direkt newedran gewohnt hat. ..Ähm.. un ich
34
wäß net hotten mir a dann telefoniert un irgendwann han ich gedenkt, ich will jetzt
186
1
mol wiere mei Oma sieh´n. Un bin dann komm zu nem Zeitpunkt, wo ich halt vorher
2
die Oma angeruf, un do hat mei Oma gesa´t: „Dei Vadder is in de Stadt inka´fe. Also
3
des häßt, net do! Un do bin ich dann, an dene Zeitpunkte bin ich dann do her gang.
4
War bei meiner Oma, un mei Mudder war meischtens allä dehäm ,dann. War bei dere.
5
Un des hot mer/hot mer gut gedun. Un do hat sich das dann langsam gehäuft.
6
Manchmol is a wiere zurick gang. Wo ich gar net do war. Awer es war wenichschtens
7
als emol wiere gewest.“
8
I.:
9
10
ma Pflechekind war? Hat em des irgendjemand mol an de Kopp geknallt?“
S.:
11
12
„Mhm. Gut! ..Äh.. Diskriminierung? ..Ähm.. hat ma sich selbscht schlechtgefühlt, weil
„Nee, bei mir jetzt net. Also ich kann mir schon vorstelle, dass des häufich vorkommt,
awer das war bei mir/war net. Wischt/würd mir jetzt gar nix infalle. Wischt ich nix.“
I.:
13
„Also du hasch a dezu stehe könne, wenn dich jemand gefro´t hat, konnsche sa: „Hm,
Pflechefamilie“.
14
S.:
„Ja. Ja.“
15
I.:
„Okay. Bezugspersone in dere Pflechephase?“
16
S.:
„Also, außerhalb von de Pflechefamilie, oder?“
17
I.:
„Beides!“
18
S.:
„Also wie gesa´t in dieser erschte die T., das zwäte Pflechekind, das war jo dann so
19
dicke. Das/das bringt dann a mit sich, dass das dann a´ch Bezugsperson is.“
20
I.:
21
S.:
„Mhm.“
„Awer ansonschte ..((4)).. de G. ihr Bruder hot newer uns gewohnt, die erscht
22
Pflechefamilie. Un dem sei Frau, die ..äh.. es war e Netti un es war e Liebi, ich hot als
23
es Gefühl, dass wenn/wenn´s werklich zuviel Müll war, wo ich han müsse runner
24
bringe un zuviel butze, wo ich han müsse helfe, dann bin ich als zu rer gang un han e
25
bissche gejammert. Un das han ich nur bei ihr gemacht. Bei de T., naderlich a. „Han
26
ich schon wiere butzte müsse!“, un halt das. Awer so bei annere Erwachsene han ich
27
das nur bei ihr gemacht. Un es hat mir a gut gedun dann e bissche Dampf do
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abzulosse. Un sie hat a immer „Jo, mhm!“, hat nie was Gutes, un was Schlechtes
29
gesa´t, awer das „Jo, mhm!“, das war so wie – ich wäß es net – mir hot se das Gefühl
30
geb, es is okay, wenn ich ihr das sa´n, un irgendwo pflicht se mer, a wenn se´s net sa´t,
31
bei.“
32
I.:
„Mhm.Mhm.“
33
S.:
„Ja, awer ansunschte, hat´s awer kä geb. Kä Bezugspersone geb.“
34
I.:
„Un später wahrscheinlich J., dann?“
187
1
S.:
„Yes!“
2
I.:
„Gut. Rückblick! Was hat gefehlt? Was hat geholf? Was hätt geholf?“
3
S.:
„Hm. Was hat gefehlt? In de erscht Pflechefamilie - was hat gefehlt – es/es/es/ich war
4
von Anfang an dort fehl am Platz! Die hätten solle e klänes Kind krie´n, so wie se´s
5
gewollt han un net - un a´ch nehme – un e großes wie mich ablehne. Weil das war net
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ihr Welt! Do han se känne net so die Liebe rinstecke bei mir, wie se´s hätte solle
7
mache. Un dementsprechend hat mir halt a´ch Zuwendung, e bissche Liebe un
8
Verständnis gefehlt. Was do net immer vun ausgang is.“
9
I.:
10
S.:
„Mhm.“
„Was hätt irgendwie geholf? Ja, ich hätt solle gar net erscht dort hin. Awer ich darf des
11
a net ganz so/so schlecht mache. Wie gesa´t, die han mir nix/nix Schlechtes gedun.
12
Des/mir hat´s gut gang. Mir hat´s an nix gefehlt, außer an e bissche Gefühl un e
13
bissche wenicher Härte. Beim J., was hat mir do gefehlt? Fällt mir nix in, was mir do
14
gefehlt hat.“
15
I.:
„E Vadder? Vadderfigur?“
16
S.:
„Nee!“
17
((TONBANDWECHSEL – es fehlen ca. 5 Minuten))
18
I.:
„Okay. Was fallt Dir noch in?“
19
S.:
„Der Mann, der mich vom Jugendamt abgeholt hat, um mich zum J. zu bringe, der hat
20
mir ä, zwä Johr später erzählt, dass die G. zu ihm gesa hat: „Gucke se, dass se gut
21
unner kommt, das hat se verdient!“
22
I.:
23
S.:
„Mhm.“
„Un, dann/dann war das, dass se nimmi mit mer gered hat, obwohl das jo zurückgele
24
hat, un dass se so hart war, war uff ämol wie weggeblos. Ich han dann so/obwohl das
25
im Nohinein war/Johre später, han ich gedenkt: „Danke G., schä, dass de das gesa
26
hasch!“, un das ich noch/das noch häre därf, also dass ich das wisse därf. Ja! Jo!
27
Genau so war das!“
28
I.:
29
30
„Also klingt so als ob sie sich schon bemüht han, awer wahrscheinlich halt äfach die
falsche Mittel agewend? Vielleicht a net weil se´s net besser wussten? Klingt so!“
S.:
31
„Hm. Hm. Ich män, ich war bestimmt net äfach. Ich war net äfach! Awer ..((6)).. Gut!“
((lacht))
32
I.:
( ) „Heutiges Lewe im Rückblick?“
33
S.:
„Also so im Rückblick, so im Große un Ganze muss ich sa´n, das was ich heit han,
34
was ich heit bin, das hab ich dene zwä Pflechefamilie zu verdanke! Wenn ..äh.. ich/ich
188
1
wär äfach net das, was ich/was ich heit bin, wenn ich bei meiner leibliche Familie
2
geblieb wär. Nee, des wär/des wär äfach net so. Es war alles okay, so wie´s komm is.
3
Es hat alles seine Sinn un Zweck gehat un es hat mir net geschadet, im Gejedäl.“
4
I.:
„Was denksche, wo Du wärsch? Was annerscht wär?“
5
S.:
„Vielleicht wär/ich hät bestimmt kä Erzieherin gelernt. Ich bin zwar im Moment a
6
arwetslos, ((lacht)) awer ..äh.. ich hät kä Erzieherin gelernt un hätt vielleicht/vielleicht
7
hätt ich a gar nix gelernt.“
8
I.:
9
S.:
„Mhm.“
„Ich/ich kännt mich net benemme, ich kännt net richtig esse, ich hätt kä Respekt vor
10
niemandem, ich wäß net, ob ich jetzt schun verheirat wär, oder wenn ich verheirat wär
11
bestimmt mit em Ekel. ((lacht)) Jo. Hm. Also ich denk ämol, dass ich sa´n kann, dass
12
ich wäß was Lewe häßt, ich wäß es zu schätze, ich/ich bin dankbar für des was ich
13
jetzt han un bin. Un, jo! Das/das/das wär alles mit Sicherhät net so!“ ..((6))..
14
I.:
15
16
„Mhm. Gut! ..Ähm.. Liebe bekommen? ... Hasche des? In de erscht .. oder nur bei de
J.?“
S.:
„Ja, Liebe was e Kind von Seite der Eltre han will un krie´t im Normalfal, nee. Nee,
17
das war´s net! Das/a´ch bei de J. nochher, des war kä/kä mütterliche Liebe. Was/was
18
ich gefühlt han, do. Dass ich die/das war was anneres. Es war Ersatz, un es war/war
19
super toll un in Ordnung! Awer jetzt so wie´s sin sollt im Normalfall, hab ich nie es
20
Gefühl gehat, dass das/das ich des merk, orer das a wahrnehm. Also das zuloss!“
21
I.:
„Mhm. Irgendwas, was Du noch ganz dringend loswere willsch?“
22
S.:
„Hm.“ ((schüttelt den Kopf))
23
I.:
„Okay! Gut, dann bedank ich mich!“
24
S.:
„Gern!“
189
7.1.6. Narratives Interview mit Pflegemutter von „SILKE“
Abkürzungen
I.:
P.:
S.:
G.:
M.:
T.:
V.:
Familie R.:
H.:
A.:
Y.:
Herr E.:
Herr B.:
Frau K.:
Ku.:
Sp.:
Pi.:
1
I.:
Bedeutung
Interviewerin
Pflegemutter von „Silke“
Pflegetochter „Silke“
weitere Pflegetochter der Pflegemutter
erster Freund von „Silke“
zweiter Freund von „Silke“
Ehemann von „Silke“
vorherige Pflegefamilie von „Silke“
vorherige Pflegemutter der Familie R.
weitere Pflegetochter der Familie R.
Neffe der Pflegemutter
Jugendamtsmitarbeiter Ku.
Jugendamtsmitarbeiter Pi.
Jugendamtsmitarbeiterin Pi.
Wohnort der Pflegemutter
Stadt
Stadt
„Die Informantin wurde über Sinn und Zweck des Interviews aufgeklärt.
2
Ja, und jetzt bitt ich sie einfach, zu überlegen wie bei Silke eins zum andern kam und
3
..ähm.. ja, zu erzählen, wie so die Lebensgeschichte war!“
4
P.:
„Okay! Also, die Gründe der Inpflegenahme von S. war ..ähm.., dass sie ..äh.. vorher
5
in einer anderen Pflegefamilie war, bei Familie R., ..äh.. und da kam es immer
6
häufiger zu größeren Spannungen. ..Ähm.. so wie ich aus S.´s Erzählungen gehört
7
habe, mussten se dort wirklich sehr viel arbeiten. Ich weiß nicht, ob die S. ihnen das
8
jetzt gesagt hat, aber das war also für so ne Jugendliche, also – die war ja da/wie alt
9
war se denn? Ja so dreizehn, vierzehn, fünfzehn.“
10
I.:
11
P.:
„Mhm.“
„Also so´n/war halt so die/das/die/der Zeitraum. Und ..ähm.. dann hatten se/hat sie
12
aber ein Pferd ..ähm.. bekommen, von der Pflegefamilie, und das musste auch ..ähm..
