Inhalt - Universität Siegen

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Inhalt
Karin Schittenhelm
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung.
Frühe Entwicklungen und aktuelle Zugänge . . . . . . . . . . . . .
9
Teil I
Ethnografische und konversationsanalytische Zugänge
Herbert Kalthoff
Ethnografische Bildungssoziologie.
Perspektiven und Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Andreas Wittel
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus . . . . .
59
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Konversationsanalytische Zugänge
zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
. . . . . . . .
81
Ralf Bohnsack
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus.
Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode
mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung . . . . . . . . . . .
119
Arnd-Michael Nohl
Dokumentarische Methode
in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung.
Von der soziogenetischen zur relationalen Typenbildung
155
Teil II
Rekonstruktive Auswertungsverfahren
. . . . . . .
6
Inhalt
Andreas Wernet
Die Objektive Hermeneutik als Methode
der Erforschung von Bildungsprozessen . . . . . . . . . . . . . . .
183
Stefan Kutzner
Arbeit, Beruf und Habitus.
Fallrekonstruktionen von Erwerbsbiografien
mit der Objektiven Hermeneutik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
203
Anne Juhasz Liebermann
Biografische Ressourcen – ein zentrales Konzept
in der biografischen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
. . . . . .
241
Anja Schröder-Wildhagen
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven
des Erleidens im Management.
Das Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse . . . . . . . . . . . .
267
Teil III
Theoretische Konzepte und Forschungsstrategien
Kirstin Bromberg
„Arc of Work“ – als ‚sensitizing concept‘
für den Zusammenhang von beruflicher Arbeit
und Organisationskulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
303
Uta Liebeskind
Komparative Verfahren und Grounded Theory
. . . . . . . . . . . .
325
Florian von Rosenberg
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft.
Rekonstruktive Sozialforschung zwischen Habitusund Feldanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Strategien einer integrativen Sozialforschung
am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung . . . . . . . . . .
379
Inhalt
7
Karin Schittenhelm
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit.
Vergleichende Analysen von Statusübergängen
zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt . . . . . . . . . . . .
407
Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
439
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
Frühe Entwicklungen und aktuelle Zugänge1
Karin Schittenhelm
Bildung und (Erwerbs-)Arbeit sowie die hierüber hergestellten Laufbahnen,
Hierarchien und Unterschiede umfassen ein weithin diskutiertes Themengebiet
der Sozialwissenschaften. Indem der vorliegende Band Grundlagen, Perspektiven und Methoden einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung vorstellt, gibt er einen Überblick zu einem Spektrum der hier mittlerweile praktizierten Verfahren. Eine gegenstandsbezogene Betrachtung von Methoden ist nach
dem vorliegenden Verständnis nicht lediglich eine Anwendung bereits vorhandener Verfahren auf eine per se feststehende Themenstellung. Eine zentrale Frage
ist vielmehr, wie methodische Zugänge zu einer entsprechenden Themenfindung
beitragen. Zudem ist von Interesse, wie Entwicklungen des Gegenstandsbereichs
wiederum zu besonderen Anforderungen an die Instrumente und Verfahren der
qualitativen Sozialforschung führen.2
Ein Band zur qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, wie dieser,
richtet sich auf ein breites Themenspektrum, dessen Teilgebiete auch eine separate Bearbeitung erfahren.3 Die Möglichkeit einer je gesonderten Beachtung bildungs- und arbeitsrelevanter Themen soll hier nicht prinzipiell in Frage stehen.
Mit dem gewählten Vorgehen wird jedoch dem Umstand Rechnung getragen,
1
2
3
Für hilfreiche Kommentare und Anregungen zu einer früheren Fassung des vorliegenden Textes
danke ich Kirstin Bromberg.
Anne Honer brachte dieses Verhältnis zwischen Themengebiet und Methode wie folgt zur Sprache: „Interessant ist also ‚eigentlich‘ nicht die Methodenfrage, sondern die Frage danach, welchem Problem man sich stellt (dann erst wiederum stellt sich einem die Frage, mit welcher Methode man dies am besten tut).“ Honer 2011: 143 .
Eine Diskussion qualitativer Verfahren fand in der erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung (u. a. Ecarius / Friebertshäuser 2005) sowie in der Schul- und Unterrichtsforschung (Breidenstein et al. 2002; Breidenstein / Schütze 2008) statt. Es finden sich dagegen weniger Beiträge,
die sich mit einer eher soziologisch ausgerichteten qualitativen Bildungsforschung befassen. Zu
prozessorientierten Ansätzen in der qualitativen Arbeits- und Organisationsforschung siehe
Ernst (2010) und zu Fallstudien in der Industriesoziologie die Beiträge in Pongratz / Trinczek
(2010).
10
Karin Schittenhelm
dass Perspektiven auf Bildung und Arbeit in vielerlei Hinsicht ineinandergreifen.
Beispielsweise gibt es qualitative Forschungsperspektiven auf Organisationen, die
sich auf Institutionen des Bildungs- und Beschäftigungssystems anwenden lassen
(siehe Ernst 2010). Weiterhin ist davon auszugehen, dass Lern- und Bildungsprozesse nicht allein im Jugendalter, sondern auch noch nach dem Übergang
in das Arbeitsleben stattfinden. Prinzipiell ist es eine Stärke beispielsweise einer
biografisch angelegten Forschung, dass sie den Erwerb und die berufliche Umsetzung von Bildung längerfristig in den Blick nehmen kann. Neben Beiträgen,
die sich mit Bildung und Sozialisation in Schulen befassen, stellt der vorliegende
Band auch Ansätze vor, die Lernprozesse noch während und nach einem Übergang in den Arbeitsmarkt untersuchen.
Eine Einschränkung sollte hier jedoch genannt werden: Sofern von ‚Arbeit‘
die Rede ist, bezieht sich die Analyse in erster Linie auf Erwerbsarbeit bzw. auf
Arbeitsmarktentwicklungen und deren Folgen für die soziale Stellung und Erfahrungswelt verschiedener Bevölkerungsgruppen. ‚Arbeit‘ in einem umfassenden
Sinne würde weitere Bereiche, wie z. B. die unentgeltliche Arbeit in der privaten
Sphäre (in Familie oder anderen Lebensgemeinschaften) sowie die nicht über den
Arbeitsmarkt vermittelten Formen der Eigen- und Gemeinschaftsarbeit, umfassen.4 Demgegenüber können vergütete Arbeiten in privaten Haushalten ebenfalls
über Entwicklungen der Arbeitsmärkte geprägt sein (vgl. Lutz 2008) und deren
Folgen betreffen auch Personen, die temporär oder dauerhaft aus der Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind.
Ehe ich im Weiteren auf eine heute zu beobachtende Ausdifferenzierung von
Methoden und Methodologien zu sprechen komme, stelle ich frühere Entwicklungen einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung vor. Angesichts
begrenzter Möglichkeiten werden dabei ausgewählte Entwicklungslinien im
deutschsprachigen Raum wie in der US-amerikanischen Soziologie skizziert.5 Es
wird sich zeigen, dass sich bereits früh Perspektiven andeuten, die auch längerfristig von Bedeutung sein sollten. Welche Entwicklungen außerdem eine Rolle
4
5
Insofern wird der Arbeitsbegriff hier nicht implizit lediglich als Erwerbsarbeit verstanden, eine
Beachtung der weiteren Arbeitsformen kann in diesem Rahmen jedoch nicht geleistet werden.
Zur Diskussion eines erweiterten Arbeitsbegriffs siehe u. a. Nierling (2011) und Götz (2010: 101).
Die Auswahl orientiert sich an der Aktualität für heutige Untersuchungen. Zu Entwicklungen
im deutschsprachigen Raum ist anzumerken, dass trotz des Primats quantitativer Ansätze in
der ehemaligen Bundesrepublik frühe qualitative Arbeiten dokumentiert sind (siehe z. B. Alheit / Dausien 2009; Pongratz / Trincek 2010). Dagegen gibt es kaum Hinweise auf qualitative Forschungsansätze in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung der ehemaligen DDR. Für Informationen zu dieser Frage danke ich Vera Sparschuh.
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
11
spielten, werde ich anschließend mit Blick auf gegenwärtige Zugänge einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zur Diskussion stellen.
1
Frühe Entwicklungslinien
1.1
Anfänge im deutschsprachigen Raum
In seinen Überlegungen zur „Marienthal-Studie“ über die Auswirkungen von
Langzeitarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung einer Gemeinde in Österreich zu
Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts beschreibt Lazarsfeld die Suche nach
einem neuen Weg zwischen den „nackten Ziffern der Statistik und den zufälligen Eindrücken der sozialen Reportage“ (Lazarsfeld 1975 [1960]: 15). Der Versuch,
möglichst nahe an drängende Probleme der damaligen Zeit zu kommen, führte in
der Untersuchung der ‚Arbeitslosen von Marienthal‘ zu einer vielbeachteten kombinierten Anwendung qualitativer Forschungsmethoden. Marie Jahoda schrieb in
ihrem späteren Rückblick:
„Einzelbeobachtungen als Anregung für die Erfindung quantitativer Zugänge zu nehmen, ist eine wichtige, aber nicht die einzige Funktion qualitativen Materials. Zumindest ebenso wichtig ist es, dass sie Einblick in die Komplexität gesellschaftlichen Lebens und Erlebens vermitteln, der Zahlen nicht gerecht werden können. In der Regel
beantworten beide Prozeduren verschiedene Fragen: das ‚Wie‘ des Erlebens, in dem
Dinge zählen, die nicht gezählt werden können; und das ‚Wieviel‘, das auf Kosten des
‚Wie‘ präzise Antworten gibt“ (Jahoda 1991).
Die Gegenüberstellung der empirischen Zugänge beruht hier nicht auf einer prinzipiellen Dichotomie zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren, welche die damalige Studie vielmehr in bis heute seltener Weise kombinierte. Zum
Verständnis dessen, wie Langzeitarbeitslosigkeit seitens der ehemaligen Industriearbeiterschaft und ihrer Familien erlebt wird, verbindet die Studie außerdem
mehrere qualitative Zugänge: Beobachtungs- und Befragungsformen sowie Dokumentenanalysen. Der gemeindebezogene Ansatz umfasst nicht allein den Blick
auf die Arbeitswelt, sondern auch auf das Bildungs- und Freizeitverhalten bzw.
werden gerade das Fehlen von Erwerbsarbeit und die damit verbundenen Folgen zum Thema. Aus heutiger Sicht sind nicht allein die Methodenkombination
und die Darstellung des besonderen Erkenntnispotenzials qualitativer Verfahren
bemerkenswert. Hervorzuheben sind auch eine mit der damaligen Studie ein-
12
Karin Schittenhelm
hergehende Präzisierung und Weiterentwicklung von Forschungsperspektiven.
Beispielsweise führte die Untersuchung zu einer Typenbildung, die sich auf die
Herausbildung verschiedener Haltungen zur Arbeitslosigkeit und auf die damit
verbundenen praktischen Bewältigungsformen bezog.
Der Forschungsstil Marie Jahodas, die auch im Anschluss an die MarienthalStudie mit qualitativen Verfahren arbeitete, wurde in einer späteren Würdigung
(Fleck 1998) als Suche nach einer Lebensnähe dargestellt. Es gehe ihr darum, ihren
Ausgangspunkt „bei den wirklichen Problemen des Lebens zu nehmen“ (Fleck
1998: 279). Doch grenzt sich Marie Jahoda zugleich von einer einfachen Unmittelbarkeit ab: „Das Offensichtliche – das, was man mit dem bloßen Auge sieht – darf
man nicht einfach so hinnehmen“ (zit. in Fleck 1998: 279). Hier kommt bereits ein
auch in späteren Debatten verhandelter Anspruch qualitativer Sozialforschung
zum Ausdruck: Das Ziel, alltagsweltliche Erfahrungen und Praktiken zu beobachten und zu verstehen einerseits, und andererseits die Abgrenzung vom bloßen
Nachvollzug des unmittelbar Beobachtbaren und vom Verbleiben innerhalb des
Alltagsverständnisses.
Die Suche nach einer Nähe zum Geschehen und das Interesse am Erleben
sozialer Verhältnisse teilt gleichwohl ein weiterer Autor, dessen Arbeiten – wie
die Marienthal-Studie – heute zum Bestand klassischer qualitativer Studien im
deutschsprachigen Raum gehört. Siegfried Kracauer bezeichnet „Zitate, Gespräche und Beobachtungen an Ort und Stelle“ als Grundstock seiner Arbeit zu Angestellten im Berlin der 20er Jahre (Kracauer 1971: 7). Er bringt den Wunsch zum
Ausdruck „dass dieses Buch wirklich von ihnen spräche, die nur schwer von sich
sprechen können“ (Kracauer 1971: 8). Nicht allein Arbeitsprozesse im engeren
Sinne, auch soziale Beziehungen, politische und lebenspraktische Haltungen wie
sie im Alltag der betreffenden Personen insgesamt zu beobachten waren, sind Gegenstand seiner Untersuchung. Dabei geht auch Kracauer über eine unmittelbare
Beschreibung des Beobachteten hinaus, indem er die gesellschaftliche Lage analysiert, auf deren Grundlage sich das von ihm beobachtete Angestellten-Milieu
formierte (s. a. Wittel in diesem Band).
In beiden Studien wird mit einem lokalen (auf eine Gemeinde bzw. auf eine
Großstadt bezogenen) Ansatz untersucht, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Folgen in der alltäglichen Erfahrungswelt einer ausgewählten Bevölkerungsgruppe beobachten lassen. Deren Gemeinsamkeiten können, wie im Fall
der Berliner Angestellten, durch die vergleichbare Stellung innerhalb eines lokalen Arbeitsmarktes gegeben sein oder wie bei den Marienthaler Arbeitslosen auf
einer vergleichbaren Ausgrenzung beruhen. Das ‚Wie‘ des Erlebens wird durch
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
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eine breit angelegte Beobachtung alltäglicher Praktiken und sozialer Beziehungen in einer gesellschaftlichen Lage untersucht. Im Fall der Marienthal-Studie
gehörten beim Blick auf Arbeitslose auch deren Kinder mit ihrem Verhalten in
der Schule zum Gegenstand der Untersuchung. Damit zeigt sich ein Blick auf die
sozial-räumliche Einbindung von Bildungsprozessen, der bis heute eher selten
ist, jedoch auch in späteren Arbeiten wieder zum Vorschein kommt (siehe z. B.
Beaud 1995).
Im Rückblick auf frühere Entwicklungslinien wird deutlich, wie sich in den genannten Studien nicht allein die Herausbildung methodischer Ansätze und Verfahren, sondern auch historische Entwicklungen abzeichnen. So gelten sie heute
als zeitgeschichtlich relevant für das Verständnis der Lage spezieller Bevölkerungsgruppen im Vorfeld des Nationalsozialismus. Allerdings konnten die hier
skizzierten Entwicklungslinien am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre
des letzten Jahrhunderts in Deutschland und Österreich aufgrund des aufkommenden Nationalsozialismus nicht weitergeführt werden. Ein Forschungsstil, der
eine Erkundung vor Ort praktiziert und die Nähe zum jeweiligen Untersuchungsgegenstand sucht, hat u. a. durch die ‚Chicago School‘ und in dieser Tradition entstandene Arbeiten für die Soziologie langfristig an Bedeutung gewonnen.
1.2
Die ‚Chicago School‘ und ihre Folgen
Für die Forschungsperspektiven der ‚Chicago School of Sociology‘ war die Philosophie des amerikanischen Pragmatismus von Bedeutung (Joas 1988). In den
Sozialwissenschaften dient der Verweis auf diese Schule häufig dazu, über frühe
Entwicklungen qualitativer Sozialforschung zu informieren. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass in der ‚Chicago School‘ insgesamt mit qualitativen und
quantitativen Methoden gearbeitet wurde (vgl. Bulmer 1984: 6). Den entscheidenden Einfluss hatte die Schule jedoch für die Entwicklung qualitativer Verfahren.
Dem mehr oder weniger losen Zirkel der Forschenden sowie Sozialreformer und
-reformerinnen, die heute der ‚Chicago School‘ zugerechnet werden, entstammt
eine Fülle „anschauungsgesättigter Studien“ (Joas 1988: 435), von denen einige
zu Klassikern der Sozialwissenschaften avancierten. Darüber hinaus entstanden
in der ‚Chicago School‘ und ihrem Umfeld Konzepte, die nicht nur für unmittelbare Folgearbeiten, sondern auch längerfristig für die Soziologie von Bedeutung
wurden.
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Karin Schittenhelm
Neben den ethnografischen Studien von Wegbereitern und Nachkommen der
‚Chicago School‘6 gab es eine weitere Herangehensweise, die sich für die Bildungsund Arbeitsmarktforschung als äußerst relevant herausstellen sollte: eine Untersuchung über die Migration der polnischen Landbevölkerung in die Vereinigten
Staaten, in der William Isaac Thomas und Thomas Znaniecki (1958 [1918 – 1920])
Briefe und autobiografisches Material analysierten. Insbesondere mit Blick auf
diese Pionierarbeit werden heute Anfänge der Biografieforschung in der ‚Chicago School‘ verortet (z. B. Alheit / Dausien 2009). Das heute ebenfalls zu den
Grundlagen der Sozialwissenschaften zählende ‚Thomas-Theorem‘ ging aus einer
gemeinsamen Studie von William Isaac und Dorothy Swaine Thomas über sozial auffälliges Verhalten von Kindern in den USA hervor.7 Sie erschien zu einer
Zeit, als William Isaac Thomas, einer der bedeutenden Vertreter der frühen Chicago School, bereits nicht mehr an der Universität von Chicago tätig war (Bulmer 1984: 59 – 60). Die mit dem Thomas-Theorem postulierte Aufmerksamkeit für
die Wahrnehmung und Definition einer Situation durch die handelnden Akteure
wurde in späteren Debatten der qualitativen Sozialforschung in vielerlei Hinsicht
aufgegriffen und weiter verfolgt. Das ‚Wie‘ des Erlebens und der Interpretation
einer Situation wurde als handlungsrelevant, d. h. als maßgeblich für die handlungspraktische Bewältigung angesehen. Nicht allein die Situationsdeutungen
einzelner, auch die Aushandlung von Situationsdeutungen in Interaktionsprozessen gerieten ins Blickfeld der Analyse, wie sich beispielsweise in der späteren Begründung des symbolischen Interaktionismus durch Herbert Blumer zeigte (Blumer 1969; vgl. Joas 1988: 436).
Auch wenn die ‚Chicago School‘ mittlerweile eher in Verbindung mit der Erforschung urbaner Milieus und der Folgen von Migration zur Kenntnis genommen wird, finden sich in dieser Tradition auch arbeits- und organisationssoziologische Untersuchungen. Hier ist zunächst Everett Hughes zu nennen, der als
prominenter Vertreter einer Organisations- und Berufssoziologie in der Chicagoer Tradition gilt. Hervorzuheben sind beispielsweise seine Arbeiten über das
US-amerikanische Bildungswesen, über Statuspositionen sowie über Formen der
Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung.8 Nicht allein die formale Regelung, auch
6
7
8
Zur Unterscheidung zwischen einer ersten und zweiten Chicago School bzw. auch zur Frage nach
einer mittlerweile dritten Chicago School siehe Neckel (1997).
Ihre Studie The Child in America enthält als Konsequenz methodologischer Überlegungen den
Satz: „If men define situations as real, they are real in their consequences“, zitiert nach Mijic
(2010), siehe darin auch Informationen zu Entstehungsbedingungen und Folgen.
Siehe die Wiederauflage einer Auswahl der Arbeiten von Hughes aus den 50er und 60er Jahren
in: Hughes (2008a [1971]).
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
15
das interaktive Aushandeln und praktische Umsetzen formaler Vorgaben seitens
der beteiligten Personen bestimmen nach einem solchen Verständnis die Abläufe
in Organisationen. Everett Hughs brachte den – im Verhältnis zu herkömmlichen
Perspektiven erweiterten – Blick wie folgt zum Ausdruck:
„One of the commoner failures in study of work is to overlook part of the interactional
system“ (Hughes 2008c [1956]: 309).
Weitere Arbeiten, die sich teilweise auf Hughs beziehen, jedoch zu eigenen Ansätzen und Konzepten geführt haben, entstanden in den Forschungsteams um
Anselm Strauss.9 Dass Strauss heute weniger in Verbindung mit Bildungs- oder
Arbeitsmarktforschung zur Kenntnis genommen wird, mag daran liegen, dass
er zusammen mit Glaser vor allem als einer der Gründungsväter der ‚Grounded
Theory‘ gilt. Ihre nachhaltige Bedeutung für die Entwicklung qualitativer Verfahren und Forschungsstrategien haben die beiden Begründer der ‚Grounded
Theory‘ mit Studien erworben, die im Bereich der Medizin- und Arbeitssoziologie angesiedelt sind (Glaser / Strauss 1965, 1967). Insbesondere auf der Grundlage
von Teilnehmenden Beobachtungen entstanden Untersuchungen von Interaktionen zwischen dem medizinischen Personal und Patienten in Kliniken sowie über
komplexe Arbeitsanforderungen angesichts von Kommunikations- und Interaktionsabläufen in medizinischen und pflegerischen Berufen (Glaser / Strauss 1965,
2001 [1968]). Die Arbeiten von Strauss beziehen sich darüber hinaus auf die Herausbildung von Professionen, auf Karriereverläufe und Formen der Arbeitsorganisation (Strauss 2001 [1975]). Zudem war er an der Untersuchung über das Milieu von Medizinstudenten in den USA der 50er Jahre (Becker et al. 2009 [1961])
beteiligt.
In diesen frühen Arbeiten zeichnet sich nicht zuletzt die zeitgeschichtliche
Herausbildung neuer Berufe und Qualifikationsprofile ab (vgl. Joas 1988), für die
eine Ausgestaltung der Berufsausübung und eine Aushandlung der beruflichen
Rolle u. a. mit dem entsprechenden Klientel erforderlich war. Die Entwicklung
der Forschungsperspektiven und Methoden ist insofern in enger Verbindung mit
dem Stand der Bedingungen von Bildung und Erwerbsarbeit im jeweiligen Zeitraum zu sehen.
9
Siehe die Wiederauflage der zum Themengebiet relevanten Artikel als gesammelte Werke in
Strauss 2001 [1975] und die umfassende Darstellung des Werks von Anselm Strauss in Strübing
(2007).
16
1.3
Karin Schittenhelm
Die heutige Aktualität früher Entwicklungslinien
Trotz der zwischenzeitlichen Weiterentwicklung von Methoden qualitativer Sozialforschung sollten einige der früheren Entwicklungslinien auch längerfristig
relevant werden. Bereits früh richtete sich der Blick auf Interaktions- und Kommunikationsabläufe in Institutionen der Bildung und der Erwerbsarbeit. Aus heutiger Sicht ist bemerkenswert, dass in diesem Blick auf soziale Interaktionen auch
schon die Verschränkung statusbestimmender Dimensionen ein Thema war. In
seinen Analysen über die Herstellung von Statuspositionen spricht Hughes eine
später viel diskutierte Verschränkung verschiedener statusrelevanter Merkmale
an, die formal oder verdeckt zur Wirkung kommen, wie etwa die Zugehörigkeit
zu einer Berufsgruppe, die Schichtzugehörigkeit und das Geschlecht (Hughes
2008b [1945]: 142 f.). Anselm Strauss bezog sich später in seinen Arbeiten sowohl
auf Blumer als auch auf Hughes und entwickelte ein Konzept zur Analyse interdependenter prozesshafter Abläufe in der Arbeitsorganisation – den arc of work,
das auch in heutigen Arbeiten der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zur Anwendung kommt (vgl. Bromberg in diesem Band). Es ermöglicht die Analyse
eines arbeitsteilig organisierten beruflichen Handelns in seiner wechselseitigen
Bezogenheit.
Weiterhin waren prozesshafte Verläufe in Bildungs- und Berufsbiografien bereits früh ein Gegenstand qualitativer Untersuchungen, die Lern- und Sozialisationsprozesse in der Schule und noch im späteren Verlauf durch die Berufsausübung in den Blick nehmen (Becker / Strauss 2001 [1956]: 86).10 Prozesshafte
Verläufe können sich von ihrer Dynamik her den Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten Einzelner entziehen, was im Verständnis des Begriffs ‚trajectory‘ von
Anselm Strauss hervorgehoben wurde (vgl. Riemann / Schütze 1991). Bei Strauss
selbst bezieht sich die Analyse von prozesshaften Verläufen auf das Studium
von Bildungs- und Berufsverläufen, ist jedoch nicht darauf beschränkt, sondern
kann beispielsweise auch in Krankheitsverläufen beobachtet werden (Strübing
2007: 118 f.). Auch in der Biografieforschung von Fritz Schütze, der den Begriff
der Verlaufskurve verwendet, zeigte sich ein prinzipielles Interesse an Prozessstrukturen des Lebenslaufs (Schütze 1981; vgl. Schröder-Wildhagen in diesem
Band). Auf diese Weise lassen sich einerseits Erfahrungen des Ausgeliefertseins
bis hin zu einem – zeitweiligen oder dauerhaften – Kontrollverlust über den ei10 Ein Ansatz, Entwicklungs- und Lernprozesse in der gesamten Bildungs-und Berufsbiografie zu
analysieren, wurde später in der neueren Bildungs- und Lebenslaufforschung von Heinz (1995)
ausgearbeitet, der Lernprozesse für und durch den Beruf darstellt.
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
17
genen Bildungs- und Berufsverlauf beobachten, was insbesondere krisenhafte
Entwicklungen berücksichtigt. Doch auch bei weniger dramatischen Verläufen
geht es um die Eigenlogik von Prozessen, die zu unabsehbaren Folgen für die
Bildungs- und Berufsbiografie führen. Das Interesse an Prozessverläufen gilt beispielsweise einer Verlaufsdynamik, die sich längerfristig durch ein kumulatives
Zusammenwirken relevanter Faktoren im Bildungs- und Berufsverlauf entwickelt,
ohne dass deren Folgen intendiert sind (vgl. Schittenhelm 2011). Entsprechende
Perspektiven auf Bildungs- und Berufsbiografien sind insofern nicht durch eine
‚biografischen Illusion‘11 geprägt. D. h. ein Interesse an Biografien beinhaltet nicht,
dass den betreffenden Personen per se ein Freiraum an Gestaltungsmöglichkeiten
unterstellt wird.
Schließlich erhielten Milieu- und Gruppenbildungen und deren Bedeutung
für Bildungs- und Berufsverläufe bereits früh eine Aufmerksamkeit, die sich auch
in neueren Arbeiten fortsetzt. Ein kollektives Verständnis von Symbolen und
Deutungsmustern ist zwar von begrenzter sozialer oder lokaler Reichweite, für
die Bewältigung von Anforderungen im Bildungsverlauf oder auch innerhalb von
Arbeitsorganisation kann es jedoch in vergleichbarer Weise von Einfluss werden.
Vorläufer finden sich in der Beobachtung von Jugendgangs, wie etwa in der klassischen Studie von Frederic Thrasher in der frühen Phase der Chicago School.
Doch nicht allein für die Beobachtung ausgegrenzter Gruppen und Milieus, auch
für die Milieubildung innerhalb von Organisationen und die sich dort abspielenden informellen Lernprozesse kann eine solche Perspektive aufschlussreich sein.
Zu nennen wäre auch hier die Studie „Boys in White“ über (männliche) Medizinstudenten und ihre Milieubildung in den USA der 50er Jahre (Becker et al. 2009
[1961]). Ansätze, die sich auf die Herausbildung von Bildungsmilieus beziehen,
arbeiten heute beispielsweise mit Gruppendiskussionen, um handlungsleitende
Orientierungen in der Interaktion zwischen Personen mit einem gemeinsamen
Erfahrungsraum direkt zu beobachten. So finden sich im deutschsprachigen
Raum mittlerweile Untersuchungen zu jugendlichen Bildungsmilieus, die sich
mit Bildungsorientierungen und deren praktischer Erprobung in der Phase der
Adoleszenz beschäftigen (Bohnsack 1989; Bohnsack / Nohl 2001; s. a. Bohnsack in
diesem Band). Eine weitere Bedeutung haben solche Perspektiven, wenn es um
eine Entwicklung geht, die mittlerweile auch als Entgrenzung zwischen Arbeit
und der Sphäre der Nichtarbeit zur Sprache kommt (Götz 2010: 103 f.). Damit umfassen die Anforderungen der Arbeitswelt die Person mit ihren gesamten Ressour-
11 Bourdieu (1986) formulierte dies als prinzipielle Kritik an der Biografieforschung.
18
Karin Schittenhelm
cen, während umgekehrt die in der Sphäre der Nichtarbeit erworbenen Wissensbestände potenzielle Verwertungsmöglichkeiten in der Arbeitswelt haben. Ein in
jugendkulturellen Milieus erworbener Habitus wird dann z. B. zur Voraussetzung
für den Einstieg in neue Arbeitsformen (siehe v. Rosenberg in diesem Band).
2
Perspektiven und Methoden qualitativer Bildungsund Arbeitsmarktforschung
In aktuellen Zugängen qualitativer Bildungs- und Arbeitsmarktforschung lassen
sich weiterhin zwei Schwerpunkte unterscheiden, die auf den ersten Blick scheinbar wenig miteinander zu tun haben: einerseits die Analyse von Kommunikationsund Interaktionsprozessen in Organisationen und deren Umfeld, andererseits die
Auseinandersetzung mit der Herauslösung von Bildungs- und Erwerbsverläufen
aus institutionell vorgegebenen Ablaufmustern. Die erste Blickrichtung betrifft
ein institutionelles Setting und bezieht häufig verschiedene Akteursgruppen ein
(z. B. Lehrpersonal an Schulen und die dortigen Schülerinnen und Schüler oder
die verschiedenen Angehörigen der Belegschaft eines Betriebs). Im Unterschied
dazu setzt sich der weitere Schwerpunkt mit den Bildungs- und Erwerbsbiografien von Einzelpersonen auseinander, die über eine vergleichbare Stellung verfügen. Es wird sich im Weiteren zeigen, inwiefern es auch Anknüpfungspunkte
zwischen den hier zunächst unterschiedenen Perspektiven gibt.
2.1
Der Blick auf institutionelle und soziale Settings
Die Herstellung einer sozialen Ordnung durch praktisches Tun wird in ethnografischen Zugängen ein Gegenstand der Beobachtung. Diese kann in der Schulund Bildungsforschung sowohl den Unterricht und die Wissensvermittlung (Kalthoff 1997) als auch die Gleichaltrigenkultur und das Pausengeschehen umfassen
(Breidenstein / Kelle 1998). Auch wenn sich Forschungsfragen auf die unmittelbare
Aushandlung einer Tätigkeit (z. B. in Bildungseinrichtungen, in Dienstleistungsberufen) oder auf die Koordination verschiedener Vorgänge beziehen, werden
situative Abläufe zum Gegenstand der Beobachtung. Die aus der Ethnomethodologie hervorgehende Konversationsanalyse befasst sich mit der sprachlichen
und nichtsprachlichen Interaktion im situativen (Arbeits-)Handeln (Bergmann
2005: 640; s. a. Matuschek / Kleemann in diesem Band). In den workplace studies
wurden außerdem Zugänge praktiziert, die auch Technologien und Objekte in die
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
19
Analyse von Interaktionen einbeziehen (Knoblauch / Heath 1999; Bergmann 2005).
Das Interesse daran, wie soziale Beziehungen und Hierarchien im situativen Handeln zu beobachten sind, zeichnet weitere qualitative Zugänge aus. Sie betreffen
die informelle Aushandlung von Statuspositionen und soziale Segregationen in
einer Einrichtung, selbst (oder insbesondere dann) wenn die betreffenden Personen formal als gleichberechtigt gelten. Entsprechende Forschungsperspektiven
wurden beispielsweise in qualitativen Studien zur Herstellung von Geschlechterunterschieden am Arbeitsplatz verwendet (vgl. Heintz / Nadai 1998).12
Ein Blick auf Mikroprozesse kommt an Grenzen, wenn es darum geht, situationsübergreifende Arbeitszusammenhänge und Interdependenzbeziehungen innerhalb einer Organisation verstehen zu wollen. Die Frage, in welcher Weise die
für ein Forschungsfeld relevanten Zusammenhänge immer „vor Ort“ zu beobachten sind, stellt sich außerdem, wenn ortsübergreifende Vernetzungen und Abhängigkeitsbeziehungen für die jeweilige Tätigkeit eine Rolle spielen (s. Wittel in
diesem Band). Insgesamt variieren bestehende Ansätze darin, inwiefern sie die in
einer konkreten Situation beobachtbaren Vorgänge in den Vordergrund stellen
und inwieweit sie situationsübergreifende Zusammenhänge und Strukturen berücksichtigen. So bezieht sich das bereits genannte Konzept von Strauss (siehe 1.3)
nicht allein auf die situativen Abläufe, sondern auf Interdependenzen und Prozessverläufe im institutionellen Umfeld.13 Da sich die damit verbundene Perspektive auf ‚Arbeit‘ im Sinne eines Handelns in Interaktionsbeziehungen (Strübing
2007) richtet, ist der Ansatz sowohl auf die teilnehmende Beobachtung verschiedener Akteursgruppen anwendbar (wie dies in diversen Arbeiten von Strauss und
seinen Teams der Fall war) als auch auf die Ermittlung von prozesshaften Verläufen des Handelns einer befragten Gruppe in einer Bildungseinrichtung oder in
einem Arbeitsumfeld (vgl. Bromberg in diesem Band). Zu den Strategien, die erlauben, komplexe Abläufe in Organisationen zu beachten oder auch das Verhältnis mehrerer Akteursgruppen, Organisation und Einrichtungen zueinander, gehören vergleichende Untersuchungen. Konzeptionelle Fragen des Vergleichs, z. B.
die Bestimmung der Untersuchungseinheit und die Ermittlung der anzulegenden
Kriterien stellen für qualitative Untersuchungen nach wie vor eine Herausforderung dar (s. Liebeskind in diesem Band). Eine mögliche Strategie ist hier auch die
12 Zu Ansätzen qualitativer Sozialforschung, die speziell Geschlecht in Organisationen bzw. Institutionen untersuchen, siehe auch Behnke / Meuser (1999).
13 Auch in Arbeiten, die sich auf prozesstheoretische Ansätze in der Tradition von Norbert Elias
beziehen, richtet sich der Blick auf Interdependenzbeziehungen und Prozessabläufe in Organisationen. Zu einer Darstellung dieser Ansätze in der Analyse von Organisationen im Beschäftigungs- und Bildungssystem siehe Ernst (2010).
20
Karin Schittenhelm
Durchführung von Fallstudien zu größeren Untersuchungseinheiten (z. B. Schulen, Betriebe, Stadtteile etc.).14 Dabei können mit Hilfe je unterschiedlicher Methoden Informationen über Personen (Interviews, Gruppendiskussionen), über
die Organisation (Dokumentenanalysen, Experteninterviews) sowie über Abläufe
und Interaktionsprozesse innerhalb derselben (Teilnehmende Beobachtungen)
ermittelt werden.15
2.2
Die Rekonstruktion von Bildungs- und Erwerbsbiografien
Während der Blick auf institutionelle und soziale Settings Zusammenhänge innerhalb und im Umfeld von Organisationen betrachtet, stellt sich bei Bildungsund Erwerbsverläufen – im Unterschied dazu – eher die Herauslösung von institutionell verbindlichen Vorgaben als methodische Herausforderung. In der
Erforschung von Biografien ist von einem zunehmenden Bedarf an Selbstvergewisserung und Selbstthematisierung die Rede (Brose / Hildenbrand 1988a). Bildungs- und Erwerbsverläufe erfordern diesem Verständnis nach von Einzelnen
hohe Orientierungsleistungen bei einer zugleich abnehmenden Verbindlichkeit
normativer Anforderungen. Entsprechend richtet sich die Analyse solcher Verläufe z. B. auf Bildungsorientierungen oder berufsbiografische Orientierungsmuster (exemplarisch Giegel et al. 1988). Entscheidend ist eine Erfahrungsaufschichtung im Lebensverlauf, die beispielsweise auch handlungspraktische
Konsequenzen hat, indem biografische Ressourcen zu Handlungsstrategien und
Bewältigungsformen führen (s. Juhasz-Liebermann in diesem Band). In Umbruchs- und Übergangssituationen ist die Beschaffenheit biografisch erworbener
Wissensbestände in besonderer Weise relevant (Schittenhelm 2005). Bildung und
die Möglichkeiten ihrer beruflichen Verwertung auf dem Arbeitsmarkt sind auf
diese Weise mit Blick auf die jeweiligen Träger von Bildungstiteln, auf ihr biografisch erworbenes Wissen und die damit einhergehende handlungspraktische Bewältigung ihrer Lebensverhältnisse von Interesse. Diese werden als Resultat bisheriger Abläufe und zugleich als Voraussetzung für den weiteren Verlauf einer
Biografie zur Kenntnis genommen.
14 Beispiele für die Durchführung komplexer Fallstudien zeigen sich in der ethnografischen Schulforschung (exemplarisch Schiffauer et al. 2002) oder in industriesoziologischen Fallstudien (Pflüger et al. 2010).
15 Zur Reflexion von Fallstudien mit Blick auf die Industriesoziologie siehe die Beiträge in Pongratz / Trinczek (2010); eine prinzipielle Diskussion der Konstruktion von Falleinheiten und deren Unterlegung durch Methoden liefern die Beiträge in Ragin / Becker (2009 [1992]).
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
21
Auch wenn Bildungs- und Erwerbsverläufe nicht mehr zwingend durch institutionelle Vorgaben bestimmt sind und Populationen als Ganze nicht mehr eindeutig festlegen, stellt sich die Frage nach sozialen Regelmäßigkeiten, die anhand
typischer Verläufe beobachtbar sind (s. Nohl in diesem Band). Von Interesse ist
dabei auch, inwiefern soziale Hierarchien in systematischer Weise den Verlauf
von Bildungs- und Berufsbiografien prägen. Trotz der Kritik, die Pierre Bourdieu
an interaktionistischen Ansätzen der Soziologie (Bourdieu 1992: 139 – 140) oder
an der Biografieanalyse (Bourdieu 1986) übte, finden seine Konzepte mit Blick
auf diese Fragen in der qualitativ orientierten Bildungs- und Arbeitsmarktforschung eine Rezeption. Bourdieu zufolge haben Formen der Herrschaft und Hierarchisierung immer auch eine symbolische Dimension, die anhand von kognitiven Strukturen oder Wahrnehmungsmustern sozialer Akteure zu beobachten ist
(Bourdieu 2000: 72). Damit geht einher, dass ein sozialer Status im Bildungs- und
Beschäftigungssystem durch institutionell und informell hergestellte Interaktionen vermittelt wird. Nach einem solchen Verständnis sind es beispielsweise nicht
allein die Bildungstitel von Personen, die für ihre ungleiche Stellung im Beschäftigungssystem von Bedeutung sind. Auch alltagsweltliche Wissensbestände, die in
Bildungseinrichtungen sowie im Umfeld einer Person, einschließlich aller Netzwerke und Bezugsgruppen, erworben werden, spielen potenziell eine Rolle. Doch
ist kulturelles Kapital im Sinne Bourdieus (1979; 1983) nicht per se von Wert, sondern es bedarf seiner Anerkennung, um realisiert zu werden, weshalb Ansehen
und Anerkennung von Personen für die Verwertbarkeit ihrer Bildungstitel eine
Rolle spielen (Neumann 2010). Mit der Aufmerksamkeit für gesellschaftliche Relationen und für die Formen, wie sie symbolisch vermittelt werden, kommt den
Deutungs- und Klassifikationsmustern der beteiligten Akteure eine Bedeutung
zu. Insofern ist es keineswegs zufällig, dass die Rezeption der Konzepte Bourdieus häufig mit hermeneutisch-rekonstruktiven Verfahren einhergeht, welche
den Sinnwelten der Akteure, aber auch sozialen Strukturen eine Bedeutung zumessen (s. Kutzner in diesem Band).
Die Analyse von Bildungsprozessen im Rahmen eines qualitativen Forschungsansatzes richtet sich insgesamt auf den Erwerb und die Umsetzung formaler Bildungstitel und berücksichtigt dabei auch nicht intendierte und nicht
formalisierte Lernprozesse. Auch hier findet ein soziales Handeln in Interaktionsbeziehungen und unter institutionellen Rahmenbedingungen statt. Aus diesem
Grunde wird in bisherigen Analysen von Bildungs- und Erwerbsbiografien auch
beachtet, wie institutionelle Kontexte oder soziale Netzwerke relevant werden. So
erhalten Statusübergänge im Bildungsverlauf, z. B. beim Ausbildungs- und Berufseinstieg, in qualitativen Untersuchungen eine Aufmerksamkeit, indem sowohl
22
Karin Schittenhelm
biografische Erfahrungen als auch institutionelle und soziale Einbindungen zur
Sprache kommen. Neben Interviews mit Einzelpersonen werden Zugänge praktiziert, die z. B. mit Hilfe von Gruppendiskussionen die Relevanz sozialer Netzwerke in die Analyse von Bildungs- und Erwerbsverläufen einbeziehen (Schittenhelm 2005) oder anhand einer teilnehmenden Beobachtung ein sozial-räumliches
Umfeld (vgl. Beaud 1995) beachten. Eine Methodenkombination kann hier also
mit dem Ziel einer Perspektiven-Kombination16 eine Rekonstruktion der Biografien von Einzelpersonen mit einer Methode zur Ermittlung des sozialen Feldes
verbinden (siehe v. Rosenberg in diesem Band). Methodenkombinationen dienen
in der Analyse von Bildungs- und Erwerbsverläufen außerdem dazu, die Reichweite und Gültigkeit von Forschungsergebnissen zu überprüfen, z. B. mit Untersuchungen, die eine Integration qualitativer und quantitativer Methoden praktizieren (siehe Stecher und Maschke in diesem Band).
3
Zum Aufbau und zu den Beiträgen des Bandes
Der vorliegende Band stellt eine aktuelle Methodenentwicklung in Verbindung
mit gegenstandsbezogenen Perspektiven vor. Dabei bringen die jeweiligen Instrumente und Verfahren notwendigerweise spezifische Zugangsmöglichkeiten und
Perspektiven auf ‚Bildung‘ und ‚Arbeit‘ mit sich. Ausgangspunkt für die Zusammenstellung der Beiträge sind methodische und methodologische Gesichtspunkte. Der Band ist einem Methodenpluralismus verpflichtet und soll auch dem
Verständnis verschiedener Methoden und damit einhergehender Perspektiven im
Verhältnis zueinander dienen. Doch ist er notwendigerweise auch mit Einschränkungen und einer Auswahl hinsichtlich der dargestellten Methoden verbunden.
Mit dem vorliegenden Interesse an gegenstandsbezogenen Konzeptionen wurden
solche methodischen Zugänge ausgewählt, für deren Entwicklung die entsprechenden Forschungsgebiete relevant waren und die umgekehrt für die Herausbildung einschlägiger Forschungsperspektiven der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung eine Rolle spielten.
Es werden zunächst ethnografische und konversationsanalytische Zugänge
(Teil I) vorgestellt, die bereits frühe Vorläufer haben. Daneben gibt es einen
Schwerpunkt auf rekonstruktive Auswertungsverfahren (Teil II), die heute vor
allem im deutschsprachigen Raum eine prominente Rolle spielen und anhand
16 Methodenkombination wäre hier also im Sinne einer Perspektiven-Kombination zu sehen, zu
verschiedenen Möglichkeiten und Zielen einer Methodenkombination siehe Flick (2011).
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
23
der Objektiven Hermeneutik, der Dokumentarischen Methode und der rekonstruktiven Biografieanalyse beachtet werden. Ein für die Datenauswertung, aber
auch für Forschungsstrategien der qualitativen Sozialforschung insgesamt wichtiges Verfahren ist die Grounded Theory. Sie könnte potenziell in unterschiedlichen
Rubriken beachtet werden, kommt hier jedoch insbesondere im abschließenden
Teil des Bandes zur Sprache. In diesem letzten Abschnitt geht es um Konzepte und
Forschungsstrategien (Teil III), wobei theoretische Konzepte und deren Anwendung ebenso zur Diskussion stehen wie komparative Analysestrategien, Methodenkombinationen und Strategien eines qualitativen Samplings.
Was die Datenerhebung betrifft, werden insgesamt teilnehmende Beobachtung, Interviews, Gesprächsanalysen, Gruppendiskussionen sowie Bildanalysen
in Betracht gezogen,17 d. h. Einzelmethoden, die unter Umständen auch in Methodenkombinationen zur Anwendung kommen. Eine kombinierte Anwendung
findet sich in heutigen Studien auch bei Auswertungsverfahren bzw. gibt es für
deren Umsetzung auch Ermessensspielräume. Dadurch kann es vorkommen, dass
eine Zuordnung heutiger Studien zu den im Weiteren vorgestellten Auswertungsverfahren nicht immer eindeutig möglich ist.18 Auch wenn dies hier unbenommen ist, geht es im vorliegenden Band darum, methodische Richtungen als solche
mit Blick auf ihr Potenzial für den jeweiligen Gegenstand vorzustellen. Insofern
wird in den Beiträgen zur Diskussion stehen, was die jeweiligen Verfahren mit
Blick auf den Gegenstand leisten können, wo ihr besonderer Erkenntniswert liegt
und in welcher Hinsicht auch neue Entwicklungen und Herausforderungen bestehen. Neben einer Einführung in theoretische und methodologische Grundlagen der vorgestellten Methoden geht es also wiederholt um Beispiele für ihre
mögliche Anwendung in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung.
Herbert Kalthoff stellt Perspektiven und Herausforderungen einer ethnografischen Bildungssoziologie vor, wobei er im Sinne einer sozio-materiellen Bildungsforschung das Zusammenspiel von interaktiven Geschehen, schulisch-didaktischen Artefakten und semiotischen Repräsentationen von Wissen hervorhebt.
Andreas Wittel fragt nach den Möglichkeiten und Herausforderungen einer ethnografischen Arbeitsforschung angesichts von aktuellen Veränderungen von Arbeit und Arbeitsmärkten. In diesem Zusammenhang wirft er die Frage auf, in
17 Dies geschieht mit Blick auf den Schwerpunkt des vorliegenden Bandes, neben der speziellen
Literatur zu einzelnen Instrumenten der Datenerhebung finden sich ausführliche Darstellungen
mehrerer Instrumente auch in Przyborski / Wohlrab-Sahr (2009).
18 Dies betrifft z. B. die kombinierte Anwendung rekonstruktiver Auswertungsverfahren, siehe auch
Maschke / Schittenhelm (2005).
24
Karin Schittenhelm
welchem Rahmen zentrale Grundlagen einer Arbeitsethnographie zu überdenken
und neu zu formulieren sind. Ingo Matuschek und Frank Kleemann befassen sich
mit konversationsanalytischen Zugängen in der Erforschung von Kommunikationsvorgängen am Arbeitsplatz und zeigen deren Prinzipien und Möglichkeiten
anhand verschiedener Forschungsbeispiele auf.
Ralf Bohnsack stellt die Dokumentarische Methode mit Blick auf ihre theoretischen Grundlagen und Anwendungsformen am Beispiel einer Erforschung von
Bildungsmilieus zur Diskussion. Die Rekonstruktion von Orientierungsmustern
in Bildungsmilieus zeigt er anhand von Gruppendiskussionsergebnissen, ehe er
seinen Beitrag mit einem Ausblick auf das Erkenntnispotenzial von Bildanalysen
abschließt. Arnd-Michael Nohl befasst sich mit den Möglichkeiten einer Typenbildung in der dokumentarischen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Neben
einer soziogenetischen Typenbildung und Fragen der Mehrdimensionalität diskutiert er eine relationale Typenbildung, die Kontextbedingungen für hoch ausdifferenzierte Bildungsverläufe ermittelt.
Andreas Wernet gibt eine Einführung in theoretische Grundlagen und Prämissen der Objektiven Hermeneutik. Die damit verbundenen Forschungsperspektiven in der Bildungsforschung sowie das methodische Vorgehen erörtert er exemplarisch anhand einer Fallstudie zum Schulwechsel im Bildungsverlauf eines
Jugendlichen. Stefan Kutzner stellt das Auswertungsverfahren der Objektiven
Hermeneutik und dessen Grundlagen anhand von Fallstudien zu milieubedingten Erwerbsbiografien und deren Auf- oder Abstiegstendenzen dar. Dabei hebt er
den rekonstruktiven Ansatz des Verfahrens der Objektiven Hermeneutik hervor,
das sich für latente Sinngehalte in den Aussagen der Befragten und für die Strukturbedingtheit der biografischen Verläufe interessiert.
Anne Juhasz Liebermann befasst sich mit dem Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse für die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung. Sie diskutiert deren
Forschungsperspektiven anhand des Begriffs der „biografischen Ressourcen“ und
seiner Anwendungen in der biografischen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung.
Auf der forschungspraktischen Ebene stellt sie die Schritte des von Gabriele Rosenthal entwickelten Verfahrens der Biografieanalyse mit einer besonderen Aufmerksamkeit für das Verhältnis von erlebter und erzählter Lebensgeschichten dar.
Anja Schröder-Wildhagen diskutiert das methodische Verfahren und Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse von Verlaufskurven am Beispiel von Managementberufen. Sie macht dabei deutlich, wie das in der Biografieforschung von
Fritz Schütze ausgearbeitete Konzept der Verlaufskurve aktuelle Entwicklungen in
diesem Berufsfeld begriff lich-theoretisch erfasst. Mit Hilfe narrativer Interviews
Qualitative Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
25
und dem damit einhergehenden Auswertungsverfahren ermittelt sie Entstehungsbedingungen und prozesshafte Verläufe des ‚Erleidens‘ von Arbeitsabläufen.
Kirstin Bromberg stellt das Konzept des arc of work im Sinne von Anselm
Strauss vor, das in der Tradition des symbolischen Interaktionismus verschiedene
Elemente der Berufsarbeit analysiert. Mit Blick auf die Einbindung in arbeitsteilige Organisationen und die mit dem Arbeitsauftrag verbundenen Interaktionen unterscheidet es systematisch verschiedene Ebenen der Arbeitsanforderungen. Als ein für analytische Fragen sensibilisierendes Konzept wird es im Rahmen
einer Forschungsstrategie vorgestellt, die eine empirisch fundierte Theoriebildung
vorsieht. Uta Liebeskind befasst sich mit dem Vergleich in der qualitativen Datenanalyse anhand einer auf der ‚Grounded Theory‘ beruhenden Forschungsarbeit
zur Hochschullehre in Deutschland und Frankreich. Dabei stellt sie zunächst anhand theoretischer und methodologischer Überlegungen generelle Fragen eines
Vergleichs in qualitativen Untersuchungsanlagen zur Diskussion. Ihr eigenes Vorgehen diskutiert sie am Forschungsbeispiel, wobei sie zudem exemplarisch die
komparative Analyse auf der Grundlage eines auf der ‚Grounded Theory‘ basierenden Codier-Verfahrens aufzeigt.
Florian von Rosenberg diskutiert rekonstruktive Forschungsperspektiven,
in denen die theoretischen Konzepte des ‚Habitus‘ und des ‚Feldes‘ von Pierre
Bourdieu zur Anwendung kommen. Um die Verbindung einer Habitus- und
Feldanalyse auch auf der Ebene der empirischen Analyse zu realisieren, stellt er
eine Methodenkombination von Biografie- und Diskursanalyse zur Diskussion.
Eine weitere Methodenkombination behandelt der Beitrag von Sabine Maschke
und Ludwig Stecher. Am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung stellen
sie Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Forschungsperspektiven in der Bildungs- und Lebenslaufforschung zur Diskussion. Als Strategie, um diese Grenzen
zu überwinden, schlagen sie eine integrative Sozialforschung vor und zeigen verschiedene Möglichkeiten einer Kombination qualitativer und quantitativer Verfahren auf. Um Möglichkeiten und Grenzen qualitativer Verfahren geht es auch
im abschließenden Beitrag. Dabei stelle ich am Beispiel von Untersuchungen zum
Übergang zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt Strategien eines qualitativen Samplings vor, um Reichweite und Übertragbarkeit der Ergebnisse qualitativer Untersuchungen zu überprüfen und zu erweitern.
Als Herausgeberin geht mein Dank an die Autorinnen und Autoren, die sich
mit ihren Beiträgen an einer Diskussion um Grundlagen, Perspektiven und Methoden einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung beteiligt haben.
Abschließend danke ich außerdem meinen Mitarbeiterinnen Julia Küchel und
26
Karin Schittenhelm
Anna Meyer zu Schwabedissen für ihre Übernahme von Aufgaben des Redigierens und Korrigierens der Texte sowie Susanne Albrecht für ihr hilfreiches und
sorgsames Lektorat des Buchmanuskripts.
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Teil I
Ethnografische und
konversationsanalytische Zugänge
Ethnografische Bildungssoziologie
Perspektiven und Herausforderungen
Herbert Kalthoff
1
Einleitung
Ende der 1970er-Jahre skizziert Ewald Terhart einen im angloamerikanischen
Raum praktizierten Forschungsansatz und zwar die „ethnografische Schulforschung“. Ziel des Literaturberichts sei es, so der Autor, die wissenschaftstheoretischen und die forschungspraktischen Dimensionen des Ansatzes in der deutschen
Erziehungswissenschaft bekannt zu machen, auf Forschungsresultate hinzuweisen
und dabei gleichzeitig unterschiedliche Ausformulierungen des Ansatzes zu skizzieren. In der abschließenden Zusammenfassung wird die Hoffnung ausgesprochen, dass auch in Deutschland konkrete ethnografische Schulforschungsprojekte
folgen mögen (vgl. Terhart 1979). Jahrzehnte später liegen eine Reihe ethnografischer Studien vor, die entweder in der Schule über spezifische schulische Phänomene (etwa Unterrichtsgespräch, Bewertungspraxis) oder in der Schule über
nichtschulische Phänomene (etwa ethnische Konflikte, Peer Culture) forschen.
Die Institution Schule wird also als eine Möglichkeit genutzt, etwas über etwas
anderes aussagen zu können, etwa über Kommunikationsprozesse, Beurteilungspraktiken, Paarbildungen unter Kindern etc.
Kennzeichnend für die Bildungssoziologie allgemein ist, dass sie drei Dimensionen schulischer Bildung erforscht: Sie erforscht schulische Selektionen, die
Vermittlung und Aneignung von Wissen sowie die Steuerung und Organisation
von Schule. Eine hohe strategische Relevanz für die ethnografische Bildungssoziologie besitzt dabei die empirische Unterrichtsforschung und damit die Analyse
dessen, was im Schulunterricht geschieht. An die Stelle anekdotischen Wissens
über die Schule und den Schulunterricht hat eine theoretisch gerahmte empirische Forschung zu treten, die die vordergründigen Betrachtungen von Randbedingungen von Bildungsprozessen ersetzt durch eine detaillierte empirische
Analyse von Prozessen der Wissensvermittlung und Wissensaneignung, der
schulischen Bewertung sowie der Mikrofundierung sozialer Ungleichheit. Die
Vermittlung und Aneignung von Wissen ist seit vielen Jahren Gegenstand einer
34
Herbert Kalthoff
interaktionistischen Bildungsforschung (bspw. Mehan 1979; Kalthoff 1997), die
insbesondere die mündliche Performanz schulischen Unterrichtens untersucht.
Betont wird in diesen Studien, dass Schule nicht nur schulisches Wissen an ihre
Schüler vermittelt, sondern auch Klassifikationen der Schüler an potenzielle Arbeitgeber und Universitäten. Hiermit verbunden ist, dass Schüler sich nicht nur
schulisches Wissen aneignen, sondern auch ihre Klassifikationen, deren Bedeutung sie u. a. mit Lehrpersonen und ihrer Peer Group aushandeln (bspw. Kalthoff
1996; Breidenstein et al. 2007). Das Innenleben der Schule besteht darüber hinaus
aus einer Vielzahl sozialer Beziehungen und Dynamiken, ohne die die Institution
Schule nicht existieren und überleben kann.
Im Folgenden stelle ich den empirie-theoretischen Charakter der ethnografischen Bildungsforschung dar (1.) und skizziere dann das Programm einer soziomateriellen Bildungsforschung, also einer Forschung, die das Zusammenspiel von
interaktiven Geschehen, schulisch-didaktischen Artefakten und semiotischen Repräsentationen von Wissen erforscht (2.).
2
Theoretische Empirie
Für das Selbstverständnis der ethnografischen Bildungs- und Schulforschung
sind zwei Merkmale relevant: Erstens betreibt die ethnografischen Bildungs- und
Schulforschung empirische Forschung nicht um ihrer selbst willen, sondern versteht sie als Anregungs- und Irritationspotenzial für soziologische Theoriebildung.
Es geht ihr dabei nicht um einen Beitrag zu einer allgemeinen Gesellschaftstheorie, sondern vielmehr um die Weiterentwicklung gegenstandsbezogener soziologischer Theorien. Hiermit verbunden ist das Verständnis, dass die Soziologie das
Fremde und das Bekannte in der eigenen Gesellschaft befragt und immer dort,
wo sie auf Selbstverständlichkeiten stößt, ihr diese zum Problem werden.1 Aber
was ist Theorie ? Auf diese Frage hat es wissenschaftsgeschichtlich betrachtet verschiedene Antworten gegeben: In der griechischen Philosophie stand theoria für
eine Praxis der Anschauung, die Zeit und Muße voraussetzte – modern gesprochen also: Handlungsentlastung. Theorien im Sinne des kritischen Rationalismus
meinen ein System von Sätzen, die u. a. falsifizierbar, wertfrei und nachprüfbar
sein müssen und den Begriffen der deduktiven Logik verpflichtet sind (vgl. Pop1
In Anlehnung an die bekannte Formulierung Max Webers: „Die spezifische Funktion der Wissenschaft scheint mir gerade umgekehrt: daß ihr das konventionell Selbstverständliche zum Problem wird“ (Weber 1988: 502; H. i. O.).
Ethnografische Bildungssoziologie
35
per 1966): also Abstraktion von Details, Allgemeingültigkeit und Generalisierung
von Aussagen, die einer Überprüfung standhalten. Theorien haben hier den Status von Gesetzesaussagen. Gesellschaftstheorien (etwa Kritische Theorie oder Systemtheorie) zielen dagegen mit „Theorie“ auf die Gesamtheit oder Totalität des
Sozialen und formulieren Aussagen, die empirisch kaum zu falsifizieren sind und
innerhalb des Theoriediskurses auch nicht diese Funktion übernehmen. Schließlich wissenschaftstheoretische Metadiskurse: Sie operieren normativ, indem sie
verbindlich die Prinzipien zu klären und zu kanonisieren suchen, die eine Theorie
zu einer wissenschaftlichen Theorie machen und damit eine Differenz zu Alltagstheorien einführen. Es sind genau diese metatheoretischen Diskurse, die für manchen Beobachter die Einheit des Faches herstellen und garantieren (bspw. Alexander 1982: 64 ff.; Sibeon 2004: 12 ff.).
Für die weitere Diskussion scheint mir eine Differenzierung von drei Perspektiven auf soziologische Theorien sinnvoll zu sein. Unterscheiden kann man die
Betrachtung von
(1) Theorien als beobachtungsleitenden Annahmen,
(2) Theorien als aus empirischem Material entwickelte Kategorien,
(3) Theorien als beobachtbare soziale Phänomene.
Theorien als beobachtungsleitende Annahmen legen fest, was der Gegenstand
soziologischer Forschung sein kann und wie empirische Daten erzeugt werden
sollen. Sie setzen die Auswahl des Gegenstandes und sorgen damit für eine Perspektivität von Forschung sowie für ihre gerichtete Orientierung und Aufmerksamkeit. Beobachtungsleitende Annahmen klären also zumindest temporär die
Frage, wie die Beschaffenheit sozialer Ordnung soziologisch zu verstehen und zu
erforschen ist. Das heißt: Theorien als beobachtungsleitende Annahmen konstituieren Forschung in dieser Wechselwirkung von Grundannahmen über das Soziale
und Erforschung des Sozialen (vgl. Lindemann 2008). Soziologische Forschungsmethoden sind in dieser Konstellation ‚eingebettet‘: Sie setzen theoretische Annahmen über die soziale Welt um, die sie empirie-theoretisch beobachten, und
sie reflektieren Ergebnisse, die im Lichte dieser theoretischen Annahmen Sinn
ergeben oder auch irritieren können. Auch wenn nicht allgemein festzulegen ist,
wie beobachtungsleitende Annahmen und Forschungsergebnisse im Einzelfall
einander bestätigen oder irritieren, so haben diese Annahmen auch die Funktion,
qualitative Forscher ‚von den Sachen zurück‘ (Blumenberg 2007) zu bringen. Dies
bedeutet, dass sie die Suche nach Deutlichkeit des empirischen Datums rahmen
und den Blick auf die Systematik oder Gestalt des sozialen Phänomens ausrichten.
36
Herbert Kalthoff
Aus empirischem Material entwickelte Theorien sind am Gegenstandsbereich
oder Fall orientierte Theorien (im Sinne Mertons (1968: 39 ff.): Middle Range
Theories): Sie haben – im Sinne der Grounded Theory – einen gegenstandsorientierten Charakter, wenn sie sich auf vergleichbare Fälle beziehen und die wesentlichen Bedingungen der Kategorie aufzeigen, die aus dem empirischen Material
gewonnen wurde. Sie haben einen formalen Charakter, wenn sie gegensätzliche
Fälle vergleichen und damit die Bereiche ausdehnen, die der Kategorie empirisch
zugrunde liegen. Formale Theoriebildung dehnt gegenstandsorientierte Theorien
aus, indem sie auf die Integration von Gegensätzen und auf die Vergleiche verschiedener Bereiche abzielt. Schließlich sind Theorien selbst Teil der Gesellschaft
und damit ein „kulturelles Ereignis“ (Pfeiffer et al. 2001): Theorien als beobachtbare soziale Phänomene, die die Welt mit erzeugen, die sie beschreiben. Als solche
sind sie soziologisch analysiert worden etwa als ein Kampf um wissenschaftliche
Reputation (vgl. Bourdieu 1979), als Ergänzung empirischer Forschung (Luhmann
1998) oder als eine kulturelle Praxis, die einer ganz eigenen Logik folgt (Collins
1985).
Zweitens operiert die ethnografische Bildungsforschung mit einem starken
Empiriebegriff. Der Rückgriff auf ethnografische Methoden impliziert den Abschied von der Annahme, die eigene Gesellschaft sei als genuiner Forschungsgegenstand der Soziologie ein ihr immer schon vertrauter, verstandener und auch
verfügbarer Gegenstand. Die „Illusion des unmittelbaren Verstehens“ (Bourdieu / Wacquant 1996: 280) durch flüchtige Alltagsbeobachtungen wird substituiert durch eine empirische Erforschung sozialer Lebenswelten respektive sozialer
Praktiken. Empirische Forschung meint ein methodisches Vorgehen, mit dem in
der direkten und andauernden Interaktion des Forschers mit den Teilnehmern
seines Feldes wiederholt und aus unterschiedlichen räumlichen und Akteursperspektiven empirisches Material erhoben wird (vgl. Breidenstein et al. 2012).
Nun kennzeichnet Ethnografie keine in sich geschlossene Methodologie,
Theorie oder Forschungspraxis. Wenn man von einem Konzept der Ethnografie
sprechen kann, dann ist es die paradox klingende Verknüpfung von Teilnahme
und Distanznahme. Auf dieses spannungsgeladene Verhältnis von Präsent-Sein
und Re-Präsentieren (etwas wieder darstellen) hat es in der Geschichte der Anthropologie und Soziologie sehr unterschiedliche Antworten gegeben. Hierbei
sind grundsätzlich zwei Ebenen zu unterscheiden: zum einen die Reflexion über
die Frage, welches Phänomen, welcher Akteur oder welche Situation wie beobachtet wird (bzw. werden kann), und zum anderen die Frage, in welcher Form
das Beobachtete zum Text wird. Man kann in diesem Zusammenhang etwa die
Ethnografische Bildungssoziologie
37
Auffassung vertreten, dass das, was beobachtet wird, spezifische Aspekte der beobachteten Kultur darstellt. Die Möglichkeit, diese zu beobachten, wird erstens an
die Bereitschaft der Teilnehmer gekoppelt, vor den Beobachtern Kultur als eine
praktische Aktivität zu vollziehen, und zweitens an die Fähigkeit des Ethnografen, diese Aspekte auch erkennen zu können, ihnen gegenüber also nicht blind zu
bleiben. Im Rahmen der ethnografischen Feldforschung trainiert die Ethnografin ihre Wahrnehmungsfähigkeit, bildet eine explizite „Hörtechnik […] als Mithörer und Zuhörer“ (Amann / Knorr-Cetina 1991: 422; H. i. O.) heraus und entwickelt „Mitspielkompetenz“ (Reichertz 1989: 92), darüber hinaus aber setzt die
direkte Beobachtungsform auch auf die „Stimulierung der nichtdiskursiven Bewußtseinsebene“ (Amann / Knorr-Cetina 1991: 421). Das heißt: Die Erfahrungen,
die Ethnografen in und durch ihre Feldforschung machen, gehen über das hinaus,
was sie in ihren Protokollen als positives Wissen festhalten; und dennoch stellen
sie empirisches Wissen dar.
Auf die Frage, was der Ethnograf denn so treibt, hat Clifford Geertz eine einfache, aber prägnante Antwort formuliert: „Er [der Ethnograf, H. K.] schreibt“
(Geertz 1987: 28). Zu den klassischen Formen der Verschriftlichung während der
Feldforschung zählen u. a. Fieldnotes, Beobachtungsprotokolle, Tagebuch (vgl.
Emerson et al. 1995). Es handelt sich bei diesen verschiedenen Formen der Verschriftlichung um eine Dokumentierungstätigkeit. Die Tätigkeit des Dokumentierens unterscheidet sich entsprechend der Wissensform, die beobachtet wird,
und entsprechend der Beobachtungspraxis. Drei Formen, zwischen denen Ethnografinnen hin und her wechseln können, lassen sich unterscheiden: Erstens, eine
Forscherin, die ein Interview über ein schulisches Ritual (etwa die morgendliche
Begrüßung) durchführt und das Ritual entsprechend dieser Aussagen aufschreibt;
zweitens, eine Ethnografin, die das Ritual direkt und wiederholt beobachtet und
den Vollzug in eigenen Worten beschreibt; drittens eine Ethnografin, die das implizite Wissen herausarbeitet, das in diesem Ritual steckt, es expliziert. Die Tätigkeiten des Aufschreibens, Beschreibens oder Explizierens stehen für die Produktion
empirischer Daten; sie tun dies allerdings auf je spezifische Weise: unterschiedlich
dicht und ausführlich, beschreibend und analytisch. Auch werden in dieser empirischen Phase der Forschung „analytical notes“ (Emerson et al. 1995) verfasst:
mehr oder weniger kurze Einschübe, in denen die Ethnografin erste analytische
Gehversuche unternimmt. Für die Phase des Feldforschung lässt sich festhalten:
Die Aktivität der Forschung ist im Wesentlichen eine Aktivität des beobachtenden
Schreibens: Beobachtung geschieht in der Ethnografie durch schriftliches Festhalten. Dies verlangt den Ethnografen immer wieder die Distanzierung zum Feld
38
Abbildung 1
Herbert Kalthoff
Die ethnografische Feldforschung (Quelle: Breidenstein et al. 2012)
kodieren
Fälle analysieren
schemasieren
THEMEN
BEGRIFFE
THEOREME
Memos
ERFAHRUNGEN / KENNTNISSE / FALLVERSTÄNDNIS
Rückkehr
sammeln
noeren
beschreiben
DATEN
Re-Analyse
THEORIEN / DISZIPLINÄRER DISKURS
FELDFORSCHUNG
durch sprachliche Bewältigung des Beobachteten ab und übernimmt hiermit eine
überbrückende Funktion zwischen Vertrautem und Fremdem, Feldforschungssituation und Wissenschaftlichkeit.
Im Analyseprozess werden dann die so erzeugten Daten ausführlich kodiert
und schematisiert, einzelne Situationen (Einzelfälle) und Ereignisketten werden
analysiert. In dieser Phase der ethnografischen Forschung überschneiden sich
die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens. Zunächst liest die Ethnografin
(immer wieder) ihre Protokolle, ordnet sie nach den Kategorien, die sie durch die
Kodierung gewonnen hat, und schreibt Memos, in denen sie verschiedene Beobachtungen zu einem Phänomen zusammenfasst und ordnet. Erst mit zunehmender Dauer der Analyse treten das Schreiben des ethnografischen Berichts und
damit die Arbeit an Themen, Begriffe oder Konzepten wieder stärker in den Vordergrund (ausführlich: Breidenstein et al. 2012; Emerson et al. 1995).
Ethnografische Bildungssoziologie
39
Was das Verhältnis von ethnografischer Empirie und soziologischer Theorie
anbelangt, so ist zu sagen: Dieses Verhältnis gleicht einem gegenseitigen Inspirieren: Soziologische Theorie hilft und unterstützt bei der Entwicklung der Fragestellung, der Präzisierung von Begriffen oder dem Herausfinden von Themen.
Gleichwohl werden die empirisch erzeugten Daten nicht einfach durch Theorie
subsumiert, sondern gegen sie verteidigt: Sie dürfen der Theorie widersprechen
und zu neuen oder veränderten Begriffen oder theoretischen Einsichten führen.
Es bedarf also sowohl eines profunden theoretischen Wissens als auch einer Sensibilität im Umgang mit den Daten. Offenkundig wird hier die Zirkularität der
ethnografischen Forschung, die zwischen theoretischer Praxis, Feldforschung und
empirischem Wissen hin- und hergeht (siehe Abb. 1).
3
Die Erforschung schulischen Unterrichtens und Lernens
Was lässt sich nun beobachten, wenn Ethnografen mit diesem hier nur kurz skizzierten methodischen und theoretischen Rüstzeug in der Schule bzw. über schulischen Unterricht forschen ? Um auf diese Frage antworten zu können, ist ein Hinweis auf das Entdeckungsprinzip der ethnografischen Feldforschung notwendig.
Im klassischen Sinne testen Ethnografen keine Hypothesen, sondern generieren
eine Lesart sozialer Praktiken, institutioneller Settings oder kultureller Rahmungen, für deren offene und versteckte Seiten sie sich interessieren. Sie können sich
daher auf eher bekannte soziale Praktiken (etwa: Unterrichtsgespräch) oder weniger bekannte Praktiken (etwa: schulische Bewertung) konzentrieren. Die zu wählende Strategie ist abhängig vom Forschungsinteresse, von der Möglichkeit der
empirischen Beobachtung sowie von der Literaturlage. Im Folgenden stelle ich
zwei verschiedene Dimensionen des Unterrichts dar, und zwar das Unterrichtsgespräch und die Bewertung der mündlichen Schülerleistung (3.1) sowie die Rolle
schulischer Wissensobjekte (3.2).
3.1
Unterrichtskommunikation und Bewertung
Die Bewertungspraktiken von Lehrern lassen sich an verschiedenen Orten beobachten: etwa an heimischen Schreibtischen bei der Korrektur schriftlicher Klausuren oder in einem zum Prüfungsraum umfunktionierten Klassenzimmer bei
der mündlicher Abiturprüfung oder etwa im Lehrerzimmer bei der Zensurenkonferenz. Gemeinsames Kennzeichen dieser Bewertungssituationen ist, dass sie
40
Herbert Kalthoff
außerhalb der eigentlichen Unterrichtszeit liegen. Dies lässt sich mit der schrittweisen Abfolge von lehren → lernen → prüfen → bewerten erklären, also mit der
schulischen Temporalität. Die Bewertung von Schülern findet aber auch im Kontext des Unterrichts statt, also im fortlaufenden Austausch zwischen Lehrern und
Schülern. Auf diese Szenen des Unterrichts möchte ich mich hier konzentrieren.
Soziologisch betrachtet ist es nicht plausibel, dass 25 – 30 Personen, die füreinander anwesend und wahrnehmbar sind, in einer geordneten Form miteinander sprechen (können). Zentral ist dabei, dass die Teilnehmer kommunikativ
synchronisiert werden. Alois Hahn (Hahn 1991: 96) hat diesen Sachverhalt in die
paradox erscheinende Formulierung gebracht: „Das Verbot zu reden ist auch die
Voraussetzung dafür, dass überhaupt geredet werden kann.“ Um diese Art Redeampel, die bei den Schülern eine hohe Selbstdisziplin voraussetzt, zu kontrollieren, hat die Institution Schule ein Instrument entfaltet, das eine geordnete Kommunikation ermöglichen soll: das Unterrichtsgespräch.
Im schulischen Unterricht wird Wissen in einer intensiven Weise mündlich
verhandelt; die Form, in der dies stattfindet, ist das Unterrichtsgespräch. Das Unterrichtsgespräch ist nichts anderes als eine Gesprächsapparatur, die von der Institution Schule zur Wissensbearbeitung etabliert worden ist. Drei grundlegende
Merkmale kennzeichnen diese Praxis der Versprachlichung schulischen Wissens:
■ asymmetrische Konstellation und Sequenzierung des Unterrichts,
■ Ambivalenz von Deskription (Beschreibung) und Askription (Zuschreibung)
sowie
■ Zurechnung von Wissensstandards.
Diese Merkmale sind in der Literatur vielfach und wiederholt behandelt und auch
empirisch dokumentiert worden (vgl. nur McHoul 1978; Mehan 1979; Kalthoff
1997, 2004; Payne / Hustler 1980). Ich werde diese Merkmale daher nur kurz skizzieren.
Asymmetrisches Sprechen und Sequenzierung des Unterrichts
Das Gespräch im Unterricht unterscheidet sich von der alltäglichen Konversation
darin, dass die Vielstimmigkeit der Sprecher und die Äquivalenz der Akteure aufgehoben werden. Denn im schulischen Unterricht herrschen andere Rede- und
Schweigegebote, und die Lehrperson besitzt das Recht, für Schüler offizielle Zeitfenster des Sprechens zu öffnen. In ihrer Person ist der Allokationsmechanismus
Ethnografische Bildungssoziologie
41
vereint, der die Schüler mit offiziellen Rederechten ausstattet; sie ist also die zentrale Figur im kommunikativen Geschehen des Unterrichts. Dies ist nicht besonders überraschend und seit langem bekannt. Dass aber die Lehrperson diese
bevorzugte Stellung in der Gestaltung der Redebeiträge einnimmt, verdankt sie
nicht nur ihrer zentralen Stellung im lehrerzentrierten Unterricht, sondern auch
einem Mechanismus, der sie auf quasinatürliche Weise immer wieder in diese
Position bringt; dies ist die Lehrerfrage, auf die Schülerantwort und Kommentierung durch die Lehrperson folgen. Das heißt, dass, sozialtheoretisch gesprochen, reziproke Erwartungen den Schulunterricht bestimmen: Es wird erwartet,
dass die Lehrperson Fragen stellt, dass Schüler antworten und die Lehrperson die
Schülerantwort kommentiert, um konditionale Relevanzen zu schließen. Es wird
erwartet, dass das Unterrichtsgespräch auf diese Weise strukturiert ist und dass
die Teilnehmer diese Erwartungen auch erfüllen. Das Entscheidende ist, dass die
Ausgangsfrage der Lehrperson ihr in systematischer Weise den Redezug nach der
Antwort reserviert. Nachdem Schüler auf die Frage der Lehrperson geantwortet
haben, ist sie automatisch wieder am Zuge. Das heißt, dass die Konstellation von
Frage – Antwort – Kommentar die symbolische Ordnung der Sprecher sowie die
Kontrolle über Zeit immer wieder herstellt.
In der Organisation der schulischen Gesprächsapparatur ‚Unterricht‘ nimmt
die Lehrerfrage eine Schlüsselstellung ein: Sie symbolisiert mit anderen Worten
das Organisationsprinzip des Unterrichts. Zugleich ist sie eine rhetorische Figur,
ein Konstrukt, das – wie Simmel schon in den 1920er-Jahren anmerkte – „ein im
sonstigen Leben nicht vorkommendes Gebilde“ (Simmel 1922: 64) ist. Für Gadamer (1990: 369) steht die „pädagogische Frage“ vor der „paradoxen Schwierigkeit […] eine Frage ohne einen eigentlich Fragenden“ zu sein. Woran liegt dies ?
Dies liegt daran, dass die Lehrerfrage keine Frage im eigentlichen Sinne ist. Fragen stellen heißt im Unterricht für Lehrpersonen ja nicht, sich zu fragen, sondern andere zu befragen: Diejenigen, die die Fragen stellen, kennen die Antwort,
und diejenigen, die antworten, aber nicht zwangsläufig die Antwort wissen, stellen sich nicht die Fragen, auf die sie eine Antwort wissen sollen. Am Beispiel der
Lehrerfrage kann also ein immanentes Referieren beobachtet werden, das heißt
eine Selbstreferenz der mündlichen Darstellung, die immer nur auf sich selbst
verweist. Sichtbar wird hier, was die Lehrerfrage ist: Sie ist ein Mittel zur Überprüfung, zur Erzeugung von Aufmerksamkeit und zur Stimulierung des Gesprächs.
Diese asymmetrische Strukturierung des Unterrichts tritt dann in den Hintergrund, wenn Schüler ihrerseits Fragen stellen und damit die Richtung des Unterrichtsgesprächs mitbestimmen.
42
Herbert Kalthoff
Indem ein Schüler sein Wissen in seiner Äußerung mündlich darstellt, gibt er
nicht nur Auskunft über sein Wissen, sondern auch darüber, ob er das Sprachspiel
des Unterrichts beherrscht. Folgen wir Wittgensteins Überlegungen, so zeigt sich
in der ‚richtigen‘ Antwort des Schülers auf die Frage des Lehrers eine Praxis der
Übereinstimmung (Wittgenstein 1984: 337). Ein guter Schüler ist ein Schüler, der
das Format – zu erkennen, was der Lehrer meint – in seiner mündlichen Praxis
beherrscht. Diese Kompetenz geht mit einer Haltung einher, die u. a. durch die
Form des schulischen Lernens vermittelt wird. Die mündliche Darstellung von
Wissen entfaltet sich somit in einer durch Sprecherrechte gerahmten Interaktion.
Beschreibung und Zuschreibung
In der Aufeinanderfolge von Lehrerfrage → Schülerantwort → Lehrerkommentar
→ Schülerantwort … erfüllt der Lehrerkommentar eine besondere Funktion, denn
er vermittelt dem Schüler, der gerade gesprochen hat, eine Einschätzung seiner
Wissensdarstellung. Die Replik, der Kommentar, die Nachfrage, das Schweigen
etc. des Lehrers erfüllen die Funktion eines Scharniers, das zwischen dem Inhalt
der Schüleräußerung und dem Gehalt der Lehrerfrage vermittelt. Ein Beispiel:2
L:
S1:
L:
S2:
L:
… jetzt geht’s weiter mit den Termen, Insa
err ((r)) Wurzel zett ((z))
nein, nicht, Daniel
Wurzel zett plus err
da muss ein Plus dazwischen stehen …
In diesem Beispiel sieht man die Verkettung der Redezüge: Auf die Frage und Auswahl durch die Lehrperson antwortet eine Schülerin, deren Antwort dann kurz
und knapp als falsch markiert wird („nein“). Bewertung der Schülerantwort und
Auswahl eines anderen Schülers fallen im Redezug der Lehrperson zusammen.
Interessant ist der zweite Kommentar der Lehrperson (Zeile 5): Mit ihm kommentiert die Lehrperson die falsche Antwort der Schülerin und markiert die Antwort
des Schülers (Zeile 4) als richtig. Der Kommentar adressiert damit beide Schüler.
2
Es werden folgende Transkriptionszeichen verwendet: L: Lehrer; S: Schüler; Sn: mehrere Schüler;
°Schule°: leise Aussprache; SCHULE: laute Aussprache; ((Schule)): Kommentar des Transkribenten; [: Beginn einer Überlappung (Parallelität von Sprechern); ]: Ende einer Überlappung; =: unmittelbare Fortsetzung; ::: = gedehnte Aussprache; (P): kurze Sprechpause; (2): Angabe der Pause
in Sekunden.
Ethnografische Bildungssoziologie
43
Nicht unerwähnt bleiben soll hier die soziale Rahmung im Sinne Goffmans
(Goffman 1980): Das schulische Unterrichtsgespräch findet immer vor dem Publikum der Schulklasse statt. SchülerInnen, die nicht dran sind, beobachten dabei
zweierlei: das Geschehen auf der Hauptbühne zwischen fragender Lehrperson
und antwortendem Schüler sowie das Geschehen jenseits dieser offiziellen Bühne.
Auch fragende Lehrpersonen und antwortende Schüler beobachten, und zwar erstens die Kommunikation selbst und die Reaktion der Schulklasse (des Publikums)
sowie zweitens das andere Geschehen im Unterricht. Die besondere Stellung des
Lehrerkommentars in der Unterrichtskommunikation zeigt sich nun darin, dass
er immer wieder andere Schüler in die Kommunikation einbezieht, was dem Lehrerkommentar einen ambivalenten Status verleiht. Er lässt die Schüler darüber
im Unklaren, wer der nächste Sprecher wird – es können potenziell alle ‚dran‘
sein. Diese Doppelstruktur pädagogischen Handelns meint zunächst die Gesamtheit der Schüler, zielt aber dann auf einen ab (vgl. Kalthoff 1997: 89 ff.). Aus dem
Gesagten folgt, dass nicht nur unterschiedliche Rahmungen vorliegen, die den
Unterricht an sich schon zu einem vielschichtigen Geschehen machen, sondern
dass dies obendrein in einer fluiden, sich kontinuierlich ändernden Konstellation
geschieht, in die auch Artefakte (etwa die Tafel) aktiv einbezogen sind (ausführlich 3.2).
Nimmt nun die soziologische Analyse die Perspektive der Lehrperson ein,
dann kann sie in diesem Beispiel nur erkennen, dass die Lehrperson offensichtlich
eine richtige Antwort sucht und eine falsche Antwort auch als solche markiert.
Dieser Art Realismus entgeht aber eine zweite zentrale Funktion des Lehrerkommentars, und zwar die Zurechnung richtigen Wissens und damit der performative
Charakter des Lehrerkommentars. Nimmt man die Perspektive der Schüler ein,
dann ist der Lehrerkommentar nicht nur die neutrale Korrektur einer falschen
Antwort, sondern immer auch die Bewertung einer Person. Dies liegt darin begründet, dass der Lehrerkommentar nicht nur die stoff liche Seite berührt, sondern ebenso auf den Urheber der Äußerung zielt; damit er dies kann, werden
Schüler durch das schulische Redeverfahren individualisiert. Etwas gewusst und
etwas richtig gewusst zu haben, markiert einen zentralen Unterschied, denn hiermit ist die Anerkennung einer Person verbunden. Der soziale Sinn der Kommentierung besteht schließlich auch darin, eine Ressource zur Kommunikation bereitzustellen – denn sonst gäbe es nichts zu reden. Anders formuliert: Damit schulischer „Stoff “ im Unterricht kommuniziert werden kann, muss es etwas geben,
das Lehrpersonen zu bewerten bzw. zu korrigieren haben, und gerade das, was
sie kommentieren und bewerten, erzeugen sie durch ihre Fragen. Richtigstellung
der Schülerantwort und Bewertung des Schülers gehen also im Kommentar eine
44
Herbert Kalthoff
Symbiose ein. Das heißt, dass der Lehrerkommentar performativ ist: Er beschreibt
das geäußerte Wissen des Schülers, er wirkt auf die Person des Schülers und er
schreibt dem Schüler eine Position zu.
Die Kommentierung einer Schülerantwort ist also kaum von ihrer Bewertung
zu trennen: Lehrer geben zu verstehen, ob die Schülerantwort richtig, in etwa
richtig oder falsch ist. Mit ihrem Kommentarturn akzeptieren bzw. affirmieren
Lehrer die Antwort des Schülers; solange er fehlt, sind „im Diskurs konditionale
Relevanzen ‚offen‘“ (Streeck 1979: 248), da ihren Antworten Geltungsansprüche
anhaften, über die entschieden werden muss. Lehrerbewertungen lassen sich danach unterscheiden, ob sie eine Schülerantwort akzeptieren („mhh“, „richtig“,
„stimmt“, Kopfnicken) oder sie ausdrücklich loben („schön“, „sehr schön“, „gut“);
hierzu gehören ebenfalls emphatisch formulierte Kommentierungen („ganz
genau“, „natürlich“).
Wenn Schüler antworten, formulieren sie Wissen als schon sanktioniertes
Wissen (Lehrer sprechen dann von Reproduktion) oder als Suggestion: Schüler vermuten Wissen, sie probieren Antworten aus, sie „wagen“ (Lehrer) etwas.
Mit dem Korrekturturn verwandeln Lehrer Suggestionen in Gewissheiten, d. h.
in eine richtige, teilrichtige oder falsche Antwort. So entsteht ein interaktiv hergestellter Wissensraum, auf den die Teilnehmer im weiteren Verlauf des Unterrichtsgespräches rekurrieren können bzw. müssen, da er als offiziell ratifiziert gilt
(Streeck 1979; McHoul 1990). Lehrer wissen, von welchem Schüler sie welche Antworten erwarten können; für sie teilt sich die Schulklasse in Schülertypen auf. Die
Kombination von Frage und Schüler – der gute Schüler bekommt die schwierige
Transferfrage, der schlechte Schüler, damit er überhaupt etwas sagt, die leichte
Reproduktionsfrage – erzeugt eine Zirkularität, die das bestätigt, was sie erzeugt.
Das, was beschrieben und zugeschrieben wird, wird durch die Beobachtung des
Lehrers vorbereitet. Diese Beobachtung findet sowohl in der laufenden Unterrichtskommunikation als auch in der Bewertung der Klausuren statt. Wichtig ist
für Lehrpersonen nun, dass ihre Verteilungstätigkeit und damit die „Auftrennung“
(Lehrperson) der Schüler nicht offensichtlich werden.3 Schüler ihrerseits offenbaren in den Antworten ihre Kompetenz, sich in diesem Raum bewegen, d. h. positives Wissen äußern zu können. Dies schließt Darstellungskompetenzen ebenso ein
3
Was die Frage der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule anbelangt, so sieht
diese Bildungssoziologie ihre Aufgabe nicht darin, Allgegenwärtigkeit und Omnirelevanz von
Schichtzugehörigkeit empirisch nachweisen zu wollen, sondern darin, die praktischen Formen
empirisch aufzuspüren, in denen soziale Klassifikationen – trotz starker Neutralisierungen, die
die Institution Schule vornimmt – vorgenommen werden. Dies kann hier nicht weiter ausgeführt
werden, vgl. aber Kalthoff (2006).
Ethnografische Bildungssoziologie
45
wie ein geschicktes Manövrieren von Aufmerksamkeit und Beteiligung. Zugleich,
so konnte ich beobachten, übernehmen Schüler die Handhabung ihres Geltungsanspruches: Sie widersprachen in der Regel nicht dem Lehrerkommentar. Das
heißt: Das Unterrichtsgeschehen wird noch dadurch aufgeladen, dass Schüler
nicht nur für sich, sondern immer auch für andere sprechen: für die Klasse, für
die „guten“, für die „fleißigen“, für die „faulen“ etc. Schüler. Für die Lehrperson
stehen also antwortende Schüler in einer indexikalen Relation zum beobachtenden Publikum. Sie sind – in anderen Worten – Mittel (oder: Medium) der Lehrperson, den Wissensstand der Klasse oder eines Teils der Klasse zu eruieren (vgl.
Kalthoff 1997).
Dass auch das mündliche Unterrichtsgespräch eine versteckte Form der Prüfung ist, wird dann offensichtlich, wenn Lehrer ihre Bewertung für die mündliche
Mitarbeit präsentieren. Dieser Aspekt des schulischen Alltags, der in den wiederkehrenden Unterrichtsstunden geradezu in Vergessenheit gerät, erinnert Schüler
zyklisch daran, dass das Unterrichtsgespräch auch ein Prüfungsgespräch ist: Aus
einem ‚Beteiligen-und-Wissen-darstellen-Sollen‘ der Schüler wird nun ein offen
auftretendes ‚Kategorisieren-Können‘ der Lehrer. Ich konnte Lehrpersonen beobachten, die nach Beendigung des Unterrichts ihre noch frischen Eindrücke in
Form eines Kurz- bzw. Zeichenprotokolls notierten; andere Lehrpersonen arbeiteten mit ihrer Erinnerung, andere lehnten mündliche Noten grundsätzlich ab.
Einige Lehrpersonen sahen in den mündlichen Noten ein gutes Mittel, Schülern
mehr Aufmerksamkeit und Beteiligung abzuverlangen. Einige der von mir beobachteten Lehrpersonen beurteilten drei oder vier Mal im Schuljahr die mündliche
Beteiligung der Schüler. Diese Zwischen-Noten waren für sie wie eine Stanzmarke,
um „am Ende ein gutes Bild für die Gesamtnote“ zu haben (so eine Lehrerin).
Das grundlegende, von ihnen zu lösende Problem besteht darin, eine passende
Relation der Schüler herzustellen, die sich in den Prädikaten manifestiert, die die
SchülerInnen für die Lehrer verkörpern. Hierzu zwei Lehrpersonen:
„Wenn ich der Julia neun Punkte gebe, muss ich dem Jürgen 14 oder 15 geben. Dann
passt es wieder nicht mit der Andrea. Der müsste ich dann 16 geben, aber das geht ja
nicht“
„Christoffer hab ich elf Punkte gegeben, weil ich dem Roman ja nur neun gebe.“
Die schulische Bewertungspraxis ist also immer auch ein permanentes Vergleichen und Abwägen der Verteilung aller Schüler über die Notenskala: Schüler sind
entweder besser, schlechter oder gleichrangig, oder sie sind besonders, normal
46
Herbert Kalthoff
oder weniger begabt. Diese Arbeit der Differenzierung durch Kategorisierung und
Passung aller Schüler verweist aber nicht nur auf die Konstruktivität der schulischen Bewertungspraxis. Die Bewertung von Schülern durch Lehrer oder Lehrerkollegien ist soziologisch betrachtet eine Differenzierung durch Kategorisierung.
Kennzeichnend hierfür sind folgende Merkmale: Die schulische Kategorisierung
bringt Schüler hervor, die auf einer Skala von gut bis schlecht angeordnet werden.
Der Bewertung geht also keine eigenständige, objektive Leistung voraus, sondern
das, was als Leistung gilt und als solche auch anerkannt werden kann, wird im Akt
der Bewertung konstituiert. Mehr noch: Die schulische Bewertung zeigt – vergleichbar den Urteilen von Ratingagenturen – nicht nur die vergangene Leistung
eines Schülers an, sondern die zukünftig zu erwartenden Ergebnisse, deren Rahmen sie selbst mit absteckt. Die Kategorisierung verbindet somit verschiedene
Zeitpunkte: Diagnose der (schon vergangenen) Gegenwart und Prognose der (gegenwärtigen) Zukunft.
Darüber hinaus sind Lehrerurteile keine zuverlässigen, sondern kontingente
Urteile, denn es hätte auch – vergleichbar dem Review-Prozess bei Fachzeitschriften oder der Begutachtung durch die Forschungsförderung – anders entschieden werden können. Dies ist vielfach belegt und experimentell getestet worden.
Das Besondere der Schule aber ist, dass die Kontingenz der Fremdzuschreibung
qua Klassifikation überlagert und tendenziell zum Verschwinden gebracht wird.
Deutlich wird dies an den institutionellen und rechtlich gerahmten Verfahren, mit
denen die Institution Schule den kontingenten Urteilen ihres Personals materielles Gewicht und Wirkung verleiht. Das Urteil der Lehrperson wird mit anderen
Worten gehärtet und objektiviert. Ich schlage vor, die Bewertung durch die Schule
soziologisch als institutionelle Humandifferenzierung zu fassen und zu analysieren.
Die Praxis der Kategorisierung muss sich bewähren und legitimieren können.
Dies geschieht etwa in der Zeugniskonferenz oder in der mündlichen Abiturprüfung (vgl. Kalthoff 2013). Aber auch die Bekanntgabe der mündlichen Noten vor
den Schülern ist ein heikles Terrain für die Lehrperson, denn sie stellt nicht nur
die Beurteilungen der Schüler dar, sondern exponiert auch sich selbst mit dieser
ihrer Konstruktionsleistung (vgl. Zaborowski et al. 2011). Ein Beispiel aus einer
11. Klasse:
L: … Bernd bekommt die Nähe von Patrick nicht. [(1) fünf Punkte (P) vier. (1) Hubert =
S1:
[WAs:: ?
L: = sehr ordentlich (P) zwei. (2) Marc (P) oft zu unkonzentriert, manchmal mit wirklich
guten Ideen (…) vier plus. (1) Norbert (P) mündlich besser als schriftlich, ähm drei mi-
Ethnografische Bildungssoziologie
S2:
S3:
S4:
L:
S5:
L:
S6:
L:
47
nus (P) minus einem Punkt wegen der nicht gemachten Hausaufgaben von zwei Terminen, vier plus.
[OA:::h
(3) [Hohohoho
[Das is aber hart !
Felix (P) sehr indifferent, zweimal waren sie wirklich ganz toll, danach hatten sie einen
deutlichen Absacker. Sie sind auch zwischendurch immer wieder fähig zu guten Absackern (1) sechs Punkte, vier plus [(1) Manfred (P) zu zaghaft. Ich glaube, sie können =
[NEE:::
= mehr, aber vielleicht glaub ich das nur (1) drei minus [(1)
] Peter hat einen klu- =
[OAh::: ]
= gen Kopf, von dem ich noch manches Üble erwarte (2) zwei plus…
Die Kommunikation der Bewertung folgt einem Schema: Zunächst wird der Name
des Schülers genannt, darauf folgt eine zusammenfassende Einschätzung der Leistung, hierauf folgt, nach einer kurzen Pause, die Note, an die sich gegebenenfalls eine (para)sprachliche Kommentierung durch Schüler anschließt. Der Schüler, der aufgerufen wird, erhält, im Unterschied zum Unterrichtsgespräch, kein
Rederecht; die Namensnennung markiert vielmehr die Note als seinen Rangplatz:
Das heißt: Bewertung und Person werden verknüpft. In diesem Fall kombiniert
die Lehrperson die Bewertung mit beobachteten Eigenschaften („sehr ordentlich“,
„indifferent“, „unkonzentriert“ etc.), mit Tendenzen („besser geworden“) oder mit
Verlaufskurven („deutliche Absacker“, „anfangs besser“). Schüler platzen ihrerseits in die Übergangsstelle von Note („zwei plus“) und neuem Schülernamen
(„Hubert“). Sie kommentieren laut und hörbar, sprachlich und parasprachlich die
Urteile des Lehrers, der auf diese rhythmisch mitlaufende Kommentierung seiner
Urteile nicht eingeht.
Es sollte bis hierhin deutlich geworden sein, dass das Unterrichtsgespräch
einer komplexen Kodierung unterliegt, und zwar durch die Erwartung der Lehrperson, dass Schüler Fehler machen, die dann im Gespräch zu korrigieren sind;
durch die gegenseitige Beobachtung des Geschehens auf den verschiedenen Bühnen des Unterrichtsgesprächs; durch die Bewertung der Schüler: ihrer Antworten
im laufenden Unterrichtsgespräch oder ihrer schriftlichen Arbeiten (hierzu Kalthoff 1996) sowie durch die Erwartungen der Lehrperson.
48
3.2
Herbert Kalthoff
Schulische Artefakte
Dem akustischen System der Wissensdarstellung – dem Unterrichtsgespräch –
steht das optische System der dinglichen und semiotischen Darstellung von Wissensphänomenen zur Seite; diese Technologien des Zeigens aktualisieren den
Sehsinn, der in der europäischen Geschichte als Sinn der Erkenntnis par excellence gilt und den Hörsinn abgelöst hat (vgl. Riedel 1984). Der schulische Unterricht macht sich diesen Sehsinn zu Eigen: Dies geschieht dadurch, dass Wissen
sichtbar gemacht wird, indem es durch Artefakte dargestellt und in eine semiotische Repräsentation (z. B. an der Tafel) überführt wird. Artefakte, die Wissen
darstellen (etwa das Modell einer „Schiefen Ebene“ oder ein „Prisma“), bezeichne
ich als Wissensobjekte („epistemische Objekte“, Rheinberger 2001), die für die
Akteure Phänomene sichtbar machen und Fragen aufwerfen. Artefakte, die hingegen die Darstellung von Wissen möglich machen (etwa die Tafel), werden als
„technische Objekte“ (Rheinberger 2001) aufgefasst. Sie sind Medien, die anderen
Medien Raum gewähren: etwa die Tafel der alphabetischen und operativen Schrift.
Dem Auge – und damit dem Sehsinn – bietet sich ein Phänomen dar, das erst
durch seine objektuale Aufführung zur Existenz gebracht wird.
Die Idee, dass eine Soziologie der Objekte für das Verständnis menschlicher
Sozialität wichtig ist, ist in der Soziologie seit längerem bekannt. Ein kurzer Überblick: Heidegger (2000) betont, dass Dinge immer schon in einem menschlichen
Wirkzusammenhang gedacht werden müssen. Der konkrete Hammer verweist als
„Zuhandenes“ (als „Zeug“) in seinem Gebrauch auf ein „Um-zu“ (seinen Zweck),
die „Zeug-Ganzheit“ (andere Werkzeuge, eine Werkstatt), das Material des Hammers sowie den menschlichen Benutzer. Diese „Verweisung“ wird im vertrauten
Umgang mit dem „Zeug“ in der Regel nicht thematisiert. Erst wenn Störungen
auftreten (wenn bspw. der Hammer zerbricht), werden diese Bezüge sichtbar.
Auch Ihde (1993) versteht Artefakte als integralen Bestandteil menschlicher Weltbezüge, denn sie sind immer auf menschliche Wahrnehmung und Körper bezogen und verändern den (körperlichen) menschlichen Weltbezug. Mead (1972,
1987) streicht die Widerstände heraus, die „physische Dinge“ unserem Handeln
entgegensetzen können. Um überhaupt mit Dingen umgehen zu können, müssen
wir – so Mead – die Rolle des Gegenstands übernehmen und sein Verhalten bzw.
seine Widerständigkeit antizipieren, um eben diese zu überwinden. Für Bourdieu
(1980) stehen materielle Dinge für die akkumulierte Geschichte – das Habitat.
Dieses historisch angehäufte Wissen tritt den Menschen als eine verobjektivierte
Entität entgegen. In seiner Studie über das kabylische Haus wird die Rolle, die
Bourdieu den Dingen zuweist, noch deutlicher (siehe Bourdieu 1979). Die Dinge,
Ethnografische Bildungssoziologie
49
die sich in diesem Haus befinden (wie etwa der Webstuhl, der Mittelpfeiler, der
Hauptbalken), ordnen den Raum des Hauses und damit die soziale Welt: Das kabylische Haus ist für Bourdieu ein Inbegriff sozialer Ordnung, die sich in den Objekten, die dieses Haus ausmachen, materialisiert hat. In den Studien Bourdieus
werden materielle Objekte (etwa auch Konsumobjekte) in ihrer symbolischen Bedeutung für die menschliche Sozialität analysiert.
Prominent wurde eine Soziologie der Objekte durch die neue Wissenschaftsund Technikforschung. Pinch / Bijker (1987) u. a. entwickeln das Programm der
Social Construction of Technology (SCOT) und betonen die „interpretative flexibility“, die vor allem zu Beginn einer neuen Technik steht. Hörning (2001) zeigt,
dass Technik weder beliebig formbar und verwendbar ist, noch determiniert sie
menschliche Praxis vollkommen und eindeutig. Im Gebrauch der Objekte kommen vielmehr menschliche Praxis, praktisches Wissen und Objekte zusammen,
wodurch Brüche und Kontingenzen sichtbar werden. Eines der prominentesten
und zugleich radikalsten Programme der Wissenschafts- und Techniksoziologie
ist die von Latour, Callon und anderen entwickelte Actor Network Theory (bspw.
Latour 2001; Callon / Latour 2006). Latour entwirft darin die programmatische
Forderung nach einer „symmetrischen Anthropologie“: Menschliche und nichtmenschliche Akteure (technische Artefakte, Schriftstücke, Gebäude usw.) sollen
in der Forschungsperspektive gleichermaßen berücksichtigt werden. Innerhalb
der Netzwerke werden Handlungsaufforderungen („Skripte“) in einem Übersetzungsprozess in technische Artefakte implementiert (Latour 1994), die ihrerseits von menschlichen Akteuren spezifische Handlungen erfordern, die diese im
Umgang mit den Objekten abrufen müssen. Menschliche Akteure bewegen sich
demnach immer in einem von Technik und Artefakten designten Umfeld, das
sie handeln lässt, und sie sind – wie durch einen unsichtbaren Faden – mit anderen Ebenen von Gesellschaft verknüpft. Die von Latour vorgeschlagene „Interobjektivität“ (Latour 2001) verändert somit den Blick auf menschliche Handlungen sowie auf das Mikro-Makro-Verhältnis. Gesellschaftliche Makrostrukturen
sind demzufolge Ketten von Übersetzungen, die von partikularen Phänomenen
hin zu ihrer Aggregation führen.
Für eine Bildungsforschung, die die Materialität schulischer Praktiken zum
Forschungsgegenstand machen will (ausführlich Kalthoff 2011; Kalthoff / Röhl
2011), folgt aus dem Gesagten, dass Objekte am Vollzug sozialer Wirklichkeit beteiligt sind; sie induzieren menschliche Handlungen und sind gleichzeitig auf den
Vollzug der Handlungen angewiesen. Die soziale Wirklichkeit der Schule kennzeichnet ein unablässiges Hantieren und Verwenden von Artefakten, die es erst
ermöglichen, zu unterrichten: Tafel, Kreide, Landkarten, Bücher, experimentelle
50
Herbert Kalthoff
Anordnungen etc. Die schulischen Akteure sind in dieser Welt schulischer Wissensobjekte eingebettet, die es ihnen erlauben, Wissen darzustellen, zu problematisieren und mündlich zu erörtern.
Im Kontext der Unterrichtsforschung stoßen Ethnographen unweigerlich auf
das Phänomen, dass Objekte, die man im Unterricht benutzt, zu Medien werden, die den Schulstoff in einer bestimmten Weise darstellen sollen. Es scheint
geradezu so zu sein, dass Objekte den Status ihrer Dinghaftigkeit verlieren und
zu Mittlern des Wissens werden. Eine Tafel tut dies in einer anderen Weise als
ein Beamer, eine Landkarte in einer anderen Weise als ein Globus, ein geometrisches Modell im Mathematikunterricht in anderer Weise als ein physikalisches
Experiment. Die medientheoretische Debatte der vergangenen Jahre hat gezeigt,
dass Medien keine neutralen Übermittler von Botschaften sind, sondern an der
Botschaft selbst beteiligt sind. McLuhan hat dies in einer oft zitierten These zugespitzt: „The medium is the message“ (McLuhan 2001: 7). Die mediale Form selbst
ist die Botschaft, die eine Wirkung entfaltet. Dieser von McLuhan angenommene
demiurgische Charakter von Medien ist von anderen Kulturtheoretikern relativiert worden. Beispielsweise konzipiert Krämer (2008) Medien als „Boten“: als
mehr oder weniger fremdbestimmte Überträger einer Botschaft. Einerseits treten „Boten“ als eigenständige Personen oder Objekte hinter die Botschaft zurück;
andererseits und damit verbunden werden die Botschaft und der Absender im
Medium präsent. Um das, was abwesend ist, verfügbar zu machen, muss – so die
These Krämers (2008: 82 ff.) – das Medium zurücktreten: Wir wollen am Fernseher ein Bild ferner Welten sehen und eben keine elektronisch erzeugten Bildpunkte. Die Tafel tritt als Tafel in den Hintergrund, fokussiert aber die Aufmerksamkeit auf die sichtbar gewordene Formel.
Übertragen wir diese Vorüberlegungen auf den Schulunterricht und seine Objekte: Ich gehe von der Überlegung aus, dass erst innerhalb der Unterrichtssituation durch den Gebrauch von Artefakten diese zu Wissensobjekten im Schulunterricht werden. Erst wenn ein Lehrer mit der Kreide Formeln an die Tafel
schreibt, wird aus Schiefer und Kreide ein Tafelbild. Erst durch die sprachliche
Rahmung einer Lehrerin und den entsprechenden Gebrauch kann aus einem fallengelassenen Kugelschreiber ein Darstellungsobjekt werden, das den freien Fall
demonstriert. Aus einer medientheoretischen Perspektive heißt dies, dass schulische Objekte nur dann den schulischen Stoff zum Vorschein bringen können,
wenn an ihnen bestimmte Eigenschaften hervortreten können und andere sich
selbst in den Hintergrund drängen. Die Stoff lichkeit der Tafel, der Kreide, der
Landkarten, die Materialität der physikalischen Experimente treten als solche in
den Hintergrund, um überhaupt den „Lernstoff “ präsent machen zu können. Me-
Ethnografische Bildungssoziologie
51
dien neutralisieren sich in einem gewissen Maße selbst. Es scheint geradezu so zu
sein, dass durch dieses Zurücktreten des Mediums die Darstellung des Lernstoffs
vertrauenswürdig wird. Dies geschieht allerdings auch – und dies hat die medientheoretische Debatte etwas vernachlässigt – unter aktiver Beteiligung der menschlichen Teilnehmer: Sie lassen bestimmte Merkmale von Gegenständen auch in
den Hintergrund treten – durch ihr Schweigen, durch fehlende Bedeutungen der
Dinge für ihr Handeln, durch ihren selbstverständlichen Gebrauch etc.
Was bedeutet dies nun ? In Bezug auf eine Soziologie, die das Verhältnis von
Praktiken und Dingen in den Blick nimmt, bedeutet dies erstens, eine dingliche
Rahmung zu thematisieren, durch die menschliche Interaktion in den verschiedensten Zusammenhängen geprägt wird. Dies bedeutet zweitens, nicht nur die
Verwicklung der sozialen Akteure in und durch die Objekte, sondern die Verwicklung der Dinge in ihrem Gebrauch empirisch und theoretisch auszuloten. Dies
möchte ich nun an Beispielen aus der Schule erläutern.
Beispiel 1
Ein Physiklehrer führt seine Klasse in die schiefe Ebene ein. Zur Anschauung hat er ein
Objekt mitgebracht, und zwar eine Kugelbahn. Sie soll Prinzipien der schiefen Ebene
anschaulich machen. Zunächst aber muss dieser alltägliche Gegenstand überhaupt erst
als ein Medium, an dem Wissen deutlich wird, konstituiert werden. Für die Schüler ist
es ein vertrautes Objekt. Die Verwandlung in ein Wissensobjekt geschieht durch Hinweise und Kommentare des Lehrers, die die Aufmerksamkeit der Schüler auf diejenigen Merkmale des Objekts lenken, die aus Sicht des Lehrers physikalisch interessant
sind. Dies erreicht der Lehrer durch eine Problematisierung von Alltagsannahmen.
Auf die Antwort eines Schülers – ‚da rollen Kugeln runter‘ – fragt er nach, ob das für
alle Arten von Kugeln und für alle Arten von Kugelbahnen gilt. Gibt es evtl. Kugeln,
die nicht rollen oder nicht so gut rollen, oder gar Bahnen, die Kugeln nicht gut rollen
lassen ? Erarbeitet werden hier nach und nach die materiellen Rahmenbedingungen,
die die Kugelbahn zu einer funktionierenden Kugelbahn machen. Der Lehrer stellt
schließlich auch die Frage, wie das denn mit der Geschwindigkeit der Kugeln sei. Wovon hängt sie ab ? Wann rollen die Kugeln langsam, wann rollen sie schnell ?
Die mündliche Problematisierung kontextiert den Gegenstand im Unterricht und
transformiert ihn in ein Wissensobjekt (oder Wissensmedium). In diesem Beispiel geschieht dies dadurch, dass verschiedene Fragen am Objekt aufgeworfen
und plausibilisiert werden. Diese Dynamik der Umwandlung in ein Wissensobjekt trifft nicht auf alle schulischen Dinge in gleicher Weise zu. Es existiert eine
Vielzahl an Objekten, deren Transformation (mehr oder weniger) abgeschlossen
52
Herbert Kalthoff
ist, die sich also für andere Gebrauchsweisen und Interpretationen weniger offen
anbieten (etwa das Prisma). Der praktische Gebrauch dieser Dinge ist – in Latours (2001) Worten – wie durch einen unsichtbaren Faden mit den didaktischen
Laboren verbunden, in denen diese Objekte entworfen, konstruiert, erprobt und
gefertigt worden sind.
Die Transformation von Dingen in schulische Dinge (oder Medien) konnte
auch in Mathematik beobachtet werden. In einer Schulstunde bringt eine Lehrperson ein Flugzeugmodell mit in den Unterricht und muss zunächst dafür sorgen, dass die Schüler erkennen, dass es nicht um technische Ästhetik oder um
technische Details des Flugzeugmodells geht. Es geht auch nicht um den Flugzeugtyp. Es geht darum, den Gegenstand mathematisch zu betrachten. Man sieht
dann die geometrische Form: der Rumpf ist ein Zylinder und dessen Maße können errechnet werden. Und über diese Maße errechnet der Lehrer dann mit den
Schülern approximativ das Fassungsvermögen des Flugzeugtyps (vgl. Röhl 2012).
Dieses Sprechen über den Gegenstand fasse ich als darstellendes Sprechen.
An dieser Stelle ist es unwichtig, dass diese Gesprächsform – wie oben gezeigt –
asymmetrisch ist, bestimmten Regeln folgt und auf die Bewertung der Schüler angelegt ist. Wichtig ist an dieser Stelle vielmehr, dass das Gespräch der Lehrer und
Schüler aus einem Objekt ein Erkenntnisobjekt macht, das als ein Medium des
Wissenstransfers fungieren kann. Verbunden hiermit ist eine „Erziehung des wissenschaftlichen Blicks“. Sie erfolgt jeweils fachspezifisch: Was ist physikalisch interessant, was ist mathematisch interessant usw. Schüler lernen demzufolge nicht
einfach nur den Schulstoff, sondern sie erwerben ein Verständnis davon, was es
heißt, disziplinär zu denken und Dinge aus einer Fachsicht zu sehen. Dies impliziert etwa, zu lernen, von unwichtigen Details abzusehen. Geübt wird damit ein
reduzierender Blick, der die Gegenstände auf mathematische oder physikalische
Eigenschaften reduziert – alles Voraussetzung dafür, eine Fachkultur zu verstehen.
Das Üben von Abstraktion, das Absehen können von unwichtigen Details setzt
sich in der weiteren Bearbeitung fort. Hinzu treten nun andere Medien der Darstellung, die den Gegenstand verwandeln und in ganz anderer Weise verfügbar
machen. Die Rede ist hier von der Tafel und der mathematischen Schrift.
Im Beispiel des Physikunterrichts beginnt der Lehrer, mit den Schülern den
Gegenstand – die schiefe Ebene – in Formelsprache umzuwandeln. Diese Formelsprache nenne ich „operative Schrift“ (Krämer 1997). Kennzeichen dieser operativen Schrift ist, dass sie ein ganz eigenes graphisches System ist. Als ein solches
erlaubt sie, dass man zwei Dinge zur gleichen Zeit tun kann: Man kann ein Phä-
Ethnografische Bildungssoziologie
53
nomen in dieser Schrift mathematisch formalisieren und bearbeiten.4 Damit dies
gelingen kann, wirken zwei Medien ineinander. Erstens die operative Schrift: Sie
ist das Medium, in dem mathematische oder physikalische Sachverhalte dargestellt werden – sei es in Buchstaben, Ziffern oder anderen Zeichen. Zweitens die
Tafel: Sie ist das Medium der Visualisierung: Auf ihrer Oberfläche werden in operative Schrift umgewandelte mathematische und physikalische Sachverhalte sichtbar. Mit anderen Worten: Wenn etwa Physiklehrer an Wissensobjekten deren Eigenschaften sichtbar machen und diese an der Tafel im Medium der (operativen)
Schrift transformieren, dann überschneiden sich Schriftlichkeit und Mündlichkeit, Objekte und Zeichen. Es ist genau diese Überschneidung, die die dingliche
Rahmung des Schulunterrichts kennzeichnet, denn die schulischen Wissensobjekte existieren jeweils in diesen unterschiedlichen Formen.
4
Schluss
Dieser Beitrag hat eine soziologische Bildungsforschung skizziert, die aus einer
empirisch-theoretischen Perspektive schulische Unterrichts- und Lernprozesse
erforscht. Sie interessiert sich dabei für sehr unterschiedliche Phänomene: Das
Unterrichtsgespräch ist ihr ebenso wichtig wie die Rolle von Artefakten, die Bewertung von Schülern ebenso wichtig wie die Peer Culture, die Rahmung der
Schule durch die Kultusbehörden ebenso wichtig wie die Lehrmittelindustrie.
Ihr theoretischer Horizont sind wissens- und kultursoziologische Praxistheorien
und poststrukturalistische Ansätze; methodisch folgen die Studien dem Primat
der empirischen Mikrofundierung und Mikrodetaillierung ihrer theoretischen
Aussagen. Für diese sozio-materielle Bildungsforschung – oder: Social Studies of
Teaching and Education (Kalthoff 2011) – ist die Schule im heuristischen Sinne ein
Humanlabor. Die Kennzeichen eines Humanlaboratoriums sind: Es belässt die
Insassen nicht so, wie sie sind, es bearbeitet die Insassen nicht dort, wo diese sind,
und es wartet auch nicht darauf, wann die Prozesse ablaufen, sondern erzeugt
diese innerhalb der Institution selbst, und zwar im Kontext eines spezifisch entwickelten Behandlungsprogramms (vgl. Knorr Cetina 1995). Die Herausforderung
für die Bildungssoziologie besteht darin, die in den Humanlaboratorien beobachtbaren Arbeitspraktiken und Arbeitsabläufe, Arbeitsmittel und Objektkonstellatio-
4
Für den mathematischen Unterricht gilt, dass seine Gegenstände in der Regel nur dann bearbeitet werden können, wenn sie auch visualisiert worden sind.
54
Herbert Kalthoff
nen detailliert zu erforschen. Die sozio-materielle Bildungsforschung begegnet
dieser Herausforderung bislang durch eine multi-perspektivische Ethnografie
■
■
■
des Vollzugs schulischen Unterrichts durch Lehrpersonen und Schüler,
der Funktionsweise und des Gebrauchs schulischer Artefakte sowie der Rolle
zeichenförmiger Darstellung von Wissen,
der Differenzierung und damit Entmischung der Schüler durch eine Klassifikationspraxis, die ihrerseits institutionell objektiviert wird.
Wichtig ist dabei, diese Dimensionen der schulischen Unterrichtspraxis in ihren
Überschneidungen zu sehen und zu analysieren. Die ethnografische Bildungsforschung, wie sie in diesem Beitrag skizziert worden ist, dehnt ihren Gegenstand
auch auf Bereiche jenseits von Schule und Unterricht aus. Zu wünschen sind für
die Zukunft ethnografische Forschungen zur Rahmung der Schule durch die Kultusbürokratie sowie zur Arbeit der Lehrmittelindustrie.
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Arbeit und Ethnografie
im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
Andreas Wittel
1
Arbeit
Für Karl Marx ist Arbeit bekanntlich einer der Grundbegriffe seiner Philosophie.
Arbeit ist für ihn nicht nur eine wirtschaftliche, sondern eine menschliche Tätigkeit. Sie ist eine Universalkategorie der menschlichen Existenz und ist als solche
unabhängig von spezifischen sozialen und ökonomischen Formen. „Die Arbeit ist
zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch
seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt, regelt und
kontrolliert“ (1985: 192). Im Unterschied zur Arbeit verweist der Arbeitsprozess
auf wirtschaftliche und soziale Besonderheiten, auf je spezifische Produktionsformen. Transformationen von Arbeitsprozessen sind dann immer auch Transformationen von Gesellschaften und Ökonomien. Insbesondere unterscheidet
Marx kapitalistische von feudalistischen Produktionsformen. Auf diese Weise
lässt sich plausibel zeigen, dass der kapitalistische Arbeitsprozess weder notwendig noch unvermeidlich ist und in einer zukünftigen neuen Phase überwunden
werden kann.
Im Vergleich mit dem feudalistischen Arbeitsprozess arbeitet er zwei zentrale
Phänomene des kapitalistischen Arbeitsprozesses heraus: Der Arbeiter arbeitet
unter der Kontrolle des Kapitalisten, dem seine Arbeit gehört. „Der Kapitalist
paßt auf, daß die Arbeit ordentlich vonstatten geht und die Produktionsmittel
zweckmäßig verwandt werden … Zweitens aber: das Produkt ist Eigentum des
Kapitalisten, nicht des unmittelbaren Produzenten, des Arbeiters. Der Kapitalist
zahlt z. B. den Tageswert der Arbeitskraft“ (1985: 199 f.). Damit sind zwei Formen
von Entfremdung thematisiert, zum einen die Entfremdung vom Produkt der eigenen Arbeit und die damit einhergehende Unfähigkeit, eben die Dinge, die die
Arbeiter selbst produziert haben, für ihren Lebensunterhalt zu verwenden,1 zum
1
Diese erste Form der Entfremdung hat ein Jahrhundert später Karl Polanyi (2001) aufgegriffen
und als den Beginn der ,great transformation‘ markiert.
60
Andreas Wittel
anderen die Entfremdung von der Organisation des Arbeit, die im Kapitalismus
von den Besitzern der Produktionsmittel vorgegeben wird.
Marxistische Analysen von Arbeit sind in den Sozialwissenschaften lange Zeit
unterentwickelt geblieben. Dies änderte sich erst in den 1970er-Jahren, als erst
Harry Braverman (1974) und kurze Zeit später Michael Burawoy (1979) Pionierarbeit leisteten und mit ihren Untersuchungen eine langjährige Debatte zum Arbeitsprozess angestoßen haben, die dann in den späten 80er- und in den 90erJahren merklich verebbte. Marxistische Analysen von Arbeit machten Platz für
poststrukturalistische und kulturwissenschaftliche Perspektiven. Marx wurde
vorgeworfen – sicherlich zu Recht –, die subjektiven wie auch die kulturellen Dimensionen des kapitalistischen Arbeitsprozesses unterschätzt zu haben.
Aber auch die Entwicklungen und Umwälzungen von kapitalistischer Produktion haben eine Abkehr von Marx nahegelegt. Schließlich war dessen Prognose eines Klassenkampfes zwischen den Kapitalisten (= Eigentümern von Produktionsmitteln) und den in Ketten gelegten Lohnabhängigen immer weniger
wahrscheinlich. Schon Burawoy (1979), der in dem selben Chicagoer Betrieb
Feldforschung machte wie schon eine Generation vor ihm Donald Roy (in den
1940er-Jahren), hat mit reichem ethnografischen Material beschrieben, wie die
Arbeitsbeziehungen zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen in diesem Betrieb im Verlauf einer Generation von eher konfliktbezogenen und zwangshaften
Formen zu eher konsensorientierten Formen übergingen.
Diese Herstellung von Konsens hat seitdem eher zugenommen und wurde
über verschiedene Strategien gefördert. Erstens über Mitsprache und Mitbestimmung. Hier haben Prozesse von Selbstorganisation und Gruppenarbeit den Weg
für größere Entscheidungsspielräume seitens der Lohnabhängigen geebnet. Zweitens haben unternehmenskulturelle Initiativen Identifikationsangebote geschaffen
und emotionale Anbindungen an den Betrieb erhöht. Drittens haben Informations- und Kommunikationstechnologien weichere, sauberere – und was jedoch
umstritten ist: kreativere – Formen von Lohnarbeit hervorgebracht. Diese Entwicklungen sind, ganz in der Tradition poststrukturalistischen Denkens, äußerst
ambivalent. Dies zeigt sich deutlich in den Debatten zu governmentality, zur Subjektivierung von Arbeit und zum unternehmerischen Selbst (Miller / Rose 1990;
Voß / Pongratz 2003; Bröckling 2007; Jurczyk et al. 2009). Machtstrukturen sind
weithin unsichtbar geworden. Wenig überraschend ist in diesem Zusammenhang
der eher resignative Befund von Zygmund Bauman:
„While all the agencies of political life stay where ,liquid modernity‘ times found them,
tied as before to their respective localities, power flows well beyond their reach. Ours is
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
61
an experience akin to that of the airline passengers who discover, high in the sky, that
the pilot’s cabin is empty“ (Bauman 2000: 133).
Dass Marx’ politische Ökonomie dennoch relevant geblieben ist oder wieder relevant wurde, ist angesichts der tiefen Krise der kapitalistischen Produktionsweise
wenig verwunderlich: Viele der Pathologien, die neoliberale Ideologien und ein
ungezügelter Kapitalismus hervorgebracht haben, lassen sich nicht ohne Rekurs
auf das theoretische Besteck der politischen Ökonomie erklären. Warum leben
immer mehr Menschen in den sogenannten post-industriellen Nationen in prekären Verhältnissen und permanenter Unsicherheit ? Warum hat sich das Kapital
verselbstständigt ? Wie kommt es, dass das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung einen Anteil von über 40 Prozent am gesamten globalen Reichtum verbuchen kann ? Warum ist die soziale Ungleichheitsschere in den letzten drei Jahrzehnten so radikal auseinandergegangen, wo Lohnabhängige doch genau in dieser
Periode einen Anstieg an Mitbestimmung und an Selbstorganisation erfahren
haben ? Welchen Zusammenhang gibt es zwischen exzessiver Anhäufung von globalem Reichtum in den Händen einer kleinen Elite und dem exzessiven Anstieg
von sowohl privaten als auch öffentlichen Schulden für den Rest der Menschheit ?
Zu all diesen Fragen lohnt sich eine Rückkehr zu Marx.
Weniger offensichtlich ist jedoch die Frage, welche Impulse von Marx in der
heutigen Zeit für ethnografische Arbeitsforschung ausgehen können.2 Hilfreich
und produktiv erscheint mir hier ein Verweis auf die erste Form von Entfremdung, also auf die Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt ihrer Arbeit und auf
die damit einhergehende Unfähigkeit, die Sicherung der eigenen Existenz über
die Produkte der eigenen Arbeit gewährleisten zu können. Aus zwei Gründen
rückt Lohnarbeit stärker ins Zentrum der Analyse. Zum einen ist Lohnarbeit eben
charakteristisch für den spezifischen (= kapitalistischen) Arbeitsprozess, der die
Ursache ist für die von Marx beschriebene Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit. Zum anderen ist Lohnarbeit eine (ebenfalls historisch spezifische) Ursache für Ausbeutung und Mehrwertproduktion.
Eine neue Kritik von Lohnarbeit und Arbeitsvertrag scheint unumgänglich.
Hierzu gibt es bereits vielversprechende Vorlagen, sowohl von einer historischen
(Steinfeld 2001) wie auch von einer rechtsphilosophischen (Ellerman 1992) Per-
2
Es geht mir natürlich keinesfalls darum, marxistische gegen poststrukturalistische Ansätze auszuspielen. Im Gegenteil, notwendig ist eine verstärkte Integration beider Ansätze, und hierzu ist
schon viel Arbeit geleistest worden – vor allem in Kreisen um die italienische Operaismo Schule
(Negri / Lazzarato / Virno 1998).
62
Andreas Wittel
spektive. „Capitalism is capitalist,“ schreibt Ellerman (1992: 93 – 94), „not because
it is private enterprise or free enterprise, but because capital hires labor rather
than vice-versa. Thus the quintessential aspect of our economy is neither private
property nor free markets but is that legal relationship wherein capital hires labor,
namely the employer-employee relationship.“ Lohn, so argumentiert Ellerman, ist
nichts anderes als Miete, als angemietete Arbeit, und degradiert so Menschen zu
Objekten.
Es stellt sich nun die Frage, ob es möglich ist, Formen von ethnografisch fundierter Kritik an Lohnarbeit zu entwickeln. Empirische Studien, die ich hierzu
kenne (Stahl 2008; O’Neil 2009; Coleman 2009) sind bislang dünn gesät und
nicht unbedingt ethnografisch im klassischen Sinn. Allerdings ist zu erwarten,
dass solche Studien im Umfeld der jüngst gegründeten Zeitschrift ,Critical Studies in Peer Production‘3 einen breiten Raum einnehmen werden. Überlegungen
hierzu bleiben vorerst notwendigerweise abstrakt.
Ziel dieses Beitrags sind Erörterungen zum Verhältnis eines Forschungsgebiets (Arbeit) mit einer sozialwissenschaftlichen Methode (Ethnografie). Dieses Verhältnis, das lange Zeit als eher unproblematisch galt, ist inzwischen in
verschiedener Hinsicht neuen Herausforderungen ausgesetzt. Globalisierungsprozesse, digitale Medien, immaterielle Arbeit und Netzwerkstrukturen legen es
nahe, einige zentrale Grundannahmen von Arbeitsethnografie zu überdenken. Im
Zentrum dieses Beitrags steht eine Diskussion dieser Herausforderungen. Einige
beziehen sich lediglich auf die Schwierigkeiten, eine vor über einem Jahrhundert
entwickelte Methode unter stark veränderten Bedingungen überhaupt erst zur
Anwendung zu bringen. Andere Herausforderungen sind mehr als nur methodischer Natur: sie thematisieren die soziale Relevanz des Forschungsdesigns. Dies
bedeutet: Manchmal ist Ethnografie der Ausgangspunkt meiner Argumentation,
manchmal ist es Arbeit.
2
Ethnografie von Arbeitswelten
Was macht eine Ethnografie zu einer Ethnografie von Arbeit ? Diese Frage ist
schwer zu beantworten. Offensichtlich gehören hierzu Ethnografien, die in solchen Forschungsfeldern operieren, in denen Arbeit in institutionelle Strukturen
eingebettet und organisatorisch geregelt ist, also in der Landwirtschaft, im Berg3
Zu Informationen hierzu siehe http: / / cspp.oekonux.org / , zu peer production s. a. die Informationen im letzten Abschnitt des Beitrags.
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
63
bau, in Fabriken und Büros, im Dienstleistungsbereich, in Krankenhäusern, Altenheimen, psychiatrischen Kliniken, Polizeistationen und Gefängnissen. Hierzu
gehören aber auch Ethnografien von Berufsgruppen, Schichten, Industriesektoren
oder Feldern wie etwa die Kulturindustrien oder die neuen Medien. Hierzu gehören Arbeitslose und all diejenigen, die extrem marginalisiert arbeiten: Obdachlose,
Prostituierte, Drogendealer und Kriminelle. Ethnografie von Arbeit ist zweifellos
ein weites Feld. Hinzu kommen zwei Probleme, die eine Eingrenzung dieses offenen Feldes noch weiter erschweren. Zum einen ist Arbeit, wie von Marx bereits
herausgearbeitet, ein unverzichtbarer Teil menschlicher Existenz. Es ist demnach
schwierig, sich eine Ethnografie zu einer bestimmten Gruppe (einer Gemeinde,
einer Subkultur etc.) vorzustellen, der es gelingt, Arbeit weitgehend auszublenden. Zum anderen hat sich Arbeit im Spätkapitalismus sowohl räumlich wie auch
zeitlich entgrenzt. Letztendlich kann man die Frage nur redundant beantworten:
Arbeitsethnografien sind solche Ethnografien, die sich für Arbeit interessieren.
Umgangen habe ich bislang die Frage nach der Definition von Ethnografie. Diese Strategie der Vermeidung möchte ich auch weiterhin beibehalten. Der
Grund für diese Zurückhaltung liegt darin, dass der Begriff der Ethnografie eine
enorme Expansion erfahren hat, in verschiedenen akademischen Disziplinen je
unterschiedlich angeeignet wurde, und eine Anzahl von Neuinterpretationen
hervorgebracht hat (etwa ,Autoethnografie‘ oder ,virtuelle Ethnografie‘), die nur
noch wenig gemein haben mit dem Verständnis der ,Väter‘ dieser Methode, etwa
dem von Franz Boas oder Bronislaw Malinowski. Hier Position zu beziehen und
richtige Ethnografie von falscher Ethnografie zu trennen, macht meines Erachtens wenig Sinn. Anstrengungen, die Reinheit einer Methode zu gewährleisten,
würden dann privilegiert gegenüber Anstrengungen, eine sich dramatisch verändernde Welt zu verstehen.
Stattdessen wähle ich ein umgekehrtes Verfahren. Anstatt den Begriff der
Ethnografie mit einer Definition fest zu zimmern, unternehme ich im Folgenden den Versuch, einige der Grundannahmen von ethnografischer Forschung in
Frage zu stellen. Ethnografie, so meine Konstruktion aus vier Grundannahmen,
ist demnach eine Methode, die erstens auf Feldforschung basiert, die zweitens soziale Interaktion untersucht, die dies drittens mit teilnehmender und kopräsenter
Beobachtung erreicht, um viertens eine existierende Kultur zu verstehen. Dies ist
eine von mir konstruierte Definition mit dem alleinigen Ziel, sie zu dekonstruieren. Sie mag nicht völlig unumstritten sein, aber sie ist in dieser oder ähnlicher
Form in unzähligen Handbüchern sozialwissenschaftlicher Methodenlehre zu finden. Diese vier Grundannahmen werden im Folgenden am Beispiel von Arbeits-
64
Andreas Wittel
forschung genauer inspiziert. Im letzten Teil dieses Kapitels komme ich zurück zu
den Potenzialen und Problemen einer ethnografischen Kritik von Arbeit.
2.1
Feld 4
Noch in den 50er- und 60er-Jahren, zu Beginn seiner Karriere, so Clifford Geertz
(1995: 43), sei das Konzept kulturanthropologischer Forschung recht klar gewesen: „they have a culture out there and your job is to come back to tell us what it
is“. Dieses Konzept ist den Praktikern der Disziplin abhanden gekommen – teilweise durch theoretische, teilweise durch praktische Entwicklungen: Die Zielgesellschaften modernisierten und differenzierten sich, gleichzeitig intensivierten
sich die Außenbeziehungen der jeweils analysierten ‚Kultur‘ – medial, telekommunikativ, ökonomisch, durch Migration oder forschende sowie reisende Fremde.
‚Kultur‘, so lautet eine Bilanz der seit den 50er-Jahren geführten Debatten, ist nunmehr auch an einem Ort nur noch im Plural zu finden. Erstaunlich ist indes, dass
erst seit den 1980er-Jahren intensiver über die methodischen Implikationen dieser
Veränderungen diskutiert wird. Denn schließlich entschwindet mit der Pluralisierung der Kultur auch die Fiktion des ‚Feldes‘ als unproblematisch gegebenes
Forschungsareal, dessen Grenzen Kultur als Singularität räumlich klar umschlossen hat.
Erste Überlegungen zu möglichen Konsequenzen setzten die US-amerikanischen Anthropologen George Marcus und Michael Fischer (1986) in Gang, indem
sie hervorhoben, dass transnationale politische, ökonomische sowie kulturelle
Kräfte lokale und regionale Welten erheblich stärker als bislang mitkonstituieren.
Ethnografie sollte daher multilokal angelegt werden, um diesen Veränderungen
und der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Menschen und Objekte nicht mehr
primär an einem Ort, sondern meist in Bewegung sind. Deshalb sei es vonnöten,
sich verstärkt der Reise und den Wanderungsbewegungen zuzuwenden (Clifford
1997).
Dass diese methodische Diskussion erst mit solcher Verspätung gegenüber
der theoretischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Dekolonialisierung,
Modernisierung und Globalisierung ernsthaft begonnen wird, muss ebenso wie
4
Die Überlegungen in diesem Teilkapital sind nicht neu. Ich habe sie vor über einem Jahrzehnt
zusammen mit Stefan Beck veröffentlicht (Beck / Wittel 2000). Die zentralen Argumente sind
meines Erachtens noch immer gültig und sind hier nochmals zusammengefasst – zumeist in zitierender Form.
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
65
die gegen diese Vorschläge einer Modifikation der Forschungspraxen gerichteten
Konservierungsappelle (etwa Geertz 1998) als Symptom dafür interpretiert werden, dass die Konzeption des ‚Feldes‘ eine zentrale orientierende und identifikatorische Funktion für die Ethnowissenschaften hat. Dies gilt sowohl für das traditionelle Verständnis des Feldes als homogenes, mit Dauerhaftigkeit ausgestattetes
raumzeitliches Kontinuum wie auch für revidierte Konzeptionen des Feldes, wie
sie in der modernen Kulturanthropologie, der Volkskunde oder der feldorientierten Soziologie der Chicago-Schule Anwendung finden.
Die Schärfe der vorgetragenen Kritik gegenüber Vorschlägen zur Revision
des Feldbegriffs verweist darauf, dass sehr wirksame, implizite Vorannahmen in
Bezug auf die Bedeutung des Feldes in den verwandten Disziplinen Kulturanthropologie, Volkskunde und feldorientierter Soziologie in Frage gestellt sind – eine
Doxa, die etablierte Praxen reguliert und definiert, wer als legitimer Praktiker der
betreffenden Disziplinen gilt.
Diese Doxa ist zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend durch ein
naturalistisches Erbe geprägt. Denn in ihrer Vor- und Übergangsgeschichte zu
einer wissenschaftlichen Disziplin wurde die Kultur- und Sozialanthropologie
ab Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Generation naturwissenschaftlich ausgebildeter Akademiker geprägt, die mit der Forderung nach detaillierten Studien
räumlich eng begrenzter Gebiete eine Methodik aufgriffen, die sich etwa in der
Biologie durch die Einrichtung von Feldobservatorien in den 1870er-Jahren bereits bewährt hatte.
Im Gegensatz zu den bis dahin dominanten Analysen von Tier- und Pflanzenpräparaten – also dekontextierten Objekten –, die von Gewährspersonen in die
Universitäten geliefert wurden, wurde in der Biologie das Studium der jeweiligen Spezies in ihrem natürlichen Habitat – ihre Untersuchung als kontextierte
Organismen – zunehmend als die überlegene Forschungsmethode angesehen.
Beispielhaft für den bedeutenden Einfluss des naturalistischen Positivismus für
die Entwicklung des Feldforschungsparadigmas in der frühen britischen Sozialanthropologie war etwa der Naturwissenschaftler A. C. Haddon, der seit Anfang
der 1890er-Jahre maßgeblich an der Konzeption der Expedition in die Torres
Straße beteiligt war, die 1898 von Sozialanthropologen aus Cambridge unternommen wurde. Haddon (1896) insistierte etwa, dass ein Anthropologe nur durch
direkte, langdauernde Beobachtung in einem eng begrenzten Gebiet fremde Kulturen verstehen könne.
Die Übernahme des in den 1870er-Jahren entwickelten Feldforschungsparadigmas zog jedoch als neue Wissenschaftspraxis für alle beteiligten Disziplinen
die Notwendigkeit zu teilweise radikalen Umstellungen nach sich, die wiederum
66
Andreas Wittel
zu einer Stabilisierung dieser Datenerhebungspraxis führte. Besonders wirksam
und deshalb traditionsbildend waren die mit der methodischen Forderung nach
Feldforschung verknüpften Umbrüche. Das ‚Feld‘ wurde hierbei zu einem obligatorischen Passagepunkt sowohl für einzelne Forscher wie auch für die Disziplin
der Kultur- oder Sozialanthropologie insgesamt. ,Richtige‘ ethnografische Forschung war durch einen längeren Aufenthalt in einem Feld gekennzeichnet, das
geografisch, sozial sowie kulturell idealerweise eine maximale Distanz zur Heimat
des Forschers aufweisen konnte. Es ist hierbei die zeitweise überwundene Distanz
zu einem exotischen Feld, mittels derer der Forscher seine privilegierte Augenzeugenschaft antreten konnte. Je entlegener das Feld, desto größer der Ruhm.