13
gepflegt werden. Und ..äh.. den Unterhalt des Pferdes zu verdienen, hat sie dann auch
14
im Stall Arbeiten durchgeführt. So, und da war sie also wirklich hochgradig engagiert:
15
In dem Haushalt mit Pflichten und mit dem Pferd. Und das ging wahrscheinlich über
16
ihre Kräfte! Außerdem hat se/sie hat ne Pflegeschwester dort gehabt, die ..äh.. A., und
17
..äh.. die haben sich dann irgendwie e bissl gegen die Pflegemutter verbündet. Sie
18
waren halt mitten in der pubertären Phase.“
19
I.:
„Mhm.“
190
1
P.:
„Ja! Die Pflegemama war – also ich bin so/jetzt eher so´n jugendlicher Typ und die
2
Pflegemama war halt mehr so/nich/ich will nicht sagen mütterlich – ich bin auch
3
mütterlich – aber sie/sie is halt ..äh.. sie/war halt/die haben halt „Musikantenstadl“
4
angekuckt oder angehört, und solche Sachen, und ich halt nicht, weil es läuft bei mir e
5
bissl anders. Und das hat sie alles gestört! Also nach den Reden, ne? ..Ähm.. ja, das
6
waren eigentlich die Gründe. Sie wollte dort unbedingt weg! Der erste Kontakt war
7
mit mir, dass ..äh.. der Herr E. vom Jugendamt mich anrief, und sagte: „Also und so,
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so. Ich hab eine Jugendliche, die muss dort raus. Ich will die nicht dort lassen, sonst
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eskaliert die Situation. ..Ähm.. kann sie zu ihnen kommen? Aber eins muss ich ihnen
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noch sachen, die raucht stark, und hat einen Freund.“ – Hab ich gesacht: „Hallelujah!
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Ja, ich nehm se!“. So, ein Tag später standen sie Beide vor der Tür. S., kleines
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Mäuschen, ..äh.. lange schwarze Haare, gezittert wie Espenlaub, das vergess ich nie!
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Wir sind hier runter gegangen, die saß im Sessel, wo sie sitzen, ne, un die Hände, die
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gingen so ((schüttelt ihre Hände)). Ah, das hat mir so leid getan! Das war unser erster
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Kontakt. Sie hat/mir haben uns unterhalten, und dann hat uns der Herr/hat von mir
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erzählt ihr, und/und/und ..äh.. ja von ihr mir. Und ..äh.. dann ging er. Und dann hab ich
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ihr ihr Zimmer gezeigt. Also der Herr E. hatte das natürlich von/schon vorher gesehen,
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aber das war nicht eingerichtet. Das war leer! Das war halt nicht grad so schön im
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Moment, aber hatte auch en Pluspunkt, dass wir zusammen die Möbel aussuchen
20
konnten.“
21
I.:
22
P.:
„Mhm.“
„So! Und, das vergess ich nie, sie hatte ihr Radio mit. Und dann komm ich so/hab/sie
23
wollte alleine bleiben, hab ich gesagt: „Lass dich jetzt in Ruhe, dass du dich bissl
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aklimatisieren kannst!“, un wo ich dann reinkam, dann mal nach zwei Stunden, saß se
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auf´m Fensterstock, hat geraucht, und hat die Musik so leise gehabt, dass se wirklich
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kaum im Zimmer zu hören war. ((lacht)) Und da hab ich gedacht/hab ich gesacht:
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„Warum machst´en du das so leise?“ – „Naja, ..ähm.. die H., die hat das immer gestört
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wenn wir so laute Musik machen.“, hab ich gesagt: „Ja, aber das is jetzt wirklich
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keine.“. Sie hat sich besonders rücksichtsvoll ..äh/äh/äh.. verhalten, wollt ich damit
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sagen. Und so waren die ganzen nächsten Wochen. S. hat sich zusammengerissen ohne
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Ende, sie hat also ..äh.. totale Rücksicht/aber sie wollte wirklich alles richtig machen,
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ne? Und ..äh.. aber ich hab ihr auch gleich von Anfang an - und das hat auch der Herr
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E., im ersten Kontakt gesagt – dass auch hier Regeln und Pflichten gibt. Also vor allen
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Dingen Regeln, ne?“
191
1
I.:
2
P.:
„Mhm.“
„Sie hatte dann den Freund, und hat nicht eingesehen, das sie eben, was weiß ich, sie
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sollte immer dann um neun, oder halb zehn dann irgendwann zuhause sein, und dabei
4
konnt sie immer erst um acht, halb neun geh´n, weil sie ja die vielen Pflichten hatte.
5
So, und sie war da vierzehn/fünfzehn und da gibt´s nu o´ch nicht, dass se erst nachts
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um eins in der/der Woche nach Hause kommt, un da ham wir um elf Uhr/23 Uhr
7
ausgemacht. Der Freund hat se dann oft abgeholt, und der Freund wollte sich dann e
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bissl einnisten, und das hat mir nicht gefall´n! So! ..Äh.. ja. Also der erste Tach
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Pflegemutter hab ich ihnen jetzt erzählt,ne? Also sie hat sich wirklich total
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zurückgehalten. Und dann hab ich auch gemerkt, sie .äh.. also – die andern
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Pflegemütter arbeiten ja alle nicht, ich bin ja die Einzige, die arbeitet – und das hat die
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S. total gesehen, ne? Und sie hat/sie war sehr fleißig. Also sie hat auch immer von sich
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selber: „Soll ich das machen? Soll ich das machen?“. Die ersten ..äh.. nach einer
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Woche oder so, ham mir auch drüber gesprochen, was se für kleine Pflichten
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übernehmen könnte, und da hat sie von alleine, ungefähr so eine Latte ((lacht bis*))
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hat se gesacht, dass se das machen will. Hab ich gesacht: „Na, da bleibt ja nichts mehr
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für mich übrig!“,ne? (*) Also die is auch heute noch sehr, sehr fleißig, die S., sehr
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arbeitsam. So! Und dann, ja und die ersten paar Wochen ham wir das alles so
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auseinander getüfftelt. Sie hat auch ohne, dass ich da irgendwie sachen musste, oder
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erinnern musste, immer alles, das was se machen sollte, gemacht. Und dann hat S., hat
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in der Schule, in/also die Richtung Haus... wie hieß das?“
22
I.:
„Hauswirtschaft?“
23
P.:
„Hauswirtschaft, genau! Un da hat se auch Kochen gehabt, und ..äh.. da hat se auch
24
gesacht: „Soll ich nicht ab und zu mal Kochen? Soll ich nicht mal einmal in der
25
Woche, oder so?“, und das hab ich mit/mit Freuden hab ich das vernommen, weil ich
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koch zwar gerne, aber vielleicht doch nicht! ((lacht)) Jeden Tag, jeden Tag, das ..äh..
27
ja, musst ich ja, wenn ich alleine bin, koch ich, also ganz/gar nicht viel für mich
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alleine. So! Jedenfalls, das war wirklich sehr schön. Und das hat se dann auch
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durchgezogen, einmal in der Woche. Un ..ähm.. ja und wir haben uns ganz schnell an
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einander gewöhnt, ne? Es war/es war auch für mich war´s sehr schön. Und wir hab´n
31
uns nach kurzer Zeit, hab´n wir uns wirklich recht lieb gewonnen, muss ich wirklich
32
sagen.“
33
I.:
„Mhm, mhm.“
192
1
P.:
„Kam aber auch wirklich viel von ihr, aber da sie auch schon diese Erfahrung in der
2
anderen Pflegfamilie hatte, ne, kam dann eben auch sehr viel von ihr, ne? Also am
3
Anfang ..äh.. war ja totales Kontra zur Pflegefamilie, zu der ersten. Und ich hab aber
4
dann das schon ..äh.. versucht zu relativieren, halt ne? Dass halt jede Pflegeeltern dann
5
auch bissl anders sind, und ich hab dann die Pflegemutter kennengelernt. Wir
6
haben/wir waren dann zum Pflegeelternstammtisch, ne? Und da hab ich ..äh.. der
7
Pflegemutter auch gesagt, die S. hat jetzt auch kennengelernt, dass ..äh.. überall
8
Regeln herrschen, ne? Also ich hab da versucht zu vermitteln, dass die wieder ins
9
Gespräch kommen. Und dass das auch ..ähm.. nicht zwischen uns Krach gibt –
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zwischen den zwä Pflegemüttern, und so. Und das hab ich, find ich, oder haben wir
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sehr gut hingekriegt. Später haben sie sich dann mal zusammen getroffen und haben
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da drüber geredet, und dann wieder mal getroffen, und... Aber sie wusste dann schon
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wo se hingehört! Sie war dann nicht hin- und hergerissen, sie hat wirklich voll zu mir
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gestanden. Ja!
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Ne typische Situation. ..((7)).. Also jetzt mit S. – ne typische Situation? Also wir
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haben immer irgendwie Hand in Hand wir haben zusammen geputzt freitags. Wir
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haben zusammen ((lacht)) ja, sie will/sie will keinen festen Tag, wo ich putz, das
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werde ich nie machen. Aber es hat´s/sie hat nicht dagegen revoltiert, sie hat das
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einfach angenommen, das is bei mir so und fertig, ne? Ja also in meinen Augen hat
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se´s angenommen. Aber ich weiß jetzt nicht wie se´s ihnen/vielleicht/aber in meinen
21
Augen hat se´s angenommen. Und/und es gab auch käne so großartigen Probleme,
22
oder Streitereien, oder so.“
23
I.:
24
P.:
„Hm.“
„Ich kann mich da nicht dran erinnern. Klar ham wir o´ch mal rumgemotzt - und ich
25
weiß jetzt nicht mehr warum; ich kann ihnen das nicht mehr sagen – ( ) aber bei de S.,
26
des waren Kleinigkeiten, un da kam´s nie zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Nie!
27
Und vor allen Dingen ..ähm.. es war ja auch mein erstes Pflegekind, ich musste ja auch
28
lernen. Und´s kann schon sein, dass ich am Anfang vielleicht o´ch, wo ich dann ..äh..
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vielleicht mehr gestresst war durch mein zweites Pflegekind G., dass ich dann mal
30
gemeckert hab, ungerechtfertigter Weise – vielleicht – mit der S. und die kam dann
31
aber immer. Sie hat immer wieder es Gespräch gesucht und immer wieder, und das
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hab ich genossen. Das war ganz toll, und das hab ich ihr auch oft gesagt. Manchmal
33
hat se gemeckert: „Ja, ja, das glaub ich, das du das gerne hast.“, ((lacht)) aber es
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war/also es war wunderbar. Also ..äh.. aus meiner Sicht, das war klasse! Und als dann
193
1
eben die Probleme mit meiner zweiten Pflegetochter dann anfingen, ..ähm.. dann war
2
se praktisch, die S. is dann ..ähm.. wie so´n/n Partner von mir eigentlich aufgestiegen,
3
muss man jetzt einfach mal sagen, ne? Ich/ich/sie war ja dann schon 16, 17. Un ich
4
..äh.. hab mit ihr dann/sie war sehr reif immer für ihr Alter, auch wo se zu mir kam?