Es ist sicher nicht zu bestreiten, dass diese privilegierte Augenzeugenschaft
durch dauerhafte Nähe zu den Bewohnern des jeweiligen Feldes eine hervorragende Erkenntnismethode darstellt. Hinzuweisen ist jedoch darauf, dass teilnehmende, ansässige Beobachtung des Feldes angesichtige, raumzeitlich abgeschlossene Beziehungen privilegiert, während andere, weniger lokalisierte Beziehungen
tendenziell aus dem Sichtfeld ausgeblendet werden (Gupta / Ferguson 1997). Dies
wird vor allem dann zum Problem, wenn der Forscher selbst auf eine dauerhafte
Ansässigkeit verpflichtet ist, seine Forschungssubjekte jedoch teilweise hochmobil
sind. Wird unter diesen Umständen das klassische Feldforschungsparadigma
dogmatisiert, wird der Grundgedanke, der der Feldforschung zugrunde liegt, aufgegeben. Das Konzept der Feldforschung lässt sich zu nehmend nur noch durch
teilweisen Verzicht auf Feldforschung und eine Intensivierung der Erforschung
von Netzen realisieren.
2.2
Teilnehmende und kopräsente Beobachtung
Ebenso wie dem Feld kommt dem Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘ für
die Bestimmung von ethnografischen Verfahren ein zentraler Stellenwert zu.
Während jedoch die Idee des Feldes, wie eben dargestellt, in den letzten Jahrzehnten sowohl theoretisch als auch methodologisch immer mehr unter Beschuss geraten ist, gilt dies nicht für den Topos der ,teilnehmenden Beobachtung‘.
In gewissem Sinn war diese Formulierung schon immer ein Problem. Schließlich ist wirkliche Teilhabe oft nicht möglich. Je fremder das Forschungsfeld, desto
schwieriger ist es logischerweise für die Ethnografin, sich soweit zu integrieren,
dass echte Teilnahme möglich ist. Oft ist es deshalb richtiger und bescheidener,
von einer ,dabeistehenden Beobachtung‘ zu sprechen.
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
67
Dies ist allerdings eher eine Frage von terminologischer Etikette und keine
grundlegende Infragestellung des Dabei-Seins. Genau dieses Dabei-Sein wird seit
der Etablierung von Ethnografie als deren methodischer Kern gesehen. So schreiben etwa Klaus Amann und Stefan Hirschauer (1997: 21), dass das „kultursoziologische Verständnis von der Gelebtheit kultureller Ordnungen ein weiteres Charakteristikum von ethnographischer Praxis (ist): die anhaltende Kopräsenz von
Beobachter und Geschehen.“ Amann und Hirschauer beleuchten zwei Dimensionen von Kopräsenz, eine räumliche und eine zeitliche Dimension, Gleichörtlichkeit und Gleichzeitigkeit.
Es stellt sich nun die Frage, wie Forderungen nach gleichörtlichen und gleichzeitigen Forschungen in postmodernen (oder spätkapitalistischen oder informationsgesellschaftlichen) Kontexten umgesetzt werden können. Nach Fredric Jameson (1991) etwa ist in frühkapitalistischen Gesellschaften das Globale noch direkt
aus dem Lokalen erschließbar – eine perfekte Bedingung für Ethnografie. Dies
habe sich im Spätkapitalismus jedoch entscheidend verändert. Nun ist das Lokale
kurzlebig und vergänglich geworden und das Globale unsichtbar. David Harvey
(1989) charakterisiert Postfordismus mit dem Begriff der ,time-space compression‘,
in dem Krisen unberechenbar und launisch geworden sind, und unterscheidet dies
vom fordistischen ,time-space displacement‘, in dem Krisen entweder exportiert
oder aufgeschoben wurden. ‚Time-space compression‘ bezieht sich auf Technologien (vor allem Kommunikationstechnologien), die beschleunigende Wirkungen
haben und zeitliche Differenzen schwinden lassen. Anthony Giddens (1990) hat
für nachmoderne Gesellschaften einen ähnlichen Begriff geprägt, den der ‚timespace distanciation‘. Damit konstatiert er eine Situation, in der alltägliches Leben
seine lokalen Anbindungen verliert. Für Manuel Castells (1996) schließlich sind
in der Informationsgesellschaft Orte abgelöst worden durch Flüsse, und digitale
Technologien produzieren eine Form von Unmittelbarkeit, die zu zeitloser Zeit
führt und die Geschichte auflöst.
Nun sind diese vier Befunde, die ich hier viel zu grob verkürzt habe, keinesfalls deckungsgleich. Allerdings sind sich all diese Befunde darin einig, dass das
Lokale nicht nurmehr lokal ist, und dass wirtschaftliche und technologische Prozesse unser Verständnis von Räumlichkeit und Zeitlichkeit tiefgreifend transformieren.
In diesem Transformationsprozess wird es zunehmend schwieriger, das Credo
von Kopräsenz (von Forscherin und den Erforschten) für ethnografische Praxis
aufrechtzuhalten – sowohl in Bezug auf Gleichörtlichkeit wie auch in Bezug auf
Gleichzeitigkeit. Nirgends tritt dieses Problem deutlicher zutage als im Bereich
der ethnografischen Arbeitsforschung.
68
Andreas Wittel
Dies möchte ich anhand von zwei Entwicklungen verdeutlichen, am Beispiel
von immaterieller Arbeit und am Beispiel von medialisierter Interaktion und
Kommunikation. Michael Hardt und Antonio Negri (2000) vertreten die These,
dass immaterielle Arbeit das zentrale Element ist, um die Logik von globaler kapitalistischer Herrschaft zu verstehen. Mit dem Konzept der immateriellen Arbeit verbinden sie einen marxistischen Ansatz mit der Analyse von Arbeit in der
Informationsgesellschaft. Immaterielle Arbeit ist solche Arbeit, die immaterielle
Produkte hervorbringt, also etwa Wissen, Information, Kommunikation, Affekte
und Beziehungen. Diese Form der Arbeit hat laut Hardt und Negri in den letzten
Jahrzehnten nicht nur rapide zugenommen, vielmehr steht sie im Zentrum und
hat Formen materieller Arbeit an die Ränder des ,Empire‘ verdrängt.
Es stellt sich also die Frage, ob sich immaterielle Arbeit ebenso gut beobachten lässt wie materielle Arbeit. Schließlich wird sie in erster Linie nicht mit dem
Körper, sondern mit dem Kopf ausgeführt.5 Die relativierende Formulierung ,in
erster Linie‘ ist hier natürlich wichtig. Jede Form von Arbeit beansprucht Kopf
und Körper. Allerdings nimmt der Körper bei materieller Arbeit eine weit größere
Rolle ein als bei immaterieller Arbeit. Und dies gilt in umgekehrter Weise auch
für den Kopf. Donald Roy (1960) hat wunderbar gezeigt, wie die manuellen und
hochgradig routinisierten Fließbandtätigkeiten den Kopf eben gerade nicht beanspruchen, sondern ihn frei machen für Gedanken, die mit dem Arbeitsprozess
selbst wenig zu tun haben. In starkem Kontrast hierzu findet analytische und intellektuelle Arbeit zu weiten Teilen im Kopf statt, zwar in permanenter Interaktionen mit entweder anderen Menschen oder mit Dingen (Texten, Bildern, Grafiken,
Statistiken, Datensätzen), aber ein Großteil des Arbeitsprozesses findet im Gehirn
statt und ist nicht direkt beobachtbar. Auch in meinen eigenen ethnografischen
Forschungen hat sich gezeigt, dass die teilnehmende Beobachtung von immaterieller Arbeit weniger interessante Daten produziert als die Beobachtung materieller Arbeit. Dies bedeutet keinesfalls, dass Erforschung von immaterieller Arbeit
weniger ergiebig ist – es bedeutet lediglich, dass die Methode der teilnehmenden
Beobachtung an Grenzen stößt, die im Forschungsprozess natürlich umgangen
oder kreativ überwunden werden können.
5
Hier ist eine wichtige Einschränkung vonnöten. Dieses Problem stellt sich nicht für alle Bereiche
immaterieller Arbeit gleichermaßen, sondern nur für intellektuelle und analytische Arbeit. Affektiver Arbeit, etwa Arbeit in der Serviceindustrie (Verkäuferinnen, Frisöre, Bedienungen) und
anderen Formen von Kundenarbeit eignet sich ganz hervorragend für Beobachtung, schließlich
spielt hier der Körper eine ganz zentrale Rolle – man denke etwa an das Lächeln der von Arlie
Hochschild (1983) untersuchten Stewardessen.
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
69
Der zweite Prozess, der kopräsente Beobachtung in zeitgenössischen Arbeitskontexten erschwert, ist die Medialisierung kommunikativer Arbeit. Zwar ist das
Phänomen einer medialisierten Kommunikation in Arbeitsprozessen nicht neu,
aber seit der digitalen Wende hat es erheblich zugenommen. Wiederum stellt sich
die Frage, wie dies die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung beeinflusst.
Generelle Aussagen sind hier problematisch, denn die Möglichkeiten für teilnehmende Beobachtung hängen vor allem von den je spezifischen Medien ab. Für die
Beobachtung eines Telefonats stellen sich etwa andere Herausforderungen als für
die Beobachtung einer E-Mail-Korrespondenz. Allerdings sind in beiden Fällen
Kopräsenz (im Sinne von Gleichörtlichkeit) nur noch eingeschränkt möglich.
Wiederum ist dies keineswegs ein Argument, dass Ethnografie im Kontext
von mediatisierter Kommunikation vor unüberwindlichen Hindernissen stehe.
Vielmehr sollte dies als eine Herausforderung begriffen werden, die kreativ umgangen werden kann – was allerdings zur Folge hat, dass das Ideal von Kopräsenz
aufgegeben werden muss. Für den Forschungsprozess und die dabei generierten
Ergebnisse ist dies zumeist auch nicht tragisch, denn die gleichzeitige Beobachtung etwa einer E-Mail-Korrespondenz liefert in der Regel selten bessere Forschungsdaten als eine Kopie derselben Korrespondenz, die der Ethnografin zu
einem späteren Zeitpunkt zugestellt wird. Der Punkt dieser Argumentation ist
lediglich, dass Kopräsenz in der alltäglichen Arbeitskommunikation inzwischen
nicht mehr der Normalfall, sondern fast schon der Idealfall ist.
Eine Reihe von Forschungsrichtungen sind an der Integration von Medien
(vor allem Informations- und Kommunikationstechnologien) im Arbeitsalltag
besonders interessiert und forschen hierzu ethnografisch. Zu nennen wären hier
etwa die Studien zur ,Computer Supported Cooperative Work‘ (CSCW), ,Science
and Technology Studies‘ (STS) sowie die ,Workplace Studies‘.6 Diese Forschungsrichtungen sind zum einen inspiriert von Bruno Latours Arbeiten zur ,ActorNetwork-Theory‘, zum anderen von Lucy Suchmans (1987) Konzept der ,situated
actions‘. Viele dieser Studien – soweit man dies in der hier erforderlichen Kürze
überhaupt verallgemeinern kann – sind inspiriert von einer eher ethnomethodologisch ausgerichteten Ethnografie. Dieser spezifische und sehr detaillierte Fokus
auf Interaktionen zwischen arbeitenden Menschen, aber vor allem auch auf die Interaktionen zwischen Menschen und Computern (und anderen Medienobjekten)
hat zahlreiche Innovationen hervorgebracht – sowohl im Bereich der Erforschung
von Netzwerken als auch im Bereich mikrosoziologischer Studien. Der Vorteil
6
Siehe zu Workplace Studies Knoblauch und Heath (1999), zum Stand des STS-Diskurses Ilyes
(2006) und zu CSCW sowie generell zum Thema ‚Studies of Work‘ Bergmann (2005).
70
Andreas Wittel
dieser Studien – die fast schon mikroskopische Erforschung der Interaktion zwischen Menschen und technologischen Objekten – ist zugleich auch ein Nachteil
für ethnografische und Medien einbeziehende Arbeitsforschung. Denn in diesen
Ansätzen werden Medien zwar kontextualisiert, allerdings um den Preis einer oft
dekontextualisierten Arbeitsforschung. Hierzu mehr im nächsten Abschnitt.
2.3
Soziale Interaktion
Das dritte Charakteristikum ethnografischer Praxis ist eine Fokussierung auf
Menschen und die Beziehungen zwischen Menschen. Ethnografie ist eine Beobachtung von sozialer Interaktion oder, wie Amann und Hirschauer (1997: 24) resümieren: „Ethnographie ist die Teilhabe an der Inspektion sozialer Situationen.“
Im Unterschied zu ,Feld‘ und ,teilnehmender Beobachtung‘ liegt die Problematik
von ,sozialer Interaktion‘ an anderer Stelle. Das ‚Feld‘, das ja schon immer eine soziale Konstruktion war, wird durch eine Reihe von Transformationen immer mehr
dekonstruiert. Die Forderung von Kopräsenz von Ethnografin und den Ethnografierten ist nicht mehr zu halten, wenn zwischen den Ethnografierten selbst
Kopräsenz aufgegeben wird. ,Soziale Interaktion‘ hingegen ist nicht in Gefahr, in
irgendeiner Form aufgelöst zu werden.
Vielmehr ist dies ein Problem von Reichweite. Je mehr sich Ethnografie auf
soziale Interaktion konzentriert, desto mehr besteht die Gefahr, die politischen
und ökonomischen Kontexte, die soziale Interaktionen zumindest teilweise strukturieren, aus dem Blickwinkel zu verlieren. Am Beispiel von Arbeitsforschung:
Ethnografie von Arbeit, die sich auf die Erleuchtung sozialer Interaktionen festlegt, kann Arbeit nur in einem begrenzten Ausmaß analysieren. Arbeit wird hier
reduziert auf Arbeitsbeziehungen und auf die Organisation von Arbeit in spezifischen Settings (Institutionen, Firmen etc.). Ausgeblendet werden dann all jene
externen Kräfte, die etwa Arbeitsprozesse, Arbeitskonflikte und Produktionsmodi
zumindest teilweise strukturieren. Je mehr sich ethnografische Arbeitsforschung
auf soziale Interaktion beschränkt, desto weniger steht Arbeit selbst im Zentrum
der Analyse.
Genau diesem Punkt widmet Michael Burawoy viel Aufmerksamkeit. Am
Beispiel der Chicago School zeigt Burawoy (2000: 7 – 15) die Konsequenzen der
Verengung von ethnografischer Forschung auf soziale Interaktion. Demnach sei
die Chicago School zunächst durchaus mit der Ambition gestartet, ethnografische Forschung nicht auf lokale Kontexte zu beschränken. So sei der ,foundational classic‘ der Chicago School, Thomas und Znanieckis ,The Polish Peasant in
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
71
Europe and America‘, eine vielversprechende globale Ethnografie. Erst unter der
Führung von Robert Park habe sich die Chicago School mehr und mehr auf die
ethnografische Erforschung lokaler Settings (Städte, Stadtteile, Firmen und Institutionen) beschränkt. Diese Entwicklung kulminierte in Studien, die soziale Interaktion selbst in lokalen Settings weitgehend dekontextalisierten. Hierfür stünden etwa die Arbeiten von Erving Goffman. „Closing ethnography off from its
context had the advantage that its claims could be generalised across diverse settings“ (Burawoy 2000: 14). Allerdings habe dieser Fokus auf menschliches Verhalten in abgeschlossenen Welten (Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken etc.)
einen Preis: Die Kontrollsysteme, die ja zu beachtlichen Teilen menschliches Verhalten strukturieren, werden dann weithin ignoriert.
Ich möchte im Folgenden an zwei deutschsprachigen Klassikern zeigen,
warum die Einbeziehung von Kontext für Arbeitsforschung so produktiv ist. Siegfried Kracauer (1971) hat für seine Ende der 1920er-Jahre veröffentlichte Studie
,Die Angestellten‘ kein klassisch ethnografisches Vorgehen gewählt – zumindest
kein Vorgehen, das durch einen klar vorgegebenen Forschungsrahmen charakterisiert ist. Kracauer hat natürlich auch viele soziale Situationen analysiert, aber
hat daraus keinen Fetisch gemacht, sondern sie mit anderen Methoden der Datengenerierung verwoben. Das von ihm analysierte Material ist vielfältig und scheinbar zufällig – private Briefe, offizielle Firmendokumente, Zeitungsartikel, Arbeitsbekleidungen, Gespräche mit Angestellten in verschiedenen hierarchischen
Ebenen, und eine Fülle von Beobachtungen (sowohl in bürokratischen Institutionen wie auch außerhalb der Arbeitswelt). Es sind indes Lumpen, wie Walter Benjamin so scharfsinnig im Nachwort dieser Studie angemerkt hat, die unbeachtet
am Wegesrand liegen und von Kracauer aufgelesen und so verknüpft werden, dass
eine kohärente Erzählung zur Mentalität von Angestellten in der Weimarer Republik entsteht. Die Verknüpfungen sind keinesfalls zwingend, aber es sind genau
diese riskanten Verwebungen von ,kleinen‘ Beobachtungen und der Analyse von
größeren Kontexten, die es möglich machen, so verschiedene Bereiche wie die
quasi wurzellose, sich erst formierende Angestelltenmentalität mit Bürokratisierung, der Taylorisierung und Sinnentleerung von Angestelltenarbeit, dem Aufkommen der Unterhaltungsindustrie und dem Aufkommen von Faschismus in
Verbindung zu bringen und so Kracauers Studie zu einem ethnografischen Meisterwerk machen.
,Die Arbeitslosen von Marienthal‘, eine soziografische Studie zu den Folgen von Langzeitarbeitslosigkeit, ist ein weiteres Beispiel eines ethnografischen
Meister werks, bei dem die teilnehmende Beobachtung von sozialer Interaktion
keineswegs im Zentrum der methodischen Herangehensweise steht. Die von
72
Andreas Wittel
Marie Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel (1975) in den 30er-Jahren durchgeführte Studie eines österreichischen Dorfes, das nach der Schließung einer Fabrik
mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert war, ist bahnbrechend aufgrund einer innovativen Verschränkung von qualitativen und quantitativen Methoden sowie
einer Verknüpfung von bereits vorgefundenen Materialien mit eigens für die
Studie erhobenen Daten. Für jede Familie in Marienthal hat das Erhebungsteam
einen Ordner angelegt, der dann mit verschiedensten Daten gespeist wurde, etwa
mit Daten von Haushaltserhebungen und Essenserhebungen, mit Fragebögen,
Daten zur Zeitverwendung, Interviews, informellen Gesprächen sowie solchen
Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den Erforschten, die durch
Hilfsleistungen des Forschungsteams in Gang gesetzt wurden. Um nämlich eine
nur scheinbar natürliche Interaktionen zwischen dem Forschungsteam und den
erforschten Familien zu erhöhen, hat das Team im Dorf Angebote etabliert, etwa
Erziehungsberatungen und Kurse im Bereich von Fitness und Kreativität. Dieses
Vorgehen, in vielerlei Hinsicht problematisch – die ,Wirklichkeit‘ im Dorf wurde
künstlich verändert; die Arbeitslosen wurden über die eigentlichen Absichten dieser Angebote nicht informiert – ist innovativ als eine Form von experimenteller
Ethnografie. Während also die Beobachtung der sozialen Interaktion zwischen
den Erforschten nicht zentral war für die Formulierung der Forschungsergebnisse,
kommt der Interaktion zwischen Forschern und Erforschten in der Tat zentrale
Bedeutung zu.
Bislang habe ich die Problematik von sozialer Interaktion vor allem hinsichtlich der Frage der Reichweite thematisiert. Eine zweite Problematik von ethnografischer Arbeitsforschung, die soziale Interaktion ohne Einbeziehung von Kontext
untersucht, bezieht sich auf die Potenziale für kritische Sozialforschung. Sicherlich, soziale Interaktion ist kritisierbar, es stellt sich jedoch die Frage, ob eine Kritik von Arbeit im digitalen Kapitalismus möglich ist, wenn ethnografische Forschung sich lediglich auf die Mikrowelt sozialer Beziehungen beschränkt. Am
Beispiel von actor-network-theory (ANT) lässt sich dieser Aspekt gut verdeutlichen. Bruno Latour (2005) plädiert dafür, die Soziologie des Sozialen durch eine
Soziologie der Verknüpfungen zu ersetzen, dies sind Verknüpfungen zwischen
Menschen einerseits und zwischen Menschen und Dingen andererseits. Die vor
allem von Durkheim beeinflusste Soziologie des Sozialen verwechsle, so Latour,
Ursache und Wirkung und operiere mit einer Vielzahl von abstrakten Begriffen,
die erklärend wirken sollen, die aber eigentlich der Erklärung bedürften. Diese
Begriffe könnten nur dann erfolgreich erklärt werden, wenn die Spuren der Konstruktion dieser Begriffe nachgezeichnet werden können. Es gelte also, solche Begriffe nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie zunächst einmal empirisch
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
73
zu legitimieren. Deshalb vermeidet ANT Begriffe wie Gesellschaft, Kultur, Macht,
Struktur, und Kontext, um nur einige zu nennen.
Latours Einwand ist sicherlich berechtigt. Allerdings hat seine Soziologie
der Verknüpfungen meines Erachtens einen teuren Preis: Kritik wird aufgegeben zugunsten von Analyse. Wo Gesellschaft nicht ist, kann Gesellschaft auch
nicht kritisiert werden. Verknüpfungen von Aktanten können nur beschrieben
und dann analysiert werden. Es macht schließlich wenig Sinn, diese Verknüpfungen einer Kritik zu unterziehen. Insofern ist eine von ANT inspirierte ethnografische Arbeitsforschung eher eine Analyse von Mensch-Objekt-Beziehungen (mit
viel Spielraum für die Analyse von menschlichem Eigensinn), denn eine kritische
Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen und der Organisation von Arbeit in
spezifischen politischen, ökonomischen und technologischen Kontexten.
2.4
Kultur
Das vierte Charakteristikum ethnografischen Arbeitens ist ein Schwergewicht auf
kulturellen Fragestellungen und Erkenntnissen, siehe die bereits zitierte Anweisung von Clifford Geertz an Ethnografen, die ,culture out there‘ zu finden und
zu beschreiben. Dieser Schwerpunkt auf Kultur als Forschungsgegenstand gilt
sicherlich nicht für alle ethnografisch operierenden Schulen und Disziplinen gleichermaßen – die Manchester School of Social Anthropology7, aber auch generell
die britische Anthropologie etwa haben schon immer sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Fragestellungen den Vorzug eingeräumt. Dennoch ist es nicht
allzu verzerrend, die Gewichtung auf Kultur als eines der zentralen Elemente zu
sehen, die ethnografische Praxis etablieren und legitimieren.
Auf die Problematik des Kulturbegriffs als wirksame analytische Kategorie
ist mehrfach hingewiesen worden. Im Zuge der ,Writing Culture‘ Debatte (Clifford / Marcus 1986) wurde Kultur zunehmend politisiert und als neokoloniales Instrument problematisiert. Lila Abu-Lughod (1991) etwa sieht in Kultur ein wesentliches Werkzeug ,for making the other‘. Anstelle einer Beschreibung von ,den
anderen‘ würden diese durch ethnografische Praxis erst hergestellt. Sie plädiert
dafür, Homogenisierungen und Verallgemeinerungen aufzugeben, und stattdessen Geschichten über Individuen in bestimmten Räumen und Zeiten zu erzäh7
Eine gute Einführung (für Studierende von Studierenden) in die Arbeiten der Manchester
School hat Anna Schmidt hier erstellt: http: / / anthropology.ua.edu / cultures / cultures.php?culture=Manchester%20School.
74
Andreas Wittel
len. Ähnlich argumentiert Tim Ingold (1993): Die Übersetzungen, die westliche
Ethnografen vornehmen, um von nicht-westlichen Welten zu berichten, würden
nicht funktionieren. Um eine Ethnografie zu ermöglichen, die auf gegenseitigem
Verstehen basiert, müsse das Kulturkonzept aufgegeben werden. In der deutschen
Diskussion haben jüngst Chris Hann (2007) und Stefan Beck (2009) die wesentlichen Kritiken zusammengefasst und für die Abschaffung des Kulturbegriffs plädiert.
Mein eigenes ,Unbehagen an der Kultur‘ bezieht sich in erster Linie weder
auf die mangelhafte analytische Brauchbarkeit des Kulturbegriffs noch auf dessen
fragwürdige politische Implikationen – obwohl ich alle vorgebrachten Einwände
teile. Mein Unbehagen, fast noch schlimmer, zielt auf die Relevanz von Kultur als
Forschungsgegenstand im digitalen Kapitalismus.
Es gilt in den Sozial- und Humanwissenschaften als wenig umstritten, dass in
der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ein sogenannter ,cultural turn‘ eingesetzt hat, ein turn also, der indiziert, dass die Relevanz von kulturellen Perspektiven, Konzepten und Theorien zugenommen hat. Nun ist die Konstatierung
von turns immer problematisch und mehrdeutig, und es ist an diese Stelle nicht
möglich, auf die zahlreichen Versuche zur Bestimmung des cultural turn einzugehen. Mein eigenes Verständnis des cultural turn ist durch zwei Prozesse gekennzeichnet, erstens durch eine umgangssprachliche Ausweitung des Kulturbegriffs
von Hochkultur sowohl zu populärer Kultur wie auch zu dem anthropologischen
Verständnis von Kultur als ,way of life‘, zweitens durch die Schwächung von positivistischen Epistemologien und einer stärkeren Hinwendung zu Zeichen, Symbolen und Konzepten wie Interpretation, Bedeutung, Diskurs und Kommunikation.
Dieser cultural turn hat nicht nur die cultural studies als neue akademische
Disziplin hervorgebracht, sondern auch eine Vielzahl von bahnbrechenden theoretischen Konzepten, die innovative Zugänge ermöglichten, etwa für eine diskurs-basierte Machttheorie (Foucault), neue Formen von Klassen- und Gesellschaftsanalyse (Bourdieu), politische Ökonomie (Baudrillard) und die Analyse
von Moderne und Postmoderne (Jameson).
Diese Theorien haben über viele Jahrzehnte den sozial- und humanwissenschaftlichen Diskurs entscheidend geprägt – und sie prägen ihn auch weiterhin.
Allerdings zeigen sich auch erste Risse im Gebälk des cultural turn. Erstens hat die
Disziplin der cultural studies – zumindest in ihren angelsächsischen Ursprungsländern eine Schwächung erfahren, zum einen durch eine Vielzahl von Schließungen akademischer Institute – das Centre for Contemporary Cultural Studies
(CCCS) in Birmingham, einst stolzes Flaggschiff der cultural studies, steht hier als
Paradebeispiel – zum anderen durch eine seit den 90er-Jahren anschwellende Kri-
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
75
tik, die den cultural studies vorwirft, ihre Kritikfähigkeit aufgegeben zu haben und
stattdessen zu einem verlängerten Arm der creative industries avanciert zu sein
(hierzu etwa die Kritik von Thomas Frank 2001). Zweitens sind die oben erwähnten bahnbrechenden Kulturtheorien fast ausschließlich in den 60er-, 70er- und
80er-Jahren entstanden, während in den letzten zwei Jahrzehnten wenig kulturtheoretische Innovationen zu verzeichnen waren – dafür wurde, wie bereits beschrieben, umso mehr Kritik an der Brauchbarkeit des Kulturbegriffs als analytische Kategorie vorgetragen. Am wichtigsten ist vielleicht der dritte Riss: Während
Kulturtheorien in den letzten zwei Jahrzehnten nur bedingt neue Impulse erhielten, sind Informationstheorien in demselben Zeitraum von einer akademischen
Nische in den Mainstream eingedrungen. Die ,großen Erzählungen‘, die in den
letzten zwei Jahrzehnten geschrieben wurden (etwa Castells 1996, Hardt / Negri
2000 und Benkler 2006), thematisieren vor allem das Informationszeitalter. Es
scheint, als werde der cultural turn von einem neuen turn, dem digital turn, etwas
in den Hintergrund gedrängt.
In eben diesem Zeitraum haben sich eine Reihe von Krisen zugespitzt – alle
globaler Natur – und alle haben inzwischen bedrohliche Ausmaße erreicht mit
größtenteils unkalkulierbaren Folgewirkungen. Zu nennen wäre hier u. a. die
Schulden- und Finanzkrise, die Energiekrise (peak oil), die globale Ernährungskrise sowie verschiedene ökologische Krisen (allen voran natürlich Klimawandel). Es stellt sich meines Erachtens zu Recht die Frage, welchen Beitrag kulturwissenschaftliche Forschung in solch einer Situation leisten kann. Sollte es schwer
werden, auf diese Frage gute Antworten zu finden, ist die These eines Relevanzverlusts kulturwissenschaftlicher Forschung zumindest erörterungswürdig. Im
letzten Abschnitt soll dieses Unbehagen an der Kultur stärker an ,Arbeit‘ und
,Lohnarbeit‘ angebunden werden. Zunächst jedoch eine abschließende Anmerkung zu Ethnografie.
3
Arbeit und Ethnografie im digitalen Kapitalismus
Um den Topos der Ethnografie rankt sich eine interessante Paradoxie: Auf der
einen Seite geraten, wie hier an vier Beispielen beschrieben, die klassischen Säulen ethnografischer Forschung in eine immer größere Schräglage, auf der anderen
Seite erfährt der Begriff der Ethnografie eine ungeheure Expansion. Je weniger die
klassische Festschreibung von Ethnografie plausibel bleibt, desto mehr erstreckt
sich der Begriff wie ein Pilz über immer weitere Bereiche empirischer Sozial und
Kulturforschung.
76
Andreas Wittel
In einer solchen Situation gibt es zwei Möglichkeiten, um auf diese Paradoxie
zu reagieren. Man spielt entweder Methodenpolizei und definiert einen Rahmen
für ethnografische Forschung, um dann, gemäß der aufgestellten Kriterien, über
Zulassung oder Ausschluss richten zu können. Die polemische Formulierung dieser Variante lässt unschwer darauf schließen, dass ich ihr eher skeptisch gegenüberstehe. Die zweite Möglichkeit scheint mir produktiver: Man akzeptiert die
Expansion, die der Begriff erfahren hat. Dies führt bedauerlicherweise zu einer
Verwässerung des Begriffs. Allerdings lässt sich die zweite Variante auch positiv
formulieren: Ethnografie bewegt sich weg von einer spezifischen Methode empirischer Sozialforschung und mutiert stattdessen zu einer Theorie und Logik des Forschungsprozesses.
Eine solche Bestimmung eröffnet neue Potenziale zur Erforschung von Arbeit und zur Kritik von Lohnarbeit. Ein Großteil der ethnografischen Arbeitsforschung operiert in institutionellen Kontexten – Arbeit wird erforscht in Unternehmen, Fabriken, Betrieben und Büros. Dies sind die Orte von Lohnarbeit, also
genau der Form von Arbeit, die spezifisch ist für den kapitalistischen Arbeitsprozess. Damit komme ich zurück zu meiner Ausgangsargumentation und den
Marxschen Formen von Entfremdung. Meines Erachtens wurde in ethnografischer Arbeitsforschung – zumindest in den letzten Jahrzehnten – nur die zweite
Form von Entfremdung thematisiert, also die Form von Entfremdung, die durch
fehlende Selbstorganisation der Arbeit verursacht wird.
Die erste Form der Entfremdung jedoch, die Entfremdung zum Produkt der eigenen Arbeit, ist aus dem Diskurs ethnografischer Arbeitsforschung schlicht verschwunden. Lohnarbeit und die mit ihr einhergehende Entfremdung der Arbeiterin vom Produkt der Arbeit unterliegt kaum ethnografischer Kritik, sie wird
vielmehr als natürlich und unvermeidlich akzeptiert. Dies war solange plausibel,
wie sich Arbeit als soziales Phänomen fast ausschließlich in klassischen organisatorischen Kontexten bewegt hat. Mit dem Aufkommen des social web formieren
sich jedoch Alternativen zum Lohnarbeitsparadigma. Solche Alternativen sind
sicherlich nicht neu, sie haben in Form von freiwilliger und gemeinnütziger Arbeit immer existiert, allerdings immer an den ökonomischen Rändern und immer
in einer Weise, die kapitalistische Lohnarbeit ergänzt hat, ohne jedoch in direkte
Konkurrenz zu ihr zu treten.
Mit der digitalen Wende und dem Aufkommen des social web hat sich eine
Alternative zur industriellen Produktion (einer Produktion für den Markt) formiert, die Yochai Benkler (2006) als ‚social production‘ bezeichnet. Benkler unterscheidet zwei Formen von social production, zum einen die ‚commons based
peer production‘, zum anderen ‚peer production‘. Erstere, die commons-based peer
Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
77
production, ist dadurch charakterisiert, dass eine oft große Anzahl von Personen
sich einem gemeinsamen Projekt verschreiben und ohne klassische Befehlsstrukturen zusammenarbeiten, oft auch ohne finanzielle Kompensation. Beispiele für
commons-based peer production sind etwa Wikipedia oder die Open-Source Gemeinde. Demgegenüber basiert ,peer production‘ eher auf individuellen Handlungen, die keine Koordination mit anderen verlangen. Hierzu gehören etwa Texte,
Fotos, Filme und Musikstücke, die ins Netz gestellt werden. In beiden Fällen wird
nicht für den Markt produziert, sondern für das Gemeinwohl, und die erstellten
Produkte sind keine Waren, sondern Gemeingüter. Das Verhältnis von sozialer
Produktion zur Produktion für den Markt ist zu komplex, um in wenigen Zeilen
angemessen beschrieben zu werden. Allerdings ist es kein Zufall, dass mit dem
Aufkommen der sozialen Produktion die Kulturindustrien (Zeitungen, Verlage,
Musikvertrieb, Filmvertrieb etc.) immer stärker in die Krise geraten.
Unbestreitbar: Arbeit, die in soziale Produktion investiert wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung, nicht nur an gesellschaftlicher Bedeutung, sondern auch
an wirtschaftlicher Bedeutung. Gleichzeitig eröffnet diese Form von Arbeit eine
Reihe von neuen sozialen, politischen und ökonomischen Fragen und Problemen.
Dies sind Fragen zum Wert der Produkte sowie Fragen zum Wert der Arbeit. Dies
sind weiterhin Fragen zur Rückgewinnung von Autonomie über den Arbeitsprozess, aber auch Fragen zu neuen Formen von Entfremdung, die sich, wie etwa
Franco ‚Bifo‘ Berardi (2009) vorschlägt, an der Achse zwischen menschlicher Zeit
und monetärem Wert ausdrücken. Dies sind schließlich auch Fragen zu neuen
Formen von Ausbeutung. Denn im Internet sind die Nutzer zu Produzentinnen
von Inhalten geworden. Sie produzieren Informationen, die Profit ermöglichen.
Diesen Vorgang beschreibt Yann Moulier-Boutang (2007) als ‚pollination‘. Firmen
wie zum Beispiel die Anbieter von social media platforms können durch die unbeabsichtigte Arbeit der user Profite erwirtschaften, genauso wie manche Pflanzen
zur Reproduktion auf die unbeabsichtigte Befruchtungsarbeit von Bienen angewiesen sind. Ausgebeutet wird hier soziale Interaktion selbst. Im digitalen Kapitalismus ist soziale Produktion auf der einen Seite Arbeit und auf der anderen Seite
nichts anderes als menschliche Energie, menschliche Zeit, sowie der Ausdruck
von Gefühlen, Gedanken, und Beziehungen. Schließlich sind dies Fragen zum
Verhältnis zwischen social production und der Produktion für den Markt, denn
oft bilden sich hier neue Mischformen heraus. Die Herausforderung, die diese
Entwicklung an die Sozialwissenschaft stellt, ist in der Tat enorm. Um Lohnarbeit
ethnografisch kritisierbar zu machen, ist eine Ausweitung des Blicks jenseits der
engen Grenzen von Lohnarbeit erforderlich.
78
Andreas Wittel
Michael Burawoy (1979), dessen ,Manufacturing Consent‘ ebenfalls zu der
Reihe von arbeitsethnografischen Klassikern gehört, die auf eine Fetischisierung
von sozialer Interaktion verzichten, entwickelt in seiner Studie eine scharfe Kritik soziologischer Praxis. „The political implications of sociology stem from the
adoption of a particular philosophy of history in which the future is the perfection
of the present, and the present is the inevitable culmination of the past. From this
all else follows. By taking the particular experiences of capitalist society and shaping them into universal experiences, sociology becomes incapable of conceiving
of a fundamentally different type of society in the future…What exists is natural,
inevitable, and unavoidable“ (Burawoy 1979: 13). Ob diese harsche Kritik an soziologischer Forschung gerechtfertigt ist oder nicht, sei an dieser Stelle dahingestellt.
Was mich an dem Zitat beeindruckt, ist sein Plädoyer für eine utopisch ausgerichtete Sozialforschung.
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Arbeit und Ethnografie im Zeitalter des digitalen Kapitalismus
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Konversationsanalytische Zugänge zu
Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Gesprochen wird immer und überall – während der Arbeit, in Bildungsprozessen oder während der Vorstellung als Arbeitsuchender bei der Bundesagentur
für Arbeit. Zwar dürfte mit der Ausbreitung der Dienstleistungsarbeit der Stellenwert von Kommunikation für die Arbeit zugenommen haben, aber auch in
der Produktionsarbeit ist der Austausch zwischen den Beteiligten unabdingbare Voraussetzung für Motivation, Produktivität und Sicherheit. In jedem Fall
sind Kommunikationsarbeit und Arbeitskommunikation ein wichtiger Untersuchungsgegenstand – und folglich benötigt man ein spezifisches methodisches
Instrumentarium, um sich dezidiert diesen sozialen Phänomenen zu nähern.
Einen methodischen Zugang zur Untersuchung von Kommunikationsarbeit
und Arbeitskommunikation eröffnet die Konversationsanalyse als methodologisch fundiertes Instrumentarium, mit dem die vielschichtigen Abläufe und Inhalte von Gesprächen aller Art systematisch erfasst und die grundlegenden Ordnungen verbalen Austauschs identifiziert werden können. Technische Grundlage
dafür ist, dass in natürlichen Situationen stattfindende Gespräche auf Ton- bzw.
Videodatenträger aufgezeichnet und anschließend detailliert verschriftlicht werden. Erst auf dieser Grundlage wird sichtbar, dass Gespräche eine (je nach Gesprächsart variierende) innere Struktur aufweisen, zugleich häufig eine Melange
aus anscheinend klaren Versatzstücken, parasprachlichen Einlassungen, eingeschobenen thematischen Nebengleisen und Exkursen etc. darstellen, die aber allesamt dazu beitragen, intersubjektiven Sinn zu produzieren und eine situative soziale Ordnung zu konstituieren.
Der vorliegende Beitrag führt zunächst in die methodologischen Grundlagen
(1) und methodischen Arbeitsschritte (2) der Konversationsanalyse ein, bevor er
anhand ausgewählter Beispiele informatisierter Kommunikationsarbeit in Call
Centern zu einer praktischen Veranschaulichung gelangt (3). Damit wird ein
Schwerpunkt auf die Gesprächsführung im Rahmen einer spezifischen Form der
Wirtschaftskommunikation gelegt – im eigentlichen Sinne handelt es sich um eine
Form von Kommunikationsarbeit. Am Beispiel der Cockpit-Kommunikation von
82
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Piloten wird in einem weiteren Schritt auf Arbeitskommunikation in einer konkreten Arbeitssituation eingegangen (4). Abschließend wird auf beispielhafte Arbeiten verwiesen, und Potenziale und Grenzen der Konversationsanalyse werden
diskutiert (5).
1
Methodologische Grundlagen der Konversationsanalyse
Mit der Konversationsanalyse lassen sich kommunikative Interaktionen aller Art
untersuchen, die in „natürlichen Situationen“ vorkommen. Geklärt wird mittels
eines formalanalytischen Vorgehens, wie die beteiligten Akteure im Gespräch eine
situative soziale Ordnung durch wechselseitig aufeinander bezogene Sprechhandlungen gemeinsam herstellen. Theoretische Grundlage dafür ist die Ethnomethodologie, die soziale Ordnung als fortlaufende Herstellungsleistung der Akteure in
Alltagssituationen auf der Grundlage gemeinsam geteilter Hervorbringungsregeln
– der „Ethnomethoden“ – analysiert (1.1) Bezogen auf den spezifischen Gegenstand „Gespräche“ sind insbesondere die Ethnomethoden des turn-taking, also
des Sprecherwechsels, konstitutiv (1.2).
1.1
Ethnomethodologische Fundierung
Grundlegender Bezugsrahmen der Konversationsanalyse ist die Ethnomethodologie (Garfinkel 1967; Psathas 1973). Was Ethnomethodologen, und damit auch
Konversationsanalytiker, als soziale Ordnung bezeichnen, entspricht nur bedingt
dem, was wir im Alltag unter Ordnung verstehen. So ist das Befolgen des Verhaltensgebots ‚Rechts vor links‘ im Straßenverkehr sicherlich ein Fall des Akzeptierens einer sozialen Ordnung, die qua Rechtssetzung Gültigkeit beansprucht – und
im Alltag wird man gut daran tun, sich auch so zu verhalten und damit eine berechenbare Ordnung aller mitzutragen. Über den orientierenden Charakter der
Regeln in sich ständig verändernden Verkehrssituationen dürfte zudem – bei
aller Kritik an Geschwindigkeitsbegrenzungen, Überholverboten o. Ä. weitgehend Einigkeit bestehen. Um aber im ganz praktischen Sinne im Straßenverkehr
handlungsfähig zu sein, muss auf noch eine ganze Reihe anderer ‚Regeln‘ zurückgegriffen werden, die im ethnomethodologischen Sinn erst soziale Ordnung konstituieren: vor allem handelt es sich dabei um Regeln, die jemanden in die Lage
versetzen in Bezug auf Andere kompetent zu agieren, die wiederum in Bezug auf
alle Anderen agieren. Nur selten gibt es in solch komplexen Situationen ledig-
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
83
lich eine Weise, ‚richtig‘ zu agieren. Letztlich bedeutet das, dass jede der aufeinander bezogenen Handlungen der Beteiligten die weitere Interaktion strukturiert, indem der gewählte Handlungsschritt bestimmte Handlungsmöglichkeiten
des Anderen eröffnet und andere verschließt – die Regel wird im Moment ihres
Vollzuges in Kraft gesetzt, z. B. wenn man mit einer kurzen Kopfbewegung den
Weg trotz Vorfahrtberechtigung für den Anderen frei gibt und dieser entscheiden
muss, ob er nun fährt oder aber die verkehrsrechtliche Regel vorzieht und stehen
bleibt. Genau dies etabliert dann die situativ hergestellte soziale Ordnung, die im
Mittelpunkt der Ethnomethodologie steht.
Theoretischer formuliert: Soziale Ordnung wird in der Ethnomethodologie als
„Vollzugswirklichkeit“ („ongoing accomplishment“) untersucht, im Sinne einer
fortlaufenden Ausführung von Handlungen, die in ihrer beständigen Wiederholung oft ähnliche Muster aufweisen. Soziale Ordnung wird in dieser Perspektive in
jeder Situation sukzessive gemeinsam mit anderen hergestellt – gewissermaßen in
jeder Situation immer wieder von Neuem. Das impliziert, dass Individuen prinzipiell Handlungsmacht zugeschrieben wird und sie nicht nur als Ausführende
‚gesellschaftliche Strukturen‘ reproduzieren: Sie sind keine Schauspieler, die einen
bereits vorgegebenen und ihnen bekannten Text nur zur Aufführung bringen.
Vielmehr improvisieren sie und stellen damit zugleich die situative Ordnung permanent neu her.
Dazu setzen sie auf ‚Ethnomethoden‘, also in der Sozialisation vermittelte Methoden der Hervorbringung sozialer Praktiken und eingeübte Kommunikationsbzw. Handlungsschemata. Letztlich teilen alle Akteure ein gemeinsames und
stillschweigend akzeptiertes Wissen darüber, nach welchen basalen Regeln die
‚Improvisation‘ im Handlungsvollzug verläuft. Dieses handlungsleitende Wissen
umfasst sowohl allgemeine Regeln des wechselseitigen Sprechens und der Interaktion als auch situationsspezifisches Wissen. Je nachdem, ob man sich bei einer
Arbeitsbesprechung, im Wartezimmer beim Arzt oder in der Fankurve bei einem
Fußballspiel befindet, gelten spezifische Regeln: Brüllen ist im Stadion sozial erlaubt, beim Arztbesuch nicht und auch in der Arbeitsbesprechung allenfalls als
Ausnahme.
Die Anwendung solcher Ethnomethoden in sozialen Interaktionen läuft in
‚Echtzeit‘ blitzschnell ab und es wird nur selten ganz bewusst, welche verinnerlichten Regeln und Methoden dem Handeln zu Grunde liegen. In professionalisierten Kommunikationssituationen wie der Wirtschaftskommunikation greifen Unternehmen auf die damit gegebene hohe normative Verbindlichkeit zurück, etwa
wenn sie Scripts für Call Center-Gespräche designen. Sie ‚beherrschen‘ dann mittels ausgefeilter Begrüßungs-, Thematisierungs- und Verabschiedungsszenarien
84
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
das der Alltagsinteraktion zugrunde liegende soziale Regelwerk und instrumentalisieren es. Dies fällt umso leichter, als dem Gegenüber die Flucht kaum möglich
ist – die eigenen Ethnomethoden legen einen ein Stück weit im Verhalten fest, so
handlungsentlastend sie oft auch sind.
Im Hinblick auf die Konversationsanalyse gilt es in beobachteten Situationen
zu bedenken, dass nicht die Regeln als solche analysiert werden sollen.1 Vielmehr
geht es primär um einen mikroskopischen Blick darauf, was die Akteure in der
Situation aufeinander bezogen tun: Wie sprechen sie miteinander und wie erzeugen sie dadurch wechselseitig die soziale Situation ihres Gespräches ? Aufgabe ist
es, Handlungsmuster zu identifizieren, mit denen soziale Ordnung hergestellt wird
und ggf. auf dieser Basis dann Rückschlüsse auf zugrunde liegende Regeln zu ziehen. Dagegen ist der ‚subjektiv gemeinte Sinn‘ oder die vermeintliche Intention
der Akteure für die Konversationsanalyse nicht von Interesse. Fokussiert wird
vielmehr, was ein Akteur tut und was dies beim Anderen bewirkt, der daraufhin
seinerseits wieder etwas tut und dadurch bei dem Ersten etwas bewirkt usw. usf.
Soziale Ordnungen werden also nicht als in (sozial geformten) Deutungen, Orientierungen, Relevanzen, Dispositionen oder Einstellungen der einzelnen Akteure
begründet verortet (was einem strukturalistischen Determinationsverhältnis der
Ordnung über die Akteure entspräche), sondern in der Praxis der interagierenden
Akteure, der wiederum bestimmte Methoden ihrer Hervorbringung zu Grunde
liegen.
Eine wichtige methodische Konsequenz dieser Perspektive ist es, dass die Konversationsanalyse sich allein auf das Gesagte konzentrieren kann, in dem die Aktivitäten der Gesprächspartner unmittelbar dokumentiert sind; prinzipiell unsichere Vermutungen über Intentionen der Akteure können also unterbleiben.
1.2
Turn-Taking
Schritt für Schritt wird Ordnung im Prozess der Interaktion durch die Akteure
erst hergestellt – und es handelt es sich dabei gewissermaßen um eine „lokale“, situativ begrenzte Ordnung für die Akteure, die durch Dritte mittels genauer Analyse erst rekonstruiert werden kann (z. B. Wissenschaftler anhand des Textmaterials oder Vorgesetzte durch Mithören). Dass an jedem beliebigen Punkt einer
Konversation ‚Ordnung‘ besteht, fasst die Konversationsanalyse mit der Maxime
„order at all points“: Jeder einzelne Beitrag der gesamten Interaktion strukturiert
1
Eine gute Einführung bieten z. B. Auer et al. 2011 sowie Deppermann 2008.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
85
sinnhaft den Ablauf und damit die Gesamtordnung des Gesprächs, da jegliche
sprachliche Aktivität sinnhaft Bezug auf die vorgängige(n) Äußerung(en) nimmt
und zugleich sprachliche Anschlussaktivitäten eröffnet. In allen Konversationen
finden sich an jeder Stelle jeweils Anhaltspunkte dafür, dass von den Akteuren
‚Ordnung‘ hergestellt wird. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass der jeweilige Beitrag zur Ordnungsbildung dem Interpreten einer aufgezeichneten Konversation unmittelbar zugänglich ist.2 Der Ablauf des Gespräches transportiert in
mehr oder minder verschlüsselter Weise die jeweils hergestellte ‚Ordnung‘. Ziel
der Konversationsanalyse ist es, eben diese Ordnung methodisch aufzuschlüsseln.
Das erfordert ein sequenzielles Vorgehen: Gespräche sind grundlegend durch den
Sprecherwechsel zwischen den Interaktionspartnern charakterisiert. Daher bildet
jeder Redebeitrag eines Beteiligten eine Sequenz. Es gilt, die Konversation schrittweise dahingehend zu analysieren, wie jede einzelne Sequenz an die vorhergehenden anschließt und welche Anschlussmöglichkeiten sie für die nachfolgenden
eröffnet. Das Zustandekommen der sequenziellen Ordnung des Gesprächs folgt
bestimmten Regeln.
Kinder müssen zuweilen ermahnt werden, anderen nicht „ins Wort zu fallen“ oder „dazwischenzureden“, weil sie die basalen Regeln der Gesprächsführung
noch nicht verinnerlicht haben. Alle im ethnomethodologischen Sinne kompetenten Gesprächsteilnehmer kennen hingegen die Regel, dass jeweils einer von
ihnen redet und die anderen abwarten müssen, bis der momentane Sprecher ‚fertig‘ ist.3 Einen ganz allgemeinen Zugriff auf die sequenzielle Abfolge von Konversationen stellt die grundlegende Systematik des turn taking von Sacks, Schegloff
und Jefferson (1974) zur Verfügung, die Sprecherwechsel fokussiert. Ausgangspunkt ist, dass zu einem beliebigen Gesprächszeitpunkt jeweils nur eine Person
über das Rederecht verfügt. Sie kann eine weitere Person explizit als nächsten
Sprecher benennen (offensiv etwa mit der Aufforderung: „Sag du auch mal was
dazu“) und damit das eigene Rederecht weitergeben. Tut sie dies nicht und beendet gleichwohl erkennbar ihren Beitrag (sei es, dass die Intonation das Ende
2
3
Auf Grund des flüchtigen Inhalts von Konversationen ist es erforderlich, diese auf Ton- oder
Videodatenträger aufzuzeichnen und anschließend zum Zwecke der Interpretation zu verschriftlichen. Dazu werden sehr kleinteilige Transkriptionsregeln verwendet, die auch parasprachliche
Laute, Prosodie oder Intonation beachten und in die Interpretation einbezieht (vgl. dazu Kleemann et al. 2009).
Das bedeutet nicht, dass Verletzungen dieser basalen Regel in der Praxis nicht vorkommen. Sie
folgen aber ihrerseits gattungs- bzw. bereichsspezifischen zusätzlichen Regeln (z. B. an welcher
Stelle und in welcher Form ein Diskussionsteilnehmer einer Fernsehtalkshow dem jeweiligen
Sprecher ins Wort fallen kann). Die nachfolgenden Ausführungen orientieren sich zunächst an
einem idealtypischen ‚Normalgespräch‘.
86
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
eines Satzes anzeigt und die Person anschließend schweigt, oder sei es durch eine
explizite Konklusion, z. B. „mehr kann ich dazu nicht sagen“), so entsteht eine offene Situation. Das Rederecht erhält dann derjenige, der als nächster zu sprechen
beginnt; geschieht in dieser Hinsicht nichts, verbleibt das Rederecht beim vorherigen Sprecher. Im Extremfall redet dann keiner mehr und die Konversation
ist beendet.
Der Wechsel des Rederechts zwischen den Sprechenden vollzieht sich an sogenannten „transition relevant points“ (TRP). Dieser Punkt beschreibt jene Momente im Verlauf des Gesprächs, an denen das Rederecht wechselt, beibehalten
wird oder auch umkämpft ist. Formalisiert lauten die basalen Regeln wie folgt (vgl.
Dittmar 1997; C = current, N = next speaker):
Regel 1 (wird beim ersten TRP eines Redebeitrags angewandt):
a) Wenn C im Laufe eines Redebeitrages N als nächsten Sprecher wählt, dann
muss C zu reden aufhören und N als nächster reden, wobei die Redeübergabe
bei dem ersten TRP- nach der N-Wahl erfolgt.
b) Wenn C N nicht wählt, kann sich jeder beliebige andere Teilnehmer selbst
wählen; der erste gewinnt das Recht auf den nächsten Redebeitrag.
c) Wenn C N nicht gewählt hat und sich kein anderer Teilnehmer gemäß b) selbst
wählt, kann C (ist jedoch nicht verpflichtet) den Redebeitrag fortsetzen (d. h.
das Recht auf einen weiteren Redebeitrag beanspruchen).
Regel 2 (wird bei allen folgenden TRPs angewandt):
Wenn C Regel 1 c) angewandt hat, dann gelangen Regeln 1 a) – c) zur Anwendung, und dies geschieht rekursiv an dem nächsten TRP, solange bis der
Wechsel vollzogen ist.
Diese Systematik erfasst idealtypisch die alltagskulturell durch die Akteure geteilten Grundregeln für einen legitimen Sprecherwechsel in Kommunikationssituationen. Gerade durch diese Ausrichtung kann dem häufig weitaus dynamischeren
Ablauf von realen Gesprächen Rechnung getragen werden, da die turn-takingRegeln eine nähere Bestimmung der Abweichungen (z. B. Durcheinander reden)
ermöglichen. In verschiedenen sozialen Situationen unterliegen die Basisregeln
also jeweils unterschiedlichen, den Sprechenden jeweils mehr oder weniger vertrauten Anwendungsnormen. Es ist nun eine empirische Aufgabe zu bestimmen,
in welchen Situationen welche Regeln im Detail herrschen.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
87
Dass jemand das Rederecht besitzt, heißt nur selten, dass alle anderen Gesprächsteilnehmer währenddessen völlig stumm wären. So ist es in Alltagsgesprächen üblich und zuweilen sogar notwendig, dass ein Zuhörer dem Sprecher fortlaufend sogenannte Hörersignale, beispielsweise in Form eines kurzen „mhm“
oder „ja“, gibt, die seine fortgesetzte Aufmerksamkeit bekunden.4 Auch parasprachliche Elemente wie Lachen oder Räuspern können Reaktionen auf den
Redebeitrag darstellen. Solche Signale haben unter Umständen einen Einfluss auf
den weiteren Redebeitrag des aktuellen Sprechers, ohne das Rederecht unmittelbar zu beschneiden. Sie sind folglich in die Analyse eines Gesprächs mit einzubeziehen, da sie als scheinbare Grenzfälle der Regel „order at all points“ Reaktionen
des Sprechenden hervorrufen kann: z. B. den Bezug auf das soeben Gesagte und
eine ad-hoc-Einschätzung des Hörersignals als Impuls für die folgende Äußerung
(oder eben den Verzicht auf das Rederecht). Letztlich sind also weniger die Signale an sich, sondern die Effekte der Lautäußerung auf das Gespräch und dessen
Ordnung von Interesse.
Hinzu kommt, dass es sich bei Formen der Kommunikationsarbeit wie auch
in der Arbeitskommunikation selten um herrschaftsfreie Räume handelt – in der
Regel werden z. B. sachliche Anforderungen wie die in betriebliche Leitlinien
und Vorgaben gegossenen Intentionen des Unternehmens wirksam, wie auch das
Kommunikationsmedium selbst die Kommunikationssituation als technisch vermittelte konstituiert (vgl. Kleemann / Matuschek 2003a). Aus arbeitssoziologischer
Perspektive ist sie damit prinzipiell als Ineinandergreifen von betrieblichem und
individuellem Handeln und damit als spezifisch gerahmte (Wirtschafts-)Kommunikation zu verstehen. Daher ist es sinnvoll, entsprechendes Kontextwissen systematisch in die Analyse der Kommunikate einzubeziehen – wie dies in der Konversationsanalyse auch üblich ist. (vgl. Abschnitt 5).
2
Methodische Vorgehensweise der Konversationsanalyse
Die Arbeitsschritte der Konversationsanalyse lassen sich in Erhebung und Datenaufbereitung einerseits und die eigentliche interpretative Arbeit andererseits unterteilen. Im vorliegenden Beitrag wird der Schwerpunkt der Darstellung auf den
zweiten Teilaspekt gelegt; zum besseren Verständnis sei aber kurz auch auf Fragen
der Datengewinnung und -aufbereitung eingegangen.
4
Das ist besonders bei Telefonaten erforderlich, da hier die Aufmerksamkeit allein über den akustischen Kanal und nicht gestisch oder mimisch bekundet werden kann.
88
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Datenerhebung
Konversationsanalytische Untersuchungen beziehen sich auf Kommunikation in
‚authentischen‘ Alltagssituationen, die nicht von den Forschern initiiert worden
sind. Grundlage ist ein nonreaktives Verfahren der Datenerhebung: Gewonnen
werden „natürliche Daten“ von Gesprächen, die im Idealfall mittels audio- oder
audiovisueller Datenträger ohnehin aufgezeichnet werden (z. B. aus juristischen
Gründen aufgenommene Feuerwehrnotrufe oder zu Trainings- bzw. Evaluationszwecken von der Organisation erfasste Call-Center-Gespräche). Insoweit kein
vorhandenes Material von Forschern genutzt werden kann, sondern Aufzeichnungen auf Initiative der Forscher eigens angefertigt werden, ist auf das Vermeiden jeglicher Beeinflussungen der natürlichen Gesprächssituation zu achten. Empirische Grundlage von Konversationsanalysen sind jeweils Gespräche gleicher
Art (seien es nun telefonische Notrufe, Arbeitsbesprechungen, therapeutische Sitzungen oder Tischgespräche), die in angemessener Anzahl und Varianz vorliegen
sollen.5 Ziel ist jeweils, die besonderen Merkmale der Gesprächsart in ihrer Struktur zu ermitteln sowie spezifische sprachliche Mechanismen zu identifizieren und
in ihrer Funktion zu erfassen.
Transkription
Der erste grundlegende Schritt der Konversationsanalyse besteht darin, die auf
Ton- oder Video-Datenträger aufgezeichneten Gesprächsdaten zu transkribieren.
Dabei ist in jedem Fall eine Transkriptionsweise erforderlich, die auch Aspekte
wie gleichzeitiges Sprechen mehrerer Akteure, Tonlagen, Pausen, Dehnungen von
Wörtern, das Verschlucken von Silben oder parasprachliche Elemente wie lautes
Atmen erfasst, die möglicherweise eine Bedeutung für die Interpretation haben.
Die wechselseitige, bisweilen parallele Bezugnahme der Teilnehmer aufeinander
lässt sich in „Partiturschreibweise“ darstellen, bei der zwei (oder mehrere) besonders gekennzeichnete, untereinander stehende Zeilen parallel zu lesen sind. Ge5
In Bezug auf angemessene Anzahl und Varianz kann an dieser Stelle lediglich auf die grundlegenden Überlegungen der Grounded Theory hingewiesen werden, in deren Konzept des ‚theoretical sampling‘ auf die Frage nach der Sättigung des Theoriebildungsprozesses eingegangen wird
(Glaser / Strauss 1998). Die Fortführung von Erhebungen bzw. Analysen ergeben sich aus dem
Stand der konzeptuellen Dichte – sind gedankenexperimentell weitere inhaltliche Aspekte denkbar, sollte entsprechendes Material erhoben werden bzw. die vorhandenen Daten dementsprechend einer weiteren Analyse zugeführt werden.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
89
nerell gilt in der Konversationsanalyse, dass für die Transkription nur objektiv zu
bestimmende Aspekte von Interesse sind, die jegliche vorschnellen Interpretationen vermeiden. So kann man etwa mit einem Klammerzusatz „(lautes Einatmen)“
ein hörbares nichtsprachliches Ereignis dokumentieren. Eine aufgrund des Tonfalls unterstellte Ironie in einer sprachlichen Äußerung hätte dagegen nichts in der
Transkription verloren, da es sich um eine Interpretation und nicht um eine reine
Wiedergabe dessen handelt, was zu hören ist. Konversationsanalytische Transkriptionen sollen sich solcher Interpretationen enthalten.6
Sequenzielles Auswertungsverfahren
Der nach Erhebung und Transkription erste analytische Schritt der Konversationsanalyse ist die nach formalsprachlichen Kriterien vorgenommene Sequenzierung in einzelne voneinander abgrenzbare Einheiten. Die Sequenzen werden
dann jede für sich in ihrer Form und Funktion und in ihrer Abfolge genauer bestimmt (z. B. Begrüßung oder Verabschiedung als klar zu isolierende Einheiten).
Dadurch erhält man die Ablaufstruktur des einzelnen Falles in enger Fokussierung auf seine sprachliche Struktur. Zwei weitere Schritte kommen im weiteren
Verlauf der Auswertungen hinzu: die Einbeziehung von Kontextwissen über den
Untersuchungsgegenstand und Fallvergleiche. Diese drei Schritte stehen nicht in
einer linearen Abfolge, sondern werden integrativ aufeinander bezogen, um die
Einzelfälle genauer und auf rekursive Art und Weise zu durchdringen. Abweichend von diesem Vorgehen erfolgt die Darstellung der einzelnen Schritte nachfolgend in linearer Reihung.
Zu Beginn geht es um den empirischen Einzelfall: Sein Aufbau wird anhand
voneinander abgrenzbarer Einheiten, den Sequenzen, formal zergliedert. Das offensichtlichste Kriterium der Sequenzierung ist der oben angesprochene Sprecherwechsel. Es ist Aufgabe der Sequenzierung, zu bestimmen, inwieweit mehrere
der Redebeiträge eine sprachlich-funktionale Einheit bilden und als übergeordnete Sequenz gelten können, etwa wenn sich die Gesprächspartner gegenseitig
begrüßen oder in komplexen Frage-Antwort-Sequenzen agieren. Neben solchen
Paarsequenzen können feinere Sequenzen auch innerhalb eines Redebeitrags nach
ihrer unterschiedlichen sprachlichen Form und / oder Funktion bestimmt werden.
Große wie kleine Sequenzen ergeben insgesamt die Sequenzstruktur oder sequen6
An dieser Stelle kann kein umfassender Einblick in Transkriptionsmethoden gegeben werden.
Vgl. weiterführend etwa Dittmar (1997).
90
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
zielle Organisation des Gesprächs. Es gilt, die Art und Weise zu analysieren, wie
einzelne Sequenzen aufeinander Bezug nehmen und eine zeitliche Abfolge hergestellt wird.
Es geht bei der konversationsanalytischen Sequenzanalyse nicht primär darum, einzelne Äußerungen zu isolieren, um sich ihnen dann intensiv zu widmen –
vielmehr soll entsprechend der Maxime „order at all points“ insbesondere der
jeweiligen Einbettung einer Textstelle in den Gesprächsverlauf Beachtung geschenkt werden, da jede Gesprächssequenz die nachfolgenden strukturiert und
auf die vorherigen Bezug nimmt. Den Text von Beginn an unter dem Gesichtspunkt seiner sequenziellen Abfolge zu lesen, würdigt den faktischen Verlauf der
Konversation und vermeidet Vorgriffe unter Bezug auf spätere Stellen, die den
Kommunizierenden ja zum Zeitpunkt der jeweiligen Äußerung auch nicht bekannt waren. Sind damit einerseits Bezüge zum vorher Gesagten erwartbar, dokumentieren sich auch Folgeerwartungen der Gesprächsteilnehmer – etwa dass
auf eine Frage eine Antwort erwartet wird. (In realen Gesprächssituationen sind
regelmäßig Brüche mit dieser Normalitätsvorstellung zu verzeichnen, deren Systematik es ebenfalls zu erfassen gilt.)
Die Sprecherwechsel dokumentieren die Dynamik des Gespräches und eröffnen dadurch weitere Erkenntnisse: Ein Sprecherwechsel kann glatt verlaufen, d. h.
beide Sprecher halten sich an gesellschaftliche Konventionen, mit der üblichen
kurzen Pause zwischen den Beiträgen. Auch hier sind Abweichungen zu verzeichnen: z. B. jemand nicht ausreden lassen, einen Satzanfang des Gesprächspartners unterbinden, Satzabbrüche, mehrmaliges Ansetzen zur eigenen Rede, Ausrufe ohne weitere Erläuterungen („Aha !“), parasprachliche Eingaben (wie lautes
Atmen) oder auch Stille.
Im Rahmen der sequenziellen Analyse gilt es daher, sprachliche Besonderheiten zu reflektieren, insbesondere die Bedeutung von:
■
■
phonetischen Phänomenen (Dialekt, Lautbildung),
prosodischen Elemente (d. h. Intonationen, Lautstärke, Tempo- / Rhythmuswechsel, Pausen, etc.),
■ den Gebrauch der Grammatik (z. B. in der Wortfolge und etc.),
■ Lexik (Wahl von Fachbegriffen oder Jargons etc.) sowie
■ Stilistik (Redewendungen, Metaphern, sprachliche Formeln etc.).7
7
Vgl. dazu z. B. die Einführungen von Schwitalla (1997), Linke et al. (1996).
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
91
Bei alledem ist zu fragen, warum diese Merkmale so angewandt wurden und welche Wirkungen Redebeiträge dadurch erhalten. Um deren Bedeutung zu erkennen, ist beispielsweise die Beachtung von Widersprüchen in der Rede ebenso
wichtig wie weitschweifige Ausführungen eines Arguments. Auch hier gilt: „order
at all points“.
Die Daten sind zunächst kontextfrei zu analysieren, d. h. die soziale Interaktion soll aus sich heraus ohne Rückgriff auf ggf. vorhandenes Wissen rekonstruiert
werden. Auch dies dient als Selbstverpflichtung, den Blick unmittelbar auf den
Ablauf der aufgezeichneten und transkribierten Interaktion zu richten. Erst danach bzw. im Erkennen nicht rein sequenziell interpretierbarer Daten können zusätzliche Informationen über den Kontext eines Gesprächs, also gesprächsexterne
Informationen beispielsweise über Besonderheiten des verhandelten Vorgangs,
die beteiligten Personen oder den institutionellen Rahmen hinzugezogen werden.
Das Hinzuziehen von Wissensbeständen, die den Forschenden zugänglich sind, ist
also produktiv für die Konversationsanalyse, wenn auch im Ablauf der Interpretation zunächst zeitlich nachrangig. Dazu zählen Kenntnisse über Bedingungen
des Handelns im jeweiligen Untersuchungsfeld ebenso wie über Besonderheiten
der Kommunikation in bestimmten Situationen, Milieus oder Kommunikationsformen oder allgemein soziologische bzw. linguistische Wissensbestände z. B.
über allgemeine Höflichkeitsregeln und Umgangsformen. Insbesondere Praxiswissen über das relevante Feld kann helfen, im Gespräch vorkommende Begriffe
oder Sachverhalte richtig verstehen zu können – ein bloß abstrakt bleibendes Wissen reicht häufig nicht aus, um das für die Gesprächsanalyse notwendige Verständnis einzubringen.