5
Sie war sehr, sehr reif! ... Fleißig, was andere Kinder in dem Alter überhaupt nicht sin
6
und reif, also in ihren Ansichten, mit Reden und so.“
7
I.:
8
P.:
„Mhm.“
„Ein Problem fällt mir jetzt ein, in/das war´s Rauchen! Das war´s Rauchen, ne? Ich
9
hab erst zuerst überall erlaubt. Ich hab jetzt gedacht: „Nix besonderes!“. Sie is dann
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immer hier raus gegangen, hat sich da vorne auf die Treppe gesetzt. Sie wollte nicht
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mal hier (auf der Terrasse) dass mein Rauch/ihr Rauch mich stört. „S., so ein Quatsch,
12
du kannst überall rauchen.“, nachher, der/der Freund war dann auch e klänes Problem,
13
weil der sich versucht hat so einzunisten, ne? Und das hat mir ehrlich gesagt/damit
14
konnt ich nicht/damit bin ich überfordert gewesen. Und der kam dann... .“
15
I.:
„Was heißt eigentlich Einnisten? Einziehen, oder?“
16
P.:
„Nee! Der kam dann her, hat sein/seinen riesengroßen Rucksack hierher und: „Ich
17
penn heut hier!“, ja! Und/und ich war berufstätig, hab, ne, das muss ich immer wieder
18
sagen, und so was hat mir überhaupt nicht gefallen. Ich konnte da/und/und dann vor
19
allen Dingen en Mann, das war/der war ja schon en Mann, der war viel älter, als sie, na
20
viel, ne, der war älter. Fünf, sechs Jahre garantiert.“
21
I.:
22
P.:
„Hm.“
„Ne? Und das hat mir nicht gefallen! Das war´n/das war ein Problem für mich. Und
23
die Raucherei. Und ich vergess das nie, mir sitzen hier im Wohnzimmer, sie haben´s ja
24
mal gesehn, wo sie durchgegangen sind. Mein damaliger Freund, viel geraucht, de S.,
25
sehr viel geraucht, der ..ähm.. wie hieß er denn gleich, de M., ganz viel geraucht. Und
26
ich seh dann – die sitzen alle im Wohnzimmer – und ich kann dann mein
27
Kerzenständer da drüben, nicht mehr erkennen, so war das. Und da hab ich gesagt:
28
„Schluss! Das/das geht nicht mehr! Das/hier darf nur noch einer im Wohnzimmer
29
rauchen, das is mein Freund!“, weil der das schon lange durfte ((lacht)). Da hat der M.
30
total zu gemacht: „Wenn der das darf, dann muss ich das auch dürfen!“, es gibt nur
31
noch in Zimmer von de S. und es gibt nur noch in der Küche. Hab ich dann einfach
32
gesagt, de M. war stinksauer, de S.: „Das is de Pflegemutter ihre Wohnung, und die
33
hat/die kann das bestimmen!“, hat se gesagt. Also war nicht großartig beleidigt, oder
34
so. Sie hat´s einfach eingesehen.“
194
1
I.:
2
P.:
„Mhm.“
„Und das fand ich wunderbar! Ne? Der M. war mir dann irgendwie total egal.
3
Entweder du hälst dich da dran, oder du kannst nicht mehr kommen, ne? ((lacht)) Gut,
4
das hätt ich sowieso nicht so ernst genommen, mit dem nicht mehr Kommen, denn die
5
S. hat ihn ja geliebt abgöttisch. Sie hat wegen ihm immer Diät gemacht.
6
Aber die S. war eine, die hat ..äh.. am Tisch gegessen, und so ganz normal, in meinen
7
Augen, und dann hab ich nach paar Monaten, dass aus´m Kühlschrank/aus´m
8
Kühlschrank, da war dann immer/hab ich gemerkt, dass da auf/immer Sachen
9
(gefehlt), so naja gut, hm ja? Hm. Da hab ich überlegt, warum isst se nicht am Tisch,
10
warum dann. Aber ich hab se nie/wir haben erst, wo/wo/wo se dann wirklich
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erwachsen war, achtzehn oder neunzehn, da hab ich dann mal nachgehakt, warum das
12
so is. Un da hat sie zu mir gesagt: „Na Pflegmutter“, und ich war immer sehr schlank,
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ich hab nie so viel gegessen, ne eigentlich. Hm. Und des war für mich aber normal,
14
weil ich´s nicht anders kannte, ne? Und da hat se gesagt: „Ja, du hast so wenig
15
gegessen, da/da hab ich mir nicht getraut mehr zu essen!“. Und wo ich das gehört hab,
16
da hab ich noch en halben Nervenzusammenbruch im/im Nachhinein gekriegt! Um
17
Gottes Willen! Um Gottes Willen, ne? Und ..äh.. ja? „Da hab ich das dann so
18
gemacht!“, hat se gesagt. ((lacht)) Und/und/und also das war ja/das war sehr schlimm
19
für mich das zu hören. Die Kinder können doch essen was se woll´n. Natürlich grad
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jetzt meine heutigen Pflegekinder, wo die hergekommen sind, haben se so viel
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gewogen wie ich. Und das finde ich nicht richtig! Aber/aber ich kann denen doch um
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Gottes Willen, und ne? Aber vorgewarnt durch de S. hab ich dann gesagt: „Esst soviel
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ihr wollt!“, ne? Aber bei mir is ne Ernährungsumstellung, ne? Bei mir, sag ich euch
24
ehrlich, gibt´s viel Obst und Gemüse, und/und/und Vollkornsachen – Brote und so was
25
– ne? Und die Mädels haben das aber so gut jetzt, auch die zwei jetzt, so gut
26
aufgenommen, ne? Die sind damit/die wollten des auch, ne? Nicht nur Chips,
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und/und/und Spagetti un/un/und Pizza oder Döner, oder so was. Und die waren alle, so
28
empfinde ich das, dankbar. Ob sie mir jetzt nur was vorspielen, oder vorgespielt
29
haben, glaub ich eigentlich nicht! ((leiser bis )) Aber ich weiß es nicht genau!“ (*)
30
I.:
31
P.:
„Hm.!“
„Und ..ähm.. dadurch haben die dann schon alleine durch die Ernährungsumstellung,
32
haben die dann schon abgenommen, zwei, drei Kilo? ( ) So! Un die S. hat aber auch
33
durch den M., der M. wollte kein dickes/keine dicke Freundin, „Wenn du mal mehr
34
wiegst“, hat der gesagt, „dann/dann/dann mach ich Schluss!“,un da hat die S. sich also
195
1
schon, nachher, später dann, schon zu wirklichen Hungerkuren hingerissen. Also die
2
hat dann nur noch Wochen lang ..ähm.. Müsli gegessen. Ich weiß nicht, ob sie´s ihnen
3
erzählt hat. Aber das hatte nichts mit mir zu tun! ((lacht)) Weil ich dann/weil ich so
4
wenig ess, ne? Also Müsli is jetzt nicht ganz so mein Ding, ess ich zwar auch ab und
5
zu, aber das kann käne Ernährungsgrundlage für mich sein. Und also der hat se dann
6
schon/und die war da auch sehr schlank. Und wo der/wo der/sie war nämlich als elf-,
7
zwölf-,dreizehnjährige richtig dick. Haben sie Fotos gesehen? Hat sie die ihnen
8
gezeigt?“
9
I.:
10
P.:
((schüttelt den Kopf))
„Nee? Also so ne Kugel. Und so wollt se nie wieder werden. Und ..ähm.. und dann hat
11
se´s wirklich in meinen Augen übertrieben, da ham wir o´ch schon mal Gespräche
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geführt, aber die hat sich da nicht beirren lassen. Sie hat ihn eben geliebt, ne? Und als
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dann Schluss war – Halleluja, Gott-sei-dank –! Obwohl der ging ja noch. ..Ähm/äh..
14
dann ..äh.. is das mit der Ernährung, dann hat se sich wieder normal ernährt, hat
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natürlich o´ch e bissel zugelegt. Hat bei jeder Gelegenheit gefragt: „Bin ich dicker
16
geworden? Bin ich dicker geworden?“, und so. Natürlich is se dann e bissl voller
17
geworden, aber das passte zu ihr. Das stand ihr! Und das hab ich ihr auch jedes Mal
18
gesagt, ne? Und dann hat se sich immer gefreut, dass ich das so diplomatisch sag.
19
((lacht)) Da hat sie mir noch Fotos, letztens, voriges Jahr, oder vor zwei Jahren, hat sie
20
mir Fotos von sich geschickt, „Kuck mich an! Bin ich dicker geworden?“. ((lacht))
21
Und mit dem V., hat sie jetzt wirklich zugelegt, weil er is selber bissel propper – haben
22
sie ihn gesehen?“
23
I.:
24
P.:
„Mhm.“
„Ne! Und da hat se wirklich e bissel - weil sie ja auch regelmäßig kocht, ne, und gut
25
kocht, und viel kocht - und da hat sie wirklich bissel zugenommen. Aber ich hab das
26
dann eben schön verpackt, ne? Und ich finde es steht/es passt einfach zu ihr, ne? Und
27
da hat se/da war se dann glücklich über meine Diplomatie. Aber hat genau gewusst,
28
dass se doch zugenommen hat, ne? ((lacht)) Ja!
29
Ja! Und dann in der Anfangszeit ..ähm.. also das waren so mit dem Rauchen, und so,
30
das war dann/also das war schon e bissel e Problem, ne? Und/und dann hat se en
31
Freund gehabt - ich weiß nicht, ob se ihnen das erzählt hat – ne gut. Warten se mal.
32
Wir müssen erst noch mal dazu kommen, wie sie zu ihren Möbeln gekommen is. Sie
33
hat/ich hab sie dann vor die Entscheidung gestellt, das Zimmer hier hinten innerhalb
34
der Wohnung, oder das hier außerhalb. Das is ja praktisch auf´m Hausgang, ne? ...
196
1
Und da hat sie dann gesagt: „Ach, ihr wär´s lieber hier e bissel außerhalb, da könnt se
2
auch so bissel kommen und gehen, wie sie will. Das würd ich vielleicht nicht so
3
merken!“, und da hab ich gesagt: „Aber du hälst dich trotzdem an die Regeln?“ – „Ja,
4
ich halt mich an die Regel!“. Und da hat sie auf einmal gedacht, dass sie ihre Möbel,
5
von der ersten Pflegemutter, dass sie die doch holen könnte. Weil das sind so
6
amerikanische Möbel, und die ham mir dann geholt, und das war ne schlimme
7
Situation, bei der andern Pflegemutter. Das war gleich am Anfang, da waren noch die
8
Fronten total verhärtet.“
9
I.:
10
P.:
„Mhm.“
„Das war ne schlimme Situation. Und die Möbel hat se geholt, und da hat sich total
11
wohl gefühlt, ne? Das war vielleicht drei Wochen, nachdem sie hier war. Und da hat
12
sich dann super wohl gefühlt. Das hab ich richtig gespürt, ne? So´n riesengroßes Bett.
13
((etwas wird von Tisch weggeweht – Unterbrechung von ca. 1 Minute)) Ja, und das
14
war/das war gut, dass mir das gemacht haben. Und dann noch Auslegware, so Teppich
15
gekauft.“
16
I.:
„Und was war so schlimm an diesem Treffen?“
17
P.:
„Naja, weil die Mutter, die Pflegemutter die Erste, wollte nu erst mal nichts mit ihr zu
18
tun haben, den M. konnt se sowieso nicht ertragen. Der is natürlich genüsslich
19
mitgegangen! Aber wir brauchten auch jemand, der die/das runterträgt und so, ne?“
20
I.:
21
P.:
„Mhm.“
„Und sie war/war verweint, und/und verhärmt, und/und hat sich sofort, „Ja kommt
22
rein.“, und war sofort weg. Sie wollte nichts damit zu tun haben. Und da sim mir
23
alleine hoch und runter - und das war für mich als Unbeteiligte eigentlich, obwohl ich
24
ja nicht/ich war ja beteiligt - aber das war sehr/das war sehr schlimm. Für die S. war´s
25
auch schlimm. Mir waren froh, wie das rum war. Aber nachher, wie gesagt, ..äh.. je
26
mehr Zeit vergangen is, desto mehr haben wir uns dann angenähert. Un des war dann
27
gut.“
28
I.:
29
P.:
„Mhm.“
„Ja? Also das waren halt so die Probleme mit dem Rauchen, mit dem Essen, das hab
30
ich ihnen so geschildert. ..Ähm... ..((5)).. ja, die Probleme bei de S., also ich kann mich
31
an keine richtigen Probleme erinnern, aber das ..ähm.. mit Rauchen wollt se einfach
32
nicht aufhören. Was hab ich für Monologe gehalten ((lacht)) die haben alle nichts
33
genützt. Oder bin ..äh.. hab so/so Bücher gekauft so von Rauchen oder ja von
34
Apotheken. Wissen sie, so Raucherbein und so Lunge, was ich ihr da nicht alles
197
1
gezeigt hab, ne? Aber es... Ja ((lacht)) Ich hab mein Möglichstes getan. Ich hab es
2
vorgelebt nicht zu rauchen, es hat nichts genützt.“
3
I.:
4
P.:
„Mhm. Glaub ich.“ ((lacht))
„Und das Schlimmste war ..äh.. was war denn jetzt das Schlimmste? Was wollt ich
5
denn jetzt sagen? ..((4)).. Das sie seit acht Jahren, also seit sie acht Jahre alt war,
6
geraucht hat – so hat sie´s mir erzählt, damals.“
7
I.:
8
P.:
9
„Hm. Ja, das is heftig.“
„Nee? Das is also/das is wirklich heftig! Ja und ..äh.. ja die Männer waren schon
Problem bei de S., ne? Also die S. war, da sie mit vierzehn, fünfzehn schon
10
hergekommen, ne fünfzehn hergekommen is, da war sie ja wirklich kein Kind. Und
11
ihre Ansichten waren so erwachsen schon, ne? Eigentlich war se nie so – am Anfang,
12
ja doch e klänes bissel – so Tochter-Mutter-Beziehung, aber dann mehr Freundinnen-
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Beziehung, eigentlich, ne? Und sie hat o´ch wirklich Wert auf meine Meinung gelegt –
14
damals! ((leiser bis )) Damals! (*) Ja! Un aber die Männer... also das größte Problem,
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das war kän Problem - also der M. war das .äh.. Sylvester 1999, da hatte die S. einen
16
Unfall, Sylvesternacht, oder 1./ersten Januar. Und ..äh.. alles nur wegen diesem M.!
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Weil ich auf Männer zu sprechen kommen wollte. Der M. wusste ganz genau, dass die
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S. nicht alleine sein kann, wenn die Probleme hat. Der wusste, dass wir nicht da bin,
19
und hat Sylvesterabend achtzehn Uhr mit der Schluss gemacht. Und so waren halt
20
immer die Männer bissel schwierig. Dann war halt die ganze Zeit/Situation im
21
Krankenhaus. Und dann hat se ..ähm.. irgendwie ..äh.. auf einmal saß jemand/ein
22
anderer Mann da, an/wo ich sie besucht ..äh..wo ich se besuchen kam, im Sommer, die
23
Platte herausgenommen bekommen hat, und der war mir schon unsympathisch, wo ich
24
ihn gesehen hab, aber ich hab mir wirklich – ich schwöre – ich hab mir nichts
25
anmerken lassen. Ich hab den ganz freundlich behandelt und alles. Ja, und als die S.
26
entlassen worden is vom Krankenhaus, da wollt ich se abholen, weil das das Schönste
27
is, wenn man so was mitgemacht hat, uff ämol ruft se an: „Ich bin schon beim...“ – wie
28
hieß der denn... T. – „Ich bin schon bei T.!“. Und da war ich geschockt! Das war/da
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war ich wirklich hochgradig geschockt! Gut, das musst ich hinnehmen. Von da an, war
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sie nur noch fast bei ihm. Und er wollte dann aber/ich hab die Miete übernommen,
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von/also praktisch hier, wo die S. ihr Hauptwohnsitz hatte, dann hat ich in Sp. ne
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Wohnung gemietet, wo se gelernt hat, und da hab ich auch die Miete getragen –
33
natürlich unterstützt mit em Jugendamt – und jetzte fing der dann an, o´ch noch Geld
34
verlangen zu wollen!“
198
1
I.:
2
P.:
„Mhm.“
„Ne? Ja, und da sim mir direkt/da hat er de S. immer Vorwürfe gemacht, ne? Und da
3
hab ich dann schon gedacht: „Oh, oh! Was is das für einer?“. Ich bin auch dort
4
verkehrt, aber sehr selten, ich hab gemerkt, das war nicht so gewollt. Naja, und dann
5
rief sie mich eines Nachts an und hat geweint ohne Ende. Und er hat sie geschlagen.
6
Lange Rede, kurzer Sinn: Er hat sie geschlagen! Und es wurde immer mehr, und
7
immer heftiger, ich konnte ihm/ich konnte ihr ihn nicht ausreden. Bis ich dann gesacht
8
hab: „Also ich will mit dem ehrlich gesagt nichts mehr zu tun haben. Ich kann dem
9
nicht mehr in die Augen kucken.“. Ich/ich hab a´ch angerufen und getobt am Telefon,
10
aber es hat alles nichts genützt.“
11
I.:
12
P.:
„Mhm.“
„Dann hab ich gesagt, sie muss das selber. Sie hat aber wirklich jede/jede vierzehn
13
Tage/drei Wochen, musst ich sie wo anders herholen, weil er sie wieder geschlagen
14
hat. Also das war schrecklich. Jedenfalls irgendwann hat se´s begriffen, hat/hat sich
15
getrennt, aber des war ne schwere Zeit, so Partner mäßig für sie. Und für mich
16
eigentlich auch, weil ich immer gedacht hatte: „Um Gottes Willen. Hoffentlich kommt
17
die nicht ins Krankenhaus!“, die mit ihrer Verletzung dann noch. Wenn der die
18
durch/der hat sie ja durch die Wohnung geschleudert, ne? Und so was – oh, ne – wenn
19
ich da dran denk! Also das/das war auch ein großes Problem.
20
Aber sonst .. es is mir nichts so im Gehirn, dass das jetzt sie als Person so en Problem
21
war, ne?
22
Positive Erlebnisse, halt mit de S., ständig das Zusammensein, also wie se auf mich
23
eingegangen is, wie/wie unsere Kontakt/wie unsre Kontakte waren, so. Also wie wir
24
uns gut behandelt haben.“
25
I.:
26
P.:
„Mhm. Mhm.“
„Wie sie verständnisvoll war, ne? Auch wenn ich schlecht drauf war. Wenn wir/ich
27
hatte ja dann mittlerweile drei Kinder, ne also. Ein weiteres Pflegekind und ne
28
Tagespflege. Und da war ich wirklich hochgradig angespannt, aber das war nur/sollte
29
nur so en Test sein. So ne Test/en Experiment vom Jugendamt aus. Und da dacht ich,
30
das is in einem Jahr Schluss, aber das hat dann vier, fünf Jahre gedauert. ((lacht))
31
Doch trotzdem noch. Da war ich ne zeitlang, ging mir´s da wirklich sehr/also da war
32
ich nervig, wie man des so sagt.“
33
I.:
„Mhm.“
199
1
P.:
„Ja! ... Das Verhältnis zwischen den Geschwistern, also die G. war schon noch em
2
halben, ach nach en paar Monaten, hat die sich schon entpuppt gehabt, ne? Und ... das
3
Verhältnis zwischen S. un/und/und de G. is eigentlich mit der Zeit immer schlechter
4
geworden. Je älter die geworden sind, desto schlechter is das geworden, weil die G.
5
wirklich derartig schwierig war, und oftmals gemein, und sehr anstrengend. ( ) Aber
6
dadurch ..ähm.. auch/auch gegenüber de S. war die G. sehr gereizt, obwohl die S.
7
wirklich en geduldiger Mensch war, en ruhiger und geduldiger Mensch, was man von
8
de G. ja nicht sagen kann. Und vor allen Dingen o´ch sehr fleißig. Und dann hat die G.
9
das nicht gemacht, was ihre Pflichten war, und dann war die S. sauer, weil die das
10
nicht gemacht hat, un... Also eine konkrete Situation kann ich mich jetzt nicht mehr so
11
erinnern, ne? Aber es war/es Verhältnis wurde dann mit der Zeit immer schlechter. –
12
Konkurrenz war das jetzt eigentlich nicht, ne? Konkurrenz is für mich zwischen
13
Pflegegeschwistern, is für mich, dass sie um die Liebe der Pflegemutter, oder der
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Pflegeeltern buhlen, und so in Konkurrenz liegen. Aber das war´s nicht – für die G.
15
dann vielleicht, die hat dann später mal zu mir gesagt: „Ja, du hast ja die S. viel lieber
16
als mich!“. Das hat/das hat die G. dann schon später, aber...“
17
I.:
18
19
„Hatten sie das Gefühl, dass die S. im Mittelpunkt stehen wollte? Oder
gern gestanden hat? Hatten sie jetzt net?“
P.:
((schüttelt den Kopf)) „Nein! Überhaupt nicht! Überhaupt nicht. Im Gegenteil!
20
Die/stand ständig die G. im Mittelpunkt! Die S. hat sich wirklich ..äh.. zurück, in
21
meinen Augen, also die G. hat´s garantiert anders empfunden, ne? So hat se, kann ich
22
mir vorstellen. Jedenfalls für mich war das nicht so. Für mich stand die G. im
23
Mittelpunkt, weil sie erstens viel jünger war, die brauchte noch mehr in meinen Augen
24
Behut/also Behütung und so weiter und so fort, ne? Aber eben mit ihren Eskapaden –
25
hm – da stand se sowieso immer im Mittelpunkt! Und das wollte die G. auch. Das hab
26
ich am Anfang natürlich nicht so begriffen. Erst später aber. Un/und aber die S.
27
stand/also natürlich mit dieser Krank/mit diesem Unfall, da stand die S. im
28
Mittelpunkt. Und das hat die G. nicht wegstecken können, ne?“
29
I.:
30
P.:
„Hm. Hm.“
„So! ( ) Also Konkurrenz ... aus meiner Sicht, hab ich das nicht empfunden. Aus der S.
31
ihrer Sicht würd ich o´ch nicht denken, dass die/dass die gedacht hat, ... oder dass
32
durch... .“
33
34
I.:
„Wie würden sie denn das Verhältnis zwischen den Zwei beschreiben? Aus S.´s Sicht?