Fallübergreifende Analyse
Der Fallvergleich zielt darauf, Gleichförmigkeiten aller Art auszuloten, die zwischen einzelnen Fällen des Datenkorpus bestehen, zum Beispiel im Hinblick auf
die Verlaufsstruktur der Gespräche oder in Bezug auf soziale Mechanismen bzw.
Prozesse, die sich innerhalb von Gesprächen identifizieren lassen. Das Vorgehen
folgt wiederum einer inhaltlich offenen Logik der Entdeckung von Mustern im
Einzelfall wie im Vergleich über Einzelfälle hinweg – gerahmt vom jeweiligen Untersuchungsinteresse der Forschenden. Ein weiteres Ziel des Fallvergleichs besteht darin, systematische Unterschiede zwischen Fällen herauszuarbeiten. Gemeinsamkeiten wie Unterschiede lassen sich wiederum daraufhin untersuchen,
ob sie sich bestimmten Typen von Gesprächen zuordnen lassen: So können bei
92
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
empirischer Evidenz z. B. Notrufe in unterschiedliche Klassen (z. B. Polizeinotruf,
Feuerwehrnotruf, Meldungen via Autobahnnotrufsäule, Seelsorge etc.) aufgeteilt
werden. Dazu ist aber eine entsprechende vorgängige Typisierung erforderlich,
die wiederum zunächst Gleichförmiges zwischen Gesprächen eines Typus aufdecken muss. Auch hier geht es also um die Entdeckung von Gleichförmigkeiten, aber nicht bezogen auf den gesamten Datenkorpus, sondern auf Teile davon
und im Kontrast zu anderen Teilen, die ebenfalls untereinander Gemeinsamkeiten aufweisen.
3
Kommunikationsarbeit als Gegenstand der Konversationsanalyse –
am Beispiel der Kundeninteraktion im Call Center
Im Folgenden wird auf einen Datenkorpus zugegriffen, der Call-Center-Gespräche unterschiedlichen Ablaufs bei einer Direktbank („Fidi-Bank“) beinhaltet.8 In
den Interpretationen fließen Sequenzierung, Kontextwissen und Fallvergleich
sukzessive ineinander – damit wird bezweckt, den Ertrag der Konversationsanalyse in der finalen Zusammenfassung der Fälle herauszuarbeiten und so einen
Eindruck von der Leistungsfähigkeit der Methode zu vermitteln.
Arbeitssoziologisch betrachtet, besteht eine strukturelle Asymmetrie zwischen
Call-Center-Agent und Kunden, begründet allein schon mit unterschiedlichen
Zugängen der Beteiligten (vgl. Brünner 2000: 111), aber auch mit differenten Kompetenzen und Motivationen (Volpert 1975, 1981; Michelsen 1997; Kleinbeck 1997).
Die Agents verfügen über ein breites (datenbanktechnisch hinterlegtes) Fachwissen, Kenntnis der institutionellen Abläufe und hohe Sachkompetenz auf der
Grundlage alltäglicher, standardisierter Routinehandlungen. Ihre Gesprächskompetenz umfasst auch den instrumentellen Umgang mit Emotionen (der Bestandteil der Marketingstrategie des Unternehmens sein kann) und die professionell
ausgebildete Fähigkeit zur Empathie – gestärkt in Trainings der Bank. Nicht zuletzt strukturieren eigens entwickelte Bearbeitungs- und Gesprächsführungs-
8
Der Datenkorpus umfasst insgesamt 89 Telefonate von Agents mit Kunden einer Direktbank. Zusätzliches Kontextwissen wurde auf mehreren Wegen generiert: a) mittels einer vergleichenden
Dokumentenanalyse der Kommunikationskonzeptionen, der Rekrutierungskriterien und der
Schulungsunterlagen der „Fidi-Bank“; b) durch thematisch strukturierte Interviews mit CallCenter-Agents sowie operativen und administrativen Managern; und c) mittels ethnografischer
Beobachtungsstudien, die in Beobachtungs- bzw. Interviewprotokollen dokumentiert wurden
(für eine detaillierte Darstellung der Datengrundlage und des betrieblichen Kontexts vgl. Habscheid et al. 2006: 26 – 31).
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
93
konzepte die Sprach- wie Sachbearbeitungshandlungen der Mitarbeiter. Strukturierend für die Gesprächsführung der Agents in den nachfolgend exemplarisch
analysierten Call-Center-Gesprächen der Fidi-Bank wirkt das bankeigene Steuerungsinstrument „Effekt“, das im Sinne eines Orientierungsrahmens den Agenten
formale Leitlinien der Gesprächsstrukturierung (in Eröffnungs-, Analyse-, Lösungs- und Ausklangphase) vorgibt, die durch Handlungsorientierungen ergänzt
sind, die den Mitarbeitern die Möglichkeit eröffnen sollen, innerhalb allgemeiner Rahmenvorgaben erfahrungsbasiert ihren individuellen Gesprächsstil zu entwickeln, um im Kundengespräch möglichst „authentisch“ zu wirken (siehe ausführlicher dazu: Habscheid et al. 2006: 30 f.).
Auf Seiten der Kunden sind Kompetenz und Motivation ebenfalls von Bedeutung (vgl. Rieder / Matuschek 2003): Die Bank erwartet basale Kenntnisse über
Banktransaktionen, eine gewisse Gesprächskompetenz und ein effizientes Auftreten. Institutionelle Abläufe sind den Kunden aber dennoch weitgehend unvertraut, und die Perspektive ist auf ihren konkreten Einzelfall gerichtet, in dem sie
eine bestimmte Rolle einnehmen. Damit verbunden sind spezifische Emotionen,
die schnell in negative Gefühle einmünden können – insbesondere dann, wenn es
darum geht, eigene Ziele gegenüber der Bank durchzusetzen.
Die nachfolgend exemplarisch analysierten Gespräche aus der Fidi-Bank folgen den in Effekt gleichsam materialisierten Zielen: Servicegespräche von wenigen
Minuten Dauer, die bei größerer Komplexität der nachgefragten Dienstleistung
aber auch länger dauern können. Die angezielte rasche gemeinsame Definition
des Kundenanliegens und auch die kooperative Bearbeitung des Anliegens erfolgt
zumeist reibungslos. Beispiel 1 dokumentiert einen solchen Ablauf:9
Beispiel 1: Gespräch Fidi 216
A = Call-Center-Agent (m); K = Kunde (m)
08
A25: schönen guten Tag, hier ist die kundenberatung; ich
bin Daniel Berger?
K216: (Auslassung 4 Sek.)
will bei mir was=äh zurückholn.
A25: zurückholen. eine lastschrift hoffe [ich.
K216:
[jawoll.
A25: So: u:nd (.) wa:nn is das passiert herr (Auslassung 1
Sek.).
9
Für die Erklärung der verwendeten Transkriptionssymbole: siehe Anhang.
01
02
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04
05
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94
09
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25
26
27
28
29
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
K216: (Auslassung 1 Sek.)
A25: dritter siebter, (.) ja dAnn (.) sagen=sie=mir=noch
den auftraggeber?
K216: internationale schrägstrich ost.
A25: (--) tau:sendzwOhundertsiebnundsibbzig mark und
siebnunddreißig pfenninge?
K216: Genau.
A25: (--) u:nd das möchten sie wegen (.) widerspruch
zurückgeben lassen.=
K216: =ganz genau.
A25: Okay, kleinen augenblick, (4 Sek.) sO dann wiederhol ich
nochmal=lasse die lastschrift zurückgeben vom dritten
siebten (.) an die internationale, über
eintausendzwohundertsiebnundsiebzig Mark und
siebnunddreißig pfenninge.
K216: genau. is ungerechtfertigt.
A25: okay. dAs hab ich ausgeführt, herr (Auslassung 1 Sek.)
K216: bin ich ihnen sehr dankbar.
A25:
[danke=wiederhörn.
K216: (&&&&) tschü[ß.
A25:
[tschüß, schönen tag noch.
Das Gespräch ist durch eine unproblematische Verständigung gekennzeichnet:
Dem Call-Center-Agent ist trotz der nur kurzen Angabe des Anliegens (Z. 4)
nach der Begrüßungssequenz (Z. 1 – 3) schnell klar, worum es dem Kunden geht.
Nach kurzer Nachfrage (Z. 5: „eine Lastschrift hoffe ich ?“) und dem Einholen von
Informationen zum Zeitpunkt der Lastschrift (Z. 7) vollzieht er das notwendige
Procedere, beginnend mit der Erhebung notwendiger Daten (Z. 10 – 18) und sich
durch Bestätigung des Kunden vergewissernd. Der Kunde folgt entlang seiner
Fragen und zeigt durch prompte Antworten seine erfahrungsbasierte Kompetenz.
Mit der regelhaften Zusammenfassung der gewünschten Dienstleistung leitet der
Agent die Endphase des Gespräches ein (Z. 19 – 23). Der eigenen und ausschließlichen Zielstellung (Z. 4) wird bis zum Ende des Gesprächs nichts hinzugefügt – der
Agent belässt es dabei, den Auftrag auszuführen; die vom Arbeitgeber im Rahmen
des Effekt-Konzepts erwartete Standardformulierung „Kann ich sonst noch etwas
für Sie tun ?“ entfällt. Mit bestätigter Durchführung des Auftrages (Z. 25) und der
pointierten Danksagung des Kunden (Z. 26) beendet die gegenseitige Verabschiedung das Telefonat (Z. 27 ff.)
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
95
Etliche Gespräche bei der Fidi-Bank sind ähnlich unkompliziert wie das
obige – es handelt es sich dabei gewöhnlich um Routine-Interaktionen wie Überweisungen oder Kontostandsabfragen. Es kann aber auch zu kritischen Situationen
kommen: Sie werden durch Brüche in der Interaktion hervorgerufen, in denen die
Ko-Produktion der Dienstleistung fragil wird. Die Dienstleistungserbringung ist
dann erschwert und die Gespräche entwickeln sich in unvorhersehbarer Weise –
bis hin zum Abbruch. Das ist nur begrenzt trainierbar und die Definition bzw.
Bearbeitung des Kundenanliegens verläuft dann weniger klar strukturiert, wie das
nachfolgende Beispiel 2 zeigt: Der Kunde hat Probleme, eine Kontostandsangabe
im Online-Banking zu deuten und ein Anruf bei der Bank soll Klärung bringen;
das Gespräch verläuft nach einleitenden Sequenzen (Gesprächseröffnung, Benennung des Anliegens durch den Kunden, Identifizierung des Kunden durch Kundennummer und Geheimzahl sowie Problemeingrenzung) wie folgt weiter:
Beispiel 2: Fidi 208
A22 = Call-Center-Agent (m); K208 = Kunde (m)
84
85
86
87
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89
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100
101
102
103
104
K208:
[und wo und wo krieg ich
denn unten die (-) äh (-) wieso steht da gesAmtsumme
sAldo? (.) müsste nicht eigentlich haben sein? Oder
(--) heißt das halt so?
A22: ah ähm meinen sie jetzt auf der übersichtsseite?
K208: ja;
A22: da ham sie zwei fenster (.) eine seite oben eine seite
unten
K208: ja=
A22: =oben sind ähm die beiden kOnten also einmal das
gemeinschaftskonto einmal das einzelkonto ersichtlich
.hhh=
K208: ja
A22: =und wenn sie dann jeweils eins anklicken (.) kriegen
sie im unteren feld den aktuellen stand nochmAl.
K208: ja wo muss=ichn da anklicken? (.) einfach mittendrauf?
A22: ja klicken sie einfach mittendrauf auf (.) das konto
im oberen feld.
K208: da mAcht er nix.
A22: und dann sehen sie Unten das zins-girokonto (-) dann
definitiv mit dem stand oder?
96
105
106
107
108
109
110
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
K208: ja da steht aber saldo viertausendeinhundertdreißig.
(1.5) ist doch eigentlich ein haben oder?
A22: viertausendeinhundertdrEIßig. das sind die beiden
konten zusammengerechnet.=
K208: =sehn se sehn se.=
A22: =im oberen bereich.
Die Sequenz dokumentiert, dass Mitarbeiter und Kunde sich nicht verständigen
können. Der Kunde verwechselt in Zeilen 84 ff. den Fachterminus „Saldo“ – d. h.
die Differenz zwischen „Soll“ (Verbindlichkeiten) und „Haben“ (Guthaben) – mit
dem (auch phonetisch ähnlichen) „Soll“ und befürchtet eine Überziehung des
Kontos. Der Agent dagegen geht in seiner Nachfrage ab Zeile 88 (und in Zeile 89
durch den Kunden darin bestärkt) davon aus, dass Probleme mit der Nutzung
des Online-Banking-Systems bestehen (was durchaus zutreffen kann). Dass der
Kunde fachliche Begriffe verwechselt, wird seitens des Agents jedoch nicht registriert, obwohl der Kunde dem Agenten eine entsprechende ‚alternative‘ Deutungsmöglichkeit der Situation explizit anbietet („Oder(--) heißt das halt so?“, Z. 86 f.).
Auch die Wiederholung in Zeile 105 („ist doch eigentlich ein haben oder“) erreicht
nicht das Ohr des Agenten. Dieser verharrt in der Normalitätserwartung, einen
kompetenten Durchschnittskunden als Gegenüber zu haben, wie er Gegenstand
der Schulungen ist. Mit Zeile 102 verstärkt sich dies noch dadurch, dass der Agent
auf den Einwurf des Kunden („da mAcht er nix“) nicht eingeht und in seiner Normalitätsvorstellung verbleibt. Unterschiedliche Kompetenzen der Kunden werden
durch Effekt nicht berücksichtigt, was letztlich im obigen Beispiel zur gesteigerten
Irritation führt. Kunden mit nur geringer Erfahrung passen nicht zu den Vorstellungen, die sich das Unternehmen von seinen Konto- und Depotinhabern macht,
und entsprechend bleiben die Schulungen an dieser Stelle unterkomplex. Die
von der Bank vorgesehene Gesprächsstruktur ist in solchen Fällen schwer umzusetzen; der Gesprächserfolg wird der individuellen Kommunikationsfähigkeit
der Mitarbeiter überantwortet, ohne dass präventive Formulierungen oder Gesprächsstrategien vorhanden sind. Das Ausbleiben der erwarteten Kompetenzen
kann also die gemeinsame Ko-Produktion erschweren oder gar unmöglich machen, ebenso wie das Fehlen einer gemeinsamen Zielsetzung.
Einen in anderer Hinsicht kritischen Gesprächsverlauf bildet Beispiel 3 ab:
Es handelt sich um eine Aushandlung über eine vom Kunden als unzureichend
empfundene Leistung der Bank. Der Kunde erkundigt sich über den Bearbeitungsstand einer überfälligen Ertragsgutschrift aus einer Wertpapieranlage bei
einer Landesbank auf sein Konto. Das Ausbleiben wurde zuvor bereits telefo-
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
97
nisch moniert. Im aktuellen Gespräch rekapituliert er nach Nennung des Anliegens und seiner Registrierung im Informationssystem den bisherigen Verlauf der
Fallbearbeitung. Die Agentin ruft den Vorgang im Informationssystem auf und
macht sich ein Bild, das sie den Kunden kommuniziert: Ein Kollege der Fachabteilung habe bei der Landesbank eine Anfrage gestellt, auf deren Beantwortung
man warte. Der Kunde verweist darauf, bereits gebeten zu haben, sich telefonisch
zu erkundigen und setzt fort:
Beispiel 3: Gespräch Fidi 120
A14 = Call-Center-Agentin (w); K120 = Kunde (m)
081
K120:
082
083
084
085
086
087
088
089
A14:
K120:
A14:
A14:
K120:
K120:
090
091
092
A14:
K120:
093
094
095
096
097
A14:
K120:
100 A14:
101 A14:
102 K120:
098
099
ich bin selber
bankkaufmann und weiß eigentlich, wIE in so ner
wertpapiertechnik was Abgeht; und [(ich &&&) und vierzehn
[ja.
tage sind definitiv zu lAng; [(-) dafür dass/ [
[m-hm.
[sie ham
(völ[lig)/
[weder/ das kann weder an den überweisungszeiten noch
sonst irgendworan liegen; da muß irgendwas schief
gelau[fen sein.
[muss was schief gelaufen sein, ja.
und (-) weil ich mir da nun berechtigte sorgen mache, hab
ich den kollegen gebeten da einfach Anzurufen und
nachzufragen. weil Ich kann ja schlecht bei der sächsischen
<<lächelnd10:> landesbank anrufen> und fragen warum die fidibank probleme bei der (-) äh:m erträgnis-<<lächelnd:>
verbuchung [hat>.
(der wird mir) sagen war
[<<lächelnd:>mhm.>
schön [dass sie hier anrufen, aber/[
[((lächelt))
[mer kriecht keine
aUskunft, da haben [sie recht.
[genau; (-) ja. und wenn man das wieder
10 Im Gespräch nutzten beide Probanden einen betont heiteren Sprechstil, der hier mit dem Begriffen ‚lächelt‘, ‚lächelnd‘ umschrieben wird, um die Transkription nicht komplizierter zu machen.
Ob ein solcher Schritt zulässig ist, muss vor dem Hintergrund der Forschungsfrage entschieden
werden – hier wurde er aus Darstellungsgründen präferiert.
98
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
103
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A14:
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110
K120:
A14:
111
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114
115
116
K120:
A14:
schriftlich alles macht; das dAUert einfach zu lange.
es=ist für ne bAnk dann wirklich
(Auslassung 1 Sek.)
Allerdings war uns (.) äh:m- (.) also hier ist (-) des=des
wEItere vorgehen Is auch so; also die anfrage wurde
schrIftlich gestellt;
(&&&&&&&&)
und (.) wir müssen da auf antwort wArten. das geht auch
nicht telefonisch. (.) des geht [über die (--) äh (-) des
[warUm nicht?
geht über ne fachabteilung; (-) wir selber ham gar keinen
kontakt hier direkt zur (-) es el be:. sondern das geht
über die fachabteilung; und die macht des schriftlich.
und in der regel erhält sie auch ziemlich schnell antwort.
Vor dem Hintergrund seiner eigenen Ausbildung als Bankkaufmann reklamiert
der Kunde die fachliche Kompetenz, konstatieren zu können, dass ein zu klärender Fehler im Ablauf vorliegt. Selbst der Landesbank gegenüber nicht handlungsmächtig, erwartet er eine telefonische Klärung durch die Fidi-Bank. Hatte
die Agentin seine Ausführungen zuvor mehrfach bestätigend kommentiert, entgegnet sie – in mehreren Anläufen ansetzend (Z. 106 f.) –, dass eine schriftliche
Anfrage dem üblichen Verfahrensweg entspräche. Die kategorische Schließung
ihres Argumentationsganges „das geht auch nicht telefonisch“ (Z. 110 f.) wird vom
Kunden unmittelbar hinterfragt („warum nicht ?“, Z. 113). Zur Begründung wird
angeführt, dass die Anfrage von einer Fachabteilung und nicht vom Call Center
durchgeführt werde – sie nimmt sich damit zugleich aus der Schusslinie: Mit einer
erneuten kategorischen Feststellung („die macht des schriftlich“, Z. 115) wird diese
als jenseits des eigenen Einflussbereichs autonom agierende Einheit der Fidi-Bank
vorgestellt. Dadurch weist sie alle Verantwortlichkeit der Call-Center-Mitarbeiter
für die Verzögerung von sich. Zugleich wird darauf verwiesen, dass schriftliche
Anfragen üblicherweise schnell beantwortet werden; der konkrete Fall wird damit
zur Besonderheit, die nicht allein der Fidi-Bank zuzurechnen ist.
Beispiel 3 dokumentiert zum Teil konfligierende Interessen der Gesprächspartner, die sie unter Bezug auf je gesonderte Kompetenzen verfolgen: Der Kunde
verweist auf seine Fachkompetenz gepaart mit Hinweisen auf den ‚gesunden Menschenverstand‘ und stellt ironisierend fehlende eigene Handlungsmöglichkeiten
(Z. 94 – 99) dar, um seinen Wunsch nach einer mündlichen Anfrage durch die
Fidi-Bank zu betonen. Auf der rhetorischen Ebene anerkennt die Agentin des
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
99
Öfteren die prinzipielle Berechtigung des Kundenanliegens, wodurch auch die
prinzipielle Bereitschaft der Fidi-Bank zur Behebung des Problems dokumentiert
wird; zugleich weist sie aber den konkreten Wunsch mit Verweis auf prinzipiell
angemessene formale Abläufe der Bank zurück. Der Kunde hat demnach ein berechtigtes Anliegen, seinem Lösungsansatz wird aber nicht entsprochen. Die Gesprächsführung bleibt auf beiden Seiten trotz unterschiedlicher Interessen bezüglich des zu erreichenden Ziels sachlich.
Demgegenüber dokumentiert das nachstehende Beispiel 4 eine Konstellation,
die sowohl von situativ divergenten Zielsetzungen als auch von einer auf Seiten
des Kunden sozial inadäquaten Kommunikationsweise geprägt ist.
Beispiel 4: Gespräch Fidi 115
A14 = Mitarbeiterin (w); K115 = Kunde (m)
01
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23
24
A14: schönen guten morgen, hier ist die customer care
hotline der Fidi-Bank, ich bin petra maier.
K115: ja grüß gott etz wollt i grad einen
K115 dAUErauftrag machen [(-) und des (.) ge/
A14:
[ja?
K115 gelump funktioniert net,
A14: im internet? o[de:r/
K115:
[ja im Internet, da steht immer
K115: da, bitte morgen öh übermorgen ausfülln; so
ein kÄse <<acc> i=habs gestern a=schon probiert und
K115: da steht immer=s=gleiche drauf[.>
A14:
[mhm, mhm, (.)
A14: also wenn sie mi:m internet jetzt ä:h (-)
probleme haben; da kann ich sie (.)
weiterverbinden an unsere InternethOtline.
K115: naa (.) nh (-) da/ s=geht=um=n dAUerauftrag.
A14: mhm; da kann ich sie dann an die
A14: kundenberatung wei[terverbinden die hilft
K115:
[ja ja, dann machens=des
A14: [ihnen gerne. (.) aber wenn sie wie gsagt
K115: [schnell=amal.
A14: dann noch zum Internet(.) [äh/
K115:
<<acc + cresc> [i hAb zum
K115 internet keine probleme, [i hab zum
100
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
A14:
[keine
K115: [DAUERAUFTRAG probleme; schnEll=[schnEll.> .hhh=
27 A14: [(fragen)
<<all> [okay.>
28 A14: =<<all> ja.> geben sie mir bitte die
29
personennummer?
30 K115: mh; <<rall> des is> (.) äh (Auslassung 6 Sek.)
31 A14: so. da stell ich sie jetzt dIrekt durch
32
(Auslassung 2 Sek.) (&&) und die nehmen den dann
33 A14: gleich für sie auf; [den dauerauftrag; [ja?
34 K115:
[ja
[mh
35 A14: n kleinen moment dauerts; sie ham kEIne
36 A14: warteschleifenmusik.
37 K115: ja:
38 A14: sso. (.) wünsche ihnen noch en schönen
39
tag [(herr) (&&&&)
40 K115:
[ja ebenfalls
25
26
Der Kunde teilt unmittelbar nach der knapp erwiderten Begrüßungsformel der
Agentin sein Problem mit, dass die Einrichtung eines Dauerauftrags via Internet nicht funktioniere (Z. 3 – 6). Im Vergleich mit den anderen Gesprächen des
Korpus stellt sich das hier praktizierte Vorgehen des Kunden, seinen Namen im
Anschluss an die Begrüßungsformel nicht zu nennen, als ungewöhnlich dar und
verstößt gegen gängige Höflichkeitskonventionen. Die Grenze zur Unhöflichkeit
wird dann mit der die Verärgerung über die technische Infrastruktur der FidiBank zum Ausdruck bringenden Wortwahl („des gelump“, Z. 4 / 6) überschritten.
Die relativ diffuse initiale Darstellung des Kunden erfordert zunächst eine
dialogische Abklärung seines genauen Anliegens (Z. 7 – 27). Die Agentin beginnt
mit einer präzisierenden inhaltlichen Nachfrage (Z. 7), ihre sich als unzutreffend
erweisende Interpretation über die Intention des Kunden (Lösung eines Problems
mit dem Internet, Z. 13 – 15) strukturiert die Sequenz, die mit dem Versuch weitergeführt wird, im Sinne eines (vom Unternehmen als Leitlinie vorgegebenen)
möglichst umfangreichen Service eine umfassende Problemlösung herbeizuführen (erneuter Rekurs auf Internet als weitergehendes Problem, Z. 20 / 22).
Die Verärgerung des Kunden über die dysfunktionale Internet-Anwendung
besteht auch in der Präzisierung seines Problems (Z. 8 – 11) fort. Die kolloquiale
Wendung „so ein käse“ (Z. 9 – 10) steht außerhalb der sprachlichen Gepflogenheiten von Wirtschaftskommunikation. Während er dann formal adäquat auf
das vorgeschlagene Procedere durch Spezifikation seines Anliegens mit Ableh-
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
101
nung reagiert (Z. 16), aber den darauf bezogenen zweiten Verfahrensvorschlag
der Agentin billigt (Z. 19), kommt es auf den erneuten Hinweis der Agentin auf
die Internethotline zu einer sprachlichen Entgleisung des Kunden: die beschleunigte Redeweise mit sich steigernder Lautstärke (Z. 23 – 24 / 26) erhält durch die
angehängte, akzentuiert gesprochene Befehlsformel „schnell-schnell“ einen Anordnungscharakter, der die sofortige Ausführung der Weiterverbindung ultimativ
fordert. Die Gesprächspartnerin wird zur Befehlsempfängerin degradiert – der
Rahmen eines regulären Kundengesprächs wird gesprengt. Nach parallel gesprochenen Verstehensäußerungen (Z. 25 / 27) und einer unmittelbar nachfolgenden,
schnell gesprochenen Bestätigung („ja.“, Z. 28) übergeht die Agentin diese Regelverletzung mit dem Einstieg in die formale Prozedur der Identifikation des Kunden im Informationssystem der Bank (Z. 28 – 30) und geht nach anschließender
Darstellung des weiteren Verfahrens für den Kunden zu einer routinisiert freundlichen Verabschiedung über, die der Kunde wiederum mit einer äußerst knappen
Höflichkeitsformel erwidert.
Im vorliegenden Fall divergieren die Zielsetzungen des Kunden und der Agentin: Erwartet der eine die ‚sofortige‘ Problembehebung durch die Hotline und
nimmt sich das Recht, die Agentin als ‚Prügelknaben‘ für seine Wut über den
unzureichenden Internetzugang zu benutzen, strebt die andere eine Problemdiagnose und Serviceadministration nach dem üblichen Schema der Fidi-Bank
an. Das Gespräch ist geprägt von einer mangelnden Beherrschtheit des Kunden in
Verbindung mit dessen defizitärer sozialer Kompetenz: Die Agentin (als Person)
und ein aus seiner Sicht fehlerhaftes technisches System werden gleichgesetzt; Unhöflichkeit ist dominanter Gesprächsstil, mit dem die Agentin im Gesprächsverlauf zur bloßen Befehlsempfängerin degradiert wird. Zugleich kann das Anliegen
zu Beginn des Gesprächs nicht eindeutig nachvollziehbar dargestellt werden. Die
Agentin verkennt, dass es sich m einen ‚Sonderfall‘ handelt und dass bei einem
emotional erregten und auf eine rasche Lösung drängenden Kunden ihr routinehaftes Verfahren der ‚Servicemaximierung‘ durch ergänzende Dienstleistungsangebote verfehlt ist.
Konstellationen unkritischer bzw. kritischer Situationen im Call Center lassen
sich idealtypisch entlang der für die Ko-Produktion eines Gespräches wichtigen
Faktoren Kompetenz und Zielsetzung folgendermaßen systematisieren (vgl. Rieder / Matuschek 2003):
102
Tabelle 1
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Konstellationen unkritischer und kritischer Situationen
im Überblick
Kompetenz der Akteure
Verhältnis der Zielsetzungen der Akteure
Konvergent
Divergent
In Übereinstimmung
mit Erwartungen
Kooperative Interaktion
Potenziell konfliktträchtige
Interaktion
Nicht in Übereinstimmung
mit Erwartungen
Potenziell fehlerträchtige
Interaktion
Potenziell entgleisende Interaktion
1. In kooperativen Interaktionen agieren Call-Center-Agent und Kunde kompetent und weisen übereinstimmende Zielsetzungen auf. Kritische Situationen
treten nicht auf und Anliegen werden in angemessener Zeit korrekt ausgeführt.
2. Potenziell fehlerträchtige Interaktionen sind durch konvergente Zielsetzungen der Akteure gekennzeichnet, jedoch entspricht die Kompetenz eines oder
beider Beteiligten bezüglich der zu erbringenden Dienstleistung nicht den
Erwartungen des Dienstleistungsunternehmens.11 Mögliche Folge: Missverständnisse und Fehler im Verlauf der Interaktion.
3. In potenziell konfliktträchtigen Interaktionen agieren die Beteiligten kompetent,
verfolgen jedoch, mehr oder weniger offen, divergierende Zielsetzungen, die
sie durchzusetzen versuchen. Gewöhnlich ist das Kompetenzniveau beiderseits hoch und wird jeweils strategisch eingesetzt. Vorhandenes Fachwissen
und strategische Gesprächsführung halten trotz divergierender Zielsetzungen
die Kommunikation ohne denkbare verbale Ausfälle in sachlichen Bahnen.
4. Potenziell entgleisende Interaktionen entstehen zumeist, wenn geringe Kompetenz und Divergenz von Zielsetzungen zusammentreffen. Das kann auch auf
geschulte Agents zutreffen, etwa wenn die Rahmung eines Gespräches derart
selten vorkommt, dass Reaktionen nicht trainiert sind. Ein Beispiel hierfür aus
dem Korpus der Fidi-Bank-Gespräche ist ein (insgesamt 13 Minuten dauernder) Outbound-Call, der die Frau eines kurz zuvor verstorbenen Bankkunden
am Telefon erreicht. Die Witwe weist den Agent zu Beginn des Gesprächs auch
explizit auf das Ereignis hin. Sie ist desorientiert und fachlich überfragt, aber
der Agent vermag es nicht, sein (aus seiner Sicht berechtigtes und dringliches)
11 Im Hinblick auf die Agents sind solche Erwartungen explizit (Stellenbeschreibungen) oder implizit (z. B. Kenntnisse zum Telefonbanking, Fachtermini) ausformuliert.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
103
Anliegen zu vertagen und auf die besondere Situation empathisch zu reagieren. Er beschränkt das Gespräch auf geschäftliche Fragen, was zu divergenter
Zielsetzung führt und eine emotionalen Reaktion der Kundin hervorruft, die
schließlich das Gespräch beendet.
Die mittels Konversationsanalyse erarbeiteten Merkmale der sprachlichen Interaktion zwischen Agents und Kunden verdeutlichen einerseits strukturelle und andererseits situative Bedingungen der Gesprächsführung. Im Vergleich der Dokumentenanalyse der Schulungs- und Trainingskonzepte der Fidi-Bank mit realen
Gesprächen wird unter anderem deutlich, dass das Unternehmen mittels Effekt
a) eine idealisierte Vorstellung von den Kunden als gleichermaßen kompetente
und kooperative Partner und b) eine ebenso idealisierte Vorstellung von Standardverläufen der Gespräche transportiert, die als unterkomplex bilanziert werden müssen. Fehlgeschlagene Gespräche werden im Regelfall der mangelnden
Leistung der Agents zugeschrieben, sie basieren aber zum einen auf dem in Teilen verfehlten Kommunikationsansatz des Finanzinstituts selbst sowie zum anderen auf der an Effizienzkriterien orientierten Ausrichtung der Trainings, in denen
die quantitativ dominierenden weitgehend unproblematischen Situationen fokussiert werden. Erst im Vergleich zwischen arbeitsorganisatorisch abgesichertem,
einheitlichem Auftritt der Agents einerseits und den in den faktischen Gesprächssituationen emergierenden Gesprächskonstellationen andererseits sind Divergenzen und Belastungen als institutionell hervorgebrachte Probleme beschreibbar.
4
Arbeitskommunikation als Gegenstand der Konversationsanalyse
Stand im vorstehenden Kapitel die Kommunikationsarbeit von professionellen
Gesprächspartner einerseits und zumeist fachlichen Laien im Vordergrund der
Betrachtung, so geht es in diesem Abschnitt darum, Arbeitskommunikation – als
in organisationale Herrschaftsstrukturen und Hierarchien eingebettete Interaktion zwischen fachlich kompetenten Personen – aus konversationsanalytischer
Perspektive zu erfassen. Das soll nicht in der Intensität des vorangegangenen Abschnitts geschehen, sondern in Form einer beispielhaften Kurzdarstellung zweier
Kommunikationssequenzen im Cockpit eines Verkehrsflugzeuges.12
Piloten werden darauf trainiert, sich gemeinsam in standardisierte Arbeitsabläufe zu begeben (vgl. dazu Matuschek 2008) – vom gemeinsamen Check der
12 Für eine intensive Bearbeitung des gleichen Gegenstands vgl. Bergmann et al. 2008.
104
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Instrumente über das Abarbeiten von Kontrollaufgaben zur Interaktion in den
verschiedenen Phasen eines Fluges. Generell gilt für das Arbeitshandeln das VierAugen-Prinzip mit kommunikativer Absicherung. Dabei folgt auch die Kommunikation in hohem Maße standardisierten Mustern, die Eindeutigkeit und damit
Sicherheit erzeugen sollen – entsprechendes Verhalten wird langjährig eingeübt
und in regelmäßigen Tests überprüft. U. a. gehört dazu bei der Absolvierung von
vorgeschriebenen Standardprozeduren (v. a. Sicherheitschecks), das Verstehen
von Äußerungen des Kollegen durch genaue Wiederholung des Gesagten zu bestätigen. Eine sich an diesen Ziel orientierende Kommunikation stellt sich z. B.
folgendermaßen dar13:
PF = pilot flying (m); PM = pilot monitoring (m)
01 PF:
check lIst. (.) standa:rd (.)[
[stan[dard
03 PF:
[two:: seven
04 PM: standard two seven.
05 PF: after check out check list.[
06 PM:
[after check out check list.
02 PM:
Die Sequenz leitet die Überprüfung nach dem Start ein, die einem festgelegten
Procedere folgt, hier als „standard two seven“ für den Flugzeugtyp Boeing 727.
Pilot flying gibt vor und Pilot monitoring bestätigt dem Prinzip nach mit identischen Worten. Ein großer Teil der unmittelbar aufgabenbezogenen Kommunikation im Cockpit verläuft so, unterbrochen allerdings von Abstimmungen mit der
Flugsicherung, dem Bodenpersonal oder auch der Airline.
Im obigen Beispiel leitet PF in Z. 1 die Prozedur mit der üblichen Formel
„check list.“ ein und beginnt das Überprüfungs-Procedere in Z. 1 mit dem, allerdings mit einer Verzögerung in der zweiten Silbe gesprochenen, Wort „standa:rd“,
gefolgt von einer kurzen Pause („(.)“, Z. 1), bevor er (Z. 3) „two:: seven“ nachschiebt. Die Formel „standard [+ Zahlenfolge]“ steht zu Beginn der Überprüfungsprozedur; der Pilot flying benennt damit, nach welcher (vom „Muster“, also
dem Flugzeugtyp, abhängigen) Standardprozedur die Überprüfung durchgeführt
13 Die Gesprächsmitschnitte entstammen Aufzeichnungen während eines Streckenerprobungsfluges, an dem einer der Autoren im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Arbeit von Piloten
teilnehmen konnte. Es wurde 2007 aufgezeichnet. PF steht für Pilot flying (also denjenigen, der
aktuell für die Bewegung des Flugzeuges verantwortlich zeichnet); PM für Pilot monitoring, also
für denjenigen, der überwachende Tätigkeiten ausführt und den Funkverkehr führt.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
105
wird. PM bestätigt, nach PFs Innehalten bereits den ersten Teil dieser Sequenz
mit der Wiederholung des Wortes „standard“ (Z. 2) und folgt damit der grundlegenden Verhaltenssmaßregel, alle Einzeläußerungen des in der Situation ‚agierenden‘ PF im Wortlaut zu wiederholen. Er stellt so zugleich klar, dass er um den
an dieser Stelle einsetzenden Standardprozess weiß, aber auf die genaue Bezeichnung durch den PF warten wird. Das in der gedehnten Aussprache „two::“ zum
Ausdruck kommende nochmalige Zögern von PF in Z. 3 dokumentiert, dass PF
sich erst noch konzentrieren muss, um den aktuellen Flugzeugtyp im Rahmen der
Prozedur zu benennen.14
Die bestätigende Wiederholung „standard“ von PM in Z. 2 fungiert zugleich
als Hörersignal, dass PM die (unvollständige) erste Sequenz registriert hat, und
als Aufforderung an PF, entsprechend den vorgeschriebenen Routinen mit der
Prozedur fortzufahren (in dem er benennt, nach welchem Standard die folgende
Prozedur ablaufen wird). PF setzt in Z. 3, noch während PM seine Aufforderung
(Z. 2) formuliert, den begonnenen Prozess der Bezeichnung des Flugzeugtyps
fort; allerdings mit einem weiteren Zögern. Unmittelbar nach der vollständigen
Bezeichnung durch PF bestätigt PM in Z. 4 die nun vollständige (standardisiert
vorgegebene und insofern ‚erwartbare‘) Sequenz von PF. Die Mitteilung von PM
„standard two seven.“ zeigt an, dass er PF (richtig) verstanden hat und fordert PF
zugleich auf, die Prozedur fortzusetzen.
Dass PM bereits in Z. 2 auf die unvollständige Formel von PF in Z. 1 reagiert,
ist auch der spezifischen Situation der Besetzung von Cockpits geschuldet: Zwar
durchlaufen alle Piloten einer Airline dieselben Ausbildungsgänge und werden
auf ein bestimmtes, eben standardisiertes Verhalten eingeschworen und regelmäßig überprüft – zugleich fliegen die Piloten in wechselnden Zusammensetzungen,
so dass Piloten nicht über Routinen verfügen, wie der oder die jeweils andere
die Vorschriften in der Praxis im Detail umsetzt. Die Wiederholung von PM in
Z. 2 ist damit als Teil der situativen Aushandlung der Kommunikation im Cockpit zu werten: Beide Beteiligte wissen letzten Endes nur ungefähr, was kommen
wird und wie der andere kommuniziert; sie sind trotz Routinen im Flugbetrieb
Novizen in der aktuellen Situation der Zusammenarbeit. In den Zeilen 5 und 6
funktioniert dieser Prozess im wahrsten Sinne des Wortes buchstabengetreu nach
Vorschrift.
14 Ob sich der Pilot an dieser Stelle sammeln muss, schlicht unkonzentriert ist oder sich nochmals
gedanklich vergewissert, welchen Flugzeugtyp er fliegt, kann dagegen mit konversationsanalytischen Methoden nicht beurteilt werden – ist aber in ihrer Analyseperspektive auch nicht von
Interesse (vgl. Abschnitte 1 und 2) – vielmehr geht es darum, welche Ordnung sich durch diese
Pause einstellt.
106
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Das kurze Beispiel zeigt, dass auch die hoch geregelte Kommunikation im
Cockpit nicht ohne Friktionen verläuft und alle Trainings immer nur Annäherungen an einen Idealzustand darstellen können, die Piloten aber auf diesen Idealzustand optieren und sich in ihrer Kommunikation auf die Standardisierung beziehen, um den als sicherheitsrelevant angesehenen ‚human factor‘ gleichsam zu
kanalisieren.
Dass die Kommunikation während der Arbeit ausschließlich arbeitsbezogene Themen behandelt, ist weder in Call Centern noch im Cockpit Realität und
dürfte auch in allen anderen Arbeitsbereichen allenfalls eine Wunschvorstellung
der Verantwortlichen sein. Das folgende Beispiel verdeutlicht eine solche Abweichung; die Kommunikation spielte sich am Boden auf dem Weg zur Startposition
ab und behandelt zunächst technische Besonderheiten:
PF = pilot flying (m); PM = pilot monitoring (m)
01 PF:
die neunzig be: mit langsame spool? oder sin die alle normal?
die sind alle völlig meschugge eingestellt, also musste
03
gucken; ich hab kEIne ahnung, wie- (-) jetzt=hier=die=bahn=
04
foxtrott- (.) was die fürn spool hat; keine ahnung. also ist
05
nicht eins was fortläuft (4) sogar würd ich sagen (-) der
06
erste sollte kein neuling sein ((lacht leise))
07
(5)
08 PF: ich hatte geplant schöne TRAUM machen, mit alex (.) auf der
09
siebenhunderter[
10 PM:
[ja,[
11 PF:
[habe ich getauscht[
12 PM:
[ich hatte die
13
siebenhunderter jetzt vor zwei oder drei tagen gehAbt (2,5)
14
den ganzen tag mit wetterradar gekämpft, eis schon bei
15
scoreline und so; echt geil. (3) aber es ist schon gut,
16
also wenn flugfläche vierhundertzehn bei gewittern (.)
17
ist schon geil, wenn du da so hoch kommst, ist schon- (.)
18
natürlich auch noch gemein. (4) wir sind eigentlich fertig,
19
ne?
02 PM:
Mit einer initialen Doppelfrage (Z. 1) nach den Eigenarten der Triebwerke des
Flugzeuges, die eine verzögerte Annahme des Schubs (spool) betrifft, knüpft PF
an die vermeintlichen Erfahrungen PMs an. Hintergrund ist der Umstand, dass
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
107
Piloten selten dieselbe Maschine fliegen und daher Vergewisserung über das (jeweils divergierende) Start-, Flug- und Bremsverhalten der Maschine hilfreich
sein können (auch wenn prinzipiell hinreichende individuelle Kompetenz vorhanden ist, die Maschinen in jedem zulässigen flugtauglichen Zustand zu fliegen).
Die zweite Frage von PM in Z. 1 impliziert die vage Hoffnung, dass es sich um
eine normal eingestellte Maschine handelt (deren Bedienung keine besonderen
Anforderungen stellt). Die Antwort PMs verdeutlicht, dass über die den Fragen
zu Grunde liegenden Umstände nichts ausgesagt werden kann: Die angezeigten
Einstellungen seien völlig ‚meschugge‘ und PF müsse sich selbst herantasten und
sehen, wie er zurecht kommt – ‚also musste gucken‘ (Z. 2 f.). In Z. 3 f. unterbricht
PM seine Ausführungen zum Spool der Maschine kurz, um PF darauf hinzuweisen, welche Rollbahn er anzusteuern hat („jetzt=hier=die=bahn=foxtrott“), um
anschließend mit der Bewertung des Spools fortzufahren. Die Einschätzung „was
die fürn spool hat; keine Ahnung“ (Z. 4) bezieht sich darauf, dass PM wie PF über
keinerlei Erfahrung mit der konkreten Maschine im derzeitigen Wartungszustand
hat, den Spool daher nicht genau beschreiben kann (und will); solche Spekulation widerspricht der Rationalität des Handelns in der Luftfahrt, die hoch formalisiert nach objektiver Datenlage agiert. Mit der anschließenden Feststellung
„also ist nicht eins was fortläuft“ (Z. 4 f.) gibt PM seinem Gesprächspartner aber
eine Tendenz an: dass der Schub unregelmäßig hochfährt (was zugleich ein in der
Luftfahrt bekanntes Problem darstellt). Durch den Nachschub „sogar würd ich
sagen (-) der erste sollte kein neuling sein“ (Z. 5 f.) werden die technischen Voraussetzungen des Fluges als anfordernd klassifiziert, das leise Lachen zum Schluss
nimmt aber wiederum ein wenig die Schärfe aus der Aussage. Implizit erhebt PM
mit dieser Äußerung, die „Neulingen“ Probleme beim Start vorhersagt, den von
PF durchzuführenden Start der Maschine zu einer Bewährungsprobe für diesen –
eine Bewährungsprobe, die zugleich Vertrauen in die fliegerischen Kompetenzen
umfasst.
Nach einer Gesprächspause wechselt PF in Z. 8 f. das Thema, ohne auf die
vorherige Antwort PMs einzugehen. Damit schließt er das offene Thema Spool
ab, ohne dass ihm eine genauere Einschätzung des Triebwerkverhaltens möglich
wäre. Der Themenwechsel führt das Gespräch auf ein anderes Flugzeugmuster
neuerer Bauart, das zu fliegen für PF ein schönes Erlebnis darstellt. PM validiert
in Zeile 10 durch seine zwischengeschobene Bestätigung („ja,“) die Relevanz des
von PF angeschnittenen Themas und signalisiert durch die aufsteigende Intonation zugleich eigenen Redebedarf, woraufhin PF mit der elliptischen Fortführung
„habe ich getauscht“ (Z. 11) seine noch gar nicht recht begonnene Ausführung aus
Z. 8 f. abschließt. Ohne an PFs Äußerungen anzuschließen, setzt sich PM in seiner
108
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
nachfolgenden Erzählung (Z. 12 – 18) als mit dem thematisierten Flugzeugmuster
Erfahrener in Szene und erläutert schwierige Flugverhältnisse, die er als positive
Herausforderung erlebt hat. Nachdem PF seinerseits auf diese Erzählung nicht mit
Nachfragen oder Anmerkungen reagiert, kehrt PM zur Kommunikation über die
konkrete Arbeit zurück („wir sind eigentlich fertig, ne ?“, Z. 18 f.).
In beiden Teilsequenzen präsentiert sich PM als Führungspersönlichkeit innerhalb des Teams – er gibt Hinweise und Anweisungen, stellt die eigene Expertise
heraus (man sollte kein Neuling sein, Z. 6) und verweist auf eigene Erfahrungen.
Schließlich führt er das Gespräch wieder auf die engere Arbeitskommunikation
zurück (Z. 18 f.) und schenkt dem Procedere Aufmerksamkeit, nachdem PF das
Gespräch eher auf Randbereiche gelenkt hatte. Dies entspricht auch PMs Stellung
als Ranghöherer, die aber generell in kollegialer Weise gelebt wird. Teil der Kollegialität ist es, nicht nur sklavisch auf die Arbeitsaufgaben zu orientieren, sondern
im Gespräch zu versuchen, eine gemeinsame Verständigungsebene zu finden –
zugleich aber eine Voraussetzung für Handeln in der Teamstruktur. Das Gespräch
über Randthemen hat also seine begrenzte Berechtigung, muss aber konkreten
Anforderungen der Arbeitssituation jeweils strikt untergeordnet werden; zur Untermauerung dieser These wären im fortschreitenden Verlauf der Untersuchung
weitere Beispiele der Cockpit-Kommunikation heranzuziehen.
5
Erträge und Ergänzungsmöglichkeiten
konversationsanalytischer Zugänge
Die Konversationsanalyse ist im Kern ein formalanalytisches Verfahren: Im Mittelpunkt steht zunächst, wie Konversationen strukturiert sind und nicht, welche
Inhalte behandelt werden. Sie folgt einer ‚Logik der Entdeckung‘ von sprachlichen
Mustern bzw. Mechanismen. Analysiert werden dabei stets Konversationen gleicher Art – seien es Videokonferenzen, militärische Lagebesprechungen, psychotherapeutische Patientengespräche, telefonische Notrufe, Seminardiskussionen an
der Uni oder Tischgespräche.
So arbeitet etwa Bergmann (1993) in seiner Untersuchung zu Feuerwehrnotrufen sowohl deren kommunikative Verlaufsstruktur als auch in den Gesprächen
wiederkehrende Mechanismen und Regelmäßigkeiten heraus: Ersteres erreicht
er durch den vergleichenden Ausweis regelmäßig vorhandener Elemente und
ihrer Reihenfolge (z. B. Begrüßung, Verabschiedung), die einen typischen Phasenverlauf von Notrufen begründen (ohne dass jedes Element immer vorkommen muss, was wiederum als Abweichung charakterisierbar wäre und ggf. auf
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
109
besondere Bedingungen verweist). Mechanismen und Regelmäßigkeiten identifiziert Bergmann im Sinne einer ‚Logik der Entdeckung‘ anhand von Auffälligkeiten, an denen eine Arbeitshypothese angelegt wird, die anschließend systematisch
anhand des gesamten Datenkorpus überprüft wird. Auch hier geht es also um die
Entdeckung von Regelmäßigkeiten, deren Auftreten den besonderen Bedingungen der jeweiligen Gesprächsform bzw. -kontexte geschuldet sein kann.
Weitere Beispiele für den Ertrag von konversationsanalytischen Zugängen lassen sich international in aller Fülle finden; nachstehend sei exemplarisch auf einige Studien verwiesen.
In der Publikation „Fast food, fast talk“ beschreibt die amerikanische Soziologin Robin Leidner (1993) interaktive Dienstleistungsarbeit (interactive service
work) von der Schalter- oder Fensterbedienung im Schnellrestaurant über die
kommunikativen Routinen von Flugbegleitern bis zum Versicherungsverkauf
nach Skript. Die Organisation kommunikativer Tätigkeiten im Dienstleistungssektor erfolgt dabei über weite Strecken dem tayloristischen Vorbild der industriellen Rationalisierung manueller Arbeit. Deren Prinzipien bestehen u. a. darin,
komplexe Tätigkeiten zu zerlegen, zeitbezogenen zu planen, entsprechende Verhaltensmuster durch alltägliche Sozialisation, formale Instruktion und Training
sowie Kontrollinstanzen bei reduzierten Entscheidungsspielräumen der Subjekte hervorzurufen sowie eine Automatisierung von Teiltätigkeiten und die Anbindung menschlicher Arbeitsroutinen an technische Systeme zu unternehmen.
Entsprechende Konturen haben die Kommunikationsleistungen der Probanden
angenommen. Handelt es sich bei den Gesprächen z. B. um Telefonate in Call
Centern, werden oft zeitgleich die Kundendaten am Bildschirm aktualisiert. So
werden Gespräch und elektronische Dokumentation im Sinne der Effizienzsteigerung und Koordination miteinander verklammert und insoweit ein Instrument
der bürokratischen Herrschaft durch Organisation etabliert.
Das Beispiel des „London Ambulance Service fiasco“ (vgl. Heath / Luff 2000)
vom Herbst 1992 dokumentiert die Folgen schematischer Kommunikationsvorstellungen in konkreten Arbeitssituationen: Im Zuge einer Reorganisation im medizinischen Notfalldienst der britischen Metropole sollte die anachronistisch anmutende Praxis, eingehende Notrufe zunächst handschriftlich auf Papierzetteln
zu dokumentieren und dann via Funk mündlich an die Besatzungen der Fahrzeuge weiterzugeben durch ein modernes, eigens entwickeltes computergestütztes System ersetzt werden. Auf diese Weise sollten wesentliche Angaben aus den
Notrufen mit Standortinformationen der Krankenwagen automatisch verknüpft,
Zeitpläne erstellt und Anweisungen übermittelt werden. Sofort stellten sich Probleme ein: Das System verlangte nahezu perfekte Informationen zum Standort
110
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
der Krankenwagen, die aber von den Besatzungen nicht geliefert werden konnten.
Folge waren Fehleinsätze mit erheblichen Verzögerungen. Nur etwa 20 Prozent
der Krankenwagen trafen im vorgegebenen Zeitkorridor am Notfallort ein. Die
Probleme potenzierten sich, so dass schließlich eine Durchstellung bis zu zehn
Minuten dauerte, Listen dringlicher Fälle vom Monitor verschwanden und in Vergessenheit gerieten – kurz: Das Personal verlor den Überblick. Am zweiten Tag
etablierte man ein halb-manuelles Verfahren, am dritten Tag brach das System
zusammen und man kehrte zunächst zu Telefongespräch, Papier und Bleistift zurück. In der Analyse des Falles bemängelten Experten, dass die nur ihrer eigenen
Rationalität folgenden Verantwortlichen zu wenig beachtet hätten, wie die Beschäftigten in der alltäglichen Kommunikation mit anderen ihre Arbeit faktisch
vollzogen. Die anachronistisch erscheinenden Instrumente stellten funktionale
Umgebungen für Dokumentations- und Koordinationsaufgaben dar – man hatte
irrtümlich angenommen, dass formale Modelle und technische Systeme Veränderungen der Arbeits- als Kommunikationsabläufe bewirkten; dabei hatte man den
situierten, flexiblen und kontingenten Charakter von Arbeitskommunikation zu
wenig beachtet.
Formen rationalisierter Kommunikationsarbeit und ihre Folgen, wie die von
Leidner bzw. Heath und Luff beschriebenen Fälle, werden in der anwendungsorientierten Gesprächsforschung schon seit Längerem untersucht und hinsichtlich ihrer Chancen und Risiken ausführlich diskutiert (etwa bei Antos 1988;
Brünner 2000; Cameron 2000; Habscheid 2003). Dabei dominiert der Blick auf
interaktive Dienstleistungen, es liegen aber auch Untersuchungen etwa zu Notfalltelefonaten (Bergmann 1993) oder zur Cockpitkommunikation unter Piloten
bzw. zwischen Piloten und den Einrichtungen der Flugsicherung (Bergmann et al.
2008) vor. Hier wie dort gilt, dass vorfabrizierte Schemata und Formulierungsbausteine die Kommunikation von den Fähigkeiten und Entscheidungen des einzelnen Mitarbeiters unabhängig machen und als kognitive Stütze Abschweifungen
und Vergessen vermeiden helfen (Brünner 2000) bzw. gewisse Mindeststandards
an Höflichkeit und konsistenter Außendarstellung gewährleisten.
Christoph Meiers (1998, 1999) Untersuchung von Videokonferenzen steht für
die in den letzten Jahren zunehmende Tendenz, auch visuelle Daten in die Konversationsanalyse einzubeziehen. Meier untersucht die Auswirkungen der audiovisuellen technischen Vermittlung auf den Ablauf und die Interaktionsdynamik
von Arbeitsbesprechungen. Ein zentraler Befund ist, dass die Sitzposition vor der
Kamera darüber mitentscheidet, in welchem Maße man in einer Videokonferenz
Gehör findet: Durch die Ausrichtung der Teilnehmer schauten die vorne Sitzenden – diese Plätze nahmen jeweils quasi naturwüchsig die ranghöchsten Beteilig-
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
111
ten ein – jeweils zur Kamera hin, achteten jedoch nicht auf hinten Platzierte. Auch
wurden Erstere aufgrund des Weitwinkelfokus der Kamera größer und deutlicher
dargestellt und ihre Äußerungen lauter und deutlicher übertragen. Videotechnisch vermittelte Kommunikation führt also im Vergleich zu Besprechungen, die
face to face in einem Raum stattfinden, zu einer stärkeren Hierarchisierung des
Austauschs und der Entscheidungsfindung.
Das Beispiel der Call-Center-Gespräche (s. o. Abschn. 3) verdeutlicht, dass arbeitsorganisatorische Rahmungen Gespräche strukturieren, mitarbeiter- wie kundenseitige Beiträge zur Kommunikation aber innerhalb dieses Rahmens gleichermaßen in ihren jeweiligen Facetten zu berücksichtigen sind. In vergleichenden
Analysen sind ohne Weiteres die Kommunikation strukturierenden Faktoren zu
identifizieren; Leitfäden und individuelle Abweichungen davon sind als Ergebnis
organisierter Individualität decodierbar. Ähnliche Phänomene lassen sich auch in
den kursorisch dargestellten weiteren Arbeitsfeldern feststellen und zeigen damit
Varianzen der Kommunikationsarbeit bzw. Arbeitskommunikation auf.
Es stellt sich allerdings die Frage, ob allein dieser konversationsanalytische
Zugang zur in der Gesprächssituation hervorgebrachten sozialen Ordnung hinreichend ist. Auf dieser Grundlage sind Rückschlüsse auf arbeitsorganisatorische
Rahmenbedingungen sicher möglich; der Zugang dazu bleibt aber in der Verpflichtung auf die paradigmatische Leitfrage der Konversationsanalyse notwendiger Weise in einer formalanalytischen Perspektive verfangen. In gewisser Weise
werden die agierenden Personen als Träger von spezifischen sozialen rsp. betrieblichen / organisationalen Prägungen nur insoweit wahrgenommen, wie diese Hintergründe in ihrem kommunikativen Handeln unmittelbar zum Ausdruck kommen. Tiefer liegende soziale Prägungen und die Hintergründe ihres Verhaltens
gelangen kaum in den Blick, spielen aber in der Regel eine große Rolle.
Der konversationsanalytische Zugang bedarf in dieser Hinsicht einer Erweiterung, die über die bloße Aufnahme von Kontextinformationen hinausgeht. Multimethodische Fallstudien (vgl. etwa Wolff / Müller 1997; s. dazu auch Kleemann
et al. 2009: 57 – 59) scheinen besonders geeignet, jenseits einer Befolgung formeller
Leitlinien die alltagspraktische Realisierung von Kommunikation in der Arbeit zu
analysieren. So werden Lücken vordergründig klarer Anweisungen erkennbar, die
die Arbeitenden im Gespräch selbst schließen, oder es geraten Kontrollstrukturen als wichtiger Faktor in den Blick: Wie Kontrolle geschieht, welche Sanktionen
ausgesprochen werden, wie Kontrolle die Unternehmenskultur sowie die Motivation beeinflusst und welche Auswirkungen dies auf die Kommunikationsarbeit hat
(vgl. für Call Center: Matuschek et al. 2007), sind der Etablierung einer sozialen
Ordnung im Gespräch vorgängige Strukturen. Diese entziehen sich gewöhnlich
112
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
dem unmittelbaren konversationsanalytischen Zugriff. Daher sind weitere komplementäre methodische Zugänge (Beobachtungen / Interviews) sinnvoll, um solche vorgelagerten Ordnungen genauer zu erfassen. Die analytische Tiefenschärfe
wird noch gesteigert, wenn es in subjektorientierter Perspektive gelingt, Orientierungen und Motivationen der Beteiligten zu erhellen. Das umfasst nicht nur die
Kommunikation an sich, sondern auch die Wahrnehmung der Arbeitssituation.
Mittels Narrationen generierender Interviews kann es gelingen, Umformungen
betrieblicher Vorgaben als einerseits der individuellen Befindlichkeit zuträgliche,
andererseits die Nachhaltigkeit unternehmerischen Handelns betonende Grundhaltung zu identifizieren (ebd.). Das zeigt zum einen die Begrenztheit von strukturierenden Vorgaben. Zum anderen wird damit die unmittelbare Beziehung der
am Gespräch Beteiligten zueinander, aber auch zur Organisation in einem Dreiecksgebilde zusammenfasst. Dieses verschweißt unterschiedliche Interessen (und
Machtpositionen) in der Kommunikationssituation zu einer temporären Konstellation, die in jeweils dyadischer Beziehung (z. B. Kunde-Agent, Agent-Unternehmen, Unternehmen-Kunde, vgl. dazu Gutek 1995) zueinander auf den Erhalt
der Gesamtkonstellation zielt. Wünschenswerter Weise wären alle Beteiligten zu
interviewen, um dieser Konstellation nicht nur konversationsanalytisch näher zu
kommen.
Methodisch plädiert der vorliegende Beitrag also dafür, konversationsanalytisch gewonnene Erkenntnisse sowohl als (Teil-)Grundlage der Analyse wie auch
als Ergänzung der mittels Interview- und Beobachtungstechniken gewonnenen
Daten und als eine kontrollierende Spiegelung von (subjektiven) Darstellungen
der Interviewten durch dokumentierte Sprachperformanz zu begreifen. Die so
entstehende Methodenkombination verheißt nun allerdings nicht per se einen
universalen triangulativen Königsweg, sondern stellt eine dem Forschungsgegenstand Kommunikationsanalyse angemessene Methodenwahl dar.
Konversationsanalytische Zugänge zu Arbeitskommunikation und Kommunikationsarbeit
113
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Anhang: Verwendete Transkriptionssymbole
A: oder [etwa nicht?
B:
[ja, stimmt.
Simultanphase: Sprecher A und B reden ab dem „Klammer“-Zeichen
parallel
(.)
kurze Pause, Stockung
(-), (--)
längere Pausen (unter einer Sekunde)
(2.5)
Pause mit Zeitangabe (hier: 2,5 Sekunden)
mein Brud/
Abbruch eines Wortes
mAchen
Betonung (= einzelne Vokale werden akzentuiert)
NA MACH SCHON Emphaseintonation (= ganzes Wort wird lauter und höher ausgesprochen)
ne:t
Lautlängung
dann=doch
schneller Anschluss
ja?
Tonhöhenbewegung: stark steigend
so,
Tonhöhenbewegung: mittel steigend
wolln–
Tonhöhenbewegung: gleichbleibend
116
passiern;
sonst nicht.
(&&&)
(dummes)
.hhh
((stöhnt))
<p>das stimmt>
(Auslassung 4 Sek.)
Adam Bauer
Ingo Matuschek / Frank Kleemann
Tonhöhenbewegung: mittel fallend
Tonhöhenbewegung: tief fallend
Wortlaut unverständlich
Wortlaut unsicher
hörbares Ein- oder Ausatmen
Handlungs- und Verhaltensbeschreibungen
Angaben zur Prosodie (gültig jeweils für die Textpassage innerhalb der
Klammer):
p: leise
f: laut
t: tief
h: hoch
all: schnell
len: langsam
cresc: lauter werdend
dim: leiser werdend
acc: schneller werdend
rall: langsamer werdend
Ausblendung auf der Audioaufzeichnung (z. B. zur Wahrung der Anonymität einer Person, die namentlich genannt wird) mit Angabe der
Dauer in Sekunden
Anonymisierung personenbezogener Angaben in Kapitälchen
Teil II
Rekonstruktive Auswertungsverfahren
Orientierungsschemata,
Orientierungsrahmen und Habitus
Elementare Kategorien der Dokumentarischen Methode
mit Beispielen aus der Bildungsmilieuforschung
Ralf Bohnsack
Die Dokumentarische Methode und ihre metatheoretischen Kategorien, wie u. a.
diejenigen des Orientierungsschemas und Orientierungsrahmens und deren
Oberbegriff des Orientierungsmusters, haben ihren Anfang in der Rekonstruktion von Bildungsprozessen in der Adoleszenzentwicklung genommen. Zum
einen konnten elementare Differenzen der Bildungsmilieus von GymnasiastInnen
und Auszubildenden herausgearbeitet werden. Diese Differenzen betreffen insbesondere Unterschiede in der zeitlichen Struktur der Orientierungsmuster. Zum
anderen konnten wir bei den Auszubildenden Stadien bzw. Phasen von Bildungsprozessen in der Adoleszenzentwicklung und die damit verbundene spezifische
Orientierungsstruktur identifizieren. In meinen späteren Ausführungen – in Abschnitt 4 – werde ich hierauf genauer eingehen.
Zunächst – in den Abschnitten 1, 2 u. 3 – möchte ich elementare grundbegriffliche Klärungen anbieten und zu dem Zwecke die zentralen Kategorien innerhalb
theoretischer Traditionen verorten. Dabei wird es insbesondere darum gehen, die
in der habitualisierten Handlungspraxis, im habituellen Handeln, implizierten und
diese Praxis orientierenden Muster (Orientierungsrahmen und Habitus) zu unterscheiden von den Mustern, wie sie als (kontrafaktische) Erwartungen im Sinne
von Normen und als zweckrationale Modelle der (theoretischen) Verständigung
über diese Praxis unsere Kommunikation orientieren (Orientierungsschema)1.
Nach einer Rekonstruktion der Differenzen zwischen den beiden kategorial unterschiedlichen Bildungsmilieus der Auszubildenden und GymnasiastInnen in
Abschnitt 4 werde ich in Abschnitt 5 eine weitere handlungstheoretische Kategorie einführen: diejenige des Aktionismus. Aktionismen sind weder dem habituel1
Siehe zu den Begriffen Orientierungsmuster, Orientierungsrahmen, Orientierungsschema und
Habitus auch Bohnsack 1998 sowie 2010d.
120
Ralf Bohnsack
len Handeln noch dem zweckrationalen Handeln zuzuordnen und somit weder
in den Kategorien des Orientierungsrahmens noch des Orientierungsschemas zu
fassen.
Schließlich werde ich in Abschnitt 6 auf die Bedeutung dieser Kategorien für
die Bild- und Videointerpretation eingehen. Um den lediglich visuell zugänglichen inkorporierten Bewegungen gerecht zu werden, müssen weitere (handlungs-)theoretische Begriffe eingeführt werden: diejenigen der Gebärde sowie der
operativen und der institutionalisierten Handlung, um dann deren Beziehung zu
den Kategorien Orientierungsrahmen und Orientierungsschema zu klären.
1
Grundkategorien der empirischen Rekonstruktion
sozialen Handelns und ihre Begründung
in unterschiedlichen Theorietraditionen und Paradigmata
Die Dokumentarische Methode zeichnet sich durch eine methodologisch begründete und die empirische Forschung fundierende Hinwendung zur Praxis
sozialen Handelns aus. In dieser praxeologischen Ausrichtung knüpft die Dokumentarische Methode in ihrem heutigen Verständnis an drei methodologischtheoretische Zugänge an. Zum einen hat die Ethnomethodologie bahnbrechende
Arbeiten vorgelegt, die uns den Zugang zu den Praktiken des Alltags, den „artful
practices“ of „everyday life“ (Garfinkel 1967: vii) hinsichtlich ihrer Geordnetheit
und ihres kunstvollen Charakters eröffnet. Dieser Weg führt uns allerdings eher
zu den formalen Strukturen alltäglicher Verständigung. Der andere Weg ist derjenige der praxeologischen Kultursoziologie von Bourdieu mit seiner Konzeption
des Habitus. Den dritten Zugang finden wir in der Wissenssoziologie Karl Mannheims, welche ich auch als praxeologische Wissenssoziologie bezeichne und die uns
die methodologisch-theoretischen Grundlagen bietet, um die anderen beiden Zugänge integrieren und weiter entfalten zu können.
Im Sinne dieser drei Traditionen und insbesondere derjenigen in der Nachfolge von Bourdieu und Mannheim führt der Weg zur Praxis des Handelns über
das diese Praxis orientierende – implizite oder inkorporierte – Wissen. Dessen
theoretische und methodologische Präzisierung gelingt nur, wenn wir diese Dimension des atheoretischen Wissens, wie Mannheim (1964: 98) es auch nennt, zu
unterscheiden vermögen von jener anderen Dimension des Wissens, welche als
explizites Wissen uns vor allem in Form der Theorien der Erforschten über ihr eigenes Handeln, über ihre eigene Praxis begegnet. Es handelt sich also um die Dimension der Alltagstheorien, der Common Sense-Theorien.
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
121
Es gilt also, die Rekonstruktion dieser Praxis des Handelns und des handlungsleitenden Wissens von der Rekonstruktion der Theorien systematisch zu
unterscheiden, welche die Akteure selbst über diese Praxis entfalten.
Insbesondere im Bereich des sog. interpretativen Paradigmas und hier vor
allem in den Entwicklungen in der Tradition der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz sind zwar die Architektur resp. die Logik der Verständigung über die
Praxis, also Theoriebildungen des Common Sense, in überzeugender Weise rekonstruiert worden, ohne aber die Praxis des Handelns und das handlungsleitende
Wissen mit der ihm eigentümlichen Logik systematisch davon unterscheiden zu
können.
Im Anschluss an Max Weber (1964) hat Alfred Schütz (1971 u. 1974) den subjektiv gemeinten Sinn als Grundbaustein der Handlungstheorie genommen und
ihn als den das Handeln orientierenden Entwurf verstanden. Er hat diesen Entwurf auch als Motiv, genauer: als Um-zu-Motiv, bezeichnet. Er erläutert den Charakter dieser Entwürfe am Beispiel des Postbeamten: „Ich halte es für selbstverständlich, dass mein Handeln (sagen wir, das Einwerfen eines frankierten und
richtig adressierten Briefes in einen Postkasten) anonyme Mitmenschen (Postbeamte) veranlassen wird, typische Handlungen auszuführen (die Post zu befördern), und zwar in Übereinstimmung mit typischen Um-zu-Motiven (um ihre beruflichen Pflichten zu erfüllen)“ (Schütz 1971: 29). Derartige Um-zu-Motive und
Entwürfe sind wesentliche Komponenten von Orientierungsschemata.