Wenn nicht Konkurrenz, dann...?“
200
1
P.:
2
„Hm? Aus S.´s Sicht, denk ich nicht, dass die G./die wollte gar nicht in Konkurrenz
treten, die S.!“
3
I.:
4
P.:
„Gleichgültigkeit?“
„Nach ner Weile vielleicht, weil die G. se immer wieder enttäuscht hat. Dann, ich
5
denk, dass ja, das is vielleicht es richtige Wort. Dass de S., das dann einfach später
6
dann egal war.“
7
I.:
8
P.:
9
„Mhm.“
„Ne? Und ich hab ja/die S. wurde ja o´ch so langsam, weil die Schwierigkeiten mit de
G. waren, mehr zum Partner, praktisch, ne? Und dann hab ich/hab ich doch mal mit ihr
10
dann über die G. geredet. Vielleicht hat das die G. dann doch mal gehört. ... Weiß ich
11
nicht! ... Ja, die S. wurde dann schon e bissel zum/zum Partner.“
12
I.:
13
P.:
14
„Mhm.“
„Ne, das muss ich einfach sagen. ... Ja! ..((6)).. Ja, Vertrauensverhältnis zwischen S.
und mir. Also ich finde das war sehr, sehr groß.“
15
I.:
„Mhm. Und wie hat sich das entwickelt? Weil wahrscheinlich net Tür rein, und...“
16
P.:
„Nee! Wie hat sich das entwickelt? ... Naja, die S. hat halt gemerkt, die/die G., also
17
vorherige Pflegemutter, die war so, wie soll ich en sagen? Halt ... na gut, sie hat se ja
18
auch früher gehabt. Die konnt wahrscheinlich auch nicht ertragen, dass da plötzlich en
19
Mann war, der an der S. rumgeschraubt hat, oder so, ne? Und ich, hab sie ja so
20
gekriegt, für mich war die S. nicht wie fünfzehn,sechzehn, sondern die war schon wie
21
zwanzig. Und ich hab das dann sofort akzeptiert, ne? Und da/wenn sie sich eben mit
22
ihm gestritten hat, also das ging schon mehr, aber am Anfang über de ..äh.. Freund,
23
ne? Das wir da Vertrauen/das sie mir dann immer mehr erzählt hat, und ich immer so
24
freundschaftliche, oder frauliche ..äh.. Ratschläge gegeben habe, ne? Oder/oder mir
25
einfach angehört hab und Verständnis gezeigt hab. Und ... ja, auch wenn selbst ..äh..
26
das Vertrauen, das hat sich so sehr entwickelt, selbst wenn´s/wenn´s sexuelle
27
Probleme gab, oder so, ne? Die S. hat mir da fast alles anvertraut. Und das fand ich,
28
also bemerkenswert. Das war dann schon eigentlich nicht mehr so wie so ne Tochter,
29
sondern wie so ne richtige Freundin, dann schon, ne?“
30
I.:
31
P.:
„Mhm.“
„Und das is halt immer, immer erwachsener geworden, das Verhältnis, wenn ich das
32
mal so ausdrücken darf, ne? Die S. auch/auch ..ähm.. die hat mich wirklich als
33
Vertrauensperson empfunden. Nur ich/ich vergess nie, ne, im Krankenhaus, ne? Wie
34
ich die da zur Ruhe gebracht habe. ( ) Und das zeugt doch von wahnsinnigem
201
1
Vertrauen. Oder wenn/wenn o´ch en gesundheitliches Problem war – ich war immer
2
der Ansprechpartner, ne? Die S. hatte auch zwei, drei Freundinnen, ne? Aber sie kam
3
immer zuerst zu mir! Was/was eigentlich nich so normal is.“
4
I.:
5
P.:
„Mhm.“
„Ne? Weil, irgendwelches/so Sachen, grad Sex, oder so, da will man doch erst mit
6
seinen Freundinnen besprechen, ne? Aber die S. – und es is bis heute, also bis zur
7
Hochzeit – die S. hat keine Brautjungfer gehabt, ne? Die wollte mich als Trauzeugen,
8
ne? Ich hab grad gestern mit meiner Tochter, die hat/der ihre Freundin, die hat auch
9
geheiratet, und da war meine Tochter, die Gleichaltrige hat mit der Hochzeit alles
10
gemanagt, ne? Und so! Brautjungfer und so und Trauzeuge. Und bei der S. war ich das
11
alles, ne?“
12
I.:
13
P.:
„Hm.“
„... Un/un/un das hat natürlich war/haben sich dann meine Gefühle unterschiedlich
14
entwickelt, zur S. und der G., ne? Ich hab natürlich versucht, das ..äh.. nich raushängen
15
zu lassen, aber ich denk mir, die G. wird das dann schon irgendwann gemerkt haben!
16
Ne? Aber sie is intelligent. Sie muss gewusst haben, warum. Ich hab ja auch mit ihr
17
drüber gesprochen. Also jetze/die ..äh.. klar die G./die G. manchmal gesagt ..ähm.. „Ja,
18
du hast die S. viel lieber!“, und dann hab ich aber auch wirklich richtig versucht
19
dadrüber zu reden, aber da kam von der G. nie eine Besserung, oder so dass es was
20
genützt hätte, das ma da drüber geredet hätte! Ne? Und wo dann die S., war ja dann,
21
auch nachdem die G. ein Jahr da war, oder anderthalb, is ja die S. weg gewesen, ne?
22
Die S. is dann ..ähm.. nach Sp. gegangen, Lehre/Ausbildung zum Erzieher gemacht.
23
Und da war das schon wieder entspannter, alle/also obwohl das nie so/aber zwischen
24
den Zweien war ma total entspannt, ne?“
25
I.:
26
P.:
„Mhm. Mhm. Mhm.“
„So, und dann war ja die G. auch ganze Woche über im Mittelpunkt bei mir, ne? Die
27
S. kam dann nur es Wochenende, dann kam se nicht mehr es Wochenende, sogar, weil
28
se dann den V. hatte. Da is se das Wochenende dann zu dem hingegangen. Also, hat
29
sich immer mehr dann abgenabelt, aber trotzdem war ich immer noch die
30
Vertrauensperson. Mir haben uns ganz oft telefoniert und alles, ne? .. Ja? ... Und ich
31
find´s toll heut, im Nachhinein, dass ich so ne gute Lehrausbilderin mit de S. hatte.
32
Weil´s war meine erste Pflegetochter, ne? Und ..äh.. dass das alles gleich so
33
harmonisch war, un das war aber auch, weil die S. schon ne Pflegefamilie hinter sich
34
hatte, ne? Und ich... .“
202
1
I.:
2
P.:
3
„Mhm. Mhm.“
„Ne? Deswegen konnte sie gereifter an die Sache rangeh´n, an die neue Pflegefamilie.
Und mir hat das gut getan, dass so pö-a-pö alles zu lernen.“
4
I.:
„Mhm.“
5
P.:
„Ne? ..((15)).. Diskriminierung!“ ..((6))..
6
I.:
„Vielleicht auch in Hinsicht auf ihre Familie.“ ..((5))..
7
P.:
„Ich kann mich nur an eins erinnern. Meine/meine Schwester, meine Mutter wollte mir
8
das unbedingt ausreden! Aber meine Mutter ((lächelt)) is zum Schluss mit mir - da war
9
die S. schon da - is zum Schluss mit mir nach Pi. gefahr´n zum Jugendamt und hat sich
10
mit mir dort vorgestellt. ((lacht)) ..Äh.. weil sie ..äh.. weil ich/ich hab ihr erzählt ..äh..
11
„Ja, das Jugendamt Pi. hat/braucht jemanden, und so.“, ich hab ihr das natürlich
12
..ähm.. für mich wohlwollend erzählt, ne? Und ..äh.. da is meine Mutter dann trotzdem
13
mit nach Pi. gefahren und hat sich das dort mit angekuckt dort und mit den Herr B.
14
und der Frau K. gesprochen, ne? Hat das trotzdem gemacht! Also die S. ist in meine
15
Familie ..., trotz der Schwierigkeiten am Anfang, trotz der „Nein!“, is se sehr/die is
16
eigentlich die Integrierteste, ne? Mit der können se alle. Die verkehrt mit meiner
17
Schwester. Meine Mutter hat se sehr, sehr, sehr gern. Sie ..äh.. ich war oft mit ihr, wo
18
die G. noch nicht war im/im Osten, haben meine Eltern besucht. Also die is total
19
anerkannt.“
20
I.:
„Mhm. Mhm. Von Anfang an?“
21
P.:
„Nee, das hat se sich erarbeitet.“
22
I.:
23
P.:
„Mhm.“
„Das hat de S. sich erarbeitet. Des muss ich wirklich so sagen! ... Also diskriminiert
24
worden is se trotz, dass meine Eltern alle so dagegen waren, is se nicht worden. Auf
25
keinen Fall. Meine Eltern hatten letzt endlich alles mitgemacht – und meine Schwester
26
auch! Ne? Die sagen des nur, ihren Frust/wenn se Frust hatten, irgendwie Mal ..äh.. an
27
mir aus/also mit mir alleine abgemacht. ( ) Aber mit de S./de S. is total anerkannt.“
28
Mit der G. wollen se nicht mehr viel zu tun haben. Muss ich jetzt ehrlich sagen. Meine
29
Schwester nich, und meine Eltern auch nich.“
30
I.:
31
aufzunehmen...“
32
P.:
33
I.:
34
„..Ähm.. aber ganz, ganz am Anfang, wie der Entschluss da war Pflegekinder
„Mhm, mhm.“
„ ...waren se ja auch dagegen! Was gab´s en da für Gedankengänge, warum mer das
net nachvollziehen konnte?“
203
1
P.:
„..Äh.. ich soll mich um mich kümmern, ich hab nicht so ne beste Gesundheit, und ich
2
arbeite. Nur Sorge um mich! Nur Sorge um mich! Die/die haben überhaupt nicht
3
erahnt, das hab ich selber jo o´ch nicht, was da für Probleme kommen könnten.“
4
I.:
5
P.:
„Mhm.“
„Jetzt grad ( ) mit dem Messer und so (Angriff von G. auf die Pflegemutter). Aber die
6
S. hat se dann doch e bissel überzeugt gehabt. Das es doch ne gute Sache is, ne?“
7
((lacht))
8
I.:
9
P.:
10
I.:
11
P.:
„Mhm.“
„Also nur die Sorge um mich! Haben se ..äh/äh.. dagegen sein lassen.“
„Hm.“
„Vor allem meine Schwester und meine Mutter vielleicht o´ch schon e bissel: „Ja, du
12
weißt ja nicht wer da kommt,“, und so, ne? Aber trotzdem die Sorge um mich war da
13
der ausschlaggebende Punkt.“
14
I.:
15
P.:
„Mhm.“
„Ja? ..((4)).. ..ähm.. die jetzige Pflegetochter is auch noch total integriert. Die lieben se
16
alle. Und sie haben schon wieder dann gemeckert, weil ich noch eine nehmen sollte,
17
ne? Das hat ich schon vorgefühlt, aber letztendlich nehmen se alles hin und meine
18
Mutter muss ich ehrlich sagen, macht prima mit! Auch wenn Probleme sind, oder so.
19
Ich kann/also sie ..äh.. klar sacht sie dann manchmal: „Du könntest es auch anders
20
haben“, ne? Aber wenn ich dann dort bin, zum Beispiel mit der aktuellen Pflegtochter.