Das Modell des Handelns und der Handlungsorientierung, wie es von Alfred
Schütz entworfen worden ist und auf der Konstruktion des subjektiv gemeinten
Sinns basiert, stellt nicht nur eine adäquate Rekonstruktion der Theoriekonstruktionen des Common Sense dar, sondern auch der Architektur des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns. Oder anders formuliert, das Modell der
Handlungsorientierung, wie es von Schütz entworfen worden ist, erscheint zwar
dort adäquat, wo Gegenstand der Theoriebildungen das institutionalisierte und
rollenförmige Handeln ist. Die Handlungspraxis unterhalb und jenseits von
Rollenbeziehungen entzieht sich jedoch diesem Modell. Alfred Schütz (1971: 30)
selbst hat die Grenzen dieses Modells deutlich gesehen: „Es gibt eine gewisse
Chance (…), dass der Beobachter im Alltag den subjektiv gemeinten Sinn der
Handlung des Handelnden erfassen kann. Diese Chance wächst mit dem Grad
der Anonymisierung des beobachteten Handelns“, also mit dem Grad seiner Institutionalisierung und Rollenförmigkeit. In der Nachfolge von Schütz werden die
Grenzen dieses auf der Basis des subjektiv gemeinten Sinns orientierten Modells
der Theoriebildung des Common Sense allerdings zumeist nicht klar gesehen.
122
Ralf Bohnsack
Demgegenüber hat Karl Mannheim jene Ebene des Wissens, wie sie für das
institutionalisierte und rollenförmige Handeln konstitutiv ist, als diejenige des
„kommunikativen“ Wissens und Denkens (Mannheim 1980: 289 ff.) gefasst und
von derjenigen des „konjunktiven“ Wissens (ebd.: 217 ff.) unterschieden. Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten des atheoretischen handlungsleitenden Erfahrungswissens und somit über Gemeinsamkeiten des Habitus verfügen, sind durch
eine fundamentale Sozialität, durch eine „konjunktive“ Erfahrung miteinander
verbunden. Innerhalb derartiger „konjunktiver Erfahrungsräume“ (ebd.: 220)
kommt es zu einem unmittelbaren „Verstehen“ (ebd.: 272), welches wir von der
kommunikativen Verständigung unterscheiden können. Letztere sichert – auf der
Ebene gesellschaftlicher Institutionen – die Verständigung über die Grenzen konjunktiver Erfahrungsräume hinweg im Modus der „Interpretation“ (ebd.: 271 ff.).
Kommunikative Verständigung und Orientierung beruhen auf Interpretationen im Sinne des typisierenden Erfassens von Um-zu-Motiven auf der Basis
einer „Reziprozität der Perspektiven“, also einer wechselseitigen Perspektivenübernahme. Voraussetzung dafür ist u. a. die „Idealisierung der Kongruenz der
Relevanzsysteme“ (Schütz 1971: 12 f.), also die idealisierende Unterstellung, dass
es möglich sein wird, eine Kongruenz herzustellen zwischen dem ‚Orientierungsschema‘ des Handelnden und dem ‚Analyseschema‘ des ihn interpretierenden
„Mitmenschen“ (Schütz 1971: 216). Kommunikative Verständigung erscheint in
diesem Verständnis der Sozialphänomenologie als ein prekärer Prozess. In der
Ethnomethodologie wurde dieser prekäre Charakter besonders deutlich herausgearbeitet, indem Harold Garfinkel (1961: 205) von „pretence of agreement“
spricht, also pointiert übersetzt von einer „Vortäuschung von Übereinstimmung“.
Der Unterschied zu einem unmittelbaren Verstehen, einer konjunktiven Verständigung also, wird hier besonders evident.
Beide Dimensionen des Wissens – die konjunktive wie die kommunikative –
orientieren das Handeln bzw. die Verständigung über das Handeln auf unterschiedliche Art und Weise. Im Falle des konjunktiven Wissens sprechen wir von
Orientierungsrahmen und im Fall des kommunikativen Wissens von Orientierungsschema. In der alltäglichen Verständigung, in der Alltagskommunikation
und -sprache und in den dort verwendeten Begriff lichkeiten sind beide Bedeutungsdimensionen – die kommunikative wie die konjunktive – impliziert, so dass
„dadurch als Ergebnis faktisch eine Doppeltheit der Verhaltensweisen in jedem
einzelnen, sowohl gegenüber Begriffen als auch Realitäten“ entsteht (Mannheim
1980: 296). Wenn ich bspw. von meiner „Familie“ spreche, so verweist dieser Begriff als „Allgemeinbegriff “ (Mannheim 1980: 220), also in seiner kommunikativen Bedeutung, auf institutionalisierte Rollenerwartungen und die damit ver-
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
123
bundenen Orientierungsschemata. Zugleich verweist der Begriff Familie auf den
konjunktiven Erfahrungsraum derjenigen, die Gemeinsamkeiten einer konkreten
familialen Praxis und somit einen Orientierungsrahmen miteinander teilen.
2
Orientierungsschemata, kommunikatives Wissen
und die Konstruktionsprinzipien von Common Sense-Theorien
Das Modell der kommunikativen Verständigung, wie es in der Sozialphänomenologie von Alfred Schütz in fundierter Weise ausgearbeitet worden ist, zeichnet
sich durch folgende kritische Eigenschaften und Grenzen aus:
■
Die Konstruktion von Theorien des Common Sense operiert auf der Basis der
Unterstellung von Orientierungsschemata und Um-zu-Motiven, also von Intentionen, von subjektiven Entwürfen. Aus methodisch-methodologischer
Perspektive muss geltend gemacht werden, dass die subjektiven Intentionen
und Entwürfe von den Interpretierenden nicht beobachtet, sondern lediglich
attribuiert werden können. Diese fehlende empirische Basis ist, wie bereits angesprochen, nur dort unproblematisch, wo wir es mit institutionalisierten und
rollenförmigen Verhaltensweisen zu tun haben.
Dort, wo dies nicht der Fall ist, bleiben der Interpret oder die Interpretin
auf Introspektion angewiesen. Bourdieu (1976: 153) zufolge begibt sich eine
derartige Deutung, „verfügt sie über kein weiteres Hilfsmittel als die (…) ‚intentionale Einfühlung in den Anderen‘, in die Gefahr, nur eine besonders musterhafte Form des Ethnozentrismus abzugeben“. In diesen Fällen gibt diese
Art der Konstruktion von Motiven und Orientierungsschemata uns eher Aufschlüsse über das Relevanzsystem des Interpreten als über die Relevanzen der
Erforschten. Diese konstruktivistische Kritik ist auch von Seiten der Ethnomethodologie vorgebracht worden (siehe McHugh 1970 sowie Bohnsack 1983:
Kap. 2).
■ Eine weitere kritische Eigenschaft der Konstruktion von Theorien des Common Sense auf der Basis der Unterstellung von Orientierungsschemata oder
Um-zu-Motiven ist darin zu sehen, dass der wissenschaftliche Beobachter im
Sinne von Schütz (1971: 50) sich den Zugang zum subjektiv gemeinten Sinn
derart methodisch sichern muss, dass er sich an der „Modellkonstruktion
von rationalen Handlungsmustern“ orientiert. Es handelt sich dabei um das
zweckrationale Modell, welches auch der Architektur von Common SenseTheorien zugrunde liegt.
124
Ralf Bohnsack
Das Handeln wird als ein Bewirken jener Wirkungen verstanden, auf die
mit dem Zweck Bezug genommen wird, wobei – wie Luhmann (1973: 44) gezeigt hat – selektiv jene Wirkungen im Zuge der Rekonstruktion des Handelns
herausgegriffen werden, die im Dienste der Legitimation des Handelns stehen.
Die Attribuierung von Motiven im Sinne zweckrationaler Um-zu-Motive jenseits des rollenförmigen, institutionalisierten Handelns ist in ihrer Selektivität damit in hohem Maße abhängig von den legitimatorischen Erfordernissen
der Konstrukteure und von deren Definitionsmacht (genauer dazu: Bohnsack
1983: Kap. 2).
■ In der Trennung von Handlungs-Entwurf (Um-zu-Motiv), also dem Orientierungsschema, einerseits und dem Vollzug bzw. der Enaktierung einer an
diesem Entwurf orientierten Handlung andererseits, ist eine Trennung von
Erkenntnis und Handlung, von Geist und Körper sozusagen, impliziert, bei
der die Erkenntnis dem Handeln vorgeordnet ist.
■ Im engen Zusammenhang mit dieser Trennung von Handlungs-Entwurf und
Handlung und der Bindung der Theoriebildungen des Common Sense an das
Modell der Zweckrationalität ist – als eine weitere kritische Eigenschaft – die
Bindung an die deduktive Logik zu sehen: Das Handeln ist in der Weise durch
den Entwurf motiviert, dass es in seinen einzelnen Schritten aus diesem Entwurf deduktiv abgeleitet wird. So wie sich das Handeln aus dem Entwurf ableitet, so ist dieser wiederum aus einem übergreifenden Entwurf deduziert.
Dieses Modell der Handlungsorientierung auf der Grundlage der Konstruktion
von Orientierungsschemata stellt also eine adäquate Rekonstruktion einerseits
des institutionalisierten und rollenförmigen Handelns dar und andererseits der
Theoriekonstruktionen des Common Sense mit ihren legitimatorischen Funktionen. Deren Architektur kann in der phänomenologischen Soziologie und den
qualitativen Methoden in dieser Tradition genauestens rekonstruiert, allerdings
nicht transzendiert werden. Somit gerät die in der Sozialphänomenologie fundierte Theoriebildung in Probleme, wenn es darum geht, diese eigene wissenschaftliche Theoriebildung von den Theorien des Common Sense zu unterscheiden (dazu genauer: Bohnsack 2001, 2006, 2010b und 2010c).
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
3
125
Orientierungsrahmen, atheoretisches und konjunktives Wissen
Im Unterschied zu jenen Analysen, die – in der Tradition der Sozialphänomenologie – allein auf die Rekonstruktion der Orientierungsschemata und des kommunikativen Wissens als eines theoretischen Wissens gerichtet sind, hat Karl Mannheim den Charakter des handlungspraktischen oder handlungsleitenden Wissens
als eines atheoretischen Wissens herausgearbeitet. Er hat dies bekanntlich am
Beispiel der Herstellung eines Knotens erläutert. Das handlungsleitende Wissen,
welches mir ermöglicht, einen Knoten zu knüpfen, ist ein atheoretisches Wissen.
Diese Handlungspraxis vollzieht sich intuitiv und vorreflexiv. Das, was ein Knoten
ist, verstehe ich, indem ich mir jenen Bewegungsablauf (von Fingerfertigkeiten)
einschließlich der motorischen Empfindungen vergegenwärtige, „als dessen ‚Resultat‘ der Knoten vor uns liegt“ (Mannheim 1980: 73). Im Sinne von Heidegger
(1986: 67) geht es hier um das auf der existenziellen Ebene angesiedelte „hantierende, gebrauchende Besorgen, das seine eigene ‚Erkenntnis‘ hat“, die sich vom
„theoretischen Welt-Erkennen“ erheblich unterscheidet.
Es erscheint ausgesprochen kompliziert, wenn nicht sogar unmöglich, diesen
Herstellungsprozess, das genetische Prinzip also, in adäquater Weise begriff lichtheoretisch zu explizieren. Wesentlich unkomplizierter ist es, den Knoten auf dem
Wege der Abbildung, also der bildlichen Demonstration des Herstellungsprozesses,
zu vermitteln. Das Bild erscheint also in besonderer Weise geeignet für eine Verständigung im Medium des atheoretischen oder impliziten Wissens.
3.1
Atheoretisches, implizites und inkorporiertes Wissen
Solange und soweit ich mir im Prozess des Knüpfens eines Knotens dessen Herstellungsprozess, also die Bewegungsabläufe des Knüpfens, bildhaft – d. h. in Form
von materialen (äußeren) oder mentalen (inneren) Bildern – vergegenwärtigen
muss, um in der Habitualisierung der Praxis erfolgreich zu sein, habe ich den
Prozess des Knüpfens eines Knotens allerdings noch nicht vollständig inkorporiert
und automatisiert. Der modus operandi ist im Falle der bildhaften, der imaginativen Vergegenwärtigung das Produkt impliziter Wissensbestände und mentaler Bilder, welche wir als Orientierungsrahmen bezeichnen. In diesem Falle führt
die empirische Analyse über die empirische Rekonstruktion von metaphorischen
Darstellungen, von Erzählungen und Beschreibungen der Handlungspraktiken
durch die Akteure, also über die Rekonstruktion ihrer eigenen mentalen Bilder.
126
Ralf Bohnsack
Der modus operandi kann aber auch das Produkt inkorporierter – gleichsam
automatisierter – Praktiken sein. In diesem Falle ist der Orientierungsrahmen
auf dem Wege der direkten Beobachtung der Performanz von Interaktionen und
Gesprächen und in der Vergegenwärtigung von körperlichen Gebärden im Medium materialer Bilder, wie u. a. Fotografien, in methodisch kontrollierter Weise
zugänglich (dazu: Abschnitt 3 sowie Bohnsack 2011). Das atheoretische Wissen
und der darin fundierte Orientierungsrahmen umfassen also sowohl das inkorporierte Wissen, welches in Form materialer (Ab-)Bilder empirisch-methodisch
in valider Weise zugänglich ist, wie auch das implizite oder metaphorische Wissen
im Medium des Textes, für welches mentale Bilder, also Metaphern, von zentraler
Bedeutung sind.
Im Sinne von Gregory und Mary Bateson ist die Metaphorik „das Hauptcharakteristikum und der organisierende Leim dieser Welt geistiger Prozesse“, und
das ihr zugrunde liegende logische Prinzip ist die „Homologie“ (Bateson / Bateson
1993: 50). Das „Denken in Homologien“ ist nach Mannheim (1964: 121) „etwas
Eigentümliches, das (…) nicht mit bloßer Abstraktion gemeinsamer Merkmale
verwechselt werden darf “. Beeinflusst durch Mannheim haben Erwin Panofsky
(1975: 48), der hier von „synthetischer Intuition“ und in seiner Tradition wiederum
Pierre Bourdieu, der von der „vernunftgetragenen Intuition“ spricht, umfassende
empirische Analysen im Sinne einer Rekonstruktion des Habitus vorgelegt.
Zwar verwenden wir den Begriff des Orientierungsrahmens in vieler Hinsicht
synonym mit demjenigen des Habitus. Allerdings kommt dem Orientierungsrahmen insofern eine etwas andere und in dieser Hinsicht weiter greifende Bedeutung zu, als er sowohl den Bezug zu den fundamentalen Kategorien der Wissenssoziologie Mannheims (u. a. dem konjunktiven Erfahrungsraum) herstellt,
als auch zu den Kategorien der Sozialphänomenologie (Um-zu-Motive und institutionalisierte Verhaltenserwartungen), der Ethnomethodologie (Indexikalität
und der prekäre Charakter alltäglicher Verständigung) und partiell der Chicagoer
Schule (soziale und persönliche Identität). Die Kategorien, die in den genannten
Traditionen entwickelt worden sind, wie sie auch unter dem Begriff des interpretativen Paradigmas zusammengefasst werden, bezeichnen wir mit dem Oberbegriff
der Orientierungsschemata. Der Begriff des Orientierungsrahmens als zentraler
Begriff der praxeologischen Wissenssoziologie und Dokumentarischen Methode
erweitert somit den Habitusbegriff um den – der empirischen Analyse zugänglichen – Aspekt, dass und wie der Habitus sich in der Auseinandersetzung mit
den Orientierungsschemata, also u. a. den normativen Anforderungen und denjenigen der Fremd- und Selbstidentifzierung, immer wieder reproduziert und konturiert.
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
127
Darüber hinaus erscheint der Begriff des Habitus (im Unterschied zu demjenigen des Orientierungsrahmens) insbesondere dort angebracht, wo wir es nicht
mit jener Variante des atheoretischen Wissens zu tun haben, welche als implizites
Wissen u. a. in Form mentaler Bilder unser Handeln orientiert, sondern – wie dies
auch der Definition von Bourdieu entspricht – dort, wo wir es mit einem atheoretischen Wissen zu tun haben, welches (vollständig) inkorporiert ist.
Diejenigen, die über Gemeinsamkeiten des atheoretischen handlungsleitenden Erfahrungswissens verfügen – sei dieses nun inkorporiert oder implizit gegeben – sind, wie bereits angesprochen, durch eine fundamentale Sozialität miteinander verbunden, die wir im Sinne von Mannheim (1980) als „konjunktive“
Erfahrung bezeichnen. Auf der Grundlage von Gemeinsamkeiten der Erlebnisschichtung konstituieren sich konjunktive Erfahrungsräume. Dies sind nicht nur
reale Gruppen, sondern auch – und hier liegt die eigentliche Bedeutung dieser
Kategorie – Zugehörigkeiten und Zusammengehörigkeiten jenseits persönlicher
Bekanntschaft und direkter Interaktion, wie u. a. Milieus, Generationszusammenhänge und geschlechtsspezifische Erfahrungsräume.
3.2
Der methodische Zugang zum Orientierungsrahmen, konjunktiven
Erfahrungsraum und habituellen Handeln: Kontextuierung
und hermeneutischer Zirkel
In den Unterschieden zwischen jenen Analysen, die – in der Tradition der Sozialphänomenologie – allein auf die Rekonstruktion der Orientierungsschemata
und des kommunikativen Wissens gerichtet sind, einerseits und jenen Analysen,
die auf die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen und des konjunktiven Wissens zielen, andererseits, zeigt sich die Paradigmenabhängigkeit sozialwissenschaftlicher Handlungstheorien. Vom Standpunkt der praxeologischen Wissenssoziologie bzw. der Dokumentarischen Methode lassen sich diese beiden Aspekte
oder Paradigmata integrieren, indem sie als unterschiedliche Ebenen des Falles
Bedeutung gewinnen. Ihr Verhältnis ist zum einen dasjenige der Eigentheorien
der Erforschten versus den Theorien der Forschenden. Zum anderen ist dieses
Verhältnis dasjenige von Norm versus Habitus, von Regelbefolgung versus Regelhaftigkeit des Handelns. Wie wir am Beispiel des Begriffes „Familie“ gesehen
haben, verweist dieser Begriff einerseits auf die normative Dimension, diejenige
der Rollenbeziehungen von Mutter, Vater und Kindern und des institutionalisierten familialen Lebenszyklus mit ihren Orientierungsschemata, und andererseits
auf den je eigentümlichen Erlebnis- und Erfahrungszusammenhang der spezifi-
128
Ralf Bohnsack
schen Familie mit ihrer einzigartigen Familienbiografie, also auf deren je fallspezifischen konjunktiven Erfahrungszusammenhang und Orientierungsrahmen. Darüber hinaus formieren sich aber Gleichartigkeiten von Familienbiografien und
ihren Bedingungen des Aufwachsens auch zu fallübergreifenden, zu milieuspezifischen konjunktiven Erfahrungsräumen und Orientierungsrahmen.
In der empirischen Forschungspraxis im Sinne der Dokumentarischen Methode gehen wir mit den Auswertungsschritten der formulierenden und der reflektierenden Interpretation2 durch die Rekonstruktion der expliziten Wissensbestände der Erforschten und deren Orientierung an der Norm, also durch die
Rekonstruktion der Orientierungsschemata und der Common Sense-Theorien,
hindurch, um dann zur Rekonstruktion der Praxis bzw. des die Praxis orientierenden atheoretischen Wissens und des darin implizierten Orientierungsrahmens
fortzuschreiten. Die Orientierungsschemata gewinnen immer nur vermittelt über
das handlungsleitende atheoretische Wissen, also innerhalb des Orientierungsrahmens, ihre handlungspraktische Relevanz und somit ihren spezifischen Wirklichkeitscharakter.
Die Rekonstruktion des Orientierungsrahmens folgt nicht dem Prinzip der
Zuschreibung von Intentionen und Motiven. Die Bedeutung einer Handlung bestimmt sich hier vielmehr von der Relation zu jenem Kontext her, wie er von den
Akteuren und Akteurinnen in ihrer Handlungspraxis selbst hergestellt wird. Dies
ist im Falle der Text-Interpretation die sequenzielle Relation der jeweils zu interpretierenden Äußerung oder Geste zu den ihr nachfolgenden. Auf diese Weise
verleihen die Äußerungen oder Gesten – durchaus im Sinne von George Herbert
Mead (1968) – einander wechselseitig ihre Signifikanz. Im Falle der Bild-Interpretation ist dies nicht eine sequenzielle, sondern eine simultane Relation von Einzelelement und Gesamtkontext des Bildes (siehe genauer: Bohnsack 2011; vgl. auch
Abschnitt 6). Die Relation von Kontext und Einzeläußerung resp. Einzelelement
ist in jedem Fall eine reflexive, wie die Ethnomethodologen dies bezeichnet haben
(vgl. Garfinkel 1961 u. 1967: 7 f.).
Während Orientierungsschemata sich also nach Art von Hierarchien – also im
Sinne einer hierarchischen Über- und Unterordnung von Um-zu-Motiven – konstituieren und somit in einer deduktiven Beziehung zueinander stehen (und die
empirische Methodologie in ihrer hypothetisch-deduktiven Logik ihnen hierin
folgt), entspricht die Konstitution von Orientierungsrahmen einer Logik der Reflexivität. Der Orientierungsrahmen und die ihn konstituierenden Komponenten
stehen in einem Verhältnis von Teil und Ganzem zueinander: Die einzelnen Ele2
Zu den Auswertungsschritten der Dokumentarischen Methode siehe Bohnsack (2010a: Kap. 12).
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
129
mente, also bspw. Handlungen und Äußerungen, formieren sich zu Kontexten
und erhalten erst durch diese Kontextuierungen, deren Teile sie darstellen, wiederum ihre besondere Bedeutung.
Das zirkelhafte Oszillieren zwischen den Einzelelementen und der Sinnstruktur des Gesamtkontextes stellt eine der Ausprägungen des klassischen hermeneutischen Zirkels im Sinne von Dilthey (1957: 330) dar: „Aus den einzelnen Worten
und deren Verbindungen soll das Ganze eines Werkes verstanden werden, und
doch setzt das volle Verständnis des Einzelnen schon das Ganze voraus.“ In diesem Sinne kann es bei der Interpretation des Orientierungsrahmens nicht darum
gehen, den Zirkel zu vermeiden: „Aber in diesem Zirkel ein vitiosum sehen und
nach Wegen Ausschau halten, ihn zu vermeiden, ja auch nur als unvermeidliche
Unvollkommenheit ‚empfinden‘, heißt das Verstehen von Grund aus mißverstehen (…). Dieser Zirkel des Verstehens ist nicht ein Kreis, in dem sich eine beliebige Erkenntnisart bewegt, sondern er ist Ausdruck der existenziellen Vor-Struktur des Daseins selbst“ (Heidegger 1986: 153). D. h. der Zirkel entspringt nicht der
Logik des „theoretischen ‚Welt‘-Erkennens“ (ebd.: 67), also einer theoretischen
Beziehung zur Welt, sondern der Logik des praktischen Orientierungswissens,
des habituellen Handelns und der konjunktiven Verständigung, des unmittelbaren Verstehens.
3.3
Die Mehrdimensionalität der Orientierungsrahmen
Was den methodischen Umgang mit dem Zirkel anbetrifft, so betont Heidegger
an dieser Stelle (1986: 153): „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus,
sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“. Dieser Einstieg in den
Zirkel stellt deshalb eine entscheidende Herausforderung in der Interpretation
des Orientierungsrahmens dar, weil dieselbe Handlung oder Äußerung – je nach
Zugang resp. Kontextuierung – zugleich in unterschiedlichen Orientierungsrahmen
verortet werden, d. h. das Verstehen in unterschiedliche Zirkel münden kann.
Dazu ein Beispiel: In einer Gruppendiskussion mit Gymnasiasten entfalten
die jungen Männer gemeinsam die Beschreibung der berufsbiografischen Entwicklung eines ihnen bekannten Referendars, der sich hier vollständig in die Ablaufmuster seiner Berufskarriere einspuren lässt und der – aus der Perspektive der
Jugendlichen – dieser Orientierung an exterioren normativen Erwartungen eine
individuell-authentische und angstfreie Selbstentfaltung opfert. Diese Beschreibung, die aufgrund ihrer interaktiven und metaphorischen Dichte den Charakter
einer Fokussierungsmetapher gewinnt, steht exemplarische für die Antizipation
130
Ralf Bohnsack
des negativen Gegenhorizonts3 einer düsteren und freudlosen Zukunft der Erwachsenenexistenz, so dass in der Einschätzung der Jugendlichen mit 25 Jahren
der „schönste Teil des Lebens“ vorbei sein wird (Bohnsack 1989: 148).
In der Interpretation dieser Passage dokumentieren sich nun je nach Wahl
des Vergleichshorizontes, d. h. je nach Wahl der Vergleichsfälle von Gruppendiskussionen mit anderen Jugendlichen, jeweils unterschiedliche – geschlechts-, milieu- und generationsspezifische – Orientierungsrahmen.4 Im Vergleich mit einer
gleichaltrigen Gruppe von Gymnasiastinnen wird ein positiver Gegenhorizont
(einer zukünftigen selbstbestimmten biografischen Entwicklung) entfaltet, und es
wird auf diese Weise deutlich, dass die Gymnasiasten (adoleszenzbedingt) auf den
negativen Gegenhorizont reduziert sind. Obgleich auch von den jungen Frauen
das Problem des Eingespurtwerdens gesehen wird, erscheint Erwachsenwerden
der Tendenz nach als ein langfristiger Entwicklungsprozess in eine offene Zukunft
hinein, in der schließlich die Bedingungen der Möglichkeit dafür geschaffen werden können, das Potenzial biografischer Entfaltung im Sinne individueller Authentizität voll ausschöpfen zu können. Es werden hier also geschlechtsspezifisch
unterschiedliche Orientierungsrahmen sichtbar wie aber auch zugleich Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Konstruktion biografisch relevanter Orientierungsschemata im Sinne chronologisch sequenzierter und institutionalisierter oder
auch standardisierter berufsbiografischer Ablaufmuster.
Der Vergleich mit den Auszubildenden zeigt klare Differenzen hinsichtlich
dieses Modus der Zeitlichkeit biografisch relevanter Orientierungen. Diese werden
nicht auf dem Wege einer Antizipation zukünftiger biografischer Ablaufmuster
entfaltet. Vielmehr finden wir hier eine sozial-situative Selbstverortung, die ihren
Ausdruck in szenisch-situativen Darstellungen findet wie etwa des „Jugendtraums“
vom Leben auf der einsamen Insel als einer bedürfnislosen Lebensweise ähnlich
jener der „Steinzeitmenschen“. Auf dieser Suche nach den eigentlichen, den authentischen Bedürfnissen werden die Jugendlichen immer wieder von ihren Konsumbedürfnissen eingeholt, indem sie sich in der Situation sehen, ohne Stereoanlage und Fernseher auf der Insel nicht leben zu können.
Es zeigen sich also erhebliche bildungsmilieutypische Differenzen zwischen
den Orientierungsrahmen der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einerseits
und denjenigen der Auszubildenden anderseits. Zugleich findet sich aber in allen
3
4
Der Horizontbegriff ist konstitutiv für die metatheoretische Bestimmung der Kategorie des
Orientierungsrahmens. Zu Ansätzen einer weiteren Differenzierung der ursprünglichen Definition des Horizontbegriffs (u. a. Bohnsack 1989) siehe auch: Lamprecht 2011.
Zur Ermittlung der Typiken von Orientierungsrahmen siehe auch Arnd-Michael Nohl in diesem
Band.
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
131
Gruppen ein starker Bezug auf eine individuell-authentische Lebensweise, ein
Orientierungsrahmen, welcher sich als generationstypischer erweist, wenn wir als
weiteren Vergleichshorizont Gruppendiskussionen mit der Elterngeneration der
Jugendlichen heranziehen. Es ist also von den Vergleichshorizonten des Interpreten, d. h. von der Richtung der komparativen Analyse, abhängig, welche Dimension des Orientierungsrahmens in den Blick gerät. An derselben metaphorischen
Darstellung der Gymnasiasten können vor dem Vergleichshorizont der Gymnasiastinnen geschlechtsspezifische Orientierungsrahmen identifiziert werden, vor
dem Vergleichshorizont der Auszubildenden bildungsmilieuspezifische und als
Gemeinsamkeit aller Jugendlicher und vor dem Vergleichshorizont älterer Erwachsener generationsspezifische Orientierungsrahmen.
Indem ich in der empirischen Analyse von Texten oder Bildern unterschiedliche Vergleichshorizonte und Vergleichsfälle heranziehe, erscheinen diese in
jeweils einem anderen Erfahrungsraum oder Kontext. Es wird also eine Überlagerung oder besser: wechselseitige Durchdringung unterschiedlicher Orientierungsrahmen sichtbar. In der empirischen Analyse gilt es vor allem im Zuge
der Typenbildung, d. h. auf dem Wege der Konstruktion einer Typologie, diese
Mehrdimensionalität in ihrer Komplexität zu erfassen und zu explizieren (dazu
u. a.: Bohnsack 2010b). Dieser Dimensionengebundenheit der Interpretation und
der rekonstruierten Orientierungsrahmen wird lediglich seitens der Systemtheorie bzw. Kybernetik Rechnung getragen – und zwar mit dem Konzept der „Polykontexturalität“ (vgl. u. a. Luhmann 1992: 84 f. u. 1997: 1141; siehe auch: Vogd 2011:
Kap. 3). Auch die der Dokumentarischen Methode in mancher Hinsicht verwandten Analysen zum Habitus von Bourdieu bleiben in bemerkenswerter Weise eindimensional (zur Kritik siehe auch: Bohnsack 2010a, Kap. 8.2). Ebenso dominiert
in der gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Forschungslandschaft die Eindimensionalität oder Monokontexturalität. Eine Ausnahme bildet die intensive
Debatte um „Intersektionalität“, wie sie im Bereich der Genderforschung ihren
Ausgang genommen hat (vgl. dazu: Davis / Lutz 2009; Phoenix 2010).5
Wie wir insbesondere am Beispiel der Gymnasiasten gesehen haben, strukturiert sich nicht nur die Interpretation der Forschenden in ihrer Dimensionengebundenheit je nach den von ihnen herangezogen Vergleichshorizonten. Vielmehr konstituiert sich bereits der Orientierungsrahmen der Erforschten selbst vor
dem Hintergrund negativer und / oder positiver Vergleichshorizonte. Diese sind in
5
Eine Auseinandersetzung mit der intersektionalen Analyse vor dem Hintergrund der Dokumentarischen Methode und ihrer Forschungspraxis der mehrdimensionalen Typenbildung findet
sich bei Sonja Kubisch 2008: Kap. 2.1 und 7.2.3.
132
Ralf Bohnsack
elementarer Weise konstitutiv für ihn. Er ist gleichsam aufgespannt zwischen diesen Gegenhorizonten, und deren Rekonstruktion stellt einen der grundlegenden
Schritte der Interpretation dieses Rahmens dar. Wobei sich, wie gesagt, die hier
zitierte Gruppe von Gymnasiasten – im Unterschied zu den Gymnasiastinnen – in
der Abgrenzung von einem negativen Gegenhorizont erschöpft.
4
Theoretisch-reflexive und praktische Bildungsprozesse:
Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen
in unterschiedlichen Bildungsmilieus
Wie ich bereits in den oben angeführten Beispielen skizziert habe, zeichnet sich
die Logik der Orientierungsstruktur der Gymnasiasten und Gymnasiastinnen
durch ein gedankenexperimentelles, theoretisch-reflexives Durchspielen von zukünftigen berufsbiografisch relevanten Entscheidungssituationen aus, in denen
fiktive Vergleichshorizonte zum Tragen kommen. Es handelt sich also um theoretisch-reflexive Bildungsprozesse. Ich habe hier auch von einer theoretischen Individuierung gesprochen (Bohnsack 1989: 221 sowie Bohnsack 2010a: 40).
4.1
Theoretisch-reflexive Bildungsprozesse
Im Fokus von Gruppendiskussionen mit Gymnasiastinnen und Gymnasiasten
steht somit die Auseinandersetzung mit chronologisch sequenzierten und institutionalisierten oder auch standardisierten berufsbiografischen Ablaufmustern. So
wird bspw. der an das Hochschulstudium gebundene Berufsweg theoretisch-reflexiv durchgespielt mit Bezug auf Überlegungen zur Absicherung der Studienfinanzierung (siehe Bohnsack 1989: 170 f. u. 220 f.). Die Jugendlichen wollen auf dem
Wege intellektueller Spielerei sich perfekt dagegen sichern, durch ein Studium in
Abhängigkeiten zu geraten. Überlegungen zur Rückzahlung des Studiums enden
in einer Gedankenakrobatik bzw. einer münchhausenschen Kalkulation eines Studiums, welches sich selbst zurückzahlt. Die Jugendlichen werden dann zwar keine
Schulden mehr haben, aber auch kein Geld, von dem sie tatsächlich leben könnten. Die antizipatorische Auseinandersetzung mit den Ablaufmustern ihrer Ausbildungskarriere endet im Realitätsverlust.
Ähnliche Beobachtungen finden sich bei Barbara Asbrand (2009: insbesondere 5.3.1; siehe auch: Martens / Asbrand 2009) in einem Projekt zum globalen Ler-
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
133
nen, d. h. zur Rekonstruktion der Orientierungen und Kompetenzen von Jugendlichen im Umgang mit weltgesellschaftlicher Komplexität: Es „zeigt sich, dass die
Reflexionspraxis die Jugendlichen nicht handlungsfähig macht (…). Im Gegenteil,
die moralische Kommunikation, das Abwägen unterschiedlicher Handlungsmöglichkeiten und ihrer Risiken vergrößert die Unsicherheit der Jugendlichen, was zu
tun sei“ (Martens / Asbrand 2009: 205).
Neben dem bis zur Handlungsunfähigkeit sich aufschaukelnden theoretischreflexiven Stil gehört zu diesem Bildungsmilieu die weit voraus greifende Antizipation zukünftiger biografischer Ablaufmuster resp. Orientierungsschemata. Ich
erinnere an die andere – oben bereits zitierte – Gruppe von Gymnasiasten, die
sich mit antizipierten normativen Anforderungen einer Berufskarriere konfrontiert sieht, wie sie diese u. a. am Beispiel des Referendars entfaltet, der sich hier
vollständig in die Ablaufmuster seiner Berufskarriere einspuren lässt und dieser
eine individuell-authentische und angstfreie Selbstentfaltung opfert.
Bei den hier von den Jugendlichen diskutierten Erwartungen des Eingespurtwerdens in institutionalisierte Ablaufmuster, die von ihnen als exterior und mit
Zwang ausgestattet erfahren werden, handelt es sich im Sinne von Durkheim
(1961) um „Kollektivvorstellungen“. Orientierungsschemata sind als Kollektivvorstellungen im Durkheimschen Sinne zu verstehen. Die Auseinandersetzung mit
derartigen kollektiv geteilten Orientierungsschemata (hier: den normativen Anforderungen der Berufskarriere) wird am Beispiel der von den Jugendlichen im
Diskurs skizzierten Handlungspraxis des Referendars entfaltet.
In dieser diskursiven Auseinandersetzung mit den Orientierungsschemata dokumentiert sich der Orientierungsrahmen. Auch dieser Orientierungsrahmen ist
kollektiv geteilt – nun aber nicht nach Art der Kollektivvorstellungen im Sinne
von Durkheim, deren Objektivität und Wirksamkeit (nach Art der „fait sociaux“)
in ihrer Exteriorität begründet ist. Vielmehr setzt die hier geführte Auseinandersetzung mit einer derart exterioren Wirklichkeit einen – auf eine gemeinsam erlebte Handlungspraxis bezogenen – Erlebnis- oder Erfahrungshintergrund, einen
„konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980), bereits voraus. Die gemeinsam erlebte Handlungspraxis ist hier diejenige mit den karriereorientierten Lehrern in der Schule und mit den Erwachsenen ganz allgemein, die für die Jugendlichen den für ihren Orientierungsrahmen konstitutiven negativen Gegenhorizont
einer inauthentischen biografischen Selbstentfaltung bilden. Dem Orientierungsschema der als exterior wahrgenommenen institutionalisierten Karrieremuster
kommt erst innerhalb des Orientierungsrahmens des handlungspraktischen Erfahrungsraums überhaupt ein Wirklichkeitscharakter zu.
134
4.2
Ralf Bohnsack
Praktische Bildungsprozesse und die Entwicklungsphasen der Adoleszenz
Innerhalb des Orientierungsrahmens der Auszubildenden gewinnt diese Art von
Orientierungsschemata keine Realität. Hinsichtlich der Orientierung an derartigen chronologisch sequenzierten und institutionalisierten oder auch standardisierten berufsbiografischen Ablaufmustern zeigen sich erhebliche bildungsmilieutypische Differenzen zwischen den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einerseits und den Auszubildenden anderseits. Eine Antizipation berufsbiografischer
Verläufe fanden wir bei den Auszubildenden in unserer Untersuchung nicht. In
dem Alter, in dem man eine Antizipation der beruflichen Entscheidungssituationen, die für die Jugendlichen von erheblicher Tragweite sind, erwarten könnte,
werden entsprechende berufsbiografisch relevante Orientierungen suspendiert
(Suspendierungsphase). Nachdem am Ende der Hauptschule dann (dennoch)
schließlich irgendeine Entscheidung hat fallen müssen, finden sich die Jugendlichen nach einer kurzen, aber optimistischen Entscheidungsphase plötzlich in einer
biografischen Verlaufsentwicklung der ersten beruflichen Praxis wieder, die sie
erst jetzt – retrospektiv – in ihrer Tragweite, in ihrer Bedeutung für das eigene
Leben erkennen, während sie bereits in deren praktischer Durchführung stehen.
Wir haben es also mit praktischen Bildungsprozessen zu tun. Ich habe deshalb – im
Unterschied zur theoretischen Individuierung der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten – auch von praktischer Individuierung gesprochen (Bohnsack 1989: 221).
Barbara Asbrand (2009: 172) unterscheidet in analoger Weise „praktische und
theoretisierende Weltbezüge“. Gemeinsam mit Matthias Martens (siehe: Martens
2010) sind auf dieser Grundlage auch mit Bezug auf die Unterrichtsforschung
neue Ansätze einer „qualitativen Kompetenzforschung“ entwickelt worden (Martens / Asbrand 2009: 201). Karin Schittenhelm (2012) spricht auch von Bildungswegen, bei denen „schrittweise aufeinander aufbauend eine praktische Erkundung der eigenen Möglichkeiten stattgefunden hat“.
Die fehlende Antizipation der beruflichen Praxis und ihrer Probleme, die
vor dem Vergleichshorizont des antizipatorischen Durchspielens von Zukunftsszenarien bei den Gymnasiasten besondere Konturen gewinnt, führt dazu, dass
die erste – retrospektive – Reflexion auf berufsbiografisch relevante Verläufe sogleich mit einer tief greifenden Ent-Täuschung (Ent-Täuschungsphase) verbunden ist. Diese mündet – angesichts der fehlenden Antizipation von ernsthaften
Alternativen – in eine Negation berufsbiografischer und schließlich ganz allgemein biografischer Perspektiven (Negationsphase). Diese Negationsphase ist mit
Suchprozessen verbunden, welche sich – weit entfernt von Modellen zweckrationalen Handelns nach Art von Orientierungsschemata – in Form von Aktionismen
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
135
vollziehen, die sowohl produktiv als auch zerstörerisch oder auch beides zugleich
sein können und ihren Ausdruck auch in Formen jugendlicher Devianz finden.
Eine derartige Entwicklungstypik, wie sie zuerst in einer fränkischen (nordbayerischen) Kleinstadt und umliegenden Dörfern rekonstruiert wurde (Bohnsack 1989), konnte dann hinsichtlich ihres Modus praktischer Bildungsprozesse
und in ihren zentralen Entwicklungsphasen in einer Spannbreite unterschiedlicher Jugendszenen aus den sog. bildungsfernen Milieus bestätigt werden: bei
Hooligans, Rockbands und unauffälligen Jugendlichen im Ostteil der Metropole
Berlin (u. a. Bohnsack et al. 1995; Bohnsack 1997; Schäffer 1996) ebenso wie bei
unterschiedlichen Szenen von Jugendlichen türkischer Herkunft aus Berlin (u. a.
Bohnsack / Nohl 1998; Nohl 2001 sowie 2006), Ankara (Nohl 2001) und schwarzen
Jugendlichen aus São Paulo (Weller 2003). Die große Spannbreite der komparativen Analyse ermöglicht ein hohes Maß an analytischer Abstraktion und Generalisierungspotenzialen. Allerdings stehen in den Berliner Studien überwiegend
männliche Jugendliche aus den sog. bildungsfernen Milieus im Zentrum. Weibliche Jugendliche und deren Entwicklungsstadien und Aktionismen haben wir im
Sinne eines Vergleichshorizonts einbezogen (Bohnsack 1989: Kap. 2.5; Bohnsack /
Loos / Przyborski 2001). Zu den Aktionismen der Suche nach habitueller Übereinstimmung im Bereich intimer Beziehungen bei Mädchen sei auch verwiesen auf
Breitenbach (2000).
Der Übergang von der Realschule in die berufliche Ausbildung bei jungen
Frauen mit Migrationshintergrund und deren krisenhafte Bewältigungsformen in
komparativer Analyse mit einheimischen Mädchen vergleichbarer Schulbildung
und sozialer Herkunft waren Gegenstand der Analyse von Karin Schittenhelm
(2005a, 2005b). Abgesehen von den Unterschieden zwischen den Milieus konnten Gemeinsamkeiten dahingehend herausgearbeitet werden, dass – im Unterschied zu den von uns untersuchten jungen Männern mit Haupt- und Realschulabschluss – die jungen Frauen (von typisierbaren Ausnahmen abgesehen) bei
ihrem Einstieg in die Berufspraxis (trotz auch hier zu beobachtender Enttäuschungen) in ausgeprägterem Maße über Antizipationen ausbildungs- und berufsbezogener Ablaufmuster verfügen und somit auch aktionistische Suchprozesse in dieser Hinsicht weniger zu beobachten sind.6
6
Zur Analyse der Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt siehe auch Karin
Schittenhelm in diesem Band.
136
5
Ralf Bohnsack
Aktionismen: Bildungsprozesse jenseits der Orientierungsschemata
und ihrer zweckrationalen Struktur
Die Aktionismen, die ihren Anfang in der Negationsphase als der zentralen Krise
der Adoleszenzentwicklung bei den männlichen Jugendlichen aus bildungsfernen
Milieus nehmen (genauer dazu: Bohnsack / Nohl 2001), haben für diese zunächst
einmal die Funktion, sich vom (Arbeits-)Alltag situativ zu befreien. Dies dokumentiert sich in den Saufgelagen der in ihr dörfliches Milieus vollständig integrierten Jugendlichen in Franken (Nordbayern) ebenso wie bei den Hooligans aus
der Metropole Berlin und türkischstämmigen Breakdancern aus Berlin. Es geht
hier um eine episodale Negation der Alltagsexistenz, indem, wie es bei den Hooligans heißt (Bohnsack et al. 1995: 232), die Jugendlichen versuchen, „vom Leben
ab(zu)schalten“, „aus dem Rhythmus raus(zu)kommen“, sich aus dem „normalen
stupiden Leben“ zumindest am Wochenende gleichsam herauszukatapultieren.
In Sinne der episodalen Negation der Alltagsexistenz haben Aktionismen also
zunächst einmal grundlegend ihre Funktion im Rahmen eines „Übergangsmoratoriums“ als „Einstiegsphase in berufliche und familiale Erwachsenenlaufbahnen“
(Zinnecker 1991: 73). Diese Funktion wird dort durch eine zweite überlagert, wo
die Jugendlichen sich vor das Problem gestellt sehen, sich auf Grund des Verlusts
tradierter Bindungen – sei es im Kontext gesellschaftlicher Desintegration oder
auch der Migration – auf die Suche nach neuen Gemeinsamkeiten und Milieuzugehörigkeiten zu begeben.
Diese Suche nach Zugehörigkeit, Gemeinsamkeit und habitueller Übereinstimmung findet sich in besonders radikaler Ausprägung in der aktionistischen
Herstellung einer episodalen Schicksalsgemeinschaft bei den Hooligans (Bohnsack
et al. 1995): Indem die Hooligans im kollektiven Aktionismus des „fight“ es darauf
anlegen, sich in die Handlungszwänge einer verlaufskurvenförmig sich verselbstständigenden Dramaturgie des Kampfes verstricken zu lassen, entfaltet sich auf
dem Wege eines Aufeinander-angewiesen-Seins eine Kollektivität, eben eine episodale Schicksalsgemeinschaft, deren Konstitution weder auf Gemeinsamkeiten
der Sozialisationsgeschichte angewiesen ist noch auf voraussetzungsvolle Formen
der Perspektivenübernahme und der Anerkennung der persönlichen Identität des
Anderen.
Hierin unterscheiden sich diese Aktionismen im Sinne der Herstellung einer
episodalen Schicksalsgemeinschaft von den Aktionismen der Rock- und HipHopBands wie auch der Breakdancer, bei denen die Suche nach Zugehörigkeit und
Gemeinsamkeit ihren Ausgangspunkt nimmt beim Einzelnen und seiner persönlichen Identität und individuellen Biografie und Perspektive. Angeknüpft wird
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
137
hier an biografische Gemeinsamkeiten, bei denen es sich aber eben nicht – und
dies ist wesentlich – um solche handelt, die aus der Einbindung in traditionsfeste
Milieuzusammenhänge resultieren, sondern um Gemeinsamkeiten des Erlebens
biografischer Diskontinuitäten und des Verlusts milieuspezifischer Integration.
Die aktionistische Suche ist eine solche nach stilistischen Gemeinsamkeiten. Die
für kollektive musikalisch-textliche Produktionen notwendige Abstimmung des
Zuhörens und Miteinanderspielens wird erst allmählich entfaltet. Es geht nicht
primär um die Inszenierung einer Selbstpräsentation, sondern um die Initiierung
habitueller Übereinstimmung innerhalb der Gruppe wie auch mit dem Publikum
(dazu auch Bohnsack et al. 1995 sowie Schäffer 1996).
Im Unterschied zu ihrer ersten Funktion einer episodalen Negation der Alltagsexistenz, welche die Aktionismen im Kontext des „Übergangsmoratoriums“
gewinnen, kommt ihnen darüber hinaus also eine zweite Funktion zu, diejenige
einer probehaften oder experimentellen Suche nach habitueller Übereinstimmung,
nach Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Sie gewinnen damit eine Funktion im
Kontext des „Bildungsmoratoriums“, wie dies mit Bezug auf Jürgen Zinnecker
(1991: 73) genannt werden kann. Er versteht darunter einen zunehmend „eigenständigen Lebensabschnitt, in dessen Rahmen sich spezifische soziale Lebensweisen, kulturelle Formen und politisch-gesellschaftliche Orientierungsmuster ausbilden“. Allerdings ist unser Verständnis von Bildungsmoratorium nicht daran
gebunden, dass institutionalisierte Vorkehrungen und Freiräume für ein Moratorium gegeben sind, die dieses dann ja wieder in die Nähe institutionalisierter
Ablaufmuster und Orientierungsschemata rücken würden. Vielmehr werden die
Bedingungen für das Moratorium von den Jugendlichen in riskanter Weise selbst
geschaffen – nicht selten auf Kosten von Devianz und Kriminalisierungserfahrungen (siehe auch: Bohnsack 2000).
Die Evidenz der empirischen Analyse bietet uns die Grundlage für eine Erweiterung der Leitdifferenz von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen
um eine dritte Kategorie: diejenige der Aktionismen, die ihre Bedeutung insbesondere im Kontext von Bildungsprozessen entfalten (genauer dazu: Bohnsack
1997 u. 2004 sowie Bohnsack / Nohl 2001). Der Struktur von Orientierungsschemata entspricht die für das zweckrationale Handlungsmodell von Schütz (1974)
konstitutive Trennung von Handlungs-Entwurf (Um-zu-Motiv) einerseits und
dem Vollzug einer an diesem Entwurf (deduktiv) orientierten Handlung andererseits. Im Bereich des habituellen Handlungsmodells und des Modells der konjunktiven Verständigung wird das Handeln durch das Orientierungsmuster nicht
geleitet, sondern dieses ist – als Orientierungsrahmen – in das habituelle Handeln und dessen Kontextuierung eingelassen. Das habituelle Handeln entfaltet
138
Ralf Bohnsack
sich nicht regelgeleitet, sondern regelmäßig in seiner reflexiven oder zirkelhaften
Beziehung zum Kontext. Dabei bietet dieses Modell allerdings keine Freiräume
für kreatives Handeln im Sinne der Innovation von Orientierungsschemata und
Orientierungsrahmen.
Die den Aktionismen7 zugrundeliegende Sinnstruktur lässt sich nicht als eine
Orientierung, als ein Orientierungsmuster (als Oberbegriff zu Orientierungsrahmen und Orientierungsschema), bezeichnen, da es sich hier um eine Suche
nach bzw. ein experimentelles Erproben von Orientierungen und Entwicklungsverläufen unter Bedingungen des Orientierungsverlusts handelt. Zur Logik dieser Such- und Entwicklungsprozesse, zu der auch die Auseinandersetzung mit
Fremdzuschreibungen und Fremdrahmungen gehört, finden sich am ehesten systematische Hinweise in der Tradition der Chicagoer Schule, die als eine weitere
Tradition für die Entwicklung der Dokumentarischen Methode und ihrer Handlungstheorie von Bedeutung ist (dazu: Bohnsack 2005). So betont Howard S. Becker (1963: 36) mit Bezug auf die Entwicklung von Devianz: „Nicht abweichende
Motive führen zu abweichendem Verhalten, sondern genau umgekehrt: das abweichende Verhalten erzeugt mit der Zeit die abweichende Motivation“. Becker
steht damit in der Tradition der Kategorie der „natural history“ in der Chicagoer
Schule. Derartige naturwüchsige, d. h. einer zweckrationalen Betrachtung nicht
zugängliche, Entwicklungsprozesse werden auch mit dem Begriff der „career“ gefaßt. Auf die (offensichtlich auf Robert Park zurückgehende) Kategorie der „natural history“ bezieht sich auch Erving Goffman (1961: 119).
Entscheidende Fortschritte in der Analyse von Entwicklungsprozessen, die in
Aktionismen fundiert sind, findet sich in den empirischen Analysen und metatheoretischen Reflexionen von Arnd-Michael Nohl (2006) im Hinblick auf die
Klärung und Fundierung des Bildungsbegriffs. Er spricht von „spontanen“ Bildungsprozessen und nimmt in der Analyse den Ausgangspunkt bei der Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen in der Adoleszenz mit Bezug auf die oben
skizzierten Studien zu jugendlichen Aktionismen (Bohnsack et al. 1995 sowie
Bohnsack / Nohl 1998 u. 2001 und Nohl 2001), bezieht dann aber Erwachsene in
fortgeschrittenen Phasen des Lebenszyklus mit ein. Auch bei letzteren lassen sich
aktionistische oder spontane Praktiken identifizieren, die sich jedoch von denen
der Jugendlichen u. a. dadurch unterscheiden, dass die mit ihnen verbundene
7
Aktionismen finden sich nicht allein im Rahmen praktischer Bildungsprozesse, also in den ‚bildungsfernen Milieus‘, sondern auch in theoretisch-reflexiven Bildungsprozessen, also bei GymnasiastInnen und Studierenden als „intellektuelle Aktionismen“ (dazu: Nohl 2001: Kap. 4.2 sowie
Asbrand 2009: 173).
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
139
probehafte bzw. experimentelle, also aktionistische, Suche selbst nicht eine kollektive ist, auch wenn diese Suche (zumindest teilweise) wie bei den Jugendlichen
auf neue kollektive Bindungen, also Milieubildungen gerichtet ist.
Auf der Grundlage der von Arnd-Michael Nohl entfalteten empirischen Evidenz und im Anschluss an anspruchsvolle erziehungswissenschaftliche Konzeptionen (u. a. Marotzki 1990) sowie an die praxeologische Wissenssoziologie und die
Chicagoer Schule (vor allem in ihrer philosophischen Abteilung) konnte der Bildungsbegriff in der Weise präzisiert werden, dass die Genese spontaner Bildungsprozesse in der Handlungspraxis selbst (und dort auch vielfach eingebunden in
elementare kollektive Prozesse) zu suchen ist und nicht erst in der (individuellen)
Reflexion auf eine Handlungspraxis. Die Konzeptionierung von Bildung bleibt
nicht mehr auf die theoretisch-reflexive Ebene beschränkt.
6
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen
und Habitus in Bild und Video
Die Leitdifferenz von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen als kategorialer Ausdruck der Leitdifferenz von explizit-theoretischem oder kommunikativ-generalisiertem Wissen einerseits und dem implizit-atheoretischen oder
konjunktiven Wissen andererseits ist auch für die Bild- und Videointerpretation
von elementarer Bedeutung. Sie entspricht jener – für die Kunstgeschichte bahnbrechenden – Leitdifferenz von Ikonografie und Ikonologie, wie sie von Erwin
Panofsky ausgearbeitet worden ist. Die ikonografische Interpretation, die auf das
explizit-theoretische und kommunikative Wissen gerichtet ist, lässt sich im Sinne
von Mannheim (1980: 276 ff.) auch als immanente Interpretation fassen und von
der dokumentarischen Interpretation unterscheiden, die als ikonologische Interpretation im implizit-atheoretischen Wissen fundiert ist. Panofsky ist – wie er
selbst explizit darlegt (1932: 115) – mit dem Wechsel der Analyseeinstellung von
der Ikonografie zur Ikonologie der „Dokumentarischen Methode“ von Mannheim (1964) gefolgt.
Hieran anknüpfend, sowie im Anschluss an Heidegger (1986) und Luhmann
(1990), lässt sich dieser Wechsel der Analyseeinstellung als derjenige vom Was
zum Wie bezeichnen. Es geht um den Wechsel von der Frage, was kulturelle oder
gesellschaftliche Phänomene oder Tatsachen sind, zur Frage, wie diese hergestellt
werden. Im Unterschied zur ikonografischen vollzieht die ikonologische Analyseeinstellung den „Bruch mit den Vorannahmen des common sense“, wie man mit
Bourdieu (1996: 278) sagen könnte, also vor allem den Bruch mit den Unterstel-
140
Ralf Bohnsack
lungen von subjektiven Intentionen und Motiven im Sinne von Orientierungsschemata. Sie unterscheidet sich radikal von der Frage nach dem Was und fragt nach
dem Wie, nach dem modus operandi der Herstellung bzw. Entstehung einer Gebärde. Nach Panofsky erschließt sich auf diese Weise „die eigentliche Bedeutung“
oder der „Gehalt“ einer Gebärde (Panofsky 1975: 40), der „Wesenssinn“ oder „Dokumentsinn“ (Panofsky 1932: 115 u. 118) oder auch der Habitus.
Den Begriff des Habitus als einer der zentralen Grundbegriffe der modernen
Soziologie hat Bourdieu (vgl. 1970: 132 ff.) bekanntlich von Panofsky (vgl. 1989)
übernommen. Bezogen auf den Künstler entspricht dem Begriff des Habitus bei
Panofsky auch der von Alois Riegl übernommene Begriff des „Kunstwollens“. Panofsky (1964: 30) grenzt sich mit seinem Verständnis von einer „missverständlichen Deutung“ dieses Begriffes ab, welche „die künstlerische Absicht, das künstlerische Wollen, als den psychologischen Akt des historisch greifbaren Subjektes
‚Künstler‘ betrachtet“ (ebd.: 31). Diese „künstlerische Absicht“ bewegt sich auf der
Analyseebene des Orientierungsschemas, während er sich, gemäß den bisher getroffenen Unterscheidungen, auf die Ebene des Orientierungsrahmens bezieht.
Um im Weiteren zu klären, inwieweit den Kategorien des Orientierungsschemas und Orientierungsrahmens auch für die Interpretation der lediglich visuell zugänglichen inkorporierten Bewegungen Relevanz zukommt, werde ich im
Folgenden auf die Methodik der dokumentarischen Bildinterpretation eingehen,
wie sie unter anderem auf der Grundlage der Ikonologie von Panofsky entwickelt
worden ist.
6.1
Vor-Ikonografie, Ikonografie und Ikonologie
Bei Panofsky umfasst die Frage nach dem Was nur die Ebene der Ikonografie,
sondern auch die vor-ikonografische Ebene. Die sozialwissenschaftliche Relevanz
dieser Unterscheidung wird vor allem dort deutlich, wo Panofsky (1975: 38) die
von ihm entworfenen Interpretationsschritte nicht im Bereich der Kunst, sondern
des „Alltagslebens“ und dort am Beispiel der Gebärde eines Bekannten erläutert.
Diese Gebärde, die auf der vor-ikonografischen Ebene zunächst als „Hutziehen“
identifizierbar ist, kann im Sinne von Panofsky erst auf der ikonografischen Ebene
als ein „Grüßen“ analysiert werden. In sozialwissenschaftlicher Fortentwicklung
der Argumentation von Panofsky lässt sich dieser Schritt der Interpretation als
derjenige der Unterstellung von „Um-zu-Motiven“ charakterisieren: Der Bekannte zieht seinen Hut um zu grüßen. Dieser Schritt der Zuschreibung von subjektiven Intentionen ist derjenige der Konstruktion von Orientierungsschemata.
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
141
Diese Interpretation ist am Bild selbst nicht beobachtbar, basiert allerdings auf
kommunikativ-generalisierten Wissensbeständen als Grundlage institutionalisierter Handlungen.
Wie bei der Textinterpretation, so können wir auch im Bereich der sozialwissenschaftlichen Interpretation des Bildes auf derartige Konstruktionen von
Orientierungsschemata als ein Vor-Wissen in valider Weise nur insoweit zurückgreifen, als wir es mit generalisierten und weitgehend stereotypisierten, also mit
institutionalisierten, d. h. kommunikativ-generalisierten Wissensbeständen zu tun
haben. Am Beispiel eines Familienfotos bedeutet dies, dass wir zwar aufgrund gesicherter Informationen oder aufgrund von Vermutungen davon ausgehen können oder müssen, dass es sich bei den abgebildeten Personen um eine Familie
handelt und wir somit unser entsprechendes Wissen um die Institution Familie
mit ihren Rollenbeziehungen von Vater und Mutter, Eltern und Kindern etc., also
um stereotypisierte Orientierungsschemata, aktualisieren. Sofern wir aber auch
wissen oder vermuten, dass es sich um die Familie Meier handelt, sollten wir das,
was wir über diese Familie mit ihrer konkreten Familienbiografie wissen, weitest
möglich suspendieren. Suspendiert wird also das konjunktive Vor-Wissen, also
jenes Wissen um die je fall- oder milieuspezifische Besonderheit des Dargestellten,
welches nicht der Analyse dieses Bildes selbst entstammt. Auf die genauere Begründung dieser Besonderheit der Analyseeinstellung in Anlehnung vor allem an
Michel Foucault (1971), Roland Barthes (1990) und vor allem Max Imdahl (1996)
kann ich hier nicht genauer eingehen (genauer dazu: u. a. Bohnsack 2011: Kap. 3.3).
Grundlage der ikonologischen oder dokumentarischen Interpretation des Bildes sind somit vor allem die vor-ikonografische Ebene und im Bereich der ikonografischen Ebene lediglich das kommunikativ-generalisierte Wissen. Besondere
Beachtung erhält darüber hinaus die Rekonstruktion der formalen Komposition
des Bildes (vgl. 6.3).
6.2
Orientierungsrahmen und Habitus der abgebildeten
und abbildenden BildproduzentInnen
Die Frage nach dem ikonologischen Sinngehalt im Sinne von Panofsky zielt also
auf den Habitus bzw. Orientierungsrahmen der BildproduzentInnen. Im Unterschied zur Malerei und Grafik wird es im Bereich der Fotografie notwendig,
grundsätzlich zwei Dimensionen oder Arten von BildproduzentInnen zu unterscheiden: Auf der einen Seite haben wir die (wie ich es nennen möchte) abbildenden BildproduzentInnen, also u. a. Fotografen oder Künstler sowie alle diejenigen,
142
Ralf Bohnsack
die als Akteure, als Produzenten hinter der Kamera und noch nach der fotografischen Aufzeichnung an der Bildproduktion beteiligt sind. Auf der anderen Seite
haben wir die abgebildeten BildproduzentInnen, also die Personen, Wesen oder
sozialen Szenerien, die zum Sujet des Bildes gehören bzw. vor der Kamera agieren.
Dieser Differenzierung wurde in der sozialwissenschaftlich-empirischen Interpretation der Fotografie bisher nicht Rechnung getragen.
Die sich aus der komplexen Relation dieser beiden unterschiedlichen Arten
von BildproduzentInnen ergebenden methodischen Probleme sind dann leicht zu
bewältigen, wenn beide zu demselben Erfahrungsraum, also u. a. zum selben Milieu bzw. zur selben Epoche, gehören. Dies ist beispielsweise dort der Fall, wo ein
Angehöriger der Familie ein Familienfoto produziert oder wenn (wie im Falle
historischer Gemälde, die mir Aufschluss über eine historische Epoche zu geben
vermögen) der Maler ebenso wie die Modelle oder die abgebildeten Szenerien
zur selben Epoche gehören. Denn bei der ikonologischen Interpretation geht es
darum, einen Zugang zum Erfahrungsraum der BildproduzentInnen zu finden,
dessen zentrales Element der individuelle oder kollektive Habitus darstellt. Methodisch komplexer wird das Problem dort, wo der Habitus der abgebildeten mit
demjenigen der abbildenden BildproduzentInnen, also der Fotografen oder Maler,
nicht so ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen ist (als Beispiel siehe:
Bohnsack 2010a: 249 – 257).
6.3
Die Gestaltungsleistungen der abbildenden BildproduzentInnen
Diese betreffen vor allem die formale Komposition des Fotos, bei deren Verständnis wir uns vor allem an Max Imdahl (u. a. 1996: Kap. II) orientieren, der hierin
die wesentliche Grundlage für den Zugang zum Bild in seiner Eigenlogik sieht.
Dazu gehört zum einen die Dimension der „planimetrischen Komposition“, d. h.
der Gestaltung des Bildes in der Fläche, wie sie sich in Foto und Film wesentlich
aus der Wahl des Ausschnitts ergibt, der „Kadrierung“, wie es in der Filmwissenschaft genannt wird. Zum anderen gehört die Wahl der Perspektivität dazu,
die „perspektivische Projektion“ (genauer dazu: Bohnsack 2011: Kap. 3.6). Im Bereich der Video- und Filmanalyse betrifft dies darüber hinaus vor allem Montage (Schnitt bzw. Bildmischung) und Einstellung (genauer dazu: Bohnsack 2011:
Kap. 5.6 u. 6 sowie Baltruschat 2010).
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
6.4
143
Die Gestaltungsleistungen der abgebildeten BildproduzentInnen
Diese betreffen vor allem deren körpergebundenen Ausdrucksformen und die
„szenische Choreographie“ (Imdahl 1996: 19), d. h. die interaktive Positionierung
der abgebildeten Akteure zueinander. Während in der zeitgenössischen Filmwissenschaft die körpergebundenen Ausdrucksformen der abgebildeten BildproduzentInnen von lediglich marginaler Bedeutung sind, vermochte nach Ansicht der
Klassiker der Filmwissenschaft Siegfried Kracauer (1964) und Bela Balázs (2001)
das Medium Film einen bis dahin nicht gekannten Zugang zu elementaren Ebenen sozialer Realität zu eröffnen, nämlich zur Ebene der Gebärden, also der inkorporierten Gesten und der Mimik.
Diese elementare Ebene oder Schicht hat Erwin Panofsky, der nicht nur als
Klassiker der Kunstgeschichte, sondern auch der Filmwissenschaft gilt (Panofsky
1999), auch als diejenige „primärer oder natürlicher Bedeutungen“ oder eben als
vor-ikonografische im Unterschied zur ikonografischen Ebene bezeichnet (Panofsky 1975). Es ist diese vor-ikonografische oder – in der Sprache der Semiotik –
die denotative Ebene (Barthes 1983 u. Eco 1994), deren genaue Beobachtung und
Beschreibung die wesentliche Grundlage der ikonologischen Interpretation und
der dokumentarischen Bild- und Videointerpretation darstellt, die vor allem nach
dem Wie der Herstellung und Gestaltung einer Bewegung oder Handlung fragt.
Ray Birdwhistell, der Klassiker der Bewegungsanalyse, erläutert das Wie am
Beispiel des militärischen Grußes. Diese Handlung – obschon hoch standardisiert – erhält eine enorme Variabilität weitergehender Bedeutungen durch das
Wie ihrer Herstellung: „Durch den Wechsel in Haltung, Gesichtsausdruck, der
Geschwindigkeit oder Dauer der Bewegung des Grüßens und sogar in der Wahl
ungeeigneter Kontexte für die Handlung kann der Soldat den Empfänger des Grußes ehren, herabwürdigen, zu gewinnen versuchen, beleidigen oder befördern“
(Birdwhistell 1968: 380).
6.5
Die Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen:
Gebärden, operative Handlungen und institutionalisierte Handlungen
Um zu klären, inwieweit die Kategorien des Orientierungsschemas und Orientierungsrahmens auch für die Interpretation der lediglich visuell zugänglichen
inkorporierten Bewegungen Relevanz gewinnen, müssen weitere handlungstheoretische Begriffe eingeführt werden: diejenigen der Gebärde (mit ihren Konstituentien, den Kinemen) sowie die Begriffe der operativen und der institutio-
144
Ralf Bohnsack
nalisierten Handlung. Wesentliches Unterscheidungsmerkmal der operativen
Handlungen gegenüber den Gebärden ist, dass erstere – und aus diesem Grund
möchte ich sie bereits als Handlungen bezeichnen – mit zweckrationalen Motivkonstruktionen, d. h. mit Konstruktionen von Um-zu-Motiven, versehen werden
können, wenn auch möglicherweise nur in rudimentärer Weise. Dies geschieht
bspw. derart, dass die einzelne Gebärde (bspw.: ‚Beugen des Rumpfes‘) „selbst nur
Mittel im Sinnzusammenhang eines Entwurfes“ ist, wie Alfred Schütz (1974: 119)
formuliert hat, bspw. des Entwurfes ‚Sich-Hinsetzen‘. Gebärden und ihre Elemente, die Kineme sind also nicht Träger von Orientierungsschemata bzw. nicht
Gegenstand auf sie selbst bezogener Konstruktionen, vermögen uns allerdings
Aufschluss über den Habitus, den Orientierungsrahmen zu geben, sind also Gegenstand ikonologischer resp. dokumentarischer Interpretation.
Durch die Konstruktion von Orientierungsschemata, also durch die zweckrationale Konstruktion von Um-zu-Motiven (‚sie beugt den Rumpf, um sich hinzusetzen‘) wird die Bewegung des Rumpf-Beugens zu einer Handlung. Hier lassen sich dann jeweils weitere Hierarchien von Um-zu-Motiven konstruieren, also
bspw.: ‚Die Lehrerin setzt sich, um den Unterrichtsbeginn zu signalisieren‘. Allerdings ist der Handlungsentwurf beim letzteren Beispiel nicht direkt am Handlungsverlauf beobachtbar, muss vielmehr als Entwurf, als Um-zu-Motiv auf der
Grundlage institutionalisierter (normativer) Erwartungen und Rollenbeziehungen unterstellt oder attribuiert werden. In diesem Fall bewegen wir uns bereits auf
der ikonografischen, der kommunikativ-generalisierten Ebene.