21
Was ..ähm.. diesen Sommer, also was ich ihnen angedeutet, hab ich ihnen das
22
angedeutet? Jedenfalls im Urlaub im Osten, und die jetzige Pflegetochter kam kurz
23
vorher, mitgenommen, und die hat dort nur Schwierigkeiten gemacht. Und meine
24
Mutter stand mir wie ne eins zur Seite!“
25
I.:
26
P.:
27
„Mhm.“
„Obwohl se ((lacht)) total eigentlich früher so dagegen war und immer meckert, aber
die nehmen´s trotzdem an!“
28
I.:
29
P.:
„Mhm. Mhm.“
„Sie haben´s trotzdem hingenommen, angenommen und helfen mir. ( ) Meine
30
Schwester is noch e bissle härter als meine Mutter und mein Vater, ach, den kann
31
man/den kann man schon überreden. „Jo,jo,ja. Mach das nicht. Mach das nicht. Och ja
32
jetzt sind se da, ach na gut!“ ((lacht)) Der zählt quasi da nicht so, ne? Und ..ähm..
33
meine Schwester, die möchte sogar ..ähm.. halt seit der G. ..ähm.. – das fällt mir jetzt
34
schwer zu sagen, aber es is einfach so – dass, wenn sie einladet, dass da möglichst
204
1
keine Kinder mitkommen, ne ((schaut sehr traurig)). Die aktuelle Pflegetochter durfte
2
jetzt schon ab und zu mal mit. ((lacht)) Das sacht se dann aber ausdrücklich. Un ..äh..
3
un wenn ich aber e Problem hab, hilft sie mir trotzdem! ( ) Aber diesen Aspekt, dass
4
ich se nicht so mitbringen kann, is meine Schwester halt schon bissel hart. Aber meine
5
Eltern nicht. Ne? Ich miete dann unten drunter, ich kann ja nicht mit den fremden
6
Kindern, für die, kann ich ja nicht immer in der Wohnung leben, bei meinen Eltern,
7
und da is unten drunter, zum Glück, ne Ferienwohnung, die miete ich dann halt immer
8
an. Und dann kocht die Mama jeden Tag, macht Frühstück und Abendbrot. Wir helfen
9
natürlich! Aber die freut sich dann auch, das die gibt´s aber nicht zu, dass e bissel
10
Leben wieder in der Bude is, ne?“
11
I.:
„Mhm.
12
P.:
„Die sind aber mittlerweile o´ch schon siebzig, über siebzig.“
13
I.:
„Aber das Ganze hat man sich schon erarbeiten müssen?“
14
P.:
„Das hat man sich erarbeitet. Das is/das genau so. Das mussten wir – ich mir, und die
15
Kinder sich – erarbeiten. Ja! Vor allen Dingen ich mir. Und sie sehen, ich hab dann
16
natürlich auch die vielen positiven Seiten immer, ne? „Kuck mal, was jetzt passiert is!
17
Wie toll!“, und so, ne? Das konnten se ja dann nicht abstreiten, ne? Und die/diese
18
positiven Sachen waren bei der G. eben nicht so viel. ((lacht)) Na, da kam eben immer,
19
ne? Obwohl ich nicht alles erzähl hab. Wenn die alles wüssten, hm... .“
20
I.:
21
P.:
„Ja klar.“
„Ich hab nicht alles erzählt! Aber manchmal lief es Herz doch über, ne?
22
Ja. ..((4)).. Ja. ..((6)).. Ich weiß jetzt nicht gleich, was ich jetzt noch ... sagen soll. Also,
23
seit die S. verheiratet is, is halt bissel alles anders geworden, ne? ..Äh.. sie hat wirklich
24
ihren eigenen Hausstand, ne? Und ..ähm.. .. ja, is se sehr unzuverlässig geworden, das
25
muss ich schon sagen. ((lacht)) Aber sie hat halt die vielen ( ).Da drüber bin ich bissel
26
traurig. Ich finde die S. hätte – ich war stolz auf sie, dass se die/weil sie war/sie kam
27
her und war versetzungsgefährdet. Ich hab zwei Tage später en blauen Brief gekriegt.
28
Das hab ich ganz vergessen zu sagen. Das war eine/das war ein Problem mit S. !“
29
I.:
30
P.:
„Aha!“
„Sie hat aber sofort – ich hab ihr das klar gemacht – sofort begriffen, ..äh.. dass se da
31
arbeiten muss. Un da hat der M., ihr Freund, ihr damaliger, hat gesacht ..äh..: „Frau
32
K.“, da musste er noch Frau K. sagen, das hat aber nicht lange angehalten, ..ähm.. „ich
33
setz mich mit der S. hin und lerne.“, ne? Und das hat auch alles gefruchtet. Ich hab mit
34
ihr gelernt. Das hat gefruchtet, die hat jedenfalls dann auch ihre, wo se ganz große
205
1
Angst hatte, ihre ..ähm.. Erzieherprüfung dann auch mit „gut“ glaub ich gemacht.
2
„Gut“ oder „Befriedigend“, und hat se gesagt: „Du musst an meiner Abschlussfeier
3
kommen, wenn Du nicht kommst, ich wird wahnsinnig!“, die wollte unbedingt
4
dann/ich weiß gar nicht, warum die gezweifelt hat, dass ich nicht komm? Das is doch
5
das Schönste, mitzuerleben, ne? Und ..ähm.. das war ganz toll für sie. Wir waren dann
6
zusammen dort, schön gekleidet, und so. Dann hat sie ihr Examen da überreicht
7
gekriegt, ach da war se/da war se sehr stolz! Was wollt ich denn jetzt eigentlich sagen?
8
.. Ja, und ..ähm.. mit/mit der Arbeit ..äh.. sie hat immer so e bissel nebenbei, sie war
9
halt sehr fleißig, und hat immer neben der Schule noch bissel gekellnert, damit se sich
10
noch ihre Zigaretten un so leisten konnte. Un/un was weiß ich nich alles. Also sie hat
11
sehr gutes Taschengeld gekriegt. Wirklich, gegenüber vorher! Und trotzdem für´s
12
Rauchen, ne? Wenn ma so stark raucht, hat´s eben... Und dann „Problem“, dann hat
13
die S. heimlich meine Bar leergesoffen, und ich hab das nicht gemerkt! Ne, ich trink ja
14
nicht viel. Aber ich trink gerne Cocktails. Da brauch ma halt verschiedene Sorten. Und
15
da war eben in der Bar, da standen immer so fünf, sechs Flaschen, ne? Und die sind
16
eben nie benutzt worden. ((lacht)) Auch mit Gästen, meine ganze Familie trinkt jetzt,
17
also sehr wenig, ne?“
18
I.:
19
P.:
„Hm.“
„Und ((lacht)) ich hab das nicht gemerkt! Also irgendwann hab ich das schon mal
20
gemerkt, wieso is´n da nichts mehr drinne? Is das verdunstet? Ich Blöde! Ich hab
21
gedacht das verdunstet, ne?“ ((lacht))
22
I.:
23
P.:
((lacht mit))
„Da hab ich das mal so/so am Tisch irgendwie gesacht, ne? Und später hat sie mir das
24
mal erzählt, wo ich das gemerkt hab, dass da was weg is, da hätte sie dann immer mit
25
Wasser aufgefüllt.“ ((lacht))
26
I.:
27
P.:
((lacht mit)) „Ja.“
„Ja! Un/und das, ja! Und das hab ich aber während sie hier war nich so begriffen. Wo
28
sie den Unfall hatte, da rief se, also bevor se den Unfall hatte, da rief se mich an: „Ich
29
muss zur Freundin! Zu ner Party. Da müss mer alle bissel Alkoholisches mitbringen,
30
darf ich die große...“ ..äh.. - wie heißt das – Kümmerling/ne Jägermeister, da is in der
31
Bar so ne große Flasche Jägermeister – die war noch ganz zu – „Darf ich die
32
mitnehmen?“, un da hab ich gesagt: „Na klar, nimmst se mit, ne?“ Und das ist dei
33
Beitrag dann. So, dann is das mit dem Unfall – und dann musst ich ihr Klamotten
34
bringen ins Krankenhaus, und da find ich doch nich unter der ihrem Kopfkissen, die
206
1
total, so ne große Flasche, war total leer. Und das war ja nu seit se mich da angerufen
2
hat eine Woche her. Und da hab ich´s erst, oder zwei, nee äne Woche, und da hab ich´s
3
erste Mal begriffen, dass die S. em Alkohol zugetan is, ne? Sie hat´s aber immer sehr
4
gut verborgen vor mir, ne? Und jetzte halt, der Mann/also ich hab ne gern, mir haben
5
wirklich keine Probleme miteinander, aber er/also die sin keine Alkoholiker, ne? Auf
6
keinen Fall. Aber ich seh dann eben da is so ne bestimmte Kneipe, da geh´n se sehr
7
gern hin, wenn ich vorbei fahr, steht eben es Auto dort. Dann lassen sie´s über Nacht
8
dort steh´n, weil sie nicht mehr heimfahr´n können, lassen sich vom Taxi fahr´n, und
9
so was, das ärgert mich.“
10
I.:
11
P.:
„Immerhin!“
„Ja gut, muss ich schon sagen, immerhin! Ja, aber es ärgert mich trotzdem, ne? Also ...
12
die S. is dem Alkohol, also sie trink gerne mal einen. Und das is das Einzigste, was
13
mich an ihr wahnsinnig, das Rauchen kann ich verkraften, aber das stört mich jetzt an
14
ihr wahnsinnig. Und denn/und der ihr Mann hilft das nicht verhindern, sondern der
15
hält dann halt e bissel mit. Ich weiß nicht, ob er vorher so war. Aber trotzdem sind se
16
alle fleißig, und so. Das is halt denen ihr Laster, ne? Und da komm ich o´ch nicht/und
17
da komm ich auch mit nichts dagegen an. Und ich kann mich o´ch nicht einmischen,
18
jetzt, ne? Sie is alt genuch. Ich kann nix dazu sagen mehr. Ja, ne? Ma meckern ja, aber
19
des geht hier rein und da raus. ((lacht)) Ne? Aber das is, vor allen Dingen, ich hab/ich
20
hab auch schon ein paar mal mit ihr geredet, und ..äh.. weil ihr Vater war ja
21
schwerer/schwerster Alkoholiker, ne? Hab ich gesagt: „Willst Du so werden wie dein
22
Vater? Du hast doch immer geschimpft auf dein Vater. Kuck mal was der dir angetan
23
hat alles. Willst du auch so werden?“, aber „Ich bin nicht abhängig. Ich werde nie wie
24
mein Vater. Lass mir das bissel.“, ja?! Irgendwann gibt man´s dann auf, ne? Und jetzt
25
hat sie ihre eigene Familie, ja? Und mit der Arbeit halt: ... Ich finde, das is aber jetzt,
26
hm, ob´s objektiv is, weiß ich nicht, wenn se sich doch e bissel mehr irgendwie
27
angestrengt hätte, hätt se vielleicht ne Arbeit gekriegt. Ich bin bissel enttäuscht, dass se
28
eben jetzt nicht als Erzieherin, aber obwohl es sehr schwer is, ich hab selbst meine
29
..äh.. meine Schwester is Leiterin im Kindergarten, selbst die konnte uns nich helfen.