Vor-Ikonografie
(denotative Ebene)
Beispiele
Konstruktion von Motiven
und Orientierungsschemata
Kineme:
Elemente von Gebärden
Kopf und Schultern gehen
nach vorne, Becken nach
hinten etc.
Keine
Gebärden:
Gestik und Mimik
(Kinemorpheme)
Beugen des Rumpfes
Keine
Operative Handlungen
Sich-Setzen
A beugt den Rumpf, um sich zu setzen
(Um-zu-Motiv ist am Bewegungsverlauf
beobachtbar)
Ikonografie
(konnotative Ebene)
Beispiele
Konstruktion von Motiven
und Orientierungsschemata
institutionalisierte
Handlungen
(Rollen)
Lehrerin setzt sich ans Pult
A setzt sich, um den Unterricht zu
beginnen (Um-zu-Motiv ist am
Bewegungsverlauf nicht beobachtbar)
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
145
Die Bewegungsabläufe auf der vor-ikonografischen Ebene möchte ich in Anlehnung
an Birdwhistell (1952) differenzieren in Gebärden (oder auch: Kinemorpheme) einerseits und operative Handlungen andererseits (siehe dazu die obige Matrix und
genauer: Bohnsack 2011: Kap. 5.4). Operative Handlungen (bspw. ‚Sich-Hinsetzen‘,
‚Gehen‘, ‚Hose hochziehen‘) umfassen in der Regel mehrere Gebärden in ihrer Sequenzialität. Träger der Gebärden können die Extremitäten sein, der Kopf, aber
auch die Mimik. Die Gebärden lassen sich ihrerseits noch einmal in ihre Elemente
differenzieren, die ich mit Birdwhistell (1952) als „Kineme“ bezeichne. Die bereits
vorliegenden Videoanalysen auf der Grundlage der Dokumentarischen Methode
setzen auf der vor-ikonografischen Ebene an mit einer genauen Rekonstruktion
von Gebärden und operativen Handlungen und teilweise deren Elementen, den
Kinemen. Dies gilt für die Analysen von Monika Wagner-Willi (u. a. 2005) über
Schülerinteraktionen im Klassenraum oder auch die Arbeit von Amelie Klambeck
(2007) über Patientinnen und Patienten mit „psychogenen Bewegungsstörungen“
und deren Verhalten während der Chefarztvisite.
Die sozialwissenschaftlichen, aber auch die nicht-sozialwissenschaftlichen
Disziplinen, welche auf Bild- und Filminterpretationen angewiesen sind, stehen
dabei vor dem Problem, dass eine Beschreibungssprache auf der vor-ikonografischen Ebene weitgehend fehlt. Allerdings hat Ray Birdwhistell hier bereits in
den 1950er und 1960er Jahren einige wegweisende Vorarbeiten geleistet. Er hat
in seinen empirischen Analysen gezeigt, dass sich der Sinngehalt von Gebärden,
der sog. Kinemorpheme, erst aus der genauen Rekonstruktion der sie konstituierenden Elemente, der Kineme bzw. Kine, erschließen lässt. Dies gilt auch für
die Mimik, bspw. für die mimische Gebärde des Augenzwinkerns („wink“), wie
Birdwhistell (1952: 19) es beschreibt: „a) Das rechte Augen ist geschlossen, während das linke geöffnet bleibt. – b) Die Mundhaltung ist ‚normal‘. – c) Die Nasenspitze ist eingedrückt (Kaninchennase). – d) Der linke Augenhöhlenrand ist
schräg (‚squinted‘).“
Diese Bewegungen auf der Ebene von Kinemen müssen sich gleichzeitig, synchron oder simultan vollziehen, um ihren Ausdruckscharakter, ihre ikonologische
Bedeutung zu erhalten. Die Gebärde des „Zwinkerns“, entfaltet ihre Signifikanz
nur dann, wenn ihre Konstituentien, die elementaren Bewegungseinheiten der Kineme, synchron oder simultan zum Ausdruck kommen. Hiermit ist zunächst das
simultane Zusammenspiel innerhalb abgegrenzter Bereiche des Körpers gemeint
(vgl. Birdwhistell 1952: 17). Idealerweise umfasst die Rekonstruktion des simultanen Zusammenspiels aber den gesamten Körper, orientiert sich an der „‚whole
body‘ conception“, wie Ray Birdwhistell (1952: 8) betont, und bezieht schließlich
146
Ralf Bohnsack
auch die räumliche Positionierung der Körper zueinander mit ein („A dreht B
den Rücken zu“).
Hier wird eine für die Videointerpretation entscheidende methodische Herausforderung erkennbar: Die Interpretation der Semantik von Bewegungen setzt
nicht nur deren Rekonstruktion im sequenziellen Ablauf voraussetzt, sondern
auch in ihrer Simultaneität. Diese erschließt sich in valider Weise aber allein auf
der Grundlage von ‚eingefrorenen‘ Bildern, Standbildern, Stills oder „Fotogrammen“, wie sie auch genannt werden (dazu: Barthes 1990: 64). Es war unter anderem die Bedeutung der Fotogramme für die Interpretation der Gebärden und der
Mimik, welche den Klassiker der Semiotik, Roland Barthes, veranlasst haben, den
Fotogrammen eine zentrale Bedeutung für die Semiotik des Filmes einzuräumen.
Nach Barthes (1990: 64) „lässt sich in gewissem Maß (…) das Filmische paradoxerweise nicht im Film ‚am rechten Ort‘, ‚in der Bewegung‘, ‚in natura‘ erfassen,
sondern bisher nur in einem wichtigen Artefakt, im Fotogramm.“
Somit stellt das Fotogramm nicht nur eine wesentliche Grundlage für die Rekonstruktion der Bewegungen und des Habitus der abgebildeten BildproduzentInnen dar (Kadrierung, Perspektivität und Montage), sondern auch für die Gestaltungsleistungen der abbildenden BildproduzentInnen insbesondere auf der
vor-ikonografischen Ebene und hier vor allem auf derjenigen der Gebärden, also
derjenigen Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen, die nicht Träger
von Orientierungsschemata sind.
6.6
Konstruktion von Orientierungsschemata und die Rekonstruktion
des Orientierungsrahmens oder Habitus in Text- und Bildinterpretation
Am Beispiel der Bild- und Videointerpretation kann nun noch einmal eine Eigenart der ikonologischen oder dokumentarischen Interpretation deutlich werden,
die von elementarer Bedeutung ist: Dieselbe Bewegung, bspw. die Gebärde ‚Beugen des Rumpfes‘, kann immer auf zwei Sinnebenen zugleich interpretiert werden: zum einen mit Bezug auf die Sinnebene eines Orientierungsschemas auf der
Ebene operativer Handlungen (bspw. ‚Sich-Setzen‘) und zum anderen mit Bezug
auf den Orientierungsrahmen. In erster Hinsicht konstruieren wir die Gebärde
zweckrational im Rahmen der Zuschreibung eines Um-zu-Motivs (‚Sich-Setzen‘),
mit der wir uns auf die Suche nach dem subjektiv gemeinten Sinn begeben. Zum
anderen und zugleich kann die Gebärde auch (wenn wir nach dem Wie ihrer Herstellung fragen) als Dokument für den Orientierungsrahmen, für das Wesen oder
Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
147
den Habitus des Akteurs (‚Unsicherheit‘, ‚Gebrechlichkeit‘) interpretiert werden.
Entscheidend ist dann, wie sich jemand hinsetzt, oder dass er oder sie sich setzt:
„Nicht das ‚Was‘ eines objektiven Sinns, sondern das ‚Daß‘ und das ‚Wie‘ wird
von dominierender Wichtigkeit“ (Mannheim 1964: 134). Diese Analyseeinstellung
der Dokumentarischen Methode lässt sich auch als die Analyseeinstellung auf das
Performative bezeichnen (dazu auch: Bohnsack 2007).
Methodologisches und methodisches Prinzip der dokumentarischen Interpretation ist es, diese Frage nach dem Wie, nach dem Orientierungsrahmen oder
dem modus operandi, dem Habitus, zugleich auf unterschiedlichen Dimensionen
desselben Falles zu stellen, so dass diese unterschiedlichen Interpretationsdimensionen einander wechselseitig zu validieren vermögen. Im Falle der Interpretation der Bewegungen der abgebildeten BildproduzentInnen sind dies vor allem
die unterschiedlichen Ebenen der Kineme, der Gebärden, der operativen Handlungen und der institutionalisierten Handlungen, die in der empirischen Analyse
in ihrem Bezug aufeinander interpretiert werden. Im Bereich von Bild, Film und
Video stellt die vor-ikonografische Ebene und vor allem diejenige der Gebärden,
wie sie unterhalb der Konstruktion von Orientierungsschemata angesiedelt sind,
allerdings die primordiale Grundlage der ikonologischen oder dokumentarischen
Interpretation dar.
Im Rahmen der Bildungsmilieuforschung, aber auch darüber hinaus, erweitert
die Bild- und Videointerpretation den Zugang zu den milieuspezifischen Orientierungsmustern und Stilen erheblich. Schwerpunkt und besondere Leistungsfähigkeit der Dokumentarischen Methode liegen, wie dargelegt, ganz allgemein
im Bereich der Interpretation vorreflexiver oder genauer: atheoretischer Wissensbestände, denen handlungsleitende Qualität zukommt. Diese lassen sich (vgl. dazu
insbesondere Abschnitt 3.1) differenzieren in implizite und inkorporierte Wissensbestände. Erstere erschließen sich uns auf dem Wege der Analyse von Gesprächen,
Gruppendiskussionen und Interviews (im Falle der Milieuforschung ist letzterer
Zugang allerdings eher als Um-Weg anzusehen), also auf dem Wege der Textinterpretation. Demgegenüber sind die inkorporierten Wissensbestände (deren handlungsleitende Qualität als noch elementarer gelten kann) ausschließlich auf dem
Wege der Bild- und Videointerpretation, also der Analyse materialer Bilder, in
valider Weise empirisch zugänglich. Für die (Bildungs-)Milieuforschung eröffnet
insbesondere die Triangulation von Text- und Bildinterpretation neue Perspektiven. Auf der Basis von Gruppendiskussionen, Tischgesprächen und selbst erstellten Fotos aus unterschiedlichen Familienmilieus (die Familie ist hier also zugleich
abgebildete und abbildende Bildproduzentin) konnte eine derartige Triangulation
148
Ralf Bohnsack
in ersten Ansätzen ausgearbeitet werden (siehe: Bohnsack 2011: Kap. 4.3). Die Triangulation von Text- und Bildinterpretation steigert die Validität des empirischen
Zugangs zu den unterschiedlichen milieuspezifischen Orientierungsrahmen und
Habitus und eröffnet neue Perspektiven auf deren tiefer liegende Komponenten.
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Orientierungsschemata, Orientierungsrahmen und Habitus
149
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Dokumentarische Methode
in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
Von der soziogenetischen zur relationalen Typenbildung
Arnd-Michael Nohl
Es ist ein besonderes Verdienst der qualitativen Ansätze in der Bildungs- und
Arbeitsforschung, die (individuelle wie kollektive) Subjektivität der Akteure im
Bildungs- und Wirtschaftssystem, ihre Erfahrungen, Deutungs- und Bearbeitungsmuster sozialer Probleme empirisch zugänglich gemacht zu haben. Angesichts einer immer ausgefeilteren quantitativen Forschung, die zentrale, aber von
den Erlebnishorizonten der Betroffenen weitgehend abgehobene Einsichten in
den Zustand der Bildungsorganisationen und des Wirtschaftslebens ermöglicht
(denke man nur an PISA oder die Studien des IAB), gilt es nun auch der Perspektive ihrer Akteure Rechnung zu tragen. Doch darf sich die qualitative Bildungsund Arbeitsforschung nicht in der Subjektivität der Akteure verlieren, sondern
ist immer auch darauf verwiesen, diese im Zusammenhang mit gesellschaftlichen
Strukturen zu untersuchen. Meine folgenden Überlegungen erörtern die Frage,
wie Erfahrungen und Orientierungen im Bereich von Bildung und Arbeit in
ihrem sozialen Zusammenhang rekonstruiert werden können.
Ich beziehe mich dabei auf die dokumentarische Methode als einen Ansatz der
qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung (Abschnitt 1). Dort werden fallübergreifende Orientierungen in einer ‚sinngenetischen Typenbildung‘ herausgearbeitet (Abschnitt 2), um sie dann – in einer ‚soziogenetischen Typenbildung‘ – auf
die sozialen Zusammenhänge ihrer Genese (z. B. Generation, Geschlecht, Klasse)
hin zu untersuchen (Abschnitt 3). Auf der Basis neuerer Forschungsarbeiten soll
dann gezeigt werden, dass sich Orientierungen aber nicht nur auf etablierte soziale Erfahrungsstrukturen beziehen, sondern auch auf ihre Relation zu anderen,
unterschiedlich dimensionierten Orientierungen hin typisieren lassen. Dieser er-
156
Arnd-Michael Nohl
gänzende Ansatz der Rekonstruktion sozialer Zusammenhänge von Bildung und
Arbeit wird als ‚relationale Typenbildung‘ bezeichnet (Abschnitt 5).1
1
Zur dokumentarischen Methode
Die dokumentarische Methode, so wie sie von Ralf Bohnsack im Rahmen einer
Studie zum Übergang Jugendlicher von der Schule in den Beruf entwickelt wurde
(vgl. Bohnsack 1989), zielt darauf, die Art und Weise, in der Menschen mit den
Themen und Problemen ihres Lebens (zum Beispiel mit Bildung und Arbeit) umgehen, zu rekonstruieren. Eine immanente Betrachtung dieser sozialen Prozesse
würde sich in der Zusammenfassung und Systematisierung von Akteursperspektiven erschöpfen; daher geht es darüber hinaus um die Rekonstruktion des „Orientierungsrahmens“ (Bohnsack 2007a: 141), innerhalb dessen Akteure handeln. Dieser Orientierungsrahmen muss den Akteuren selbst nicht bewusst sein; als eine
implizite Ebene ihres Wissens ist er nicht so ohne Weiteres durch diese explizierbar, sondern muss von den Forschenden aus der (beobachteten oder von den Akteuren erzählten) Handlungspraxis heraus rekonstruiert werden.2
Der Wissenssoziologe Karl Mannheim, auf dessen Werk sich Bohnsack in seiner Ausarbeitung der dokumentarischen Methode bezieht, unterstreicht, dass solche Orientierungsrahmen3 in ihrer „Funktionalität nach mehrfachen Richtungen
hin“ erfasst werden können: „einmal als Funktion umfassender seelischer Konstellationen, als Funktion der Weltanschauung des jeweiligen Einzelindividuums,
das andere Mal als Funktion des Strebens der Gruppen nach wirtschaftlicher und
gesellschaftlicher Macht“ (Mannheim 1980: 89). Den letzteren, den Bezug auf den
„Gesellschaftsprozeß“ (ebd.: 76), bestimmt Mannheim als die eigentliche Aufgabe
1
2
3
Anja Mensching, Karin Schittenhelm, Ralf Bohnsack, Ulrike Ofner und Franca Seufferle haben
mir zu Vorversionen dieses Aufsatzes wertvolle Ratschläge gegeben. Von diesen und der Diskussion meiner Überlegungen in der Forschungswerkstatt von Ralf Bohnsack und den Graduiertenkollegs von Werner Helsper, Friederike Heinzel, Heinz Sünker und Werner Thole habe ich sehr
profitiert.
Zur dokumentarischen Methode siehe die Beiträge von Ralf Bohnsack und Florian von Rosenberg in diesem Band. Vgl. darüber hinaus als Einführungen: Bohnsack 2007a, Loos / Schäffer
2001, Nohl 2009b und Przyborski / Wohlrab-Saar 2009.
Mannheim selbst spricht vom „Prozeß des Denkens und Erkennens“ (1980: 89).
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
157
der Soziologie. Sie versucht die „sozialen Gruppentypen“ (ebd.: 88) zu erfassen,
die hinter den Kulturgebilden stehen.4
Aus diesem Grund bleibt die dokumentarische Methode nicht beim Einzelfall (beim „Einzelindividuum“) stehen, sondern löst die Orientierungsrahmen
von der Spezifik der Einzelfälle ab und sucht nach fallübergreifenden Orientierungsrahmen. Auf der Basis einer umfassenden komparativen Analyse, innerhalb
derer Fälle in unterschiedlicher Hinsicht miteinander verglichen werden (siehe
dazu Nohl 2007 u. 2009a), werden dann Typiken gebildet. Zunächst werden in der
sinngenetischen Typenbildung einzelne, fallübergreifende Orientierungsrahmen
typisiert. Dann wird in der soziogenetischen Typenbildung der „Erlebnishintergrund, der spezifische Erfahrungsraum, in dem die … Genese dieser spezifischen
Orientierungen zu suchen ist“, in die Typenbildung mit einbezogen (Bohnsack
2007a: 142). So verstanden, wird in der soziogenetischen Typenbildung untersucht, wie die Art und Weise, in der Menschen mit den Problemen ihres Lebens
umgehen, wie ihre Orientierungen in kollektiven Erfahrungsräumen, in – abstrakt zu denkenden – ‚sozialen Gruppentypen‘ (um die Wortwahl Mannheims
aufzugreifen) verankert sind.5
Solche kollektiven Erfahrungsräume können im Anschluss an Mannheim
(und an ihn anknüpfend an Bohnsack) als spezifische Ausprägungen „sozialer
Lagerungen“ (Mannheim 1964b) wie jener des Geschlechts, der Generation, der
Klasse oder der Migration verstanden werden. Wichtig für die dokumentarische
Methode ist es, dass diese sozialen Lagerungen nur ein Potenzial an gleichartigen
Erfahrungen (etwa als Arbeiter, als Frau oder als Migrant) bereithalten. Erst die
empirische Analyse kann zeigen, ob Menschen derartige strukturidentische Erfahrungen machen und in welchen (möglicherweise unterschiedlichen) kollektiven Orientierungsrahmen sie jene bewältigen. Die soziogenetische Typenbildung
untersucht die Einbindung dieser unterschiedlichen Orientierungsrahmen in kollektive Erfahrungsräume.
In meinem Beitrag möchte ich nun zeigen, dass im Bereich der qualitativen
Bildungs- und Arbeitsforschung zwar durchaus kollektive Orientierungen in ihrer
Soziogenese zu typisieren, also auf kollektive, geschlechts-, generations- oder z. B.
schichtspezifische Erfahrungsräume zu beziehen sind; damit werden aber die Po4
5
Neben der hier angeführten Schrift sind vor allem Mannheims „Beiträge zur Theorie der Weltanschauungsinterpretation“ (1964a) für die Entwicklung der dokumentarischen Methode zentral
gewesen.
Zur Typenbildung in der Auswertung von Gruppendiskussionen siehe Nentwig-Gesemann 2007
und Bohnsack 2007b, für die typisierende Auswertung von narrativen Interviews siehe Nohl
2009b: 57 ff.
158
Arnd-Michael Nohl
tenziale der dokumentarischen Methode noch nicht voll ausgeschöpft. Denn über
den Zusammenhang von Orientierungen und kollektiven Erfahrungsräumen hinaus kann mit dieser Methode rekonstruiert werden, in welcher Relation unterschiedliche typisierbare Orientierungen zueinander stehen. Bevor ich diese relationale Typenbildung näher erläutern kann, möchte ich zunächst die Eckpunkte
der sinn- und soziogenetischen Typenbildung anhand von Forschungsbeispielen
und methodologischen Überlegungen skizzieren.
2
Zur sinngenetischen Typenbildung
Der Begriff der sinngenetischen Typenbildung, wie er von Bohnsack entwickelt
wurde, geht ursprünglich auf Mannheims Überlegungen zur „sinngenetischen Interpretation“ zurück. Wie Mannheim (1980: 86) deutlich macht, sucht die sinngenetische Interpretation „nicht die faktische Entstehung, sondern den Ursprung
der in einem System enthaltenen Motive durch eine rein typologische Nebeneinanderstellung der (in der betreffenden Sphäre) überhaupt möglichen Motive
aufzuweisen und die für die getroffene Wahl immanent entscheidenden Gründe
darzulegen“. Der Begriff der Immanenz darf in diesem Zitat nicht missverstanden werden. Es geht der dokumentarischen Methode gerade darum, nach dem
immanenten Sinngehalt des Textes auch dessen dokumentarischen Sinngehalt
zu erfassen, wie er in dem Orientierungsrahmen fundiert ist. Ein solcher Orientierungsrahmen wird dann in der sinngenetischen Typenbildung vom Einzelfall
abstrahiert, gleichwohl aber noch nicht auf diesen Orientierungsrahmen übergreifende, jenseits von ihm liegende Prozessstrukturen bezogen. Das ist hier die
Bedeutung der ‚immanent entscheidenden Gründe‘.
Der sich in einem Fall abzeichnende Orientierungsrahmen gewinnt schärfere
Konturen, wenn man ihn mit dem Orientierungsrahmen eines anderen Falles vergleicht (vgl. Bohnsack 2007a: 65). Denn würde man einen einzelnen Fall daraufhin untersuchen, wie in ihm eine Problemstellung bewältigt wird, wie z. B. ein
Einstieg in den Arbeitsmarkt gefunden wird, könnten die Forschenden diese Interpretation nur vor dem Hintergrund ihrer eigenen Normalitätsvorstellungen,
Erfahrungen und (Alltags-)Theorien zum Arbeitsmarkteinstieg anfertigen. Ihnen
würde also hauptsächlich das auffallen, was ihren eigenen Erwartungen gleicht
oder von ihnen stark abweicht. Wenn man jedoch zwei Fälle daraufhin vergleicht,
wie sie mit ein und derselben Problemstellung auf unterschiedliche Weise umgehen, lässt sich die Rekonstruktion der Orientierungsrahmen stärker von der Voreingenommenheit der Forschenden mit ihren Erwartungen ablösen. Der zweite
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
159
(und der potenzielle dritte, vierte) Fall erweitert die Interpretationsfolie um empirische Vergleichshorizonte. Auch wenn die Einbindung des Erkenntnisprozesses in die Erfahrungswelt der Forschenden, auf die Mannheim (1985: 229) mit
dem Begriff der „Seinsverbundenheit“ Bezug nimmt, prinzipiell nie aufzuheben
ist, wird sie hier doch – soweit möglich, d. h. soweit die empirischen Vergleichshorizonte reichen – einer methodischen Kontrolle unterworfen (vgl. Nohl 2007).
Nehmen wir für die vergleichende Rekonstruktion von Orientierungsrahmen
und die an sie anknüpfende sinngenetische Typenbildung ein Beispiel aus einer
Studie zu Entrepreneuren, d. h. Kleinunternehmer(inne)n (siehe Nohl / Schondelmayer 2006). Es ging uns in dieser Untersuchung sowohl um die biografischen
Hintergründe der Existenzgründung als auch um die Erfahrungen, die sich mit
ihr verknüpfen. Aus diesem Grunde haben wir mit den Gründer(inne)n narrative
Interviews (im Sinne von Schütze 1983) geführt, die mit einer erzählgenerierenden Frage zur Lebensgeschichte begannen und nach der Eingangserzählung mit
Fragen zur Existenzgründung weitergeführt wurden.6 Eine dieser Fragen richtete
sich auf die Arbeitsteilung im Unternehmen. In einem Interview mit einer jungen
Frau namens Demir7, die mit ihrem Mann und dessen Freund – welche im Interview des Öfteren als „die beiden Männer“ bezeichnet werden – einen Laden für
geröstete Nüsse, Sonnenblumenkerne usw. eröffnet hat, findet sich folgende Passage (Nohl / Schondelmayer 2006: 203 f.):8
Interv.:
Demir:
Interv.:
Demir:
6
7
8
was machen dann diese Mitarbeiter?
den Verkauf.
den Verkauf. mmh.
die decken den Verkaufsbereich ab, also rösten tun immer noch die beiden
Männer, //ja// und da sie auch kennen das ist ganz sensible Ware, //mmh// die
Das narrative Interview wurde hier also nur zum Teil zur Erhebung der Biografie genutzt, zum
anderen Teil diente es dazu, die praktische Expertise der Existenzgründer / innen in Stegreiferzählungen hervorzulocken, ganz im Sinne des Experteninterviews, wie es Meuser / Nagel (1994
u. 2002) konzipiert haben. Zur dokumentarischen Interpretation narrativ strukturierter Experten- und biografischer Interviews siehe Nohl 2009b.
Dieser wie auch alle weiteren Namen und personenbezogenen Angaben sind aus Gründen der
Anonymisierung geändert.
Folgende Regeln fanden bei dieser und allen folgenden Transkriptionen Anwendung: (3) bzw. (.):
Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert, bzw. kurze Pause; nein: betont; . : stark sinkende Intonation; , : schwach steigende Intonation; vielleich-: Abbruch eines Wortes; nei::n: Dehnung, die
Häufigkeit von : entspricht der Länge der Dehnung; (doch): Unsicherheit bei der Transkription;
( ): unverständliche Äußerung, je nach Länge; ((stöhnt)): parasprachliche Ereignisse; @nein@:
lachend gesprochen; @(.)@: kurzes Auflachen; //mmh//: Hörersignal des Interviewers; : Überlappung der Redebeiträge; °nein°: sehr leise gesprochen.
160
Arnd-Michael Nohl
muss ja wirklich äh (.) richtig gelernt werden, //mmh// wenn überhaupt dann
müsste man jemand ausbilden dafür; //mmh// richtig. //mmh// (1)
Frau Demir unterscheidet hier offenbar zwischen der Arbeitstätigkeit ihres Mannes und dessen Freundes, denen das ‚Rösten‘ der „ganz sensiblen Ware“ vorbehalten bleibt, von der Verkaufstätigkeit der anderen Mitarbeiter. Der Orientierungsrahmen, der hier der Arbeitsteilung im Unternehmen unterliegt, lässt sich dann
am leichtesten identifizieren und explizieren, wenn man ihn einem kontrastierenden Orientierungsrahmen gegenüber hält. Dabei dient dieser Vergleich zunächst
noch vornehmlich dazu, den Orientierungsrahmen (in dem ein Thema bearbeitet
wird) in dem ersten Interview dadurch besonders genau zu rekonstruieren, dass
er sich von den Orientierungsrahmen in einem anderen Interview klar abgrenzen lässt.
Einen maximalen Kontrast bietet (allerdings nur in dieser Hinsicht) ein (Paar-)
Interview, das ich mit zwei Grafikdesignerinnen geführt habe, die ein kleines Büro
in Ost-Berlin aufgebaut hatten. Angeregt durch eine meiner Fragen, geht Frau
Scharte auf die „Arbeitsaufteilung“ ein (Nohl / Schondelmayer 2006: 188 f.):
Scharte:
Meier:
Scharte:
Meier:
Scharte:
Meier:
Scharte:
(1) und Arbeitsaufteilung? (.) des hat sich irgendwie so ergeben; ham wir gar
nich richtig geplant also- //mmh//
dadurch dass wir uns gut kennen, befreundet sind; (.) also s is schon klar dass
wir vielleicht Layout zusammen machen oder jeder versucht ne eigene Idee zu
machen und dann kucken wir was geht, oder wir bieten beide Ideen an, ähm (2)
Hundertprozent läuft es immer so dass (.) so Bettina die Grafik am Ende übernimmt, die Reinzeichnung, die Druckbetreuung mehr als ich, das hab ich nicht
gelernt; und dass ich mich um- viel um Fotos kümmer oder um (.) ja das Bild,
die Farben die an sich dahin passen, in der Richtung, dass ich zweigleisig auch
noch mich mehr um Fotos kümmer, als du, aber sonst? dass wir ja Rechnung,
also eigentlich machen wir v- alles gemeinsam; oder je nach dem wer gerade (.)
//mmh// Lust hat. oder?
na ja; gut.
viel machst du so Druckerei
aber solche schwierigeren Telefonate übernimmst du schon;
ja.dafür musst du dich mit den Druckereien @rumprügeln@ aber
@(.)@ also es gibt einfach so wenn man zusammen arbeitet, entwickelt sich des,
Zunächst einmal ist festzustellen, dass in diesem Transkriptausschnitt keine klare
Trennung der Arbeitsbereiche vorliegt, sondern die beiden „alles gemeinsam“ ma-
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
161
chen. Auch wenn sich hier unterschiedliche Schwerpunkte gebildet haben – Frau
Meier übernimmt die „Telefonate“, Frau Scharte die Gespräche mit der „Druckerei“ –, so beherrschen doch beide prinzipiell alle Arbeitsfelder. Es deutet sich hier
ein ganz anderer Orientierungsrahmen als im oben zitierten Interview an. Während bei Frau Demir die Mitarbeiter im Verkauf als Personen angesehen werden,
die vornehmlich zuarbeiten, ist die Arbeit im Grafikdesignbüro von einer Kooperation geprägt.
In der sinngenetischen Typenbildung erhalten die kontrastierenden Orientierungsrahmen der Vergleichsfälle nun eine eigenständige Bedeutung. Sie werden
also nicht mehr nur als ‚Nicht-A‘, sondern als B, C und D in ihrer eigenen Sinnhaftigkeit gesehen. Es geht darum, die – um ein bereits angeführtes Zitat von Karl
Mannheim erneut heranzuziehen – „in einem System enthaltenen Motive [d. h.
die Orientierungsrahmen; AMN] durch eine rein typologische Nebeneinanderstellung der (in der betreffenden Sphäre) überhaupt möglichen Motive aufzuweisen“ (1980: 86). Dies ist dadurch möglich, dass man die rekonstruierten Orientierungsrahmen vom Einzelfall ablöst und damit abstrahiert. Hier nun kommt
der minimale Kontrast ins Spiel. Indem ich weitere Fälle heranziehe, die dem im
Interview mit Frau Demir sich andeutenden Orientierungsrahmen ähneln, und
solche, die dem zweiten Interview nahe kommen, kann ich Typen ausformulieren.
In Bezug auf die Arbeitsteilung im Unternehmen finden sich in einem Interview mit einer Puppenbauerin Homologien zu Frau Demir. Frau Hintzer, die
eine besondere Art und Weise entwickelt hat, Filzpuppen zu bauen und kunstvoll
zu gestalten, hat eine Mitarbeiterin, zu der die Interviewerin im Folgenden eine
Frage stellt (Nohl / Schondelmayer 2006: 199 f.):
Y:
Hintzer:
und mit der sprichst du dann auch geschäftliche Dinge ab, oder ? bist du da (.)
ganz mit dir alleine?
die beteiligt sich nicht daran. also die macht wirklich- es ähm also ich weiß nich
ob man- wie offiziell das is; hier? //nich so offiziell// gar nich offiziell. im Prinzip
arbeitet se ja im Moment wirklich schwarz. ne, //mmh// so. also sie baut Puppen,
und kriecht dafür- also se im Prinzip isses n Werkvertrag; also sie kriecht baut
Puppen und kriecht Stück (.) Geld dafür; //ja// und (1) und das würde auch weiter so bleiben; mit dem Geschäftlichen und mit der Ideenfindung und solchen
Sachen hat se nüscht zu tun. das sind meine Puppen. (1)
Selbst hier, wo die Mitarbeiterin auch in der Produktion – also nicht nur im Verkauf wie bei Frau Demir – beschäftigt ist, wird der Umgang mit ihr durch einen
Orientierungsrahmen geprägt, der klar zwischen der Tätigkeit der Entrepreneu-
162
Arnd-Michael Nohl
rin (Frau Hintzer selbst) und der Hilfe durch die Mitarbeiterin unterscheidet. Jene
ist für das „Geschäftliche“ und die „Ideenfindung“ nicht zuständig, sodass Frau
Hintzer darauf bestehen kann: „Das sind meine Puppen“.
Wir haben in unserer Studie diesen Orientierungsrahmen – der sich auch
noch in weiteren Interviews zeigen ließ – als jenen der ‚Zuarbeit‘ bezeichnet und
von einem Orientierungsrahmen der ‚Kooperation‘ abgegrenzt. Letzterer dokumentierte sich nicht nur in dem bereits erwähnten Interview mit Frau Meier und
Frau Scharte, sondern auch in den Schilderungen von Herrn Reichmann, der ein
Büro zur Organisation von Bandtourneen gegründet hat (ebd.: 193):
Reichmann: ich mach den ganzen Kram- den ganzen Job jetzt halt schon seit zehn Jahren,
und hab deswegen sicherlich die meiste Erfahrung, kann die Sachen besser einschätzen und hab die Kontakte, äh (.) meine Kollegin Missi mit der ich das äh
von Anfang an zusammen mache, hat sicherlich ne vorbild- macht das jetzt aber
in unserer Firma im Prinzip seitdem die ganze Zeit also s-sie lernt noch, hat aber
mittlerweile sich=n großes Wissen erlangt und is einfach auch in der Lage sagen
wir mal so wenn keine Ahnung ich krank bin oder so dann is sie absolut in der
Lage die Firma allein zu führen; was gut is; und was auch n bisschen also äh auf
gegenseitig natürlich beruht, was n bisschen beruhigt dass man sich nicht so äh
völlig äh (1) wie soll ich sagen? äh allein verantwortlich fühlt oder so //mmh//
und das mit einem steht und fällt äh was ganz schön belastend sein kann natürlich; äh das is glaub ich nich so; da ergänzen wir uns ganz gut
Während Frau Meier und Frau Scharte das Grafikdesignbüro gemeinsam aufgebaut hatten, wird im Interview mit Herrn Reichmann deutlich, dass der Orientierungsrahmen der Kooperation auch den Umgang mit Mitarbeiter(inn)en
strukturieren kann, die nicht am Unternehmen wirtschaftlich beteiligt sind. Die
„Kollegin Missi“ hat, so Herr Reichmann, inzwischen die zentralen Abläufe der
Buchung von Bands erlernt und ist „in der Lage die Firma allein zu führen“. Der
Orientierungsrahmen der Kooperation ist also nicht nur in einem Fall, sondern
auch – mit einem minimalen Kontrast – in weiteren Fällen zu finden.
Die Abstraktion der jeweiligen Orientierungsrahmen und die hiermit ermöglichte sinngenetische Typenbildung lassen sich also dadurch erleichtern, dass weitere Interviews herangezogen werden. So kann dann ein Orientierungsrahmen A,
der zunächst nur in Interview A sichtbar war, nun auch in Interview Y und X herausgearbeitet – und auf diese Weise vom Einzelfall A abgelöst – werden. Und ein
Orientierungsrahmen B, der zunächst nur in Interview B sichtbar war, kann nun
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
163
auch in Interview S und T herausgearbeitet – und auf diese Weise vom Einzelfall
B abgelöst – werden; und so weiter und so fort.
Die sinngenetische Typenbildung zeigt, in welch unterschiedlichen Orientierungsrahmen die erforschten Personen jene Themen und Problemstellungen bearbeiten, die im Zentrum der Forschung stehen. Sie macht aber nicht deutlich, in
welchen sozialen Zusammenhängen und Konstellationen die typisierten Orientierungsrahmen entstanden sind. Zum Beispiel zeigt die oben am Beispiel dargestellte sinngenetische Typenbildung nicht, inwiefern der Orientierungsrahmen
der Kooperation möglicherweise mit einer bestimmten Form der Produktionsweise zusammenhängt. Schon in den Transkriptausschnitten finden sich ja Hinweise auf solche existenziellen Hintergründe der Orientierungsrahmen, wenn z. B.
das ‚Rösten‘ oder die „Ideenfindung“ beim Puppenbauen als eine hohe Kunst präsentiert werden, während das Buchen einer Band als durch Erfahrung erlernbar
dargestellt wird. Diese Frage nach den sozialen Zusammenhängen und der sozialen Genese eines Orientierungsrahmens werden in der soziogenetischen Typenbildung bearbeitet.
3
Soziogenetische Typenbildung
Angesichts ihrer „soziogenetischen Einstellung auf die Funktionalität der Kulturgebilde“ (Mannheim 1980: 85) richtet die dokumentarische Methode „ihr Augenmerk“ darauf, wie die Orientierungsrahmen im „Gesellschaftsprozeß“ verankert
sind (ebd.: 76). Dabei ist es letztlich gleich, ob die „Kulturgebilde“, „Werke“ oder
Orientierungsrahmen bei einem Individuum identifiziert worden sind oder gleich
in Gruppen bzw. bei Paaren (wie etwa bei Frau Meier und Frau Scharte). Auch
individuell gemachte Erfahrungen, wie sie in biografisch angelegten narrativen
Interviews erzählt werden, können – wie Mannheim deutlich macht – „gruppenbedingt“ sein, selbst „wenn die Gruppe nicht selbst leibhaftig gegenwärtig ist“
(ebd.: 81).
An dieser Stelle müssen zwei Differenzierungen eingeführt werden:9 Die Rekonstruktion unterschiedlicher Fälle zeigt zunächst, ob die involvierten Personen
von einem gemeinsamen Problem oder Sachverhalt (z. B. einem historischen Ereignis wie dem Mauerfall) betroffen sind, ob sich dieser also in ihren Erfahrun9
Ich beziehe mich im Folgenden auf Überlegungen aus Karl Mannheims Aufsatz zum „Problem
der Generationen“ (Mannheim 1964b), ohne seine Wortwahl und den engen Bezug zum Begriff
der Generation zu übernehmen.
164
Arnd-Michael Nohl
gen niederschlägt. Sodann ist davon auszugehen, dass dieser Sachverhalt in unterschiedlicher Art und Weise erfahren und bewältigt werden kann (z. B. mögen die
einen den Mauerfall als Zugewinn an Freiheit erfahren und entsprechend genutzt,
die anderen aber als Einsturz ihrer biografischen Perspektiven erlebt haben). Nur
dort und insoweit Probleme und Sachverhalte in einer von der Struktur her identischen Art und Weise erfahren und bewältigt werden, kann man von einem
kollektiven Erfahrungsraum mit seinem entsprechenden Orientierungsrahmen
sprechen. Wenn man mit der dokumentarischen Methode die Verankerung eines
Orientierungsrahmens im Gesellschaftsprozess herausarbeiten möchte, gilt es
daher, dessen Genese in einem spezifischen kollektiven Erfahrungsraum zu rekonstruieren. Diese Rekonstruktion ist nur dann in valider Weise möglich, wenn
man den Orientierungsrahmen von anderen Orientierungsrahmen, die in anderen Erfahrungsräumen eingebettet sind, empirisch abgrenzen kann (wenn man,
um im Beispiel zu bleiben, zeigen kann, auf welche Art und Weise in dem einen
kollektiven Erfahrungsraum der Mauerfall verarbeitet wird und wie sich dies von
den entsprechenden Orientierungsrahmen in anderen Erfahrungsräumen unterscheidet).
Es würde allerdings einen essentialistischen Fehlschluss implizieren, würde
man den kollektiven Erfahrungsraum einerseits und gruppenhaftes kollektives
Handeln andererseits nicht voneinander differenzieren. Während gruppenhaftes kollektives Handeln an Kopräsenz gebunden ist, basiert eine kollektive Erfahrungsschichtung auf strukturidentischen, d. h. homologen Erfahrungen. Menschen erleben ein bestimmtes Ereignis auf eine gleiche Art und Weise, ohne es
notwendig gemeinsam zu erleben (vgl. Bohnsack 2007a: 112 f.).
Schon in der oben angeführten Entrepeneurship-Studie deutete sich an, dass
der Orientierungsrahmen der Zuarbeit mit einer überindividuellen, bei unterschiedlichen Individuen zu beobachtenden Produktionsweise (die kunstförmig
ist) zusammenhängen könnte. Prägnanter ließ sich die Fundierung individuellen
Handelns in kollektiven Erfahrungsräumen in einer Untersuchung zu spontanen
Bildungsprozessen rekonstruieren (siehe Nohl 2006).
Ziel dieser Studie war es, anhand von biografisch-narrativen Interviews (vgl.
Schütze 1983; Nohl 2009b) herauszuarbeiten, wie Menschen, angestoßen durch
ungeplante, nicht erzwungene und insofern spontane Handlungspraktiken, sich
in ihren zentralen Lebensorientierungen so stark verändern und hierbei eine
Subjektivierung erfahren, dass von einem Bildungsprozess gesprochen werden
kann. Dieser Bildungsprozess hat sechs Phasen, auf die ich hier nicht im Einzelnen eingehen kann. Wichtig ist dabei aber, dass diese sechs Phasen, in denen die
Betroffenen Erfahrungen machen, die sie selbst – auch in ihrer Darstellung – als
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
165
vornehmlich individuelle erleben, bei neun ganz unterschiedlichen Menschen rekonstruiert und auf diese Weise sinngenetisch typisiert werden konnten.
Genauer konnte die Einbettung dieser Bildungsphasen in kollektive Zusammenhänge herausgearbeitet werden, indem systematisch Personen unterschiedlichen Lebensalters miteinander kontrastiert wurden. Denn obgleich die Phasen
des Bildungsprozesses über alle Fälle hinweg deutlich erkennbar blieben, erhielten diese doch unterschiedliche Ausprägungen, je nachdem, ob sie bei 20-Jährigen, 35-Jährigen oder bei Seniorinnen vorlagen. Zum Beispiel waren jene Phasen,
die in besonderer Weise durch die Spontaneität des Handelns geprägt waren, bei
den Jugendlichen zugleich vom Handeln der Gruppe geprägt, während die Seniorinnen und die Erwachsenen in der Lebensmitte eher als Individuen handelten.10
Es war nun aufgrund der unterschiedlichen Lebensalter anzunehmen, dass diese
Unterschiede in den Phasen durch die Einbindung in differente kollektive Erfahrungsräume, jene der Lebensalter, zustande gekommen waren.
Zu Beginn der soziogenetischen Typenbildung ordnet man den Orientierungsrahmen einem kollektiven Erfahrungsraum vornehmlich zu. Denn soweit
man an dieser Stelle nur von äußeren Plausibilitäten ausgeht (z. B. davon, dass
eine Phase des Bildungsprozesses bei den 20-Jährigen eine andere Ausprägung
hat als bei den Seniorinnen), ohne die „Sinnhaftigkeit“ der Orientierungsrahmen
als „Fragment umfassenderer Totalitäten“ (Mannheim 1980: 88) – nämlich der
kollektiven Erfahrungsräume – herauszuarbeiten, verbleibt man in einer „kausalgenetischen Erklärung“ (ebd.). Es ist also notwendig, die sinnhafte Verbindung
von Orientierungsrahmen und kollektivem Erfahrungsraum zu rekonstruieren.
So war es für die o. g. Studie z. B. wichtig, die Bedeutung des spontanen Handelns
in Realgruppen für die Adoleszenz zu rekonstruieren und sie von den einzeln erlebten Handlungspraktiken in den anderen beiden Lebensaltern zu unterscheiden.
Während bei der Analyse von narrativen Interviews immer schon von dem
einzelnen Fall abstrahiert werden muss, um den kollektiven Hintergrund von
Orientierungsrahmen in valider Weise zu identifizieren, bieten Realgruppen
einen leichteren Zugang zur Kollektivität. Bei Karl Mannheim heißt es hierzu:
„Die Funktionalität eines geistigen Gebildes gegenüber einem gemeinschaftlichen Erlebnisstrom war am leichtesten erfaßbar, wo ein ausgesprochenes Gruppenerlebnis sozusagen handgreiflich vorhanden war, wo der einzelne durch die örtliche und zeitli-
10 Während bei den 20-Jährigen nur Männer und bei den 35-Jährigen Männer und Frauen in die
Untersuchung einbezogen wurden, wurden nur weibliche 65-Jährige interviewt. Dies schränkt
die Möglichkeit, die Grenzen der Alterstypik zu bestimmen, erheblich ein.
166
Arnd-Michael Nohl
che Simultanität des Erlebens gewissermaßen einen Teil des Erlebniszusammenhanges
als nicht ausschließlich ihm angehörig zu erfassen und die aus jenem emporsteigenden Gebilde (den gemeinsam gefaßten Beschluß, das Programm usw.) in der Funktionalität zur seelischen Lage der Gruppe zu erleben sozusagen gezwungen ist.“ (1980: 79;
H. i. O.)
In geradezu idealer Weise wird die Funktionalität von ‚geistigen Gebilden‘, d. h.
deren Orientierungsrahmen, für einen ‚gemeinschaftlichen Erlebnisstrom‘ in
Gruppendiskussionen erfasst, wie sie Ralf Bohnsack als Erhebungsverfahren
– ausgehend von Arbeiten Mangolds (u. a. Mangold 1973) – entwickelt hat. Wenn
in Realgruppen diskutiert wird, kommen kollektive Erfahrungen und Orientierungen zur „Artikulation“ (Bohnsack 2007a: 63), wobei sich die Kollektivität auch
in der Performanz der Gruppendiskussion niederschlägt (dazu ebd.: 121 ff. und
Przyborski 2004).11
In seiner Habilitationsschrift hat Ralf Bohnsack nicht nur die Gruppendiskussion in diese Richtung entwickelt, sondern auch die dokumentarische Methode
zu einem Auswertungsverfahren gemacht, das auf soziogenetische Typenbildung
zielt. In seiner empirischen Studie ging es Bohnsack vor allem um die Adoleszenzentwicklung von Jugendlichen. Im Zentrum steht hier u. a. eine „Bänkla“ genannte Gruppe, in der sich auf die Frage des Forschers danach, wie sie die Zukunft
sähen, folgender Diskurs entfaltet (Bohnsack 1989: 116):
Bm:
Dm:
Bm:
Cm:
Ja ich schätz, wir werden so, des wird (.) bei allen gleich sein, wir leben von einem Tag zum andern, halt einfach (.) ohne halt da auf die nächsten Wochen
oder Monate zu schaun, wir leben halt bloß von heut auf morgen so ziemlich
(3) also mir geht’s auf jeden Fall so: was nächste Wochen ist, das is mir ziemlich
wurscht, ne. Was halt jetzt morgen kommt, das (.) das interessiert mich a wenig
mehr (.) oder was heut is
nächste Wochen fängt der Berg an
was, nächste Wochen?
@nächste Wochen fängt der Berg an@
Wie Bohnsack (2007a: 35) schreibt, wird hier eine „über die nächsten Tage hinausreichende, eine biographisch relevante Zukunftsperspektive … ganz entschieden
11 Dabei ist wiederum der Unterschied von Realgruppe und kollektiver Erfahrung zu beachten. D. h.
auch Personen, die sich zuvor nicht kannten und keine gemeinsam gemachten Erlebnisse haben,
können einen kollektiven Erfahrungsraum teilen.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
167
ausgeklammert“ und „biographisch Relevantes … negiert“. Dieser Orientierungsrahmen der Negation biografischer Zukunft wird von Bohnsack nun systematisch
mit den Orientierungsrahmen anderer Jugendlicher kontrastiert.12 Dabei zeigt
sich, dass zwar bei Jugendlichen ähnlichen Alters ein homologer Orientierungsrahmen (derjenige der Negation) zu finden ist, sich dies aber auf Jugendliche in
der Mitte der Berufsausbildung beschränkt. Denn solche Gruppen, die noch am
Anfang oder bereits am Ende der Adoleszenzentwicklung stehen, thematisieren
die Zukunft in anderer Weise.
Neben dieser Adoleszenztypik findet Bohnsack jedoch – indem er Jugendliche aus dem Dorf mit solchen in einer Mittelstadt vergleicht – auch ortsgesellschaftliche typische Unterschiede: Der Orientierungsrahmen der Gruppe Bänkla
ist – neben der Negation – auch dadurch geprägt, dass diese Dorfjugendlichen
zumindest noch in die jahreszyklischen Feste des Dorfes (den „Berg“) integriert
sind, während die städtischen Jugendlichen die Negationsphase besonders krisenhaft und desintegrierend erleben. Wesentliche Differenzen kann Bohnsack
dann auch gegenüber weiblichen Auszubildenden sowie zudem im Verhältnis
zu Gymnasiast(inn)en herausarbeiten. Die Zukunftsvorstellungen von Letzteren
sind – im Gegensatz zu den Auszubildenden – wenig praktisch angelegt; vielmehr
ergehen sie sich in einer „intellektuellen Spielerei“ (2007a: 41), in der sie sich Gedanken darüber machen, wie sie durch fantastisch anmutende Sparpläne das Studien-Bafög zurückzahlen können.13
Indem Bohnsack die Orientierungsrahmen von Gruppen unterschiedlichen
Alters, Geschlechts, ortsgesellschaftlicher Einbindung und Bildungshintergrundes rekonstruiert, kann er nicht nur diese sinngenetisch typisieren, sondern auch
die Einbettung des Orientierungsrahmens eines jeden Falles in verschiedene kollektive Erfahrungsräume (des Geschlechts, des Bildungsmilieus, des sozialräumlichen Milieus, der Adoleszenz) aufzeigen. Er identifiziert sozusagen – um mit
Mannheim zu sprechen – die „sozialen Gruppentypen“ (1980: 88), die hinter dem
jeweiligen Orientierungsrahmen stehen. Dabei muss betont werden, dass diese
Gruppentypen nichts mit Realgruppen zu tun haben, sondern auf die Mehrdimensionalität sozialer Strukturierungen verweisen. Denn an jedem einzelnen
Fall – etwa jenem der Gruppe Bänkla – wird nicht nur die Einbettung des Orien12 Siehe zu Orientierungsrahmen von Jugendlichen verschiedener Bildungsmilieus auch den Beitrag von Ralf Bohnsack in diesem Band.
13 Ihre Gedankenspielereien beenden die Gymnasiast(inn)en mit dem Ausruf eines Diskussionsteilnehmers: „hey jeje (.) Gymnasium Gymnasium (.) time out time out stopp“ (zit. n. Bohnsack
1989: 220). Damit verweisen sie selbst auf den existenziellen Hintergrund ihrer eigenen Art und
Weise, über die Zukunft nachzudenken.
168
Arnd-Michael Nohl
tierungsrahmens in einen Erfahrungsraum (etwa jenen des Geschlechts), sondern in mehrere Erfahrungsräume (etwa zusätzlich des Sozialmilieus und der
Adoleszenz) rekonstruiert,14 indem dieser Fall mit spezifischen anderen Fällen
kontrastiert wird. Dabei fällt die „Zuordnung eines Falles zu einer Typik, also
die Interpretation des Falles als Dokument dieser Typik, … umso valider aus, je
umfassender am jeweiligen Fall auch andere Bedeutungsschichten oder -dimensionen herausgearbeitet werden können, in denen sich andere Typiken dokumentieren“ (Bohnsack 2007a: 50).
Vergleich und Typenbildung erfolgen auf dem Wege des „Kontrasts in der Gemeinsamkeit“ (Bohnsack 2007a: 38): Der Beobachter nimmt zwei Fälle in den
Blick, die in mehreren Erfahrungsdimensionen Gemeinsamkeiten, in einer anderen aber Unterschiede aufweisen. Dann wird der Vergleichsfall gewechselt und
Gemeinsamkeiten und Unterschiede in weiteren Erfahrungsdimensionen identifiziert. Grafisch kann man sich dies folgendermaßen vorstellen (Abbildungen 1 – 3):
Es fällt nun auf, dass diejenigen Arbeiten, in denen die soziogenetische Typenbildung in sehr überzeugender Weise funktioniert hat, durch Suchstrategien
(bei der Identifizierung der zu vergleichenden Fälle) geleitet wurden, die entlang
gesellschaftlich etablierter Dimensionen gesellschaftlicher Heterogenität verliefen.
Hatte Bohnsack (1989) noch die Dimensionen Adoleszenz, Geschlecht, Bildungsund Sozialmilieu im Fokus gehabt, ist in einer anschließenden Studie die Migrationslagerung als weitere Dimension herausgearbeitet worden (vgl. Nohl 2001).
Für die genannten Studien gilt, dass ihre Suchstrategien noch vornehmlich
durch Annahmen aus der Alltagserfahrung bzw. -theorie und durch theoretische Überlegungen geprägt waren.15 Nach Unterschieden zwischen Jugendlichen
im Dorf und solchen in der Stadt zu suchen, Migranten mit Einheimischen zu
14 Terminologisch ist es in den Schriften Bohnsacks nicht ganz klar, ob jeder Fall einen Orientierungsrahmen hat, der als spezifisch für die Überlagerung unterschiedlicher kollektive Erfahrungsräume gelten kann, oder ob es darum geht, in den einzelnen Fällen – auf dem Wege der
komparativen Analyse – die Überlagerung mehrerer, jeweils für einen anderen kollektiven Erfahrungsraum spezifischer Orientierungsrahmen zu rekonstruieren. Ich beziehe mich hier auf die
erste Möglichkeit, ohne aber die zweite Version in Abrede stellen zu wollen.
15 Diese Vorgehensweise hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was Kelle / Kluge (2010: 52) als einen
„qualitativen Stichprobenplan“ bezeichnen, bei dem es nicht um die Sicherstellung von Repräsentativität geht, sondern um „die Abbildung der Varianz bzw. Heterogenität im Untersuchungsfeld“. Wie auch bei Kelle / Kluge ist es allerdings in der dokumentarischen Methode entscheidend,
diesen ‚Stichprobenplan‘ so flexibel einzusetzen, dass das Ziel, eine empirisch gegründete Theorie (auf der Basis der Typenbildung) erst noch zu entwickeln, nicht aus den Augen gerät. Daher
geht eine theorie- und erfahrungsgeleitete Suchstrategie idealerweise mit einer Rekonstruktion
der Fälle einher, die so genau ist, dass auch jenseits der theoretischen Vorannahmen liegende Aspekte der Fälle auffallen und zur Typenbildung genutzt werden können.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
Abbildung 1
169
Entwicklung der Lebensalterstypik
Beobachter
Männliche
Gymnasiasten
im Alter von
16 Jahren
Lebensaltersvergleich
und Adoleszenztypik
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
16 Jahren
Abbildung 2
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
18 Jahren
Entwicklung der Bildungsmilieutypik
Beobachter
Männliche
Gymnasiasten
im Alter von
16 Jahren
Bildungsmilieuvergleich und -typik
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
16 Jahren
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
18 Jahren
170
Arnd-Michael Nohl
Abbildung 3
Entwicklung der Geschlechtertypik
Weibliche
Gymnasiastinnen
im Alter von
16 Jahren
Beobachter
Geschlechtervergleich
und -typik
Männliche
Gymnasiasten
im Alter von
16 Jahren
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
16 Jahren
Männliche
Lehrlinge
im Alter von
18 Jahren
vergleichen oder Ost-Berlinerinnen von West-Berlinerinnen zu differenzieren
impliziert, dass man sich auf etablierte Dimensionen gesellschaftlicher Heterogenität stützt, die von Karl Mannheim mit dem Begriff der „sozialen Lagerung“
(1964b) bezeichnet wurden.16 Diese Suchstrategien wurden dann, wenn sie erfolgreich waren, in eine soziogenetische Typenbildung überführt, in der die „Sinnhaftigkeit“ der Orientierungsrahmen als „Fragment“ (Mannheim 1980: 88) der
jeweiligen kollektiven Erfahrungshintergründe zur Geltung kommt. Zum Beispiel hat Bohnsack nicht nur gezeigt, dass die gedankenspielerische Beschäftigung mit der biografischen Zukunft (als Orientierungsrahmen) regelmäßig bei
Gymnasiast(inn)en, nicht aber bei Auszubildenden anzutreffen ist, er hat auch
die Fundierung dieses Orientierungsrahmens in der Handlungspraxis und Erfahrungswelt dieser Jugendlichen (wie sie wesentlich durch die Beschäftigung mit
theoretischen Dingen in der Schule charakterisiert ist) rekonstruiert.
16 Soziale Lagerungen wie die Klasse oder die Generation bezeichnen eine „verwandte Lagerung
der Menschen im sozialen Raume“ (Mannheim 1964b: 526), die diese „Individuen auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränken und damit eine spezifische Art des Erlebens und Denkens, eine spezifische Art des Eingreifens in den historischen Prozeß nahelegen“
(ebd.: 528). Zu den unterschiedlichen, auch geschlechts- und migrationsbezogenen sozialen Lagerungen siehe Nohl 2010, Kap. 6.1.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
171
Die Überführung einer theorie- bzw. erfahrungsgeleiteten Suchstrategie, die
sich an gesellschaftlich etablierten Dimensionen von Heterogenität orientiert, in
eine soziogenetische Typologie gelingt indes nicht immer. Und dies hat nicht notwendigerweise mit der Inkompetenz der Forschenden zu tun, sondern kann auch
daran liegen, dass die Annahmen, die die Suchstrategien untermauern, sich nicht
auf gesellschaftlich etablierte Dimensionen sozialer Heterogenität (Geschlecht
etc.) stützen können. Es gibt Forschungsgebiete, für die in der Gesellschaft noch
keine (auch im öffentlichen Diskurs etablierte) Differenzkategorien vorhanden
sind bzw. für die die etablierten binären Schematismen (Männer – Frauen, Migranten – Einheimische, Junge – Alte) und andere Unterscheidungen (etwa nach
Bildungsmilieus) sich als (im wahrsten Sinne des Wortes) nicht sinnvoll erweisen.
4
Zur Entwicklung relationaler Typologien
Wenn sich (im Rahmen der sinngenetischen Typenbildung) typisierte Orientierungen nicht auf bestimmte, in einer erfahrungs- und theoriegeleiteten Suchstrategie identifizierte Erfahrungshintergründe (wie Geschlecht, Schicht, Generation)
sinnhaft zurückführen lassen, wenn die soziogenetische Typenbildung also scheitert, lassen sich neue Wege der Typenbildung erkunden, die ich im Folgenden
als ‚relationale Typologien‘ bezeichnen möchte. Erste praktische Schritte zur Entwicklung relationaler Typologien haben wir in einer Studie zur Arbeitsmarktintegration von hochqualifizierten Migrant(inn)en17 gemacht.18 Wir waren zu Beginn
dieser internationalen Forschungsarbeit nicht – wie dies üblicherweise in der Migrationsforschung geschieht – davon ausgegangen, dass die ethnische Erfahrungsdimension eine wichtige Rolle spielen würde; gleichwohl hatten wir beispielsweise
angenommen, dass sich geschlechtsspezifische Differenzen in der Arbeitsmarktintegration dieser ausländischen Akademiker / innen werden zeigen lassen. Zwar
ließen sich in wenigen Fällen geschlechtsspezifische Besonderheiten (in Verknüpfung etwa mit Elternschaft) aufzeigen, eine Typisierung geschlechtsbezogener Unterschiede bei der Arbeitsmarktintegration war jedoch nicht möglich.
Was aber tun, wenn die theorie- und erfahrungsgeleiteten Suchstrategien nicht
in eine soziogenetische Typologie zu überführen sind ? Wir sind in unserem Pro17 Die Studie mit dem Titel „Kulturelles Kapital in der Migration“ wurde von Karin Schittenhelm,
Oliver Schmidtke, Anja Weiß und dem Autor geleitet. Zu Anlage und Ergebnissen der Studie
siehe Nohl / Schittenhelm / Schmidtke / Weiß 2010.
18 Die Bezeichnung „relationale Typologie“ basiert auf einer Reflexion und Systematisierung dieser
Forschungserfahrungen, ging ihnen aber nicht voraus.
172
Arnd-Michael Nohl
jekt zu hochqualifizierten Migrant(inn)en den Weg gegangen, zunächst Fälle miteinander zu vergleichen, von denen wir nicht von vorneherein wussten, in Bezug
auf welche sozialen Unterschiede bzw. „sozialen Gruppentypen“ (Mannheim)
wir sie miteinander kontrastieren sollten. Ein solcher Vergleich beginnt mit dem
sprichwörtlichen Stochern im Heuhaufen des empirischen Datenmaterials, bleibt
aber nicht bei ihm stehen. Ich möchte dies im Folgenden anhand eines praktischen Beispiels aus unserer Forschungsarbeit deutlich machen.
In einem Teilprojekt19 unserer Studie, das mit hochqualifizierten Migrant(inn)en mit ausländischen Hochschulabschlüssen und einem den Einheimischen
gleichrangigen Zugang zum Arbeitsmarkt befasst war, haben wir zu Beginn der
empirischen Rekonstruktionen den Fall von Herrn Nazar interpretiert, indem wir
ihn mit den narrativen Interviews weiterer Einwanderer, unter ihnen Frau Yan
und Frau Guzman-Berg, verglichen haben. Herr Nazar schildert in dem Interview
seine Kindheit, Jugend und ersten Berufsjahre, um dann auf seine Eheschließung
mit einer in Deutschland lebenden Türkin zu sprechen zu kommen. Obgleich die
beiden zunächst in der Türkei zu leben versucht hatten, entscheiden sie sich dann,
sich in Deutschland niederzulassen:
Nazar:
Und ich komme hierher. Ich hatte eigntlich keine große Vorstellungen (.) große
Erwartungen ((atmet ein und aus)) ja ich bin doch (als) Arzt (1) hierhergekommen aber äh nicht unbedingt als Arzt geboren. //mhm// Und ich kann alles tun
eigntlich als gesunder Mann, und deswegn hab ich mir erstmal keine Sorge gemacht, ja erstmal ein Familie gründen und dann (.) schaff ich, hab ich mir gedacht und sie war auch berufstätig, (1) 91 Heirat, ä:hm dann (.) bin ich erst 92 Juli
hierher gekommen. Ähm (2) dann (3) hab ich (.) bei Goethe-Institut angefangen zweimal (.) nee neun Monate ungefähr (.) war ich bei Goethe-Institut. Die
Grundstufe hab ich dort absolviert, in der Türkei hatte ich gar kein Deutsch gelernt, nur Englisch //mhm// wie üblich. (.) Ähm da:nn (2) war ich bei HSI also
Hamburger Sprachinstitut hier //mhm// an der Ecke. ((atmet kurz ein)) aber
dann nachdem ich hier gekommen bin 92 war ich in Verrein aktiv. Es gibt ein
äh Verein Gemeinschaft türkischer Mediziner e. V., äh erstmal einfach rumzugucken was läuft wie läuft, (.) äh ein Jahr hat das gedauert ich war fast bei jedem Vorstandssitzung, da. Äh aber noch nicht Mitglied. //mmh// Und dann
93 war ich Mitglied und dann ähm ja war so zehn Jahre lang als als Schriftfüh-
19 An dem von mir geleiteten Teilprojekt waren Ulrike Ofner, Sarah Thomsen und Yvonne Henkelmann beteiligt; die meisten Fälle wurden von Ulrike Ofner erhoben und einer ersten Auswertung
unterzogen. Siehe hierzu u. a. Nohl / Ofner / Thomsen 2010, Thomsen 2009 und Henkelmann 2011.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
173
rer, vom Verein (.) tätig gewesen (1) und dann ähm (1) also 92 93 vo:n (.) 93:: bis
94 hab ich ä:m (.) AIDS-Beratungsstelle teils geleitet (2) deswegen musste ich
diese HSI äh aufhörn //mhm// den Sprachkurs, also Mittelstufe hab ich nich geschafft, kein Prüfung abgelegt. (.) Ä:hm (.) neun Monate ungefähr hab ich äh (.)
als Stellvertreter (und denn) ungefähr (.) Leiter von (1) damalige AIDS-Beratungsstelle äh ähm übernommen, (2) ähm (2) dann (.) 94 (1) November hab ich
hier in der Praxis angefangen //mhm// als äh AIPler so ungefähr (.) und dann
als Assistenzarzt nachdem mein Vorgänger äh ein Ermächtigung bekommen
hat. (.) Und dann seit 99 äh (.) hab ich die Praxis übernommen; weil er aufhörn
musste aus Altersgründen. Inzwischen in Deutschland habe ich zwei Kinder, ah
der Groß=is zehn Jahre (.) alt. Die Kleine wird im November sieben, (1)
Die Art und Weise, wie Herr Nazar in diesem Interviewabschnitt seine Migration
und Arbeitsmarktintegration bearbeitet, welche Orientierungen also für diesen
wichtigen Abschnitt seines Lebens von zentraler Bedeutung sind, lässt sich kaum
in valider Weise aus diesem einzelnen Interview herausarbeiten. Denn eine solche Rekonstruktion wäre vollkommen an die Normalitätserwartungen des Interpreten gebunden, der überdies bislang kaum Erfahrungen mit hochqualifizierten
Migranten gemacht hat, der also selbst nicht in den Gegenstandsbereich einsozialisiert ist. Selbst wenn wir die zentralen Orientierungen rekonstruieren könnten,
wüssten wir noch nicht, wofür, d. h. für welche sozialen Konstellationen sie hier
stehen und welche Grenzen sie haben.
Hilfreich war in diesem Moment der Vergleich mit Frau Yan und Frau Guzman-Berg. Während Herr Nazar, wie sich in dem Interview andeutet, nicht selbst
an einer Migration interessiert, sondern eher als Konsequenz seiner Heirat mit
einer in Deutschland lebenden Frau hierher gekommen ist, ist für Frau Yan die
Migration ein wichtiger Karriereschritt auf dem Wege zu einer Biochemikerin. Es
ist ihr biografischer Plan, die Doktorarbeit im Ausland zu schreiben, und als sie
auf eine Anzeige in der Zeitschrift „Natural Science“ stößt, bewirbt sie sich um
eine Stelle an der FU Berlin, die sie auch ohne größere Umstände erhält. Dies
kontrastiert maximal mit der Art und Weise, wie Herr Nazar seine Arbeitsmarktintegration betreibt. Während er durch seine Einbindung in einen ethnisch konnotierten Ärzteverein mehr oder weniger ohne intensive Arbeitssuche zu einer
Stelle als Assistenzarzt und dann später zu einer eigenen Praxis kommt (die im
übrigen vornehmlich Migranten versorgt), geht Frau Yan äußerst zielstrebig auf
Arbeitssuche, stützt sich dabei aber nicht auf die sozialen Beziehungen von Kollegen, die aus demselben Land kommen. Hier deuten sich erste Unterschiede hin-
174
Arnd-Michael Nohl
sichtlich der Orientierungsrahmen, innerhalb derer die Arbeitsmarktintegration
vorangetrieben wird, an.
Der dritte Fall, Frau Guzman-Berg, unterscheidet sich von den beiden anderen Fällen, hat aber auch Gemeinsamkeiten mit ihnen. Frau Guzman-Berg ist eine
junge Steuerrechtsanwältin aus Brasilien, die auf einer Fortbildung in den USA
einen Deutschen kennenlernt und sich dazu überreden lässt, nach Hamburg zu
migrieren – anstatt eines Studienaufenthaltes in Belgien, den sie eigentlich geplant
hatte. Sie findet – noch vor der Auswanderung – eine Stelle als Steuerrechtsexpertin für Lateinamerika in einem großen Consultingunternehmen in Hamburg und
versucht daraufhin zielstrebig, auf dem Wege der Weiterbildung ihr Tätigkeitsund Expertisefeld zu erweitern. Sie heiratet zudem ihren Freund und bekommt
ein Kind von ihm.
Wir finden hier nicht nur in Bezug auf die Formen der Verwertung von Wissen
und Können auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch hinsichtlich der Motive für die
Migration Unterschiede zwischen Frau Yan, Frau Guzman-Berg und Herrn Nazar.
Während die beiden letzteren aufgrund von Partnerschaften nach Deutschland
migriert sind, ist Frau Yan nach Deutschland gekommen, um sich weiter zu qualifizieren. Erst nach einiger Zeit in Deutschland lernt sie einen Mann kennen, von
dem sie dann ein Kind erwartet. Als junge Mutter bleibt sie daraufhin in Deutschland.