30
Die hat die S. ein Jahr genommen, ..äh.. Vorpraktikum oder Nachpraktikum jetzt, ne,
31
von der Ausbildung. ... Und aber sie konnte de S. nicht helfen, dass sie ne richtige,
32
feste Stelle im Kindergarten/es is auch wirklich sehr schwer. Ja? Sie hat dann en Art
33
Fremdenberuf gemacht... .“
34
((TONBANDWECHSEL – fehlen ca. 5 Minuten des Gesprächs))
207
1
P.:
„Die pflegt jetzt auch ihre Mutter zuhause. De S. is ja heimgezogen, als ihr Vater/also
2
der hat se ja geschlagen und so, und jeder hat´s mitgekriegt, als der dann gestorben
3
war, un da pflegt se jetzt die Mutter und hat noch die ganzen Tiere. Die hat schon viel
4
zu tun, ne?“
5
I.:
„Sie sagten, jeder im Dorf hat´s mitgekriegt?“
6
P.:
„Ja, und als wir hier beim Einkaufen war´n, irgendjemand vom Dorf hat se getroffen,
7
und dann freundlich gegrüßt, „Na, S. wie geht´s dir?“, so, ne? Da hat sie immer Blut
8
und Galle gespuckt danach. „Als mir so schlecht ging, als jeder im Dorf gehört und
9
gesehen hat, wie der mich geschlagen hat, da is keiner eingeschritten. Da hat mir
10
keiner geholfen!“, ne? Allerdings nebenan in dem Haus, haben sie das mitgekriegt, da
11
wohnt die Oma und der Onkel, ne? Und die waren halt nicht krank, also die sind
12
normal entwickelt, konnten reden und sprechen, und so. Und ..ähm/äh.. zu denen/zu
13
der Oma, der war/war ganz großes Schutzschild für die/für die S. dann, ne? Zu der is
14
se dann immer geflüchtet, ne? Aber dort/der Onkel, der dort im Haus mit der Oma
15
lebt, hatte eine Thailänderin, ne? Und da war halt durch diese Thailänderin sexueller
16
..ähm.. wie soll ich en sagen - ..äh.. Missbrauch, und durch en eigenen Vater dann
17
auch.“
18
I.:
19
P.:
„Aha!“
„Aber das war so/das war nicht/die Gewalt war/is/is vörderste. Und da war sie grün
20
und blau geschlagen eine Lehrerin hat das beim Turnunterricht geseh´n, ne? Und hat
21
se bei Seite genommen und da hat sich die S. dann offenbart, und dann hat die
22
Lehrerin die S. nicht mehr nach Hause gelassen. Hat sie mit zu sich nach Hause
23
genommen, hat es Jugendamt informiert, da war die S. eine Woche bei dieser Lehrerin
24
und dann is se zu/zur Pflegefamilie R. gekommen, ne?“
25
I.:
26
P.:
27
„Mhm.“
„So, un/un das mit der/von der Thailänderin also, ne? Und von dem Vater das/dieses
Sexuelle, das hat se mir erst nach Jahren – erst nach ein, zwei Jahren hat se mir des...“
28
I.:
„Also von der Frau?“
29
P.:
„Von der Frau! Von der Frau!“
30
I.:
„Weil ich hab grad, sie hat mir kurz von nem Onkel erzählt, dass der eigentlich auch
31
eher ..ähm.. dann die Lehrerin angerufen hat und gesorgt gewesen/gewesen ..äh..
32
gewesen wär!“
33
34
P.:
„Das weiß ich jetzt nicht. Das/das ist/dass muss der Onkel/also von diesem Onkel die
Frau.“
208
1
I.:
„Mhm. Direkt neben dran.“
2
P.:
„Ja. War/is Thailänderin, oder... Ja, die sin ja jetzt geschieden. Und von dieser Frau,
3
also da haben wir bloß ein einziges Mal mit Tränen überströmt geredet, das also/das
4
war ganz schlimm, da/das rauszupressen. Ich hab/das war für sie eine Qual. Aber sie
5
wollte´s/sie wollte´s mir sagen. Ich weiß nicht, ob die Familie R. das weiß. Das/ich
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kann mir´s bald nicht vorstellen, aber das war – hm.“
7
I.:
„Okay! Gut! ..Ähm.. ((räuspert sich)) dann war noch kurz angesprochen, diese
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Partner-Beziehung, weniger Mutter-Kind-Beziehung, sondern es war ne Partner-
9
Beziehung. Hat mer dann als Pflegemutter ... wie drückt ma des jetzt aus – Liebe
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gegenüber em Kind gehabt, entwickelt, weitergegeben? Oder ..((5))..“
P.:
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„Ja. .. Trotz, dass es so erwachsen war, aber sie war fünfzehn, glaub fünfzehn, wo se
kam. Das war trotzdem .. das war trotzdem Kindesliebe.“
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I.:
14
P.:
15
„Mhm.“
„Halt un dann später, ja, des Vertrauen war dann zu groß, das is, ja FreundinnenLiebe, ich weiß nicht, gibt´s so was?“
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I.:
„Freundschaftliche Liebe!“
17
P.:
„Ne? .. So is/so is es/ich weiß auf alle Fälle, war das am Anfang wirklich, ich hab die
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so in mein Herz geschlossen gehabt, ne? Also hab ich ja heute auch noch. Also es war
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am Anfang, war´s auf alle Fälle ne Tochterliebe.“
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I.:
21
P.:
22
„Mhm.“
„Was sich dann immer mehr zu ner erwachsenen Freundschaft – Liebe, also nicht
jetzte Mann und Frau, um Gottes Willen, aber so... .“
23
I.:
24
P.:
„Dazu dann später entwickelt hat. Ja!“
25
I.:
„Was würden sie sagen, haben se de S. mitgegeben? ..((7)).. Was ..ähm.. hat sie heut
26
27
„Ja schon klar!“
dank ihrer Erziehung angenommen, hat sich verändert, sie beeinflusst!“
P.:
„Freitags sauber machen! ((lacht herzlich bis )) Was hat sen dazu gesagt? (*) Aber sie
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machens immerhin. Das sagen/selbst die G., ja die hat regelmäßig geheult, wenn se ihr
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Zimmer sauber machen, aber die macht jetzt auch sauber! Zwar nicht sauber/zwar
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nicht am Freitag, aber das is ja egal. Hauptsache sie machen. Also doch, ..äh.. dass
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man en geregelten Tagesablauf braucht, gut das hat se in der anderen Familie auch
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gehabt, ..ähm.. aber da musst se einfach/da war se überfordert, die musste zuviel
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machen. Und ..äh.. als sie dann en paar Wochen hier war, da haben Lehrer dann zu ihr
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gesagt: „Oh S., du siehst ja richtig gut aus!“, ne? Also hat se sich erholt, ne?
209
1
Aber so trotzdem so das Regelmäßige, die Regeln, das eben auch, eben nicht nur bei
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der Familie R., sondern dass auch in/bei mir Regeln gibt, ne? Also dass man sich da
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schon an ein paar Regeln halten sollte. Dass ..ähm.. fleißig war se sowieso schon. Ich
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denk, dass es Meiste, was ich ihr mitgegeben hab, und das war auch bei der G. so, dass
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se, dass ich mitgegeben hab, dass ma für sein Lebensunterhalt arbeiten muss. Man
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muss/ma muss ne Lehre machen. Dass ma sein Leben bissel strukturieren sollte. Bissel
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Ziele setzen sollte, ne?“
8
I..
9
P.:
„Mhm, mhm, mhm.“
„So, jetzt stell ich mir das Ziel, wenn ich das erreicht hab, so un/un was das spätere
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Leben, die Zukunft dann sein soll, auf alle Fälle ..ähm.. eben, dass se auch als Mädels,
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nicht nur sachen: „Ach ich heirate mal, ich brauch keinen Beruf!“, sondern, damit
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ma/ihnen beigebracht zu haben, dass ma ..ähm.. arbeiten muss, für sein
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Lebensunterhalt.“
14
I.:
15
P.:
„Mhm.“
„Dass man nicht uff Hartz VI, wie viele sachen: „Och ich geh dann nach der Schule in
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Hartz VI!“, und so, ne? Das denke/und das hat de S., also ich bilde mir ein, dass ich ihr
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das total mitgegeben hab, auch wenn´s jetzt anners läuft, als geplant. Aber das hat
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se/das hat se da sehr begriffen, denk ich. ...“
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I.:
20
P.:
21
22
„Gut!“
„Ja! Das denk ich jetzt, das is wichtig. Sind bestimmt noch en paar Kleinigkeiten, so,
ne? Jo!“
I.:
23
„Ja, reicht schon. – Gab´s irgendwann finanzielle Probleme? Oder sie
haben mehrere Pflegekinder, sind ja dann doch allein, gab´s da Probleme?“
24
P.:
„Mhm. Also für mich jetzt?“
25
I.:
„Für sie und für die Familie dann.“ ( )
26
P.:
„Nee, also ma wird ja/ma kriegt ja Pflegegeld vom/vom ..äh.. vom Staat. Also so
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finanzielle Probleme gab´s und gibt´s nicht, aber wenn sie jetzt das anschneiden, da
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muss ich was dazu sagen. Es Pflegegeld is eben seit hundert Jahren ein und dasselbe,
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ne? Ich weiß noch ganz genau, wo mir zu dritt waren - also S., G., ich – da ham wir im
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Einkaufsmarkt eben ein großer Wochenendeinkauf 80,- DM bezahlt, ne? Und jetzt –
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wieder zu dritt – gehen einkaufen, da zahlen wir eben 90,- Euro. Ne? Das sind 180,-
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DM. Also en Hunderter mehr! Und ..ähm.. ja, das also/das is langsam wird das
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wirklich zum Problem. Zum Beispiel würd ich gerne – wahnsinnig gerne – mit denen
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in Urlaub fahr´n. Ne, also so richtig. Jetzt nicht mal so kleine Fahrten, können wir ja
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1
sowieso machen, ( ) für ne Jugendfreizeit gibt´s 200,- Euro, und für ne ..äh/äh.. Urlaub
2
mit en Pflegeeltern gibt´s 300,- Euro. Sie kriegen für 300,- wenn ma da wirklich denen
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mal was Schönes ..äh.. zeigen will, eben Griechenland zum Beispiel, das kostet 1200,-
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Euro für nicht mal 14 Tage. Und sie kriegen 300,- Euro. Wissen sie wie sie sparen
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müssen, an dem Pflegegeld, dass das der Rest dann zusammen kommt?“
6
I.:
7
P.:
„Deshalb frag ich.“
„Das/das/das reicht ja nicht! Ne? Also das is/wird jetzt/damals nicht. Ne? Wir sind
8
nach Spanien zu dritt, mit der S. und der G., und so. Also da war das noch kein
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Problem, aber jetzt. ((Handy klingelt – kurze Unterbrechung von ca. 1 Minute)) Jetzt,
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also jetzt wird´s wirklich, also ich möchte denen so gerne, ich würde denen so gerne,
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ich würd so gern mit meinen jetzigen Pflegekindern, muss ich ehrlich sagen, würd ich
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im Herbstferien, würd ich so gern ..äh.. nach Mallorca mal fliegen, das is ja nu nicht,
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eigentlich nicht so teuer, aber für 10 Tage, sind´s o´ch über 1000,- Euro. Mit zwei, wie
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soll ich en das machen? Das is unmöglich! Un, weil ich auch weiß, meine jetzige
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Pflegetochter, die wird ihr Leben lang nicht viel verdienen, weil se eben behindert is,
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ne? Die wird so was nie wieder erleben, ne? Und die andere Pflegetochter, bin ich mir
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noch nicht sicher, was bringt die Berufsausbildung, kriegt se en Beruf? Die S. und der
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V. die/mit/die waren/ die S. war dankbar hoch drei, dass se das erleben durfte. Aber sie
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is jetzt in der Lage sich das selber zu leisten, weil se geerbt hat, von dem bösen Vater.“
20
I.:
21
P.:
„Mhm.“
„So! Aber die, die andern Mädels, die G., ne, die, der trau ich´s intelligenzmäßig zu,
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dass se en Job ..äh.. en/in ihrer Berufsausbildung, dass se en Job kriegt, und dass sich
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mal... Aber die andern Mädels, das Kind aus der Tagespflege, die jetzt, und die
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wünschen sich das so sehr. Also grad die eine hat jetzt gesagt, „Ich würde so gern mal
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das Meer sehen!“, und dann hab ich se dann wenigstens an die Nordsee, es is aber
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nicht das, was sie, ne, was ich ihr gerne zeigen würde. Aber das is unmöglich, ich
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alleine mit den zwei. Ist nicht mehr möglich. Es geht nicht mehr. Und wie ich ihnen
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das, die Lebenshaltungskosten, wie ich ihnen das jetzt gesagt hab, ne? Die haben sich
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verdoppelt, und das Pflegegeld, das is alles gleich geblieben. Aber nich, dass sie
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denken, wir nagen jetzt am Hungertuch, ne! Auf keinen Fall. Aber so die Extras, ne?
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Die fall/obwohl ich versuch denen/jetzart hat mich die S./die/die jetzige Pflegetochter,
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wir waren jetzt zwei-, dreimal... Die kommen halt alle mit ausgesprochen schlechter
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Kleidung – wirklich mit Lumpen teilweise, ne – und ..äh.. ich möchte gern, dass sie
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wenig/also am Anfang kann ma nicht viel machen, aber dass sie ..äh.. nicht als
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1
Aussenseiter da steh´n. „Oh, kuck mal was die anhat!“, in der Schule. In der Schule is
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nun mal, ne? Und dann kleide ich die immer erst mal richtig ein. Und das geht
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wirklich voll ins Geld. Und ..ähm.. .“
4
I.:
5
P.:
„Also so extra Kleidergeld gibt´s jetzt nicht?“
„Nein! Nein, also hab ich nicht bekommen, ne? Also normalerweise, wenn man in ne
6
Dauerpflegschaft ..äh/äh.. kommt, gibt´s nur Kleidergeld, wenn die mit einer Tasche
7
kommen. Aber das hab ich nie gekriegt, obwohl die G., bei der G. haben sie gesagt,
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„Nee, das hat die nicht nötig, braucht die nich!“, aber es war jetzt o´ch nicht so doll,
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ne? Un bei den andern war überhaupt gar käne Rede mehr davon, ne? Also hab ich
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nicht gekriegt. Und dann geh ich halt öfters mal ..ähm.. ... ..äh.. ja weil Mädels sin nun
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mal so, dass die doch mal e bissel Wert uff Kleidung legen, ne?“
12
I.:
13
P.:
„Mhm.“
„Und/und ..ähm.. war ich jetzt wieder mit der Einen einkaufen, hab ich ihr, die hat
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nicht so viel Hosen gehabt, ne, un da hab ich noch zweie für die Nordsee dann gekauft.
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Un da hat se dann zu mir gesacht: „Warum kaufst denn du mir so viel? Warum machst
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denn du das?“, so. Nicht/nicht/nicht vorwurfsvoll, sondern freudig, un/un/un so, ne?“
17
I.:
18
P.:
„Hm,hm,hm,hm.“
„Un dann hab ich gesacht: „Na, erstens möchte ich, dass du dich freust, weil du´s
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verdient hast, und ..äh.. ich möchte, dass du gut gekleidest gehst.“, un/und ..äh.. – was
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hab ich denn noch alles gesagt? Jedenfalls, dass sie ..ähm.. .“
21
I.:
„Auch net zum Außenseiter wird, wahrscheinlich!“
22
P.:
„Ja! Dass se da nicht ausgegrenzt wird von ihren Kolleg/..äh/äh.. Schulkameradinnen.
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Und dass se halt auch stolz is, ne? Sie glauben nich, was die dann für ein
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Selbstbewusstsein gewinnen, wenn die Kleidung anders is.“
25
I.:
26
P.:
„Mhm. Bestimmt!“
„Ich kann´s jetzt natürlich auch nicht so machen, dass ich nur Markenklamotten kauf,
27
ab und so kriegen se auch mal so was, ne? Aber ich kann nicht nur Marken, das is
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unmöglich, ne? Aber die kriegen von mir eigentlich sehr viel, muss ich wirklich sagen.
29
So, dass sie selber schon da drüber staunen, ne? ((lacht)) Das haben sie ja von ihren
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Eltern nie, die haben das ja meistens verraucht oder versoffen, das Kindergeld, oder
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so, ne?“
32
33
I.:
„Mhm. Wie sieht´s denn noch mit Möbel aus? ..Ähm.. also kriegt ma auch nix dazu,
so Zimmereinrichtungsgeld, oder?“
212
1
P.:
„Nein! Also hab ich jetzt für die ganzen Mädels nicht, außer für die G., da hab ich
2
..ähm.. – ((lacht)) das vergess ich nie – da hat der Herr B. zu mir gesagt, ja, ..äh..
3
2000,- DM, krieg ich für des, weil das Zimmer war ja leer. So, und da hab ich, aber
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zum Beispiel beim Teppich, bei der S. das hab ich alles selber gekauft, ne? Das
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war´n/das war o´ch bald 800,- DM, alläne nur der Teppichboden. So. Und da bin ich
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mit der G., bin ich, also manche Pflegeeltern, die machen wirklich nur es allernötigste,
7
muss ich auch mal sagen, ne? Ich gehör nicht dazu, ich kenn auch viele, die das auch
8
nicht so machen, aber manche! So! Und da hab/hat der gesagt 2000,- und da sin mir in
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Möbelgeschäft gefahr´n, die G. und ich, und ... was es für das Geld – 1800,- , ich wäß
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nicht mehr – das was es für das Geld gab, es sah doof aus! Es sah wirklich
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geschmacklos aus, und ne! Und da hab ich dann für 3500,- DM hab ich dann ..ähm..
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en Zimmer gekauft, ne? Es war alles mein Geld. Und ..ähm.. da hab ich dann, wo der
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Herr B. da war, hab ich ihm dann die Rechnung mitgegeben, weil die/da is. Da hat der
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gekuckt: „Das können wir ihnen aber nicht bezahlen! Das sind 1800,- oder ich gl´ub
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2000,- !“, und da hab ich gesagt: „Ja, ich weiß.“. Und da wurde/da kam der aus´m
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Staunen gar nicht mehr heraus, dass ich das eben von meim Geld trag. Ne? So war das,
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das vergess ich nie! Und die jetzigen Mädels haben überhaupt nichts gekriegt. Das ma
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noch hätten en Möbelstück kaufen können, oder so, ne? Ich würde ja gern, wissen sie
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die ham ja dann auch nicht ..ähm.. Kopfkissen, also Steppdecken, oder/oder
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Daunen/oder so. Na sie wissen schon was ich mein.“
21
I.:
22
P.:
„Ja, ja.“
„Also so Bettzeug, haben die ja auch alles nicht, ne? Und das muss ich/und wenn e
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Kind von mir weggeht, geb ich das ja immer mit, was ich angeschafft hab. Dann muss
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ich das immer wieder neu anschaffen. Und das, da kauft man ja auch nicht es Billigste,
25
es soll ja e bissel halten, ne? Also da hab ich mir schon gewünscht, dass das mal e
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bissel besser wird! Bei der jetzt, die is Notfallpflege, bei mir noch, also
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Bereitschaftspflege, da gab´s jetzt ne Erhöhung. Da hab ich vielleicht gestaunt, ne? Ja,
28
das is es erste Mal, ne? Aber für die Dauerpflege überhaupt nicht! ( ) Da is nämlich
29
gestuft nach Altersgruppen, ne?“
30
I.:
31
P.:
„Ja!“
„Also das finde ich in letzten paar Jahren, is das also zum Problem, wird so langsam –
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denk ich – wird das zum Problem.“
33
((Telefon klingelt – kurze Unter,brechung von ca. 2 Minuten - später noch ein Einwurf
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der Pflegemutter))
213
1
I.:
„Ja, dann sind wir glaub ich eh fertig, also vielen Dank für das Gespräch!“
2
P.:
„Ja, dann wollt ich noch was für mich Wichtiges sagen. Und zwar, hat man als/ich hab
3
immer gesagt: „Pflege/Pflegeeltern, oder Pflegemutter zu sein, das is wie ne gläserne
4
Erziehung.“, man muss/man muss/man soll/man muss sich reinkucken lassen. Ne, ma
5
hat ja ständig Kontakt zum ..äh.. Jugendamt. Der Herr B. zum Beispiel und die Frau K.
6
haben das sehr ernst genommen. Also die sind wirklich jedes halbe Jahr ungefähr
7
hatten wir Ge/Ge/Gespräche, Hilf/Hilfsplangespräche ..äh.. irgendwas immer/war
8
immer. In Ku. die haben gemerkt, das läuft, ham se einem e bissl in Ruhe gelassen.
9
Aber natürlich seh ich ein, dass das sein muss, weil ne? Wie wir wissen in der ..äh.. in
10
Deutschland sind halt auch Fälle vorgekommen, wo das mit den Pflegeeltern schief
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lief. Also wo sogar en Kind zu Tode kam, und so, ne? Aber man muss eben immer
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Rechenschaft ablegen, und immer darlegen und immer Pläne machen, und man muss
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..äh.. hm sagen was man sich für´s nächste halbe Jahr vornimmt, und das versuchen
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dann umzusetzen. Das is manchmal äußerst schwierig. Das is äußerst schwierig! Und
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ich finde das Pflegeeltern noch besser arbeiten müssen. Den Druck haben noch besser
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arbeiten müssen, als die eigenen/also/also als richtige Eltern, die leiblichen Eltern.
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Jetzt nicht unbedingt von den Kindern, weil so gut sind Pflegeeltern, also die müssen
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ja besser sein, als die Herkunftseltern, ne? Sonst werden ja die Kinder nicht
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rausgenommen. Aber des is immer der Druck, immer besser als annere sein, als andere
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Eltern sein zu müssen. Das is wirklich en enormer Druck, manchmal. ... Aber, ja gut,
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am Anfang weiß man nich, worauf man sich da 100%ig einlässt, aber man ahnt´s.
22
((lacht)) Ne? Und ich hab halt/ich sach halt immer die gläserne Erziehung ist das! Ne?
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Das man also immer sich begutachten lassen muss!“
24
I.:
„Aber den/den Sinn sehen sie halt auch drin?“
25
P.:
„Natürlich! Natürlich! Manchmal is es schwer!“
26
I.:
„Gut, dann bedanke ich mich herzlich!“
214
7.2. Fragebogen für Pflegeeltern
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216
7.3.
Fragebogen für Pflegekinder
Anhand dieses Fragebogens soll den Kindern verdeutlicht werden, warum es besser für sie ist
ihre leiblichen Eltern zu verlassen und in eine Pflegefamilie zu gehen.
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7.4.
Hilfeplan-Vordruck

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