Neben den Migrationsmotiven20 deutet sich hier eine weitere Dimension in
den Erfahrungen der Migrant(inn)en an: Die Gründung einer Familie ist für Frau
Yan sehr wohl von hoher Bedeutung, wenn es um die Frage geht, in Deutschland
zu bleiben. Doch tritt dieses Motiv in einer viel späteren Phase ihres Übergangs
auf. War die Familiengründung bei Herrn Nazar im Migrationsvorlauf von zentraler Bedeutung, so wurde bei Frau Yan das im Migrationsvorlauf noch zentrale
Qualifikationsmotiv in einer Phase der Etablierung durch die Familiengründung
abgelöst. Die Phasenhaftigkeit des Übergangs in ein neues Land und seinen Arbeitsmarkt spielt also – so unsere Annahme nach den ersten vergleichenden Interpretationen – ebenfalls eine Rolle in den Lebensgeschichten der hochqualifizierten Migrant(inn)en. Wir haben in der vergleichenden Interpretation also
– vorläufig – drei Dimensionen identifiziert, die für die Lebensgeschichten der
hochqualifizierten Migrant(inn)en von großer Bedeutung zu sein scheinen:
20 Mit Absicht spreche ich hier empirienah von Motiven, da es sich zum Teil um explizite Migrationsmotive mit einem Entwurfscharakter handelt, zum anderen Teil aber auch um in das Handeln implizierte, diesem unterliegende Orientierungen. Zur Unterscheidung von Handlungsentwürfen und Orientierungsrahmen des Handelns siehe den Beitrag von Bohnsack zu diesem
Band.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
175
1. die Formen der Verwertung von Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt,
2. die Migrationsmotive,
3. die zeitliche Abfolge der Phasen des Übergangs in das neue Land mit seinem
Arbeitsmarkt.
Nachdem wir nun auf diese Weise aus der vergleichenden Interpretation heraus
– also nicht auf der Basis einer erfahrungs- bzw. theoriegeleiteten Suchstrategie –
erste Dimensionen identifiziert hatten, in denen signifikante Orientierungen zu
finden waren, versuchten wir nun, die systematischen Verknüpfungen zwischen
Orientierungen in der einen Dimension (z. B. der Dimension der Migrationsmotive) und Orientierungen in der anderen Dimension (z. B. der Verwertung von
Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt) herauszuarbeiten.
Es geht hier nicht mehr um die sozialstrukturellen Hintergründe eines Orientierungsrahmens, d. h. um seine Einbettung in kollektive Erfahrungsräume des
Geschlechts, der Generation oder der Schicht. Vielmehr geht es um die Frage, wie
in den Lebensgeschichten der Migrant(inn)en die unterschiedlichen Orientierungen (die ja verschiedenen Dimensionen zuzuordnen sind) miteinander relationiert sind.21 Es geht mithin um eine relationale Typenbildung.
Durch eine wesentliche Erweiterung unseres Samples (wir haben in dem Teilprojekt insgesamt 45 narrative Interviews erhoben) haben wir die Möglichkeit gehabt, typische Relationen typisierter Orientierungen zu identifizieren. Der Ansatzpunkt unserer relationalen Typenbildung bildet die – für das Forschungsprojekt
insgesamt zentrale – Frage, wie es dazu kommt, dass die befragten Migrant(inn)en
ihr Wissen und Können so als kulturelles Kapital verwerten (können), wie es in
ihren Schilderungen deutlich wird. Die Typik zu den Verwertungsformen von
Wissen und Können haben wir daher als Basistypik verwendet und danach gefragt, wie diese typischen Orientierungen mit Orientierungen in anderen Dimensionen, insbesondere den Phasen des Übergangs und den Migrationsmotiven,
zusammenhängen (vgl. zum Folgenden Nohl / Ofner / Thomsen 2010). In unserer
relationalen Typenbildung konnten wir dann auf diese drei Orientierungsdimensionen eingehen.22
21 Im Unterschied zur soziogenetischen Typenbildung, mit der letztlich die Fundierung eines
Orientierungsrahmens in unterschiedlichen kollektiven Erfahrungsräumen und deren Überlagerung rekonstruiert werden kann (siehe FN 14), geht die relationale Typenbildung prinzipiell
von einer Pluralität der Orientierungen in einem jeden Fall aus.
22 Dass wir die Verwertung von Wissen und Können als eine Art Basistypik begreifen und hiervon
ausgehend erst die Überlagerungen der Basistypik durch andere typische Orientierungsdimensionen der Migrant(inn)en rekonstruieren, ist dem Erkenntnisinteresse des Forschungsprojekts
176
Arnd-Michael Nohl
Ich möchte im Folgenden nur zwei typische Relationen von Phasen, Motiven und Verwertungsformen aufzeigen. Die erste ist eng mit dem Fall von Frau
Guzman-Berg (aber auch mit den Fällen von zwei weiteren Frauen) verknüpft.
Hier stellt sich die Frage: Wie kommt es dazu, dass hochqualifizierte Migrantinnen – und interessanter Weise handelt es sich bei den in diesem Abschnitt zu
behandelnden Fällen nur um Frauen23 – in Kauf nehmen, dass sie ihre ausländischen Bildungstitel nach der Immigration (zunächst) nur unter engem Bezug auf
ihre Herkunftsregion nutzen können, und damit die Verwertung ihres Wissen
und Könnens äußerst eingeschränkt ist ? Genauer gesagt: Mit welchen Orientierungen in anderen Dimensionen hängt diese Form der Verwertung von Wissen
und Können, die ja recht eingeschränkt ist, zusammen ? Ein Blick auf die Lebensgeschichten von Frau Donato, Frau Guzman-Berg und Frau Piwarski zeigt, dass
diese Damen eine prekäre Balance zwischen ihren biografischen Orientierungen
und dem Wunsch, den ausländischen Bildungstitel auf dem Arbeitsmarkt zu verwerten, eingehen.
So wurde bei Frau Guzman-Berg der Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt
sicherlich dadurch erleichtert, dass sie bereits in ihrem Heimatland Brasilien
eine Karriere als Steuerrechtsanwältin begonnen hatte. Frau Guzman-Berg stellt
zu Beginn ihrer Migration nach Hamburg zunächst einmal ihre Qualifikationsinteressen zurück, um mit ihrem Freund zusammenzuleben. Sie nimmt eine Stelle
als Steuerrechtsexpertin für Lateinamerika an und verwertet so ihr akademisches
Wissen und Können unter Beschränkung auf ihre Herkunftsregion. Dass die Migrantin trotz ihrer Partnerschaftsorientierung in der Transitionsphase darauf insistiert, sich nicht auf ein Visum zur Familienzusammenführung oder Eheanbahnung verlassen zu müssen, sondern einen eigenständigen Zugang zum deutschen
Staatsgebiet zu erhalten, hat sie mit den anderen beiden Fällen dieser typischen
Form, sein Wissen und Können zu verwerten, gemeinsam. Frau Guzman-Berg
kommt also, trotz ihres deutschen Freundes, zunächst mit einem SpezialistenSondervisum nach Deutschland. Es ist auch dieser eigenständige Zugang zur
rechtlichen Inklusion in Deutschland, in dem sich dokumentiert, dass die hier
behandelten Fälle eine prekäre Balance zwischen der restringierten Verwertung
ihres Wissen und Könnens einerseits und ihren biografischen, hauptsächlich, aber
nicht nur partnerschaftlich motivierten Orientierungen andererseits eingehen.
geschuldet. Die Migrant(inn)en selbst sind nicht in jedem Fall und auch nicht immer zu allererst
an einer Verwertung ihres Wissens und Könnens orientiert, wenn sie nach Deutschland kommen.
23 Dies war einer der äußerst wenigen Hinweise auf geschlechtsspezifische Unterschiede bei den in
unserem Teilprojekt untersuchten Migrant(inn)en.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
177
Die drei Frauen bemühen sich dann – zum Ende der Startphase und verstärkt
in der Etablierungsphase – auch alsbald, diese prekäre Balance zu verlassen bzw.
ihrem Aufenthalt in Deutschland durch erweiterte Möglichkeiten zur Verwertung
kulturellen Kapitals eine dauerhafte Basis zu geben. Frau Guzman-Berg, deren
Partnerschaftsorientierung in eine Familiengründung mündet, absolviert ein
M. A.-Studium im europäischen Recht, mit dem sie zwar nicht als Rechtsanwältin
tätig werden kann, wohl aber ihre Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt erweitert.
Gerade dass sie anfangs eine derartige Instabilität und den Widerspruch zwischen
biografischen Orientierungen und Arbeitsmarktchancen auszuhalten vermögen,
macht das Charakteristikum dieser Überlagerung unterschiedlicher Orientierungsdimensionen aus und unterscheidet diese drei Fälle von der zweiten Relation typischer Orientierungen, die im Folgenden kurz behandelt wird.
In der zweiten typischen Relation findet sich schon im Migrationsvorlauf,
spätestens aber in der Transitionsphase ein Migrationsmotiv, welches von den
Migrant(inn)en in eine sowohl schnelle als auch sehr weitgehende rechtliche
Inklusion in Deutschland umgesetzt wird. Herr Nazar und Herr Uslu heiraten
ebenso wie Herr Singh Personen, die entweder Deutsche sind oder alsbald werden. Sie erhalten dadurch nicht nur einen Aufenthaltsstatus, der sie sofort auf dem
Arbeitsmarkt gegenüber Deutschen gleichrangig macht. Als deutsch Verheiratete
kommen sie in der Startphase auch in den Genuss einer staatlichen Anerkennungsprozedur für ihre ausländischen Bildungstitel als Mediziner, die es ihnen
ermöglicht, mit einer Berufserlaubnis als Arzt tätig zu werden. Hier wird also in
der Startphase des Übergangs die Verwertung von Wissen und Können sehr weitgehend durch eine besondere rechtliche Inklusion, die selbst wiederum eng mit
einem Migrationsmotiv verknüpft ist, überformt. Diese Überformung durch die
besondere rechtliche Inklusion ist nun die Bedingung der Möglichkeit, durch das
Professionsrecht berufsbiografisch prozessiert zu werden.
Wie ich hier an den zwei typischen Relationen gezeigt habe,24 geht es in der relationalen Typenbildung nicht nur darum, in einem Einzelfall herauszuarbeiten,
wie sich Orientierungen unterschiedlicher Dimensionen miteinander verbinden
(z. B. das Migrationsmotiv von Herrn Nazar mit seiner Form der Verwertung von
Wissen und Können auf dem Arbeitsmarkt). Vielmehr ist es notwendig, einzelfallübergreifende und insofern typische Relationen von in unterschiedlichen Dimensionen typisierten Orientierungen herauszuarbeiten (z. B. neben Herrn Nazar bei
den Herren Uslu und Singh).
24 Es lassen sich vier weitere, hier aus Platzgründen nicht dargestellte typische Relationen von typisierten Orientierungen aufzeigen, siehe dazu Nohl / Ofner / Thomsen 2010.
178
Arnd-Michael Nohl
Ähnlich wie in der soziogenetischen Typenbildung genügt es nicht, diese Verbindung als eine sinnfreie Parallelität der Orientierungen aufzuweisen; es gilt, die
Sinnhaftigkeit der typisierten Relation zu rekonstruieren (also etwa die Bedeutung, die ein bestimmtes Migrationsmotiv für den rechtlichen Zugang zum Arbeitsmarkt erhält). Auf diese Weise lassen sich mit der Bildung relationaler Typiken die sozialen Zusammenhänge von Orientierungen herausarbeiten.
Wenn nun danach gefragt wird, welche Art von Ergebnissen diese Vorgehensweise zeitigt, so ist dies auch eine Frage nach der metatheoretischen und methodologischen Verortung der relationalen Typenbildung.
Metatheoretisch gesehen erfasst die relationale Typenbildung solche sozialen
Formationen, die in doppelter Weise nicht zu den gesellschaftlich etablierten Dimensionen sozialer Heterogenität gehören: Einerseits sind sie (noch) nicht im öffentlichen – und nicht einmal im wissenschaftlichen – Diskurs verankert, weshalb
man sie auch nicht für eine erfahrungs- bzw. theoriegeleitete Suchstrategie verwenden kann. Andererseits sind die Relationen, die hier in typisierender Absicht
aufgezeigt worden sind, auch noch nicht derart in der gesellschaftlichen Praxis
verankert, dass sie, um es mit Mannheim (1964b: 528) zu formulieren, die Menschen auf den durch ihre soziale Lagerung strukturierten „Spielraum möglichen
Geschehens beschränken“ würden. Wir haben es bei dem, was die relationale Typenbildung erfasst, mit sozialen Zusammenhängen (Relationen) zu tun, die noch
im Entstehen begriffen sind, deren Genese also noch andauert.
In dieser Hinsicht kann man davon ausgehen, dass die relationale Typenbildung insbesondere dort von Nutzen ist, wo sich gesellschaftliche Strukturen wandeln, wo also neue Relationen sozialer Orientierungen und Erfahrungen emergieren. Diese Relationen sind, wenngleich sie von den Individuen durchaus einzeln
erlebt werden, nicht vorsozial. Vielmehr können die typisierten Relationen typischer Orientierungen den Keim neuer kollektiver Strukturen bilden.25 Die relationale Typenbildung erfasst mithin Kollektivität im status nascendi, während die
soziogenetische Typenbildung – zumindest in bisherigen Untersuchungen – eher
auf gesellschaftlich etablierte Formen und Dimensionen der Kollektivität verwies.
Methodologisch gesehen stellt sich mit der relationalen Typenbildung die Frage
nach der Generalisierbarkeit ihrer empirischen Ergebnisse. Bohnsack (2005: 76)
zufolge haben „Generalisierungsleistungen … ihre Voraussetzungen darin, dass
25 Interessanterweise manifestieren sich die Orientierungs- und Erfahrungsstrukturen, die wir etwa
bei den hochqualifizierten Migrant(inn)en rekonstruiert haben, (noch) kaum in Realgruppen.
Wir sind in Deutschland auf keine Netzwerke und auf nur eine Organisation hochqualifizierter
Migrant(inn)en mit ausländischen Bildungsabschlüssen gestoßen.
Dokumentarische Methode in der qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
179
die Grenzen des Geltungsbereichs des Typus bestimmt werden können, indem
fallspezifische Beobachtungen aufgewiesen werden, die anderen Typen zuzuordnen sind. Im Fall sind somit grundsätzlich unterschiedliche Typen und Typiken,
d. h. unterschiedliche Dimensionen oder ‚Erfahrungsräume‘, auf der Grundlage
komparativer Analyse … aufzuweisen und deren ‚Überlagerungen‘ empirisch zu
rekonstruieren“. Meines Erachtens erfüllt nicht nur die soziogenetische Typenbildung, sondern auch die relationale Typenbildung dieses Kriterium, lassen sich in
jedem Einzelfall die unterschiedlichen Dimensionen mit ihren typisierten Orientierungen gerade dann voneinander differenzieren, wenn man ihre Überlagerung
(im Sinne der Typisierung von Relationen) rekonstruiert hat.26
5
Abschließende Bemerkungen
Mit ihren unterschiedlichen Formen der Typenbildung kann die dokumentarische Methode einen Beitrag zu einer qualitativen Bildungs- und Arbeitsforschung
leisten, der sich nicht in der (gleichwohl wichtigen) Rekonstruktion von Akteursperspektiven erschöpft, sondern deren Einbindung in soziale Zusammenhänge
untersucht. Mit der sinngenetischen Typenbildung wird zunächst die Heteroge26 Zwei weitere Studien, die mit einer relationalen Typologie arbeiten, ohne dies jedoch so zu explizieren, sollen hier nicht unerwähnt bleiben. Heike Radvan (2010) rekonstruiert die Art und
Weise, wie Pädagog(inn)en in Jugendzentren mit antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen
umgehen. Aus einer vergleichenden Fallrekonstruktion schält sie zwei Dimensionen heraus, die
für diesen Gegenstand relevant sind: Die Art und Weise, wie die Pädagog(inn)en die Jugendlichen beobachten, und zweitens ihre Interventionen angesichts antisemitischer Äußerungen.
In beiden Dimensionen finden sich unterschiedliche Orientierungen (so identifiziert Radvan
eine stereotypisierende Beobachtungsform, aber auch eine immanente; hinsichtlich der Interventionsformen spricht sie z. B. von „existentieller Intervention“ oder „Orientierung am Faktenwissen“). Kern dieser Untersuchung ist nun eine relationale Typologie, in der Radvan die fallübergreifenden Zusammenhänge zwischen bestimmten Beobachtungsformen und spezifischen
Interventionsformen herauszuarbeiten vermag. Anne-Christin Schondelmayer (2010) hat aus
ihren narrativen Interviews mit Auslandskorrespondenten und Entwicklungshelfer(inne)n in
Afrika unterschiedliche Ausprägungen interkultureller Kompetenz rekonstruiert. Ebenfalls in
einer intensiven komparativen Analyse fundiert, hat sie zunächst drei Dimensionen (Handeln,
Reflektieren, Darstellung des Anderen) identifiziert, in denen sich jeweils typische Orientierungen aufzeigen lassen (z. B. ein existenzielles Einlassen auf den Fremden vs. Fremdverstehen durch
Aneignung theoretischen Wissens). Im Ergebnis der Arbeit wird deutlich, dass bestimmte Reflexionsformen zwar keine spezifische Handlungsweise oder Darstellung des Anderen erzwingen,
aber sehr wohl den Spielraum des Handelns einschränken können, dass also eine spezifische
Reflexionsform mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten verknüpft ist. Schondelmayer hat auf
diese Weise die typischen Relationen in unterschiedlichen Dimensionen liegender typisierter
Orientierungen herausgearbeitet.
180
Arnd-Michael Nohl
nität und Pluralität der Orientierungen (etwa jenen zu Bildung und Arbeit) deutlich, ohne dass diese in ihrer sozialen Funktionalität und Genese rekonstruiert
werden könnten. In der soziogenetischen Typenbildung kann herausgearbeitet
werden, wie (bildungs- und arbeitsbezogene) Orientierungen in unterschiedlichen kollektiven Erfahrungsräumen, z. B. jenen der Generation, des Geschlechts,
des Bildungsmilieus u. a., verankert sind. Gerade in den Funktionssystemen von
Bildung und Wirtschaft, in denen nicht nur von gesellschaftlicher Heterogenität,
sondern von „mehrdimensionalen Ungleichheitsdimensionen“ (Weiß 2004: 219)
gesprochen werden muss, ist die Rekonstruktion jener sozial ungleichen Erfahrungshintergründe, aus denen heraus unterschiedliche Orientierungen entstehen,
von hoher Bedeutung.
Wie dort, wo sich Strukturen sozialer Heterogenität noch nicht in der Gesellschaft etabliert haben, diese mit der dokumentarischen Methode zu erfassen
sind, habe ich in diesem Aufsatz mit dem neuen Ansatz der relationalen Typenbildung zu erläutern versucht.27 Ohne dass hier die sozial differenzierten Erfahrungshintergründe von Orientierungen aufgeklärt werden können, lässt sich in
dieser Form der Typenbildung zeigen, in welchem systematischen Zusammenhang unterschiedliche Dimensionen von typischen Orientierungen stehen. Diese
typisierten Relationen finden sich insbesondere dort, wo der soziale Wandel
neue Strukturierungen, d. h. soziale Lagerungen in der Gesellschaft zeitigt, die
zu wachsen beginnen, ohne schon etabliert zu sein. Aber auch wo es gilt, jenseits
einer erfahrungs- und theoriegeleiteten Suchstrategie Strukturierungen zu entdecken, die (nur) für die Forschenden neu sind (als Beispiele siehe Radvan 2010
und Schondelmayer 2010), bietet sich die relationale Typenbildung an. In dieser
Hinsicht sind sozio- und relationale Typenbildung keine Gegensätze, sondern ergänzen einander.
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Die Objektive Hermeneutik als Methode
der Erforschung von Bildungsprozessen
Andreas Wernet
Von Anfang an hat Oevermann die Objektive Hermeneutik als Methode der Rekonstruktion von Bildungsprozessen verstanden. Er hat sich dabei an einem weiten Bildungsbegriff orientiert. Es ging ihm weniger um den Erwerb von Bildungstiteln („institutionalisiertes kulturelles Kapital“), es ging ihn auch nicht um die
Welt der Kulturgüter („objektiviertes kulturelles Kapital“), sondern es ging ihm
vor allem um Prozesse der Konstitution von Subjektivität (vgl. Oevermann 1993).
Die Methode der Objektiven Hermeneutik und das sie charakterisierende Vorgehen können als Antwort auf die Frage „Wie können Bildungsprozesse empirisch rekonstruiert werden“ angesehen werden (dazu ausführlich Sutter 1997).
1
Methodologische Grundlagen
Zum Fallbegriff
Unter methodologischer Perspektive rückt damit zunächst der Fallbegriff ins
Zentrum. Oevermann hat von Anfang an die empirische Rekonstruktion als Fallrekonstruktion konzipiert und ausgewiesen. Der Fallbegriff ist auch und gerade
gegenüber den quantitativen Forschungsverfahren deshalb so wichtig, weil er
darauf hinweist, dass das Forschungsinteresse individuellen Gegebenheiten und
Konstellationen gilt und dort seinen Ausgangspunkt nimmt. Allerdings versteht
Oevermann den Fall nicht als solitäres Ereignis – als solches wäre es ja kein sozialwissenschaftliches Objekt – sondern als „token“ eines „type“ (vgl. Oevermann
1981). Das Besondere ist immer als Besonderung auf der Folie eines Allgemeinen
zu verstehen. Der Oevermannsche Fallbegriff interessiert sich also nicht für die
Besonderung als Besonderung, sondern er interessiert sich für die Besonderung
als spezifische, subjektive Antwort auf ein allgemeines Handlungsproblem.
184
Andreas Wernet
Dieses grundlegende Modell der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem
ist methodisch insofern von Interesse, als es darauf aufmerksam macht, dass sich
das Allgemeine gar nicht anders als in Besonderungen artikulieren kann. Wenn
wir den Begriff des Allgemeinen nicht den Modellen der statistischen Generalisierung, die Aussagen über Häufigkeiten und Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Phänomenen erlauben, überlassen wollen, so müssen wir akzeptieren,
dass einer wirklichkeitswissenschaftlichen Forschung das Allgemeine immer nur
über den Weg des Besonderen zugänglich ist. Das Allgemeine des familialen Ablösungsprozesses sehen wir immer nur durch seine besondere Ausformung in
einer je konkreten Ablösungsgeschichte. Das Interesse an individuellen Konstellationen ist also genau genommen ein Interesse an der Rekonstruktion der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Jede objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion nimmt in der Rekonstruktion der konkreten Fallstruktur immer und
notwendiger weise eine Strukturgeneralisierung vor, eine Formulierung allgemeiner Strukturen, Regeln oder sozialer Problemkonstellationen, bezüglich derer der
konkrete Fall eine besondere Stellung, eine besondere Antwort, eine besondere
Variante darstellt.
Mit einer fallrekonstruktiven Erschließung gehen regelmäßig zwei Richtungen der Verallgemeinerung einher: Der Fall erscheint einmal als konkrete Antwort auf ein allgemeines Handlungsproblem und er erscheint darüber hinaus als
typische, d. h. fallcharakteristische, aber nicht fallspezifische Antwort auf ein allgemeines Handlungsproblem. Das möchte ich am Beispiel der Erwerbsbiografie, das Stefan Kutzner in seinem Beitrag in diesem Band empirisch in den Blick
nimmt, erläutern. Jede Erwerbsbiografie ist in der modernen Gesellschaft Ausdruck einer für diese Gesellschaften in spezifischer Weise vorliegenden Autonomisierungs-, Bewährungs- oder Bildungsanforderung. Man kann sich zu diesem
Problem nicht nicht verhalten. Jeder konkrete Fall, den wir aus erwerbs- und / oder
bildungsbiografischer Perspektive analysieren, stellt also eine spezifische Antwort
auf dieses Problem dar; eine in gewissem Sinne einzigartige Bearbeitung dieses
Problems.
Darüber hinaus repräsentiert jeder Fall aber auch typische Modi der Bearbeitung dieses Problems. Wenn Kutzner in den von ihm rekonstruierten Fällen einen
traditionsgebundenen Modus der Erwerbsbiografie diagnostiziert, dann ist damit
eine typische Möglichkeit einer berufsbiografischen Selbstpositionierung benannt, die (in diesen Fällen) dem typischen Motiv des beruflichen Aufstiegs kon-
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
185
trastiv gegenübersteht. Verbleibe ich mit meiner Berufswahl1 im Herkunftsmilieu
oder verlasse ich dieses Milieu ?2
Fallstrukturgeneralisierung bedeutet also, auf der Folie des konkreten Falles
allgemeine gesellschaftliche Handlungsprobleme und typische Antworten auf
diese Probleme zu explizieren. Dieser Prozess einer material begründeten Theoriebildung besteht nicht in einer bloßen Subsumtion. Es geht nicht darum, die
Fälle in einem vorab formulierten Begriffssystem zu klassifizieren. Mit jeder Fallrekonstruktion differenziert sich unsere Theoriesprache aus. Mit jeder Fallrekonstruktion müssen sich die theoretischen Modelle am Datenmaterial bewähren
und entsprechend modifiziert werden. Es geht aber auch nicht um eine theorielose Betrachtung der empirischen Welt. Die Objektive Hermeneutik schließt sich
nicht dem im qualitativen Forschungsparadigma häufig kultivierten, naiven Empirismus an, der den Gegenstand theoretisch unvoreingenommen in den Blick
nehmen will, um damit der Empirie maximal zur Geltung zu verhelfen. Diese
Vorstellung ist deshalb naiv, weil der vermeintliche Theorieverzicht in Wirklichkeit in nichts anderem besteht, als den empirischen Blick, statt von expliziten und
ausgewiesenen, von impliziten und verborgenen theoretischen Vorannahmen leiten zu lassen. Die vermeintliche Unvoreingenommenheit stellt eine Verunklarung
der unvermeidlichen theoretischen Prämissen des Forschungsprozesses dar. Im
Forschungsverständnis der Objektiven Hermeneutik stehen Theorie und Empirie
in einem kontinuierlichen Prozess wechselseitiger Bezogenheit.
Struktur und Habitus
Die Objektive Hermeneutik ist dezidiert ein Verfahren der Fallstrukturrekonstruktion. Es geht ihr weder um die gesetzeswissenschaftliche Formulierung gesellschaftlicher Regelmäßigkeiten noch um die tatsachenwissenschaftliche Feststellung von Sachverhalten. Sie interessiert sich für die sinnstrukturelle Verfasstheit
gesellschaftlicher Phänomene. Bezüglich des Fallbegriffs bedeutet das nicht nur,
dass der Fall, wie oben ausgeführt, eingebettet ist in allgemeine, fallunspezifische
Strukturen, sondern auch, dass die Besonderung des Falls selbst eine strukturierte
ist: Der Fall ist wiedererkennbar, er hat ein Gesicht.
1
2
Das betrifft natürlich auch die Gattenwahl.
An dieser Frage lässt sich ablesen, dass sie sich für unterschiedliche Herkunftsmilieus in ganz unterschiedlicher Weise stellt. Aufstiegs-, Abstiegs- und Bleibebewegungen stellen von Unten, von
Oben oder von der Mitte her je eigen strukturierte soziale Realitäten dar.
186
Andreas Wernet
Methodologisch ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Ausdrucksgestalt
von zentraler Bedeutung. Die Annahme einer Fallstruktur setzt nämlich voraus,
dass die Fallbesonderheit sich immer wieder in ihrer Besonderheit reproduziert.
Dieser Reproduktionsprozess besteht aber nicht einfach in der repetitiven Wiederholung einer Ausdrucksgestalt (die dann keine wäre), sondern in der Generierung
unterschiedlicher Ausdrucksgestalten, die trotz ihrer Differenziertheit und „Mannigfaltigkeit“ das Ergebnis des Operierens ein und derselben Fallstruktur sind.
Der Grundgedanke des „genetischen Strukturalismus“ (vgl. Oevermann 1991)3
besteht genau in dieser Beobachtung eines dynamischen, höchst kreativen Prozesses der Reproduktion. Mögen die Ausdrucksgestalten, die eine Lebenspraxis
generiert, einer oberflächlichen Betrachtung noch so unerwartet, überraschend
oder „unregelmäßig“ erscheinen, bleiben sie doch Hervorbringungen eines Strukturierungsprozesses. Um eine alte Terminologie aufzugreifen: Dieser Umstand ermöglicht das „Verstehen“ der phänomenalen Welt, die einem Plan folgt, der einem
gesetzeswissenschaftlichen „Erklären“ nicht zugänglich ist.
Diese Idee einer strukturierten Praxis liegt dem Habitusbegriff zu Grunde.
Auch wenn die Theorie Bourdieus den Begriff der Ausdrucksgestalt nicht kennt,
steht ihre Konzeption des Habitusbegriffs in großer Nähe zur Methodologie der
Objektiven Hermeneutik. Die strukturalistische Implikation des Habitusbegriffs
besteht nämlich genau darin, dass er eine strukturierte Praxis – nicht im Sinne
einer regelmäßigen oder repetitiven Praxis – bezeichnet, die unter einem generativen Vorzeichen steht. Die immer wieder auftauchende Formel eines „modus
operandi“, einer Art und Weise des Handelns, lenkt den Blick nicht nur von dem
„Was“ zum „Wie“, sondern weist auch darauf hin, dass die Identität einer sozialen Praxis sich nicht in einer „ikonografischen“ Reproduktion erschöpft. Es ist
kein Zufall, dass Bourdieu in der Entwicklung seines Habitusbegriffs sich an dem
Kunsthistoriker Panofski orientiert (vgl. Bourdieu 1974). Wer die Gotik als Epoche klassifizieren will, dem genügt die Kartografie bestimmter Stilelemente. Wer
die Eigenlogik dieser Epoche verstehen will, muss versuchen, die immanente Bedeutung dieser Stilelemente, also den Habitus, der diese erst hervorbringt, zu rekonstruieren (vgl. Panofsky 1978). Diese Stilelemente gelten einem strukturrekonstruktiven Zugriff als Ausdruckgestalten eben derjenigen Strukturen, die diese
erzeugen.
3
Als strukuralistische Grundlagentheorien bezieht sich Oevermann vor allem auf die Arbeiten
von Claude Lévi-Strauss, George-Herbert Mead, Jean Piaget und Noam Chomsky.
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
187
Reproduktion und Transformation
Gerade bei der Analyse von Bildungsbiografien ist dieser Aspekt von entscheidender Bedeutung. Denn die bildungsbiografische Kontinuität kann sich ja gar
nicht in der einfachen Wiederholung von biografischen Entscheidungen zeigen.
Die neuen biografischen Situationen eröffnen neue Entscheidungsoptionen, die
nicht im Modus der repetitiven Reproduktion beantwortet werden können. Erst
der Umstand, dass ein Fall sich gleich bleiben kann, indem er eine bisher inhaltlich nicht vorgesehene und insofern neue Entscheidung trifft, lässt es sinnvoll und notwendig erscheinen, ein Konzept der biografischen Identität zu formulieren (dazu ausführlich: Silkenbeumer / Wernet 2010). Dieses bedeutet eben
nicht, dass der Fall sich schematisch reproduziert. Vielmehr muss der Vorgang
der Fallreproduktion vor dem theoretischen Hintergrund des genetischen Strukturalismus selbst als kreativer und dynamischer Prozess verstanden werden. Die
Rekonstruktion von Bildungsprozessen impliziert wesentlich die Explikation der
Reproduktion eines sich selbst identisch bleibenden Falles durch neue, kreative,
nicht vorhersagbare Entscheidungen.
Von dieser reproduktiven Dynamik ist analytisch die Bewegung der Transformation zu unterscheiden. Der Begriff der Bildung verweist aus sich heraus auf
solche transformatorischen Bewegungen, durch die ein Fall nicht mehr derselbe
ist, der er vorher war. Es ist ein neuer Entscheidungsmodus entstanden, der dem
alten nicht mehr entspricht. Während wir die kreative Dynamik der innovativen
Reproduktion am Datenmaterial unmittelbar ablesen können, müssen wir darauf verzichten, auf die transformatorische Dynamik in derselben Weise empirisch
zugreifen zu können. Sie kann empirisch lediglich als fallstrukturelle Zustandsveränderung abgegriffen werden, als Differenz eines Strukturzustands zu zwei
unterschiedlichen Zeitpunkten. Aber diese Diskontinuität stellt aus fallstruktureller Perspektive keine unbedingte und unvermittelte Veränderung dar, sondern
vielmehr eine Veränderung, die sich retrospektiv als die Bildungsgeschichte eben
jenes konkreten Falles erweist. Aus der übergeordneten forschungslogischen Perspektive erscheint die Transformation also als Fallreproduktion „neuer Ordnung“;
als So-und-nicht-anders-Gewordensein (Weber). Die biografischen Transformationsprozesse sind durch jene Dialektik von Emergenz und Determination gekennzeichnet, die der Sozialphilosoph George Herbert Mead als allgemeines Prinzip von Reproduktion und Transformation formuliert hat. Diese Dialektik lässt
sich durch die gegenläufigen Bewegungen der Emergenz und der nachträglichen
Integration charakterisieren. Die biografische Zukunftsoffenheit besteht darin,
dass eine biografische Transformation zum Zeitpunkt ihres Entstehens nicht an-
188
Andreas Wernet
tizipiert werden kann. Sie vollzieht sich in eine offene Zukunft hinein. Eine ausführliche Fallrekonstruktion kann zwar eine Liste von ausschlussfähigen Möglichkeiten der folgenden biografischen Entscheidungen formulieren. Diese Liste
hat aber keinen prognostischen Wert. Die Frage, was der Fall einmal tun wird,
vermag sie nicht zu beantworten. Dieser Zukunftsoffenheit steht der Prozess der
nachträglichen Integration des Neuen gegenüber. Die Entscheidung, die vorher
im Handlungsrepertoire des Falles nicht enthalten und insofern neu und transformatorisch war, wird nun ex post in die Fallstruktur mit aufgenommen. Der
Fall ist zwar zu etwas anderem geworden, als er vorher war, aber er bleibt sich insofern gleich, als das Neue zum Bestandteil des Alten geworden ist. Nachträglich
lässt sich das Neue nur auf der Folie des Alten verstehen; und dieses Alte war die
Bedingung der Möglichkeit der Hervorbringung des Neuen.
Krise
Oevermann verbindet diese methodologischen Aspekte mit einer spezifischen
Sicht auf Bildungsprozesse. Er übersetzt die Dialektik von Transformation und
Reproduktion in die Dialektik von Krise und Routine. Das ist zunächst schon
deshalb bemerkenswert, als der Transformationsprozess als Krise ausgewiesen
wird. Es geht also nicht einfach um Systemveränderungen, sondern es geht um
eine Handlungspraxis, die sich gleichsam selbst in eine Situation bringt, in der der
Vollzug routinisierter Entscheidungen seine problemlösende Kraft verliert. Ohne
auf Erikson Bezug zu nehmen folgt Oevermann dem Modell eines krisenerzeugenden und krisenbearbeitenden Bildungsverlaufs. Diese Krisen sind insofern objektiv, als sie nicht vermeidbar sind. In Oevermanns Typologie der Krisenformen
(vgl. Oevermann 2004) – traumatische Krise, Entscheidungskrise, Krise durch
Muße – trifft das systematisch vor allem auf die Entscheidungskrise zu. Die traumatische Krise im Sinne des Hereinbrechens außergewöhnlich belastender Ereignisse, die Oevermann in Anlehnung an Peirce (brute facts) konzipiert, stellt
zwar die Extremform einer objektiv induzierten Krise dar. Aber dieser Krisentypus ist bildungslogisch kontingent. Das hereinbrechende Ereignis muss zwar
subjektiv verarbeitet werden, und es wird in je eigener Weise verarbeitet und integriert, aber dieses Ereignis ist kein biografisch evoziertes. Demgegenüber stellen
die Entscheidungskrisen insofern ein gesteigertes Modell der objektiv gegebenen
Problemkonstellation dar, als sie biografisch unvermeidbar sind. Oevermann verweist in diesem Zusammenhang beispielhaft auf die Frage der Gattenwahl und
die Frage der Zeugung. Beide Fragen stellen sich, außergewöhnliche Umstände
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
189
beiseitegelassen, jedem Leben und müssen von jedem Leben beantwortet werden.
Insofern handelt es sich um ein objektives, allgemeines Problem. Die Bearbeitung
dieses Problems ist aber insofern subjektiv, als sie nicht unter Rückgriff auf generalisierte Problemlösungsstrategien erfolgen kann. Das Problem ist, wenn auch
ein allgemeines, von Anfang an ein subjektives. Es kennt gar keinen anderen Ausdruck als den der Subjektivität.
Damit ist vor allem gesagt, dass Prozesse der Krisenbewältigung konstitutiv
sind für biografische Transformationen. Ohne Krisen sind biografische Transformationen nicht zu haben. Und da der Biografiebegriff sich ohne Transformationen gar nicht denken lässt, stellen biografische, auch bildungs- und berufsbiografische Rekonstruktionen nichts anderes dar als Rekonstruktionen von Krisen und
Krisenbearbeitungen.
Manifeste und latente Sinnstrukturen
Die Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen, die begriff lich an
die Freudsche Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken anknüpft, ist für Methode, Forschungsverständnis und Forschungsinteresse der Objektiven Hermeneutik von grundlegender Bedeutung.4
Diese Unterscheidung basiert auf der Annahme, dass in die Verfasstheit der sinnkonstituierten Welt sowohl Sinnbezüge eingehen, die den Handelnden als Intentionen, Handlungsmotive oder explizite Sinnentwürfe zur Verfügung stehen, als
auch Sinndimensionen, die den Handelnden verborgen bleiben und die gleichsam
hinter dem Rücken ihres intentionalen Selbstverständnisses ein Eigenleben führen. Nach dieser Annahme würde eine forschungslogische und methodische Beschränkung auf manifeste Sinnzusammenhänge also eine inadäquate Reduktion
des Forschungsobjekts darstellen. Erst die Rekonstruktion der sinnstrukturellen
Verfasstheit einer je konkreten Wirklichkeit als Zusammenspiel manifester und latenter Sinnbezüge wird der Konstitution des Gegenstands der Forschung gerecht.
Eine zweite Annahme kommt hinzu: Das Zusammenspiel manifester und latenter Sinnstrukturen erzeugt nicht einfach eine Wirklichkeit, die sich aus unterschiedlichen Sinnbausteinen zusammensetzt und deren Besonderheit in der Beschreibung der jeweiligen Komposition eines Sinnmosaiks erfasst werden könnte.
Manifeste und latente Sinnbezüge stehen in einem potenziellen Spannungsver4
Sie nimmt schon in dem initialen Gründungstext der Objektiven Hermeneutik eine zentrale
Rolle ein. Vgl. Overmann et.al. 1979.
190
Andreas Wernet
hältnis zueinander. Dieses zeigt sich nicht schon darin, dass das Subjekt über
die latenten Motive, denen es folgt, nicht intentional verfügt. Der entscheidende
Punkt ist vielmehr, dass die latente Sinnstruktur dem Subjekt fremd ist. Was auf
der Ebene der latenten Sinnstrukturen zum Vorschein kommt, ist dem Subjekt
und seinem Selbstverständnis potenziell unangenehm, peinlich, unverständlich
oder gar unerhört.5 Forschungslogisch heißt das, dass eine Fallrekonstruktion,
die sich an der Rekonstruktion manifester und latenter Sinnstrukturen orientiert,
immer auch die Spannungen und Widersprüche zwischen beiden Sinnebenen
zum Gegenstand hat. Die Beantwortung der Frage „Was ist der Fall ?“ geht im Forschungsverständnis der Objektiven Hermeneutik immer einher mit der Beantwortung der Frage: „In welcher je besonderen, fallspezifischen Weise will der Fall
sein, was er in welcher besonderen, fallspezifischen Weise nicht ist.“
2
Eine kurze, exemplarische Fallanalyse
zur Verdeutlichung des methodischen Vorgehens
Nachdem die grundlegenden methodologischen Konzepte der Objektiven Hermeneutik umrissen sind, soll im Folgenden das methodische Vorgehen beleuchtet
werden. In seinem Beitrag in diesem Band exemplifiziert Stefan Kutzner an zwei
Fällen das rekonstruktionsmethologische Vorgehen einer (arbeits-)biografischen
Analyse. Dort wird das typische Vorgehen der Objektiven Hermeneutik deutlich.
Der eigentlichen Textanalyse ist eine Interpretation der objektiven Daten vorangestellt. Dieses auch in anderen Forschungsmethoden praktizierte Vorgehen wird
in der Objektiven Hermeneutik dezidiert in der Logik eines analytisch unabhängigen Vorgehens konzipiert. Die Analyse der objektiven Daten soll zu einer ersten
Fallstrukturhypothese führen, die dann methodisch unabhängig in der Textanalyse eine Überprüfung findet. Es geht also in der Interviewanalyse nicht drum,
die Fallstrukturhypothese, die an der Analyse der objektiven Daten gewonnen
wurde, als gegeben einfach nur zu bestätigen. Es geht vielmehr darum, in der Interviewinterpretation eine eigenständige Rekonstruktion vorzunehmen, die dann
in Abgleich zur Analyse der objektiven Daten gebracht wird.
5
Deshalb kann eine objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion sich der kommunikativen Validierung als Geltungsüberprüfung nicht bedienen. Die Zustimmung des erforschten Subjekts
zu der Fallrekonstruktion ist nicht nur kein Geltungsgrund der Interpretation; es müsste den
Forscher eher skeptisch stimmen, wenn seine objektiv-hermeneutische Rekonstruktion eines
Falles dessen spontane Zustimmung finden würde.
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
191
Wir wollen auf diese spezielle Frage der forschungslogischen Positionierung
der beiden Analyseschritte hier nicht weiter eingehen, sondern vielmehr das für
die Objektive Hermeneutik charakteristische Textanalyseverfahren in den Blick
nehmen. Wir knüpfen also im Folgenden an die Idee der Ausdrucksgestalt an und
werden in einer kleinen Beispielanalyse versuchen, die methodologischen Positionen der Objektiven Hermeneutik und ihre Implikationen für die textrekonstruktive Forschungspraxis deutlich zu machen und zu plausibilisieren.
Dabei soll eine kurze Interviewsequenz vorgestellt und interpretiert werden.6
Es geht um einen Schüler, Kai Hübner, der vor einer bedeutsamen bildungsbiografischen Transformation steht. Er hat sich in der 10. Klasse zu einem Wechsel von
der Realschule auf das Gymnasium entschieden. Das ist insofern ein bedeutsamer
Schritt, als damit ein ursprüngliches Bildungsziel nach oben hin korrigiert wird.
Wie mit jedem Übergang ist damit die Frage verbunden, ob die Entscheidung zu
wechseln die richtige war. Wenn wir vorhin von Zukunftsoffenheit gesprochen
haben, so stehen wir nun vor einem konkreten Beispiel dieser Offenheit. Sollte der
Wechsel Kai zu einer erfolgreichen Bildungskarriere verhelfen, war es im Nachhinein eine richtige Entscheidung. Sollte er an seinen Bildungsambitionen scheitern, wird er seine Entscheidung nachträglich als falsche Entscheidung bedauern.
Ob in diesem Sinne eine richtige Entscheidung vorliegt, können wir natürlich
rekonstruktionsmethodologisch an einem Interview, das unmittelbar vor dem
Schulwechsel durchgeführt wurde, nicht beantwortet. Diese Frage wird sich erst
mit den zukünftigen Ereignissen klären. Was wir aber thematisieren können, ist
die Frage, mit welchem Selbstverständnis Kai die Entscheidung zu wechseln trifft.
Trifft er diese Entscheidung optimistisch, selbstsicher und selbstbewusst oder ist
diese Entscheidung von einer Unsicherheit begleitet, eine vielleicht halbherzige
oder zwanghafte ? Dieser Frage soll die folgende Beispielinterpretation nachgehen.
I:
Kai:
I:
Kai:
I:
Kai:
6
Mm, worauf freust Du Dich am meisten? (2)
Worauf ich mich am meisten freue?
Mhm, jetzt so.
((lacht))
Wenn Du an den Wechsel denkst?
Wenn ich an den Wechsel denke? Worauf ich mich wirklich am meisten freue ist eigentlich, dass ich damit fertig bin, wenn ich damit fertig () bin. Obwohl () eigentlich
will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen, aber wirklich (1) halt, dass ich damit
fertig bin () dass ich dann wirklich das machen kann, was ich, wozu ich wirklich Lust
Eine ausführliche Interpretation dieser Sequenz findet sich in Silkenbeumer / Wernet 2011.
192
Andreas Wernet
habe (2) und fü- ansonsten halt (1) erst mal auf ’ne neue Klasse (I: mhm) (2) so (2). Ich
weiß ja noch nich, wie’s da is’, was für Lehrer ich habe und ()weiß auch nicht, worauf
ich mich großartig freuen sollte (I: mhm). (2)
Diese Interviewpassage beginnt mit der Frage der Interviewerin bezüglich des bevorstehenden Schulwechsels: Worauf freust Du Dich am meisten ? An dieser Frage
können die methodischen Prinzipien der Objektiven Hermeneutik gut veranschaulicht werden. Die Sinnrekonstruktion der Objektiven Hermeneutik arbeitet basal mit dem Instrument der „Kontextfreiheit“. Eine kontextfreie Interpretation vorzunehmen heißt, den zu interpretierenden Sprechakt zunächst dadurch
auszudeuten, dass wir gedankenexperimentell Kontexte entwerfen, in denen der
Sprechakt eine wohlgeformte Artikulation darstellen würde. Für die vorliegende
Sequenz heißt das: In welchen Situationen ist der Sprechakt: Worauf freust Du
Dich am meisten ein wohlgeformter, bzw. kontrastiv: In welchen Situationen wäre
der Sprechakt eindeutig unangemessen ? Schnell sehen wir, dass der Sprechakt
eine mehrfach erfreuliche Situation unterstellt. Nach den Weihnachtswünschen
befragt, könnte ein Kind etwa mit der Frage konfrontiert werden: Worauf freust
Du Dich am meisten. Damit wäre unterstellt, es freue sich auf alle bzw. die meisten
Geschenke, und es gebe welche, auf die es sich besonders freut. Umgekehrt stellte
die Frage an einen Verurteilten vor seinem Haftantritt gestellt, eine offensichtliche
Unangemessenheit dar.
Ob der tatsächliche Kontext – die Konfrontation mit dem tatsächlichen Kontext stellt den zweiten Analyseschritt dar7 – dem Sprechakt angemessen ist, lässt
sich nicht so leicht bejahen oder verneinen, wie in den Beispielgeschichten. Immerhin können wir aber zweifelsfrei festhalten, dass die Interviewerin den bevorstehenden Schulwechsel als mehrfach freudenspendendes Erlebnis für Kai unterstellt. Fraglich ist nicht etwa, ob der Schulwechsel eher mit Sorge oder eher mit
Freude erwartet wird (freust Du Dich auf die neue Schule ?), fraglich ist nur, welche
Sachverhalte mit größter Freude belegt sind.
Das scheint nun für ein Ereignis wie den Schulwechsel (und andere biografisch bedeutsame Einschnitte) eine ausgesprochen optimistische, geradezu naive
Unterstellung zu sein. Selbst für jemanden, der sich ungebrochen auf die neue
Schule freut (weil er schon immer ein Gymnasium besuchen wollte; weil er innerlich an einem Beruf hängt, den er nur mit Abitur erreichen kann; usw.), stellt der
Schulwechsel doch keinen Weihnachtsabend oder keine Traumreise dar.
7
Vgl. dazu Wernet 2009
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
193
Wir können also schlussfolgern, dass die Interviewerin den bevorstehenden
Schulwechsel von Kai mit überschwänglicher Positivität belegt. Es wäre überraschend, wenn Kai die Frage eindeutig und ungebrochen beantworten würde: Am
meisten freue ich mich auf einen anspruchsvollen Fremdsprachenunterricht. Vielmehr müssten wir erwarten, dass er den Überschwang der Frage relativiert und er
dabei versucht, seine Positiverwartungen zu formulieren: Was heißt hier am meisten ? Erst einmal freue ich mich, auf einem Gymnasium zu sein.
Kais tatsächliche Reaktion auf die Frage der Interviewerin wirkt fast ungläubig: Worauf ich mich am meisten freue ? Jedenfalls gelingt ihm keine spontane
Antwort. Allerdings kann die Nachfrage auch im Sinne eines inneren Dialogs als
Ausdruck von Kais Kooperativität interpretiert werden: hm, interessante Frage, da
muss ich mal genauer überlegen.
Die Erläuterung der Interviewerin: Mhm, jetzt so; wenn Du an den Wechsel
denkst, begleitet er mit einem Lachen und einer Wiederholung der Frage: Wenn
ich an den Wechsel denke ? Das Lachen verweist abermals auf Kooperativität. Offensichtlich lässt sich die Frage nicht umstandslos beantworten. Gleichwohl zeigt
sich Kai eher belustigt denn „genervt“. Allerdings gelingt es ihm auch nicht, die
Frage spontan umzudeuten und einfach einen Sachverhalt zu benennen, der einen
möglichen Gegenstand von Freude darstellt: die tolle Turnhalle, der bequemere
Schulweg, die neuen Freunde oder was auch immer. Stattdessen antwortet er:
Worauf ich mich am meisten freue ist eigentlich, dass ich damit fertig bin, wenn ich
damit fertig () bin.
Fragen wir uns wieder, in welchem Kontext diese Antwort eine erwartbare ist, so
kommen nur Kontexte in Frage, die als zwangsförmige oder entfremdete gelten
können bzw. gedeutet werden, bei denen allerdings die Ausgangsfrage, wie gesehen, schon unangemessen wäre. Es könnte sich um die Antwort eines Wehrpflichtigen vor seinem Dienstantritt handeln oder um die Antwort eines Bauarbeiters frühmorgens, wenn der Arbeitstag beginnt. In diesen Situationen würde
es uns nicht überraschen, wenn die Befragten antworteten: Ich freue mich darauf,
dass es vorbei ist.
Als erstes Interpretationsergebnis können wir also festhalten, dass Kai auf die
Frage der Interviewerin in einer Art und Weise reagiert, die den bevorstehenden
Gymnasialbesuch in die Nähe einer zwangsförmigen und entfremdeten Lebensphase rückt. Damit unterläuft er einerseits die Möglichkeit, die Gymnasialzeit als
solche könne ihm etwas bieten, worauf er sich freuen könnte. Andererseits steht
seine Sicht der Dinge in eigentümlicher Spannung zu der Tatsache, dass er sich
194
Andreas Wernet
für den Gymnasialbesuch entschieden hat. Offensichtlich hat er sich für eine Bildungskarriere entschieden, die ihm äußerlich ist, die es auszuhalten gilt und deren
Ende schon vor dem Anfang herbeigesehnt wird.
Schauen wir uns die Formulierung genauer an. Kai wiederholt die Frage der
Interviewerin wörtlich. Er moduliert sie lediglich durch den Einschub eines eigentlich. Damit markiert er, dass das nun Folgende eher außerhalb des Erwartungshorizonts liegt. Die Freude drückt er folgendermaßen aus: dass ich damit
fertig bin, wenn ich damit fertig () bin. Diese Formulierung ist bemerkenswert. Der
erste Teil, dass ich damit fertig bin, operiert mit einer Verschiebung des Zeithorizonts. Ich freue mich, dass ich damit fertig bin kann nur am Ende, nicht am Anfang
der in Rede stehenden Zeitspanne gesagt werden. Kai imaginiert also das Ende
der Gymnasialzeit. Er versetzt sich in die Situation, in der die Bildungsphase, vor
der er gerade steht, schon beendet ist.
In der Formulierung, dass ich damit fertig bin, verschafft sich ein spezifisches
Bild der „vollendeten Zukunft“ Ausdruck. Das fertig sein stellt einen Ausdruck
für das beendet sein dar, der die Subjektperspektive in besonderer Weise betont.
Nicht nur kommt eine Phase zu ihrem Ende; das Ich ist fertig geworden mit dieser Phase. Nicht die Phase ist fertig, sondern das Ich ist damit fertig. Diese Formulierung verweist auf äußere Handlungsvollzüge, denen kein immanenter Wert
zuerkannt wird. Man kann sagen: „Wenn ich mit dem Spülen fertig bin, mache ich
mich ans Bügeln“; man kann aber, zumindest als Literat, nicht sagen: „Wenn ich
mit dem Buch, an dem ich gerade sitze, fertig bin, schreibe ich ein neues“. Auch dieses Gedankenexperiment verweist darauf, dass der Sprecher die bevorstehende
Phase in der Logik eines bloß instrumentellen Handlungsvollzugs modelliert. Sie
wird außerhalb jeglichen Eigenwerts vollständig dem Reich der Notwendigkeit
zugeordnet.
Der Nachschub, wenn ich damit fertig bin, ist gleichsam die logische Folge des
dass ich damit fertig bin. Denn erst durch den Nachschub wird die Zukunft zu
einer vollendeten. Sonst hätte Kai sagen müssen: Dass ich damit fertig sein werde.
Allerdings lässt nun die Formulierung wenn ich damit fertig bin die Möglichkeit,
gar nicht fertig zu werden, offen. Sie kann auch gelesen werden im Sinne von:
Sollte ich damit fertig sein. Das hieße dann: Wenn ich damit fertig bin, freue ich
mich, wenn nicht, dann nicht. Zu dem Moment der Entfremdung der bevorstehenden Bildungsphase kommt also das Moment der Unsicherheit hinzu. Kais Freude
gilt nicht nur dem Ende, sondern auch der Möglichkeit, das Ende möge sich herstellen. Implizit kommt darin eine Sorge zum Ausdruck, es nicht zu schaffen. Und
anders als beim Geschirrspülen ist die Freude, damit fertig zu sein, zugleich die
Freude, das Scheitern verhindert zu haben.
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
195
Wir haben es also fallspezifisch mit einer äußerst angespannten subjektiven
Lage zu tun. Kai kann den kommenden Schuljahren lediglich instrumentell begegnen. Eine innere Aneignung des Schulischen kann er nicht leisten. Dieser instrumentelle Umgang mit Schule – ich will dort eigentlich nichts, außer fertig
werden – ist aber nicht von einer selbstbewussten, strategischen Erfolgsorientierung begleitet. Kai repräsentiert nicht jenen Typus bildungsstrategischer Cleverness, dem das Schulische äußerlich bleibt, der sich aber höchst effizient und erfolgsorientiert zu den schulischen Leistungsanforderungen positioniert und dem
dies vielleicht gerade wegen der Unbefangenheit, die ihm die inneren Distanz
zum Schulischen ermöglicht, besonders gut gelingt. Seine innere Distanz ist gepaart mit einem mangelnden Zutrauen. Er glaubt nicht wie selbstverständlich an
das Erreichen des Abiturs. Die Bedrückung seiner Bildungskarriere ist nicht nur
durch eine fehlende Bindung an das Schulische, sondern auch durch ein schwaches Selbstbewusstsein gegeben.
Dieses deprimierte Bildungsselbst wird schließlich durch einen weiteren Umstand zum Ausdruck gebracht. Das instrumentell-zweckrationale Verhältnis, das
Kai der Schule gegenüber zum Ausdruck bringt, wäre im Sinne eines „Um-zuMotivs“ (Alfred Schütz) dann bei sich selbst, wenn ein „Zu-etwas“ vorläge. Das
Ende der Gymnasialzeit ist ja der Anfang einer durch sie eröffneten weiteren Bildungs- bzw. Berufskarriere. Kai, der an anderer Stelle im Interview äußert, dass
er gerne zur Polizei oder zur Bundeswehr gehen würde, könnte ja auch sagen,
dass er sich am meisten auf das Abitur freut, um dann endlich zur Polizei gehen
zu können. Den Zusammenhang zwischen Ende und Anfang spart Kai aber aus.
Der zukunftseröffnende Aspekt seiner bevorstehenden Gymnasialzeit findet keine
Erwähnung. Insofern liegt im eigentlichen Sinne gar kein Instrumentalismus bzw.
lediglich ein abstrakter vor. Der Zweck der ungeliebten Schule, eine Zukunft außerhalb ihrer selbst zu eröffnen, tritt als subjektives Motiv gar nicht in Erscheinung. Es geht lediglich um die negative Seite (das Ende der Schule), nicht um die
damit verbundene positive Seite (der Anfang eines folgenden Lebensabschnitts).
Letztere kann Kai nicht mobilisieren. Ich freu mich eigentlich nur darauf, zur Polizei gehen zu können, im Sinne von: mehr will ich von dem Gymnasium gar nicht,
kann er nicht sagen.
Das bezüglich der Lebenssituierung selbstverantwortliche Projekt des Gymnasialbesuchs bleibt Kai eigentümlich äußerlich. Es eröffnet keine positiven Handlungsoptionen. Es ist eigentlich nur negativ begründet durch die Abwendung von
Handlungsrestriktionen, die sich durch das Fehlen des Abiturs ergeben.
196
Andreas Wernet
Obwohl (2) eigentlich will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen, aber wenn ich
(1) halt, dass ich dann fertig bin () dass ich dann wirklich das machen kann, was ich,
wozu ich wirklich Lust habe (2)
Das obwohl kündig eine Korrektur an: Eigentlich will ich im Moment noch lieber
zur Schule gehen heißt auch: Das Fertigsein ist doch nicht so drängend, wie der
vorausgehend geäußerte Wunsch es nahegelegt hat. Im Anschluss an die obige
Interpretation ist dabei besonders interessant, dass die Alternative zu lieber zur
Schule gehen auch hier nicht benannt wird. Abermals bleibt das Um-zu-Motiv unbestimmt und abstrakt. Angesichts der Herausforderungen der nachschulischen
Zukunft bleibt die Schule, so ungeliebt sie auch sein mag, das kleinere Übel: „Eigentlich sehne ich mich nach nichts anderem, als nach dem Ende der Schulzeit.
Obwohl, wenn ich daran denke, will ich im Moment noch lieber zur Schule gehen.“
Es ist eine perspektivlose Offensive, mit der Kai seinen Schulwechsel angeht. Er
ist nur dazu da, eine außerschulische Zukunft zu eröffnen. Diese Zukunft steht
Kai aber als Selbstentwurf genauso wenig zur Verfügung, wie eine positive Identifikation mit der bevorstehenden Schulzeit. Die „Bildungsenergie“ ist stark genug,
um die Schule nicht zu beenden. Aber sie reicht nur aus, um den Übergang zu
bewerkstelligen (im Moment). Sie reicht nicht, um den mit dem Übergang eingeschlagenen Weg positiv auszugestalten.
Entsprechend kommt er in seiner Rede ins Straucheln:
aber wenn ich (1) halt, dass ich dann fertig bin () dass ich dann wirklich das machen
kann, was ich, wozu ich wirklich Lust habe.
Das Motiv seiner Rede kann folgendermaßen umschrieben werden: „Im Moment
will ich noch in der Schule bleiben, aber ich freue mich schon darauf, danach endlich das machen zu können, wozu ich wirklich Lust habe.“
Nun füllt er gleichsam das nachschulische Dasein. Er sehnt sich nach der Zeit,
in der er endlich machen kann, wozu er Lust hat. Damit konstruiert er einen eigentümlichen Dualismus, in dem die Schulzeit für Zwang, die nachschulische Zeit
für Freiheit steht. Diese Konstruktion ist dann einleuchtend, wenn tatsächlich ein
materiales Interesse gegeben ist, das sich auf eine konkrete Berufstätigkeit bezieht
und dem der Zwang des schulischen Curriculums ein Dorn im Auge ist. Aber
auch dieses Motiv wird bloß abstrakt zum Ausdruck gebracht. Es erscheint lediglich in der Form des „wirklich-Lust-Habens“. Es bleibt material ungefüllt. Es
scheint also nur die Idee der Möglichkeit, etwas wirklich zu wollen, auf. Der bil-
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
197
dungs- und berufsbiografische Selbstentwurf enthält durchaus das Moment einer
Selbstverwirklichung durch die Bildungs- und Berufskarriere. Dieses Motiv findet
aber keine inhaltliche Füllung. Kais Ambitionen sind nicht von einem konkreten
Wollen gekennzeichnet, das sich durch das Gestrüpp formaler Qualifikationen
hindurcharbeitet, um dort anzugelangen, wo es hin will. Und sein Problem ist
auch nicht, dass sich der Realisierung des Gewollten unüberwindliche Hürden in
den Weg stellen. Das Problem ist vielmehr, dass der bildungsbiografische Selbstentwurf einer gleichsam ziellosen Zielstrebigkeit folgt.
3
Schlussbemerkung: Qualitative Bildungsforschung
und die Rekonstruktion des Bildungsselbst
Die kurze, exemplarische Analyse des vorgestellten Interviewausschnitts sollte genügen, um ein elementares Verständnis des methodischen Vorgehens zu ermöglichen. Zum Abschluss wollen wir die methodologischen und methodischen Überlegungen verlassen um einen Blick auf die materiale Seite, das empirische Objekt
und die Aufgabe der Theoriebildung zu lenken. Es sollte deutlich geworden sein,
dass die methodologischen Prämissen zu weit führenden Konsequenzen bei der
empirischen Arbeit am Material führen. Insbesondere die Begriffskonzepte Subjektivität, Krise, Zukunftsoffenheit der Lebenspraxis, latente Sinnstrukturen haben
an der Analyse eines konkreten Falls zur Explikation einer Problemlage beigetragen, an der die üblichen Semantiken eines an der restriktiven Verfasstheit des
Bildungs- und Beschäftigungssystems scheiternden Subjekts abprallen. Kai wird
nicht vom Schulsystem „eliminiert“ (Bourdieu). Sein Problem besteht nicht darin,
dass die äußeren Zwänge und Restriktionen ihn daran hindern, die selbstgesteckten Ziele zu erreichen. Sein Problem besteht vielmehr darin, eine angestrengte,
verunsicherte, desintegrierte Selbstpositionierung im Gehäuse des institutionell
Vorgegebenen und Möglichen vorzunehmen. Weder kann er auf den schulischen
Aufstieg verzichten, noch kann er diesen Aufstieg als eignes Projekt positiv in
seine Zukunftsperspektive integrieren. Die Krise, in der er steckt, ist keine, die
auf „brute facts“ beruht (vgl. oben), sondern sie ist eine selbsterzeugte, biografisch
hervorgebrachte Krise.
Um diesen Krisentypus zu verstehen, reicht es nicht aus, Passungsprobleme
zwischen objektiven Gegebenheiten und subjektiven Wünschen oder Motiven zu
konstatieren. Dazu müssen wir das Subjekt in seiner konkreten Verfasstheit verstehen. Dazu gehört die Rekonstruktion der Krisenhaftigkeit der je aktuellen Si-
198
Andreas Wernet
tuation, dazu gehört aber auch die Rekonstruktion der Hilflosigkeit des Subjekts,
die sich durch das Auseinandergehen von manifesten und latenten Sinnstrukturen einstellt. Wenn wir Kais Situation als die einer ziellosen Zielstrebigkeit charakterisiert haben, dann können wir sagen, dass die Zielstrebigkeit seiner (manifesten) Selbstauffassung angehört, während die Ziellosigkeit ihm nicht zugänglich
ist (latent). Kai steckt in einer selbstgebauten Falle.
Um diesen Aspekt der Subjektivität von Bildungs- und Erwerbsbiografien
theoriesprachlich würdigen zu können, schlagen wir den Begriff des Bildungsselbst vor. Dieser Begriff soll auf zwei Aspekte der Konstitution von Biografie
aufmerksam machen. Zunächst verweist er auf die konstitutive Bedeutung der
Subjektivität in Bildungsprozessen. Der bildungsbiografische Verlauf ist nicht angemessen gewürdigt durch eine „Verlaufskurve“ (Schütze)8, sondern stellt eine Eigenbewegung dar, die sich zwar in Anlehnung und Abarbeitung, aber auch in
relativer Autonomie von äußerlichen, institutionellen Gegebenheiten vollzieht.
Diese Eigenbewegung ist nicht hinreichend verstanden als bloßer Reflex auf soziale Rahmungen. Das Subjekt der modernen Gesellschaft steht unter dem objektiven Handlungsdruck, sich in der Bildungs- und Berufswelt zu positionieren
(grundlegend dazu: Parsons 1965). Für diese Selbstpositionierung stellt die soziale
Herkunft einen entscheidenden Parameter dar. Was auch immer das Subjekt tut,
es bewegt sich vor dem Hintergrund seines Herkunftsmilieus. Aber beide Aspekte,
der objektive, gesellschaftliche Handlungsdruck und das „Erbe“ (Bourdieu) des
sozialen Herkunftsmilieus, determinieren nicht die Entscheidungen des Subjekts.
Es muss sich in diesem gesellschaftlichen Rahmen selbst positionieren.
Über diesen Aspekt der Autonomie des Subjekts hinaus verweist der Begriff
des Bildungsselbst auf den Umstand, dass bildungs- und berufsbiografische Entscheidungen in einer subjektiv mehr oder weniger glücklichen Relation stehen
können. Die konstitutive Autonomie des Subjekts bedeutet auch, dass es sowohl
problemlösende als auch problemerzeugende Entscheidungen treffen kann. Ich
habe oben die Subjektivität des Krisenbegriffs im Kontext der von Oevermann
so genannten Entscheidungskrise betont. Wenn wir die Entscheidungssituation
auf den Krisenbegriff übertragen, dann heißt das, dass Entscheidungen aus einer
Krise herausführen können, dass aber das Subjekt ebenfalls mit einer Entscheidung eine Krise reproduzieren, sie sogar vergrößern kann.
Diese Überlegung scheint uns für die begriff liche Konzeption eines Bildungsselbst von entscheidender Bedeutung zu sein. Gerade im Falle von Bildungskarrieren besteht eine Tendenz, den bezüglich der Leistungsfähigkeit des Sub8
Zum Begriff der Verlaufskurve siehe den Beitrag von Anja Schröder-Wildhagen in diesem Band.
Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
199
jekts höchstmöglichen Bildungsabschluss als den wünschenswerten erscheinen
zu lassen. Das hängt natürlich mit der inneren Dynamik eines hierarchischen Bildungssystems zusammen, das mit Einkommens- und Prestigechancen eng verknüpft ist. Diese Eindimensionalität verkennt aber das Problem der bildungsbiografischen Selbstpositionierung. Nicht schon die schulische Leistungsbereitschaft
und -fähigkeit positioniert das Subjekt im Bildungssystem, es selbst muss sich
in diesem System verorten, muss sich darin wiederfinden, muss eine Selbstpositionierung vornehmen. An dem Beispiel von Kai konnten wir sehen, dass eine
nach außen hin erfolgreiche Schulkarriere mit erheblichen Problemen der Anpassung für das Bildungsselbst verbunden sein kann. Obwohl ihm der Wechsel auf
das Gymnasium gelungen ist und obwohl dieser Wechsel für ihn selbst in keiner
Weise zur Disposition steht, bleibt ihm dieser Schritt eigentümlich äußerlich. Das
Bildungsselbst erzeugt in und durch die Schulwahl eine Entfremdung und damit
eine Situation der Dauerspannung. Seine Entscheidung, auf das Gymnasium zu
wechseln, löst keine Krise, sondern verschärft die Krise, in der das Bildungsselbst
sich befindet.
Es scheint mir eine große Herausforderung für die qualitative Bildungsforschung zu sein, solche bildungs- und berufsbiografischen Konstellationen, die
ihre immanente Dynamik in relativer Autonomie gegenüber sozialstrukturellen
Gegebenheiten entfalten, zu rekonstruieren. Darin sehe ich ihren genuinen Beitrag zur Bildungsforschung. So wichtig und erkenntnisreich statistische Relationen für das Verständnis unserer Gesellschaft auch sind, über die subjektiven Prozesse der Formierung von Bildungskarrieren können sie keine Aussage machen.
Die Analyse solcher Prozesse ist aber deshalb unverzichtbar, weil die Konstitution
des Subjekts und des Bildungsselbst ihrerseits ein zentrales Moment moderner
Gesellschaft darstellt.
Literatur
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Die Objektive Hermeneutik als Methode der Erforschung von Bildungsprozessen
201
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Wernet, Andreas (2009): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. 3. Aufl. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Arbeit, Beruf und Habitus
Fallrekonstruktionen von Erwerbsbiografien
mit der Objektiven Hermeneutik1
Stefan Kutzner
1
Einleitung
Gegenstand der Objektiven Hermeneutik sind latente Sinnstrukturen. Nicht um
manifeste Bedeutungen geht es ihr, also nicht um Motive, Interessen, Intentionen
von Akteuren, sondern um die Strukturen, welche subjektive Bedeutungen, also
Bewusstseinslagen, Werthaltungen, Zielvorstellungen erst hervorbringen. Anders
formuliert: Die Objektive Hermeneutik will bei der Analyse sozialer Praxis (wie
beispielsweise ein Interaktionsgeschehen) nicht die manifesten Intentionen, die
Absichten und Beweggründe der beteiligten Personen ermitteln, sondern diejenigen Strukturen und Regeln, die gewissermaßen „hinter dem Rücken“ der Beteiligten deren Interaktionen zugrunde liegen. Ziel einer fallspezifischen Explikation dieser Strukturen und Regeln ist dann die Rekonstruktion des vorliegenden
(Untersuchungs-)Falles als eines historisch gewordenen Gebildes. Die Objektive
Hermeneutik geht somit davon aus, dass erstens Arbeitsbiografien nicht Ausdruck
individueller Präferenzen und Werthaltungen sind, sondern dass sie nach sozialen
Regeln erzeugt werden, und dass zweitens jede Arbeitsbiografie Teil eines Individuierungsprozesses einer Lebenspraxis ist.2
Teilt man diese im weiten Sinne berechtigt als strukturalistisch zu bezeichnende Prämisse, kann man sich fragen, was denn die Objektive Hermeneutik bei
der Untersuchung von Biografien, und hier in diesem Vorhaben bei Erwerbsbiografien, zu leisten imstande ist. Worin sollen diese überindividuellen Regeln, diese
objektiven Gesetzmäßigkeiten bestehen, welche Berufswahlen, Berufslaufbahnen
und die mit den jeweiligen Berufsstellungen verbundenen sozialen und ökono-
1
2
Für eine Durchsicht und Kommentierung des Manuskriptes danke ich Jan Gellermann.
Zur Darstellung und Begründung der Objektiven Hermeneutik siehe Oevermann (1986, 1991 und
1993), zum methodischen Vorgehen Wernet (2006). Zum Regelbegriff siehe Durkheim ([1885]
2002).
204
Stefan Kutzner
mischen Positionen bestimmen ? Wie ergibt sich die Präferenzstruktur, aufgrund
derer ein Individuum eine bestimmte berufliche Laufbahn mit allen ihren sozialen und ökonomischen Folgen einschlägt ? Die Objektive Hermeneutik geht davon
aus, dass jeder biografische Verlauf (und die Berufs- bzw. Erwerbsbiografie ist ja
ein Teil dieser gesamten Biografie) Ausdruck eines Habitus ist. Als Habitus kann
man sich ein Strukturgebilde vorstellen, das verschiedene Schemata enthält, die
konkrete Bewusstseinsakte wie auch Handlungen eines Individuums erst ermöglichen. Der Habitus selbst wiederum ist Resultat des Sozialisationsprozesses eines
Subjekts: Er ist bestimmt durch allgemeine Zeitumstände wie durch soziale Positionen, die spezifische Milieulage.3
Im Folgenden soll gezeigt werden, wie man mit der Objektiven Hermeneutik
Habitusrekonstruktionen vornehmen kann. Dabei geht es in den beiden ausführlich dargestellten Fällen nicht um den gesamten Habitus, sondern um die Aspekte,
welche bei der jeweiligen beruflichen Laufbahn wesentlich sind. Man kann einen
Erwerbs- oder Berufshabitus nicht isoliert betrachten. Eine Arbeitsbiografie ist
Ausdruck einer gesamten Lebensführung, zu der die familiäre Biografie und der
soziale Status ebenso hinzugehören. Mit der Wahl eines bestimmten Berufes
sind immer konkrete Arbeitsbedingungen gegeben, die natürlich auch das private Leben beeinflussen. Umgekehrt wird durch die Zugehörigkeit zu konkreten lebensweltlichen Gemeinschaften (Familie und Milieu) auch die Berufswahl
mitbestimmt. Beides steht also zueinander in einer Wechselwirkung. Dennoch
beschränke ich mich nachfolgend weitgehend auf die beruflichen oder erwerbsbezogenen Aspekte der beiden untersuchten Biografien und möchte an diesen
beiden Fallbeispielen verdeutlichen, was der jeweils zugrundeliegende Habitus
eigentlich ist und wie man ihn auf der Basis einer Datenlage (biografisches Interview und tabellarischer Lebenslauf) rekonstruieren kann.
Die Objektive Hermeneutik gilt als Kunstlehre. Sie gibt dem Interpreten und
Sozialforscher allgemeine Regeln an die Hand, sie versteht sich aber nicht als Ablaufprogramm, nach dem man standardmäßig qualitativ erhobenes Datenmaterial auswerten kann. Die Charakterisierung der Objektiven Hermeneutik als
Kunstlehre bedeutet, dass der Erfolg in der Anwendung dieser Methode bzw. Methodologie auch auf Erfahrung beruht. Je mehr man interpretiert, je mehr man
mit der Objektiven Hermeneutik Fallrekonstruktionen vornimmt, desto sicherer
wird man bei den einzelnen Interpretationsakten. Dennoch möchte ich die we3
Zum Habitusbegriff siehe Bourdieu (1982 [1979], 1987 [1980]), Krais / Gebauer (2002), Oevermann (2001) sowie Vester et al. (2001). Eine eigentliche, mikrosoziologisch fundierte HabitusTheorie steht noch aus.
Arbeit, Beruf und Habitus
205
niger Erfahrenen (StudentInnen, DoktorandInnen, AssistentInnen) gerade auch
dazu ermutigen, einfach einmal zu beginnen (gegebenenfalls unter Anleitung),
indem sie sich an den nachfolgend dargestellten Schritten orientieren und auf
diese Weise praktische Erfahrungen in der Auswertung mit der Objektiven Hermeneutik machen.
Zunächst werde ich einige wenige theoretische Prämissen der Objektiven Hermeneutik kurz darstellen, wobei ich mich auf diejenigen beschränke, welche für
das hier zugrundeliegende Forschungsinteresse, nämlich Erwerbsbiografien, relevant sind (2). Es folgt dann eine Darstellung der wesentlichen Untersuchungsschritte (3). Die beiden ausführlich dargestellten Fallrekonstruktionen, das sind
hier zwei Erwerbsbiografien, sind einerseits Exemplifizierungen der vorangehend
dargestellten Schritte, sollen aber auch verdeutlichen, zu welchen Ergebnissen
man mit der Objektiven Hermeneutik gelangen kann, weswegen die Darstellung
der beiden Fallrekonstruktionen recht ausführlich gerät (4). Mit einigen resümierenden Bemerkungen beschließe ich meinen Beitrag (5).
2
Einige theoretische Grundlagen der Objektiven Hermeneutik
Das Ziel einer mit der Objektiven Hermeneutik durchgeführten Analyse ist die
Rekonstruktion von Fallstrukturgesetzlichkeiten individuierter Lebenspraxen.
„Unter Lebenspraxis wird von der objektiven Hermeneutik inhaltlich ein autonomes, selbst-transformatorisches, historisch konkretes Strukturgebilde gefasst, das
sich als widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung konstituiert“ (Oevermann 1993: 178). Dieses „historisch konkrete
Strukturgebilde“ ist immer ein Subjekt, sei es eine individuelle Person, sei es ein
Kollektivsubjekt wie beispielsweise ein Staat, ein Wirtschaftsunternehmen oder
auch eine Kirchengemeinde. Vorrausetzung ist, dass ein lokalisierbares Handlungszentrum vorliegt.
Lebenspraxis ist Oevermann zufolge nicht determiniert, vielmehr stehen jedem
Subjekt mehr Möglichkeiten zur Wahl, als es verwirklichen kann. Lebenspraxis
realisiert sich im Vollzug dieser Auswahl: Die Wahl einer Möglichkeit schließt andere aus. Lebenspraxis ist die fortwährende Selektion von Möglichkeiten. Oevermann betont die Offenheit der Entscheidungssituation: „Ein Entscheidungszwang
ergibt sich notwendig daraus, dass in bestimmten, dadurch krisenhaften Situationen angesichts entwerfbarer Alternativen oder Wahlen, ob es gewollt wird oder
nicht, eine Entscheidung fallen muss, für die charakteristisch ist, dass krisenlösende rationale oder sozial anerkannte Begründungen (noch) nicht zur Ver-
206
Stefan Kutzner
fügung stehen“ (Oevermann 1993: 178 – 179). Wenn keine rationalen oder andere
sozial anerkannten Begründungen (Legitimierungen) vorliegen, ist die Entscheidungssituation zukunftsoffen, sie kann nicht prognostiziert werden. Lebenspraxis ist gekennzeichnet durch diese fortwährende Krisenbewältigung, worunter
Oevermann auch das Aufbrechen vorhandener und nicht mehr tauglicher Routinen versteht (Oevermann 2008).
Ein Subjekt trifft im Verlauf seines Lebens oder seiner Biografie beständig zukunftsoffene Entscheidungen: Soll es A heiraten oder nicht, soll es den Beruf x
oder y ergreifen, soll es als Studienort v oder w wählen usw. Für alle diese Möglichkeiten gibt es zum Zeitpunkt der zu treffenden Entscheidung keine Kriterien,
nach denen das jeweilige Subjekt für seine Zukunft prognostizieren kann, dass
sich diese Entscheidungen tatsächlich bewähren: dass mit A eine glückliche Ehe
geführt wird, dass der Beruf x genügend Entfaltungschancen bietet, dass der Studienort v ein gehaltvolleres Studium ermöglicht als andere Studienorte.
Generelle Muster dieser Selektionen einer Lebenspraxis zu ermitteln, ist das
Ziel einer Fallrekonstruktion. Durchaus lassen sich diese Selektionsmuster als
Aspekte eines Habitus verstehen. Unter Habitus versteht Oevermann die Handlungsprogrammierungen, die „als Automatismus außerhalb der bewussten Kontrollierbarkeit (…) das Verhalten und Handeln von Individuen“ kennzeichnen
und bestimmen (Oevermann 2001: 45). Oevermann lehnt sich mit seinem Habitus-Konzept stark an das von Bourdieu an. Letzterer versteht als Habitus die
generativen Strukturen, die den jeweiligen Wahrnehmungen, dem Denken und
Handeln von Individuen vorgelagert sind. Der Habitus ist Bourdieu folgend das
Ergebnis objektiver Lebensbedingungen (bei Bourdieu der Klassenlage) und der
milieuspezifischen Erfahrungen, wobei er wiederum diese Milieus auch schafft
(Bourdieu 1987: 97 ff.). Bezogen auf das Lebenspraxis-Modell von Oevermann beinhaltet der Habitus die vorgelagerten Strukturen, welche die jeweils bei Subjekten vorgenommenen lebenspraktischen Entscheidungen erzeugen.
Der Habitus selbst ist zunächst einmal Resultat eines Sozialisationsprozesses,
er wird bestimmt von milieu- und familienspezifischen Ausgangskonstellationen sowie den gegebenen Zeitumständen, das sind soziale, kulturelle, politische
und ökonomische Rahmenbedingungen. In diesen vorgegebenen Konstellationen
vollzieht sich ein Autonomisierungsprozess, gekennzeichnet dadurch, dass das Individuum auf zwei Ebenen grundlegende Weichenstellungen vornimmt. Zunächst
einmal auf der Ebene der Berufsfindung, es entscheidet sich für eine spezialisierte Tätigkeit. Diese berufliche Tätigkeit dient zum einem zur Erwirtschaftung
Arbeit, Beruf und Habitus
207
des eigenen Lebensunterhaltes, zum anderen ist sie auch Quelle gesellschaftlicher
Anerkennung: Indem es arbeitet, trägt das Individuum zum Wohlstandserhalt
bzw. zur Wohlstandsmehrung bei. Somit legt die Berufswahl die weitere Positionierung in der Gesellschaft nach Status- und Einkommenskriterien weitgehend
fest. Damit geht, wir sind jetzt bei der zweiten Ebene, die Ablösung von der Herkunftsfamilie einher: die finanzielle Verselbstständigung, die Gründung eines eigenen Haushaltes sowie die persönliche Verselbstständigung, die sich darin manifestiert, dass die Eltern ihre Autoritätsposition verlieren. Der Ablösung von der
Herkunftsfamilie folgt die Gründung einer eigenen (Gattenwahl und Kinder).
Die Form der privaten Lebensführung ist damit weitgehend bestimmt. Zwar besteht im Unterschied zu früheren Zeiten keine bindende Verpflichtung zu Eheschließung und Familiengründung, dennoch sind Lebensentwürfe als Single oder
der Verzicht auf eigene Nachkommenschaft immer noch in der Minderheit und
letztlich legitimationsbedürftig. Sind die Berufsfindung und Familiengründung
erfolgt, hat sich das Individuum zunächst erstmal in gesellschaftlicher Hinsicht
positioniert, es nimmt einen bestimmten Status ein, der sich unter bestimmten
Umständen durchaus auch noch einmal verändern kann. Beruf, Einkommen und
Familie gelten als allgemeine Quellen sozialer Wertschätzung. Zur Familiengründung ist hier zu bemerken, dass Ehe (eine auf Dauer angelegte Liebesbeziehung)
sowie die sich daran anschließende Familiengründung in fast allen sozialen Milieus immer noch verbindliche Norm ist und auch tatsächlich in der Regel angestrebt wird.
Auch Biografien von Personen, und das Erwerbsleben und der Verlauf einer
beruflichen Karriere sind ja wesentliche Aspekte einer Biografie, sind für die
Objektive Hermeneutik Untersuchungsfälle, und in solchen Fällen sollen die
Strukturgesetzlichkeiten (oder auch Strukturmuster) einzelner Erwerbsbiografien
ermittelt werden. Dieses, was als latente Struktur das Handeln von Individuen
steuert, lässt sich durchaus als Habitus begreifen: Hinter der sichtbaren Erwerbskarriere steht aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik ein diese Erwerbskarriere generierender Habitus, ein Generator, der Ausbildungswege, Berufswahl
und Berufsverlauf steuert. Somit ist eine vorliegende Erwerbsbiografie, der Verlauf einer beruflichen Karriere, aus der Perspektive der Objektiven Hermeneutik
eine Abfolge mehrerer Entscheidungssituationen, eine Sequenz von Krisen. Bereits die Berufswahl ist eine Krise, da zum Zeitpunkt der Festlegung ja gar nicht
antizipiert werden kann, ob der gewählte Beruf auch wirklich den eigenen Begabungen entspricht und ob auch in der Zukunft die ökonomischen Erwerbs-
208
Stefan Kutzner
chancen in dem gewählten Beruf attraktiv sein werden. Gleichwohl lässt sich eine
einmal getroffene Berufswahl nur unter erschwerten Bedingungen korrigieren.
Die Berufswahl ist eine Angelegenheit, die sich nicht routinisiert vollziehen lässt.
Der Beruf 4 ist einerseits ökonomisches Mittel zur Existenzsicherung, andererseits Quelle sozialer Anerkennung. Mit seiner beruflichen Tätigkeit trägt jedes
Individuum zum Wohlstand einer politischen Gemeinschaft bei. Gleichwohl finden sich Milieutraditionen, und zwar in dem Sinne, dass durch den Beruf auch
die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu angezeigt wird. In dieser
Hinsicht ist jede Berufswahl beeinflusst durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu: Sie kann milieukonform erfolgen, sie kann aber auch
den üblichen Milieuerwartungen widersprechen. Im letzteren Fall wird das Herkunftsmilieu verlassen.
Nun ist der wirtschaftliche Strukturwandel mit zu berücksichtigen: der Niedergang bisheriger und der Aufstieg neuer Berufe und die damit einhergehenden
Veränderungen des Arbeitsmarktes. Diese Veränderungsprozesse bewirken, dass
gerade auch für die Berufswahl in der Regel keine Vorbilder zur Verfügung stehen,
dass also die Festlegung auf bestimmte Tätigkeiten keineswegs routinisiert erfolgen kann. Ob ein gewählter Beruf zwei Jahrzehnte später genügend Erwerbsmöglichkeiten bietet, also auch zukünftig die Basis für einen angestrebten materiellen
Lebensstandard bildet, ob er weiterhin in gleichem Maße wertgeschätzt wird, ist
zum Zeitpunkt der Berufwahl ebenso offen wie die Frage, ob der gewählte Beruf
und die jeweilige Berufspraxis den Interessen, Talenten und Begabungen auch
wirklich entspricht, also der Persönlichkeitsstruktur angemessen ist.
Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die Objektive Hermeneutik ein strukturalistisches Verfahren innerhalb der rekonstruktiven Sozialforschung ist. Ihr geht es
gerade nicht um den Nachvollzug subjektiver Perspektiven, vielmehr um die Erschließung latenter Sinnstrukuren, welche dem Subjekt nicht unbedingt zugänglich, dennoch handlungswirksam sind (Oevermann 1993). Das unterscheidet die
Objektive Hermeneutik von Konzepten, die eher aus der phänomenologischen
Tradition her stammen und von Ansätzen der Biografieforschung, wie sie gegen-
4
Da die Objektive Hermeneutik vor allem in mikrosoziologisch angelegten Untersuchungen verwendet wird, gehören die hier formulierten knappen Ausführungen zum Beruf und zum wirtschaftlichen Strukturwandel nicht zu den eigentlichen theoretischen Grundlagen der Objektiven
Hermeneutik. Dennoch lässt sich die Methodologie der Objektiven Hermeneutik durchaus auf
makrosoziologische Fragestellungen anwenden. Hierzu müsste noch das begriff liche Instrumentarium in Gestalt einer Makro-Theorie noch entwickelt werden.
Arbeit, Beruf und Habitus
209
wärtig insbesondere von Fritz Schütze und Gabriele Rosenthal vertreten werden.5
Schützes „Ablaufmodell für Verlaufskurvenprozesse“ orientiert sich an der subjektiven Perspektive des Erleidens von Verlusten von Gestaltungsmacht und Kontrolle über die äußere Realität (Schütze 1996a: 129 f.). Auch Rosenthal stellt die
subjektive Perspektive in den Fokus ihrer Untersuchungen:
„Der biographische Forschungsansatz ermöglicht Einsicht sowohl in die gegenwärtigen Deutungsmuster bzw. subjektiven Perspektiven der Alltagshandelnden als auch in
ihre mit der sozialen Welt verwobenen Handlungsgeschichten. Mein Anspruch ist es
aufzuzeigen, wie die sozialen Konstruktionen in ihrer Wechselwirkung mit den konkreten Erfahrungen der Handelnden und den zu unterschiedlichen Zeitpunkten wirkmächtigen sozialen Diskursen entstanden sind, wie sie sich immer wieder reproduzieren oder verändern“ (Rosenthal 2010: 198).
Dagegen zielt die Objektive Hermeneutik nicht auf das Subjekt, seine Intentionen
und seine unbewussten und vorbewussten Motivlagen ab, sondern auf die tiefer
liegenden Strukturen der Subjektivität, auf den Habitus, der die Bedingung der
Möglichkeit von Subjektivität erst ist, und, wenn man hier Bourdieu folgt, allgemeine Schemata der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns beinhaltet.6
Insofern ist die grundlagentheoretische Position Oevermanns derjenigen Bourdieus sehr nahe. Auch Bourdieu distanziert sich von phänomenologischen Positionen, weil diese „Erkenntnisweisen“ nur jeweils den Sinn, den die beteiligten
Akteure ihrem Handeln selbst beimessen, rekonstruieren können. Stattdessen
5
6
Zur Biografieanalyse siehe die Beiträge von Anne Juhasz Liebermann und von Anja SchröderWildhagen in diesem Band.
Es sei hier betont, dass die Differenzen zwischen diesen beiden Positionen vor allem konstitutionstheoretisch begründet sind. Auch wenn bei Rosenthal und Schütze die Rekonstruktion
von Subjektivität im Vordergrund steht, erschöpft sich bei ihnen Subjektivität keineswegs in bewusster Intentionalität (was ja gleichbedeutend wäre mit einer Reduktion von Subjektivität auf
Zweck- oder auch bewusster Wertrationalität). So hat beispielsweise Schütze sehr anschaulich am
Beispiel der Sozialarbeit die Paradoxien professionellen Handelns herausgearbeitet, also die Gegenläufigkeit und Widersprüchlichkeit von Handlungsanforderungen im Vollzug professioneller Praxis, die jedoch vom Subjekt gegenseitig austariert werden müssen (Schütze 1996b). Und
Rosenthal verdeutlicht die Komplexität subjektiver Äußerungen und den daraus resultierenden
methodischen Anforderungen anhand der Differenz zwischen erlebter, erinnerter und erzählter
Biografie, wobei sie, dem Modell der Objektiven Hermeneutik recht vergleichbar, die objektiven
Daten des Lebenslaufes mitberücksichtigt (Rosenthal 2010). – Auch wenn man letzten Endes auf
einer Unterscheidung zwischen einer strukturalistischen und einer eher phänomenologischen
Position festhält, muss man jedoch konstatieren, dass die Studien und Forschungsergebnisse beider Richtungen wechselseitig sehr gut rezipierbar sind.
210
Stefan Kutzner
müsse man mit der primären Erfahrung mit der vertrauten Welt brechen, um
die „verschiedenen Praxisformen und deren Repräsentationen“ rekonstruieren
zu können (Bourdieu 1976: 147). Bourdieu zufolge produziert und reproduziert
sich die Gesellschaft in all ihren Dimensionen (ökonomische, soziale und kulturelle Dimensionen) nur durch soziale Praxis, die wiederum jenseits des Verständnisses ihrer Akteure zu rekonstruieren ist. Soziale Praxis ist Bourdieu zufolge zwar durch verschiedene milieuspezifische Habitusformen bestimmt, jedoch
nicht determiniert. Oevermanns Position stellt in gewisser Weise noch einmal
eine Radikalisierung der Position Bourdieus dar. So geht es der Objektiven Hermeneutik zwar auch um die Reproduktion, aber vor allem um die Transformation
sozialer Strukturen. Insofern ist der Unterschied zwischen Bourdieu und Oevermann auf der perspektivischen Ebene zu sehen. Bourdieu will die Reproduktion
immer schon vorhandener Strukturen nachweisen, wohingegen Oevermann an
der Transformation, also an der „Entstehung des Neuen“ interessiert ist (hierzu
vor allem Oevermann 1991).
3
Methodisches Vorgehen
3.1
Datenerhebung: Biografisches Interview und standardisierter Fragebogen
Zentrale Datenquelle ist ein biografisches Interview. Es empfiehlt sich, dies in
Form eines narrativen Interviews (Schütze 1983) zu erheben und dabei die zu interviewende Person um die Erzählung ihrer gesamten Lebensgeschichte zu bitten (vgl. Hermanns 1991; Hopf 1991; Rosenthal 2005). Hier ein Formulierungsvorschlag für die Eingangsfrage:
„Bitte erzählen Sie mir Ihre Lebensgeschichte von Geburt an, von dem Zeitpunkt an, an
den Sie sich erinnern, bis heute. Erzählen Sie das, was Ihnen wichtig ist. Ich werde am
Ende Ihrer Erzählung nachfragen“.
Nachfragen werden am Ende der Erzählung gestellt. Sie sollten sich in diesem Fall
auf die Arbeitsmarktbiografie bzw. auf das Erwerbsleben konzentrieren.
Am Ende des offenen Interviews werden dann noch in standardisierter Form
die sogenannten objektiven Daten abgefragt, sofern sie nicht bereits in der biografischen Erzählung genannt wurden.
Die infrage kommenden objektiven Daten sind im folgenden Schaukasten aufgeführt.
Arbeit, Beruf und Habitus
211
Geburtsjahr und Geburtsort
Eltern: Geburtsjahre, Geburtsorte, Berufe
Geschwister: Anzahl und jetziges Alter (bzw. Geburtsjahre)
Orte des Aufwachsens
Schulbildung
Berufsausbildung (oder Studium): Auflistung der verschiedenen Phasen
Heirat: Heiratsjahr
Ehegatte (Ehegattin) / Lebenspartner(in):
Geburtsjahr, Geburtsort, Beruf
Falls möglich: Berufe und Geburtsjahre der Schwiegereltern
Falls möglich: Berufe und Geburtsjahre der Schwager (Schwägerinnen)
Kinder: Geburtsjahre, Geburtsorte
Weitere bedeutsame Daten aus dem Lebenslauf: z. B. Trennungen / Scheidungen, bedeutsame
Erkrankungen etc.
Das biografische Interview wird wortgetreu transkribiert. Das standardisierte Interview zu den Lebenslaufdaten wird nicht transkribiert. Stattdessen wird ein tabellarischer Lebenslauf erstellt.
3.2
Datenauswertung
3.2.1 Auswertung der objektiven Daten
Die Auswertung der objektiven Daten dient zur ersten Formulierung einer Fallstrukturhypothese.
1. Zunächst werden im ersten Schritt anhand der Daten zur familiären und
sozialen Herkunft, also den Daten zur Familie und den Berufen der Eltern
Rückschlüsse auf das soziale Milieu, dem die interviewte Person entstammt,
gezogen. Die Daten dienen also dazu, das spezifische soziale Milieu der Interviewperson zu bestimmen, darüber hinaus auch, sich ein Bild über die milieuspezifischen Lebensverhältnisse zu machen. Man klassifiziert also das soziale Herkunftsmilieu und erzeugt ein Bild über die konkreten Lebensumstände.
2. Im zweiten Schritt werden mehrere milieuspezifische Lebenswege gedankenexperimentell erzeugt. Diese verschiedenen Lebenswege sind idealtypische
Möglichkeiten, was in einem bestimmten sozialen Milieu als angemessene Lebensführung gilt. Berufswahl und Familiengründung sind die wesentlichen
Aspekte der sozialen Etablierung. Dabei ist zu beachten, dass bei der Berufswahl entweder mehr materielle Interessen oder mehr Selbstverwirklichungsambitionen im Vordergrund stehen können. Für beide Typen gibt es in der
212
Stefan Kutzner
Regel Vorstellungen, welche Berufe milieukonform sind. Dabei sollte auch
darauf geachtet werden, dass für Frauen wiederum andere milieuspezifische
Normen hinsichtlich einer angemessenen Berufswahl existieren als für Männer.
3. Im anschließenden Schritt wird der tatsächliche Lebenslauf mit den vorweg
konstruierten Möglichkeiten verglichen.
4. Dieser Vergleich soll ermöglichen, dass die individuelle Typik der sozialen
Etablierung in Form einer Fallstrukturhypothese formuliert werden kann.
3.2.2 Auswertung des Interviewtextes
Anhand des Interviewtextes kann die Fallstrukturhypothese überprüft, modifiziert und teilweise auch fallspezifisch präzisiert werden. Dabei geht man in folgenden Schritten vor:
1. Die auf der Basis der objektiven Daten formulierte Fallstrukturhypothese wird
einige offene Aspekte enthalten, die auf der Grundlage des Interviewtextes
weiter untersucht werden können. Solche Aspekte können sein: Berufswechsel,
nicht milieuspezifische Berufswahlen, sehr früh oder auch sehr spät erfolgende Familiengründung, Trennungen und Scheidungen. Im ersten Schritt werden alle diejenigen Textstellen im Interview markiert, in denen über die ausgewählten Aspekte berichtet wird.
2. Zusammen mit der Eröffnungssequenz des Interviews werden die ausgewählten Interviewstellen nach den Regeln der Objektiven Hermeneutik interpretiert. Zu den grundlegenden Regeln gehören die Kontextfreiheit, das Sequenzialitätsprinzip, die Wörtlichkeit, die Sparsamkeitsregel und die Regel der
Extensivität (vgl. hierzu Wernet 2006).
3. Schließlich werden die durch den Interpretationsgang gewonnenen Erkenntnisse zusammengetragen und in Gestalt eines Strukturmusters bezüglich des
untersuchten Falles formuliert.
3.3
Zum praktischen Vorgehen bei der Interpretation
Es wird empfohlen, die Interpretationsarbeit in einer Gruppe vorzunehmen. Eine
solche Interpretationsgruppe sollte nach den Erfahrungen des Autors aus etwa
Arbeit, Beruf und Habitus
213
vier bis sechs Mitgliedern bestehen. Die Aufgabe der Gruppe ist es, zum einen
eine möglichst große Lesartenvielfalt zu erzeugen, zum anderen die Stichhaltigkeit von einzelnen Interpretationen wie auch von der Fallstrukturhypothese im
Diskurs kritisch zu überprüfen. In der Regel beteiligt sich derjenige, der einen
Fall erhoben hat (also das Interview führte), nicht an der Lesartenproduktion,
sondern beschränkt sich in der Interpretationsgruppe darauf, notwendige Hintergrundinformationen beizusteuern. Nach der Gruppeninterpretation wird der
Interpretationsgang ausführlich und anschaulich dargestellt.
3.4
Abschließende Bemerkung
Die Objektive Hermeneutik versteht sich in erster Linie als Kunstlehre. So ist die
Befolgung der hier formulierten Regeln zwar notwendig, um eine Fallstrukturhypothese zu formulieren, aber keineswegs hinreichend. Insbesondere auf die
Erzeugung von Lesarten wie auch auf die Vergegenwärtigung milieuspezifischer
Lebensverhältnisse kommt es ebenso an, wie auch auf die präzise, sich auf die Datengrundlage stützende Formulierung von einzelnen Aspekten der Fallstruktur.
Zu allem gehört Erfahrung, nicht nur strikte Regelbefolgung. So ist es sinnvoll,
wenn man mit der Objektiven Hermeneutik arbeiten möchte, eine kontinuierlich
arbeitende Interpretationsgruppe ins Leben zu rufen, an ihr regelmäßig teilzunehmen, um auf diese Weise die notwendigen Erfahrungen im Umgang mit der
Objektiven Hermeneutik zu erwerben.
4
Fallrekonstruktionen
Anhand von zwei Fallbeispielen soll das Vorgehen der Objektiven Hermeneutik
bei der Rekonstruktion des Erwerbshabitus demonstriert werden. Das Fallmaterial stammt aus der Studie „Working poor in der Schweiz – Wege aus der Sozialhilfe“ (Kutzner et al. 2004). Unter anderem wurden im Rahmen dieser Studie
50 biografische Interviews mit Personen aus der Working poor-Population geführt, von denen ein kleiner Teil mit der Objektiven Hermeneutik ausgewertet
wurde. Die beiden Fälle in der folgenden Darstellung wurden erneut einer Fallanalyse unterzogen. In beiden Falldarstellungen werden sowohl das methodische
Vorgehen (jeweils gekennzeichnet) als auch die Interpretationsergebnisse dargestellt.
214
4.1
Stefan Kutzner
Erste Fallrekonstruktion (Flurina Messerli)7
Wir beginnen mit den objektiven Daten.
1958
Flurina Altdorf (später Messerli)8 wird in Fribourg (Schweiz) geboren. Die Familie Altdorf gehört der deutschsprachigen Sprachgruppe an. Der Vater, Jg. 1931, ist Maurer, die
Mutter, Jg. 1936, Hausfrau und zeitweilig Fabrikarbeiterin. Flurina ist das zweite Kind,
ihre ältere Schwester wird 1955 geboren.
Zum methodischen Vorgehen: Diese Daten dienen zur Bestimmung (Klassifikation) des
sozialen Milieus, in dem Flurina aufwächst. Darüber hinaus können wir uns anhand
der örtlichen und zeitlichen Rahmung – Flurina verbringt ihre Kindheit und Jugend in
den 1960er und 1970er Jahren im Kanton Fribourg – ein Bild von den Lebensumständen
und den Lebensperspektiven machen, die Flurina betreffen. Maurer und Fabrikarbeiterin, die Berufe der Eltern, sind klassische Arbeiterberufe, Flurina wächst also im Arbeitermilieu auf.
Wie gelangt man an Informationen bezüglich der damaligen Lebensverhältnisse in einem Schweizer Arbeitermilieu ? Man könnte „Milieu-ExpertInnen“ befragen, also Leute,
welche aus diesem Milieu stammen. Auch Milieu-Charakterisierungen, wie sie in Form
von Reportagen, Berichten oder eventuell breit angelegten kulturhistorischen Studien vorliegen, sollte man nutzen. In jedem Fall sollte man versuchen, sich anhand der verfügbaren Daten und Informationen die Lebensumstände möglichst plastisch vor Augen zu
führen.
Die Altdorfs sind, das zeigen die Berufsangaben, eine klassische Arbeiterfamilie. Der Vater übt als Maurer einen traditionellen Handwerksberuf aus. Habituell hebt er sich von anderen, insbesondere un- und angelernten Arbeitern ab,
durchaus eine Quelle für Berufsstolz und soziales Prestige im Arbeitermilieu.
Die Mutter konzentriert sich dagegen auf den Haushalt, mit zeitweilig ausgeübter
Fabrikarbeit (bestenfalls handelt es sich um angelernte Tätigkeiten) ergänzt sie
das Familieneinkommen, das zu erwirtschaften sonst dem Mann zukommt. Die
Tätigkeit auf der Baustelle, die Zusammenarbeit mit anderen Handwerkern, die
7
8
Der Fall Flurina Messerli wurde ausgiebig im Rahmen eines Kolloquiums mit Olaf Behrend,
Alexander Geschwindener, Jan Gellermann, Carsten Weiß und Benjamin Worch diskutiert.
Der interviewten Person wurde für die Darstellung ein anderer Namen gegeben. Das gilt selbstverständlich auch für den folgenden Fall.
Arbeit, Beruf und Habitus
215
daraus resultierende Vergemeinschaftung prägen den Alltag Herrn Altdorfs, während Frau Altdorf ihre Selbstbestätigung in allererster Linie aus ihrer Betätigung
als Hausfrau und Mutter ziehen dürfte. Die Lebensverhältnisse der Familie in den
1950er und 1960er Jahren dürften bescheiden gewesen sein (was für Handwerkerfamilien ohne eigenen Betrieb die Regel gewesen ist), das Einkommen wird für
die alltägliche Lebenshaltung gereicht haben, größere Ersparnisse waren wohl
kaum möglich. Als Maurer wird Herr Altdorf in seiner Wohnregion gut integriert
gewesen sein, kann er doch aufgrund seiner Handwerkerfertigkeiten Verwandte,
Nachbarn, Kollegen und Freunde bei Bauarbeiten unterstützen und somit sein
Haupteinkommen aufbessern. Die Baubranche bot bis in die 1970er Jahre hinein,
bis zur Krise im Baugewerbe, zwar keine Spitzenlöhne, immerhin aber sichere Arbeitsplätze. Dennoch dürfte sich ein Konkurrenzdruck auch bemerkbar gemacht
haben, waren Tätigkeiten auf dem Bau attraktive Arbeitsplätze für Arbeitsmigranten, vor allem für Italiener und Portugiesen.
Als Angehörige der deutschsprachigen Minderheit im Kanton Fribourg – zwei
Drittel der Einwohner geben Französisch als Muttersprache an – sind die Altdorfs
benachteiligt. Das Freiburger Deutsch gilt als Sprache der unteren Schichten, der
Bauern, Handwerker und Arbeiter, die Sprache der Bürger ist dagegen Französisch. Ihres Dialektes wegen werden die Deutschfreiburger von den Frankophonen nicht ganz ernst genommen, wegen ihres ausgeprägten Katholizismus gelten
namentlich die Deutschfreiburger in der Deutschschweiz als rückständig. Beides
sind Faktoren, welche der sozialen Mobilität wenig dienlich sind und den Hang
fördern, unter sich zu bleiben.
Dass der Kanton Freiburg, im Gegensatz zu anderen Schweizer Regionen kein
Auswanderungskanton wurde, verdankt sich auch einer geschickten Industrieansiedlungspolitik der Freiburger Kantonsregierungen. Freiburg ist der Schweizer
Kanton mit den höchsten wirtschaftlichen Zuwachsraten seit 1945.
1965 – 74
In diesem Zeitraum wechselt die Familie insgesamt siebenmal den Wohnort. Flurina
besucht die Primar- und Sekundarschule in den Kantonen Solothurn, Bern und Fribourg.
Zum methodischen Vorgehen: Es geht jetzt nicht mehr um das soziale Milieu, sondern
um die Lebensumstände der Familie Altdorf. Wir befinden uns immer noch beim ersten
Schritt der Interpretation der objektiven Daten. Dabei fragen wir uns vor allem, was der
fortdauernde Wohnsitz- und auch Schulwechsel für die vorliegende Biografie bedeutet.
216
Stefan Kutzner
Der Grund für den dauernden Wohnortswechsel könnte sein, dass Flurinas Vater
als Maurer in länger andauernden Bauprojekten beschäftigt ist und, um längere
Anfahrtswege zu vermeiden, sich mit seiner Familie immer unmittelbar an der
Baustelle niederlässt. Ein anderer Grund könnte ein häufigerer Wechsel des Arbeitgebers sein. Der andauernde Wohnortswechsel verdeutlicht, dass die Familie
Altdorf regional nicht verwurzelt ist. In gewisser Weise nomadisiert sie, vermeidet
intensivere Kontakte gegenüber der näheren Umwelt, was auch zu einer Verdichtung der Beziehungen innerhalb der Familie führen dürfte. Gleichzeitig wird sich
dieser häufigere Wohnortswechsel negativ auf die Schulbildung beider Töchter
niederschlagen. Den Eltern ist die Schulbildung ihrer Töchter offensichtlich relativ gleichgültig. Wäre sie das nicht, würden die Eltern nach Möglichkeit weniger
häufig einen Wohnsitzwechsel vornehmen, stattdessen die Abwesenheit des Vaters während der Arbeitswoche in Kauf nehmen.
Aus dem häufig stattfindenden Wohnortwechsel können wir schlussfolgern,
dass zumindest der Status Frau Altdorfs in der Familie eher gering gewesen sein
dürfte. Gerade in traditionellen Familien liegt die Absicherung des sozialen Status im Aufgabenbereich des Mannes bzw. Familienvaters, die Sorge um die Kinder,
die Führung des Haushaltes aber gerade auch die Pflege der verwandtschaftlichen
Beziehungen ist Angelegenheit der Frau. Offensichtlich bestand Frau Althaus
nicht auf einen festen Wohnort und mutete ihrem Mann während der Arbeitswoche nicht eine außerhäusliche Unterbringung zu.
Zum methodischen Vorgehen: Wir konstruieren jetzt Möglichkeiten, und damit sind
wir beim zweiten Schritt der Auswertung der objektiven Daten, wie das Leben für Flurina weitergehen könnte. Es sollen Möglichkeiten angegeben werden, die typisch für Angehörige dieses sozialen Milieus sind. Hier sollte also wieder auf spezifische Milieukenntnisse zurückgegriffen werden.
Wenden wir uns jetzt dem Fall, also Flurina, zu. Zunächst formulieren wir, gewissermaßen gedankenexperimentell, einige Möglichkeiten, welche milieuspezifischen Lebenswege sie einschlagen wird. Plausibel ist: (1) Flurina absolviert nach
ihrem Schulabschluss (in der Schweiz wäre das der Sekundar- oder Realschulabschluss) keine berufliche Ausbildung. Stattdessen beginnt sie, als Kellnerin in
einer Gaststätte zu arbeiten oder geht wie ihre Mutter in eine Fabrik. Die Arbeit
dient als Überbrückung bis zu einer Heirat. (2) Sie könnte auch einen Lehrberuf
ergreifen. Typische Berufe wären die der Friseuse, der Verkäuferin oder der Arzthelferin. Auch in diesem Falle gilt, dass mit einer nach dem Lehrabschluss erfolgenden Berufstätigkeit die Zeit bis zu einer Heirat überbrückt würde. Im Un-
Arbeit, Beruf und Habitus
217
terschied zur ersten Möglichkeit hätte Flurina ein „berufliches Sicherheitsnetz“
erworben, falls sie doch später mehr als üblich zum Familieneinkommen beitragen müsste. (3) Flurina ergreift einen gehobenen Ausbildungsberuf. Hier käme infrage eine Ausbildung als kaufmännische Verwalterin (KV): Anschließend stünde
Flurina das Tätigkeitsspektrum von der einfachen Sachbearbeiterin bis zur Direktionssekretärin offen. In diesem Falle würde Flurina einen sozialen Aufstieg
(einschließlich des Verlassens des Arbeitermilieus) anstreben, denn sie kommt in
einem solchen Beruf mit Menschen aus anderen Milieus in Kontakt. – Man kann
davon ausgehen, dass jede dieser drei Optionen mit Heirat und Familiengründung für Flurina verbunden sein wird.
Der häufige Wohnortswechsel der Familie zeigt jedoch, dass die Eltern an
einem sozialen Aufstieg ihrer Töchter, einer Statusverbesserung über das Bildungssystem nicht interessiert sind. Das schließt aber nicht aus, dass Flurina sich
möglicherweise einen sozialen Aufstieg wünscht, sie würde dann aber nicht die
Unterstützung ihrer Eltern erfahren.
1974 – 1980
Flurina ist Fabrikarbeiterin in drei verschiedenen Firmen. Die erste Firma produziert
Messgeräte, die zweite Nahrungsmittel, die dritte Präzisionsinstrumente.
Flurina folgt dem Vorbild ihrer Mutter, sie geht als un- oder angelernte Arbeitskraft in mehrere Fabriken. Die Unstetigkeit ihrer Eltern setzt sie fort, was an dem
Arbeitsplatzwechsel zu sehen ist.
1980 – 1985
Flurina arbeitet als Datatypistin in Bern im Bundesamt für Statistik, später Bundesamt
für Informatik. Sie steigt zur stellvertretenden Gruppenleiterin auf.
Zum methodischen Vorgehen: Wir befinden uns weiterhin in der zweiten Phase der
Auswertung. Wir versuchen zunächst, die Falltypik zu erfassen. In diesem Fall ist es aufschlussreich, sich die Anforderungen an eine Datatypistin zu vergegenwärtigen und nach
der Bedeutung eines Aufstiegs zur stellvertretenden Gruppenleiterin zu fragen.
Die Tätigkeit einer Datatypistin ähnelt der ungelernten Fabrikarbeit. Flurina
überträgt Daten in einen Computer. Spezialkenntnisse sind nicht erforderlich, jedoch hohe Konzentration. Flurina arbeitet bei einem renommierten Arbeitgeber
und dürfte über einen sicheren Arbeitsplatz mit den entsprechenden Sozialleistungen im öffentlichen Dienst verfügen. Flurina führt Arbeiten aus, in denen es
218
Stefan Kutzner
auf Fingerfertigkeit und Konzentrationsvermögen ankommt. Ihr bisheriges Berufsleben verdeutlicht, dass Flurina durchaus erfolgsorientiert ist. Zwar nicht über
erworbene berufliche Kompetenzen, sondern über ihre Flexibilität und ihre Geschicklichkeit nutzt sie erfolgreich die Aufstiegswege, die einer ungelernten Arbeitskraft offenstehen. – Ihre Beförderung zur stellvertretenden Gruppenleiterin
bedeutet, dass man ihr durchaus irgendwann eine Leitungsposition zutraut. Als
stellvertretende Gruppenleiterin ist sie zunächst erstmal die rechte Hand ihres
Vorgesetzten (oder ihrer Vorgesetzten). Man attestiert ihr Loyalität, Organisationsgeschick und auch Durchsetzungskraft.
1985
Heirat mit Herbert Messerli (*1959). Herbert arbeitet als Metzger auf dem Schlachthof
eines Großverteilers.
Zum methodischen Vorgehen: Wir ziehen anhand dieser Daten Rückschlüsse über die
soziale Verortung des Paares. Anhand des Alters und der Berufe der beiden überlegen wir,
wie das Beziehungsgefüge des Paares strukturiert sein könnte.
Mit der Heirat ist die soziale Etablierung Flurinas abgeschlossen. Für eine Frau,
die aus dem Arbeiter- bzw. Handwerkermilieu kommt, heiratet sie relativ spät, sie
ist zum Zeitpunkt der Eheschließung bereits 27 Jahre alt. Die Gattenwahl, die Heirat mit einem Metzgergesellen dokumentiert, dass Flurina in ihrem Herkunftsmilieu (Arbeitermilieu) verbleibt. Den Sprung in die Informatikbranche nutzt sie
nicht für einen sozialen Aufstieg.
Die Tätigkeit eines Metzgergesellen im Schlachthof eines großen Lebensmittelverteilers ist im Prinzip monotone Fließbandarbeit: Zerlegen von Schlachtvieh.
Herbert Messerli verfügt zwar über einen sicheren Arbeitsplatz, die Einkommensmöglichkeiten dürften jedoch eher bescheiden sein. Gegenüber ihrem Mann
dürfte Flurina in beruflicher Hinsicht die flexiblere von beiden sein. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Flurina ihrem Mann unterordnen wird.
1985
Geburt des Sohnes Peter
1987
Geburt der Tochter Susanne
Arbeit, Beruf und Habitus
219
Sehr schnell erfolgt die Familiengründung, unmittelbar nach der Heirat. Möglicherweise war Flurina schon bei der Hochzeit schwanger. Für eine Frau aus dem
Arbeiter- bzw. Handwerkermilieu ist sie nicht mehr ganz jung, als sie heiratet und
Mutter wird. Das erste Mal mit 27, das zweite Mal mit 29 Jahren. Das lässt sich als
innerer Vorbehalt gegen Heirat und Familiengründung deuten.
1993
Trennung des Paares; Flurina arbeitet bereits vor der Trennung bei der Post, zunächst
als Datatypistin, später als Sachbearbeiterin.
1994
Scheidung des Paares; Flurina arbeitet weiterhin bei der Post, bezieht jedoch ergänzend Sozialhilfe.
Zum methodischen Vorgehen: Wir mutmaßen, warum die Trennung gerade zu diesem
Zeitpunkt erfolgte.
Der Zeitpunkt der Trennung fällt auf. Möglicherweise geht Susanne in den Kindergarten, ein Jahr später wird sie eingeschult. Flurina sieht vielleicht wieder
Möglichkeiten zu arbeiten. Vieles spricht dafür, dass es schon lange schwelte, dass
die Trennung nur der Vollzug einer bereits erfolgten „inneren Kündigung“ war.
Da Flurina sich in der Arbeitswelt auch ohne Berufsausbildung bisher gut zurechtfand, wird sie die Folgen der Trennung weniger fürchten.
Zum methodischen Vorgehen: An dieser Stelle ist es sinnvoll, wieder typische Möglichkeiten, wie Flurinas Leben weitergehen könnte, zu konstruieren.
Wie könnte es weitergehen ? Vieles spricht dafür, das wäre die erste Möglichkeit,
dass Flurina ihre nächsten Jahre als Alleinerziehende verbringt. Aufgrund ihres
bisherigen Werdeganges könnte Flurina sich in der Erwerbswelt durchaus gut etablieren. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass Flurina die Liebe ihres Lebens
kennenlernt. In diesem Fall würde sie sich wieder an dem traditionellen Lebensmodell orientieren, ihre Arbeit entweder ganz aufgeben oder sich auf die Rolle als
Dazuverdienerin beschränken.
220
Stefan Kutzner
2000
Flurina zieht mit ihrem Freund, Thomas Reag, zusammen. Thomas arbeitet vollzeitlich als Laborant, Flurina halbtags als Sachbearbeiterin bei der Post. Die Sozialhilfe
wird eingestellt.
Zum methodischen Vorgehen: Es zeigt sich, dass Flurina die zweite Möglichkeit einschlägt, sie verbleibt in dem traditionellen Lebensmodell. Wir können jetzt zum dritten
Schritt übergehen und ein Muster bezüglich ihres Erwerbsverlaufes formulieren.
Flurina sieht als ihr Hauptbetätigungsfeld ihre Familie an. Für sie ist die Arbeit
der Familie nachgeordnet. Arbeit ist für sie materielle Existenzsicherung, kein
Selbstzweck. Insofern wird sie auch keine berufliche Identität ausgebildet haben.
Sie folgt damit dem Lebensmodell ihrer Mutter. Deutlich sichtbar ist, dass sich der
traditionelle Habitus erhalten hat, obwohl sich Flurinas Lebensverhältnisse, verglichen mit denen ihrer Eltern, bereits erheblich verändert haben. So arbeitet Flurina nicht mehr wie ihre Mutter in der Fabrik, sondern im Informatiksektor bzw.
im öffentlichen Dienst (Post). Und im Gegensatz zu ihren Eltern ist die Ehescheidung und anschließende Wiederverheiratung eine Option. Eigentlich müsste Flurina aufgrund dieses stattgefundenen sozialen Wandels, den aufgrund des technologischen Fortschritts stattfindenden Strukturwandel in der Wirtschaft, des
Wertewandels gegenüber Ehe und Familie als Institutionen eine diesen moderneren Lebensverhältnissen entsprechende Werthaltung ausgebildet haben. Eine
Fokussierung auf einen Beruf ist nicht feststellbar.
Zum methodischen Vorgehen: Die Fallstrukturhypothese, das wäre jetzt der vierte
Schritt der Auswertung der objektiven Daten, soll das Falltypische formulieren.
Es lässt sich hier eine Fallstrukturhypothese bezüglich der sozialen Etablierung
und des Erwerbshabitus Flurinas formulieren: Flurina bewegt sich in ihrer sozialen Etablierung gemäß den Normen traditioneller Milieus. Arbeit hat für sie
instrumentellen Charakter, sie ist Mittel zum Zweck, sie sichert den Lebensunterhalt (oder trägt zum gemeinsamen Haushaltseinkommen bei). Trotz Wechsels des
Tätigkeitsbereiches, von der Fabrikarbeit zur Informatikbranche, trotz beruflicher
Aufstiegschancen reproduzierte sich ein traditioneller Habitus.
Zum methodischen Vorgehen: Diese Fallstrukturhypothese soll anhand von Interviewsequenzen überprüft werden. Hierzu werden aus dem Interview die Stellen ausgewählt,
Arbeit, Beruf und Habitus
221
in denen Flurina von ihrer Arbeit, ihrer Scheidung und ihren anschließenden Familienverhältnissen erzählt.
Aus Raumgründen kann hier nicht dargestellt werden, wie eine vollständige sequenzielle Deutung einer Interviewpassage erfolgt. So werden im Folgenden die
Ergebnisse der Interpretation dargestellt. Wie eine vollständige Sequenzanalyse
aussieht, wird jedoch anhand der Ausdeutung der ersten ausgewählten Interviewsequenz verdeutlicht. (Zur Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik
siehe Wernet 2006.)
Interviewer: Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten. Sie können mir vielleicht mal
erzählen, wo Sie arbeiten und …
Zum methodischen Vorgehen: Das Prinzip der Kontextfreiheit besagt, dass die vorliegende Frage des Interviewers ohne Berücksichtigung des Kontextes, dass es sich um eine
Interview-Situation handelt, ausgedeutet wird. So werden im ersten Schritt gedankenexperimentell Kontexte formuliert, in denen sich die erste Sequenz (und auch nur der
erste Satz („Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten“) sinnvoll einfügen lässt. Nach
dem Extensivitätsprinzip sollen möglichst unterschiedliche Kontexte, die sich kontrastiv
zueinander verhalten, formuliert werden. Nach dem Prinzip der Wörtlichkeit sollen alle
Textsequenzen strikt wortgetreu aufgefasst werden. Deshalb ist eine wortgetreue Transkription notwendig. Nach dem Sparsamkeitsprinzip sollen alle Lesarten ausgeschlossen
werden, die nur durch den Einbezug zusätzlicher Kontextinformationen formuliert werden können. Das wäre in diesem Beispiel die Lesart, dass es sich um die Frage in einem
Theaterstück handeln würde. In diesem Fall wäre die von einem Schauspieler vorgetragene Äußerung nicht authentisch, sondern gespielt.
Der erste Schritt ist die Konstruktion möglicher Kontexte, in denen der erste Satz
„Sie haben vorhin erzählt, dass Sie arbeiten“ sinnlogisch passend eingefügt sein
kann. Der Sprecher stellt fest, dass die angesprochene Person soeben erwähnte,
dass sie arbeitet. Passend wäre eine Therapiesituation, in der der Sprecher die
Patientin auffordern will, mehr zu ihrer Arbeit zu erzählen. Es könnte sich auch
um einen Sachbearbeiter handeln, der im Rahmen der Sozialhilfe die Daten eines
Klienten aufnimmt und ihn seine Situation erzählen lässt. In diesem Fall würde
dieser Sachbearbeiter sich für den Erwerbslohn des möglichen Klienten interessieren, weil davon die Höhe der möglichen Sozialhilfe abhängt. Weitere Kontexte können hier nicht mehr angegeben werden. Beiden Situationen ist gemein-
222
Stefan Kutzner
sam, dass die jeweils angesprochene Person zuvor in einer ausführlichen Sequenz
etwas von ihrer Lebenssituation erzählte. Der Sprecher interessiert sich für einen
der bereits vorher genannten Aspekte, für die Arbeit. Dieser Aspekt soll im Folgenden, so der Wunsch des Sprechers, vertieft werden.
Der zweite Satz, „Sie können mir vielleicht mal erzählen, wo Sie arbeiten
und …“, verdeutlicht, dass der Sprecher die angesprochene Person nicht auffordert, sondern ihr nur vorschlägt, von ihrer Arbeit zu erzählen. Die Lesart, dass es
sich um ein Aufnahmegespräch in der Sozialhilfe handelt, scheidet damit schon
aus. Ein Sachbearbeiter in der Sozialhilfe kann die Entscheidung, weitere Informationen über ein Arbeitsverhältnis zu geben, nicht der angesprochenen Person
überlassen. So bleibt hier nur das therapeutische Setting übrig. Die angesprochene Person kann über ihre Arbeit berichten oder auch nicht, ganz wie sie will.
Bedeutsam ist, dass nach dem Arbeitsort gefragt wird. So könnte die befragte Person antworten: „Ich arbeite bei Opel“, „ich arbeite im Wald“ oder „ich arbeite
überwiegend zu Hause“. Damit hat der Sprecher die Arbeitsbedingungen in den
Fokus genommen.
Wir fügen jetzt den tatsächlichen Kontext ein. Es handelt sich um eine Interviewsituation. Die befragte Person soll für ein wissenschaftliches Forschungsprojekt Auskunft über ihren Arbeitsort geben. Das „vielleicht“ des Interviewers
markiert, dass er die Entscheidung, die gestellt Frage zu beantworten, der interviewten Person überlässt. Obwohl der Interviewer ein explizites Forschungsinteresse verfolgt – man kann durchaus berechtigt unterstellen, dass ihn der Arbeitsort
der Interviewten interessiert –, gibt er vor, dass für ihn ausschließlich das Interesse der Interviewten relevant ist. So könnte die interviewte Person zurückfragen:
„Interessiert Sie mein Arbeitsort ?“
Zum methodischen Vorgehen: Das Sequenzialitätsprinzip besagt, dass alle nachfolgenden Textsequenzen im Lichte der bisher ausgedeuteten interpretiert werden. Umgekehrt
heißt das aber auch, dass für die Ausdeutung von Textsequenzen die nachfolgenden Textstellen bewusst ausgeklammert werden. Wir haben die Frage des Interviewers in vollständiger Unkenntnis der nun folgenden Antwort ausgedeutet.
Flurina Messerli: Ich bin bei der Post in B. bei der Daten… also angefangen habe ich
bei der Datenerfassung als Datatypistin und jetzt bin ich Sachbearbeiterin bei den
Nachforschungen National. Ich tu eigentlich mit denjenigen, die mit Yellownet einzahlen, dort kann es manchmal passieren, dass Geld am falschen Ort eingeht, wenn sie
sich vertippen und so und das müssen wir eben dann suchen gehen und den Kunden
nachher schreiben, Euer Geld ist dort und dort auf dem Konto so und so.
Arbeit, Beruf und Habitus
223
Anhand der Antwort lässt sich verdeutlichen, wie wichtig das Wörtlichkeitsprinzip ist. Eigentlich müsste Flurina Messerli auf die Frage nach ihrem Arbeitsort
antworten: „ich arbeite bei der Post in B.“ Stattdessen sagt sie „Ich bin bei der
Post in B.“ Daraus lässt sich schlussfolgern, dass für Flurina Messerli die Post kein
zufälliger Arbeitsort ist, der gegebenenfalls auch ausgetauscht werden kann, sondern dass sie sich mit dem Betrieb und damit mit ihrem Arbeitgeber identifiziert.
Sie ist als Person Bestandteil des Betriebes Post. Flurina Messerli hat damit die
vom Interviewer gestellte Frage nach dem Arbeitsort umgedeutet, und zwar in
eine Frage nach einer Zugehörigkeit zu einem Betrieb.
Zum methodischen Vorgehen: Ab dieser Stelle werden nicht mehr alle möglichen Lesarten und ihre Begründungen, sondern lediglich die Ergebnisse der ausführlich erfolgten
Interpretationsschritte dargestellt.
Weiterhin betont sie mit ihrer Antwort ihre Funktionen, die sie an ihrer Arbeitsstelle, der Post ausübt: Zuerst ist sie Datatypistin, anschließend Sachbearbeiterin. Sie identifiziert sich mit den ihr zugewiesenen Funktionen, so dass man hier
durchaus von einer beruflichen Identität sprechen kann. Nur erwächst diese berufliche Identität nicht aus einem eigenen Werdegang über eine berufliche Ausbildung, sondern wird von dem Arbeitgeber jeweils zugewiesen. Damit ist die
berufliche Identität vom jeweiligen Arbeitgeber abhängig. So erläutert sie auch
ungefragt ihre konkrete Tätigkeit als Sachbearbeiterin: Sie wirkt bei der Korrektur elektronisch erfolgter Geldbuchungen mit. Deutlich wird, dass sich Flurina
Messerli mit dem Inhalt ihrer Arbeit identifiziert. Indem sie ungefragt dem Interviewer ihren Arbeitsinhalt erläutert, stellt sie ihre Arbeit als allgemein anerkennungswürdig dar. Mit anderen Worten: Sie sieht in ihrer Arbeit einen Gemeinwohlbezug. Loyal ist sie somit gegenüber der Post als ihrer Arbeitgeberin, loyal ist
sie damit auch gegenüber dem Allgemeinwohl. Die Arbeit ist für Flurina Messerli
nicht nur Mittel zum Geldverdienen, sondern sie hat auch den Zweck, dass sie
dem Allgemeinwohl dient.
Flurina Messerli: Ein jedes hat seinen Dienst, wir tun dies immer aufteilen, es muss
ein jedes alles können und nachher von Woche zu Woche pro Tag einfach muss diesen
Dienst und diesen Dienst machen, es ist abwechslungsreich.
Das Team, dem Flurina Messerli angehört, besteht aus einander Gleichgestellten,
weder findet sich eine Hierarchie noch eine weitergehende Spezialisierung. Die
224
Stefan Kutzner
Arbeit an sich ist zwar nicht gerade erfüllend, aber die dauernde Abwechslung
untereinander sowie die Gleichheit im Team machen die Arbeit jedoch erträglich.
Zum methodischen Vorgehen: Wir können hier auf die bereits formulierte Fallstrukturhypothese bezüglich des Erwerbshabitus von Flurina Messerli zurückkommen. Die ausgedeuteten Interviewsequenzen verdeutlichen, dass die Schlussfolgerung, dass Arbeit für
Flurina Messerli einen instrumentellen Charakter hat, nur Mittel zur Existenzsicherung
ist, in einer Hinsicht modifiziert werden muss.
Im Interview verdeutlichte Flurina Messerli, dass ihr der Allgemeinwohlbezug
ihrer Arbeit wichtig ist. Arbeit hat für sie nicht nur einen instrumentellen Stellenwert. Jedoch agiert sie weitgehend immer noch im Rahmen eines traditionalistischen Erwerbshabitus. So ist die Loyalität zum Arbeitgeber bedeutsam und sie
fügt sich in vorgegebene Hierarchien wie auch Arbeitsabläufe ein.
Flurina Messerli: Ja und ich bin schon vorher einmal ein halbes Jahr dort gewesen bei
der Datenerfassung als Datatypistin und dann haben wir Horrorarbeitszeiten gehabt,
und dann habe ich dann sagen müssen, nein, das mache ich nicht mehr mit, ich habe
meine Kinder nur noch schlafend gesehen oder auf den Fotos. Da haben wir am Morgen um 6 Uhr 30 angefangen bis am anderen Morgen um 1 Uhr 30, dann hatten wir
das Recht gehabt, acht Stunden heimzugehen und dann ist es wieder weitergegangen.
Hier schildert Flurina Messerli einen Konflikt, der sich zu der Zeit abspielte, als
sie als Datatypistin bei der Post arbeitete (1993): der Konflikt zwischen Arbeit und
Familie. Die überlangen Arbeitszeiten, die zu Stoßzeiten stattfanden, belasten sie
deswegen, weil sie ihre Kinder dann nicht mehr sieht. Nicht um ihretwegen, sondern um der Kinder willen, nimmt sie diese temporär immer wiederkehrenden
Arbeitszeiten nicht mehr hin.
Im Folgenden wenden wir uns nun Interviewsequenzen zu, in denen Flurina
Messerli ihr familiäres Leben schildert. So erzählt sie die Geschichte mit der Ehe
des Vaters ihrer Kinder.
Flurina Messerli: Also ich bin mit meinem Mann schon in die Schule. Wir haben uns
miteinander schon lange gekannt und … eigentlich während der Schulzeit haben wir
uns gar nicht mögen ausstehen. Und wie es sich so ergeben hat, doch, sind wir wieder
zusammengekommen und haben eigentlich kurze Zeit später geheiratet und Kinder
gehabt. Ich habe eigentlich danach so nach dem ersten Kind gemerkt, ehm…es geht
nicht. Ich hätte eigentlich das Zweite gar nicht mehr haben sollen, aber das ist dann
Arbeit, Beruf und Habitus
225
halt passiert und … ich bin es mir nicht reuig, ich habe zwei flotte Kinder. (…) Wir
haben uns eigentlich auseinandergelebt, er ist Eigenbrötler gewesen. Er hat einfach …
immer so ein Einzelgänger gewesen. Er ist auch nie in die Beiz und es hätte einfach alles nichts kosten dürfen. Und ich habe immer gearbeitet und dann habe ich einfach
mal mit ihm geredet, aber ich konnte nicht mit ihm sprechen, wenn die Kinder hätten Aufgaben machen müssen, wenn ich Schule…wenn ich gearbeitet habe, habe ich
ihm gesagt, ‚schau, dass etwas gemacht wird und so‘, der hat dies nie gemacht, die Kinder haben einfach…sie sind in die Schule, die haben Hausaufgaben nicht gemacht, er
hat mir da nichts geholfen oder unterstützt, was die Kinder anbelangt. Er hat einfach
seine Viecher gehabt, er hatte Vögel gehabt, er hat alles Mögliche gehabt, Schaf, Pony,
er ist immer draußen gewesen, was er hätte sollen mithelfen, in Sachen Erziehung hat
er sich einfach drausgehalten und … einmal hatte ich die Nase gestrichen voll gehabt.
Von einer großen Liebe zwischen Herbert und Flurina kann keine Rede sein. Vielmehr haben beide lediglich festgestellt, dass sie sich mögen, dass für sie zusammen eine Familiengründung offensichtlich infrage kommt. Sie folgen damit allgemeinen Konventionen, dass man eben heiratet und Kinder bekommt. Dann aber
stellt Flurina schnell fest, und zwar nach der Geburt des ersten Kindes, dass ihr
Mann und sie doch nicht recht zusammenpassen. Sie liefert auch gleich die Begründung: Er hat sie bei der Ausübung der elterlichen Verpflichtungen gar nicht
unterstützt, sondern ist ausschließlich seinen eigenen Interessen nachgegangen,
widmete sich seinen Haustieren. Nicht als Mann, sondern als Vater versagte Herbert in den Augen Flurinas. Sie erwartete aber nicht von ihm, dass sie beide gleichermaßen Eltern für die gemeinsamen Kinder sind, sondern wies ihm eine mehr
assistierende Funktion zu: Er sollte einspringen, wenn sie arbeiten ging.
Aufschlussreich ist, wenn man den Zeitpunkt berücksichtigt, an dem Flurina Messerli bemerkte, dass es für sie und ihren Mann als Paar keine Zukunft
gibt, nach der schon erwähnten Geburt des ersten Kindes. Die mit der Familiengründung angelegte Krise, die Erweiterung der Paardyade zur ödipalen Triade
(Oevermann 2004: 172 – 175; Willi 1993: 85 – 99), wurde nicht erfolgreich bewältigt.
Aus der Darstellung Flurina Messerlis wird deutlich, dass ab diesem Zeitpunkt
ihr Mann in der familiären Gemeinschaft isoliert war: Weder agierte er als Vater
für die Kinder, noch war er als Mann für seine Frau präsent. Er zog sich vielmehr
zurück, indem er sein Hobby pflegte. Strukturlogisch wurde die enge Beziehung
zwischen der Mutter und ihren Kindern gefestigt.
Flurina Messerli: Aber eh, manchmal am Sonntag mal ein wenig mit den Kindern etwas unternehmen, ein wenig ausfahren, ‚nein, ja nicht‘, das hätte ja etwas kosten kön-
226
Stefan Kutzner
nen oder ein bisschen Benzin brauchen und … und da habe ich manchmal gesagt,
also das ist mir gleich, weil ich habe auch immer gearbeitet und habe auch Geld verdient, also ich will meinen Kindern ein wenig etwas bieten können. Für ihn war das
ein Dorn im Auge, das ist einfach … es sollte einfach nichts kosten. Wenn ich ihnen
manchmal am Sonntag eine Wundertüte kaufte, ist das dann losgegangen, oder. Wobei dann, in der Zeit, wo wir verheiratet gewesen waren, haben wir überhaupt nie finanzielle Probleme gehabt.
In dieser Interviewsequenz sieht man auch, wie sehr Flurina ihre Kinder in den
Mittelpunkt stellt. Sie kritisiert den Geiz ihres Mannes deswegen, weil den Kindern zu wenig geboten wird. Sie könnte an dem Geiz ihres Ex-Mannes ja auch kritisieren, dass sie sich beide als Paar zuwenig leisten würden. Beachtenswert ist in
diesem Zusammenhang noch, dass sie von „meinen Kindern“ spricht, als seien sie
nicht auch die Kinder ihres Mannes. Hier zeigt sich wieder die marginale Position
Herberts in der Familie: Als Mann spielt er keine Rolle, als Vater ist er lediglich
der Assistent der Mutter.
Flurina Messerli: Und nachher, wo ich meinen Partner kennengelernt habe, also das
ist ein Goldschatz. Der macht jetzt für die Kinder alles. Und für sie ist eigentlich er der
Papi, ja. (…) Wir haben im Sinn dann doch nochmals trotzdem zu heiraten und doch
… ich sehe es eigentlich, ich sehe eigentlich gut in die Zukunft, doch ich sehe es eigentlich positiv in die Zukunft. Wir sind wohl, wir fühlen uns alle wohl, es geht uns eigentlich nicht schlecht.
Diese Struktur wird auch in der zweiten Beziehung fortgesetzt. „Ein Goldschatz“
ist Thomas Reag für Flurina deswegen, weil er sich voll und ganz ihren Kindern
widmet. Die Qualitäten als Vater (bzw. als Stiefvater) sind für Flurina von Bedeutung, weswegen sie sich für Thomas Reag entscheidet, als Mann hingegen wird er
nicht erwähnt.
Interviewer: Ihre Wünsche ?
Flurina Messerli: Dass ich gesund bleibe vor allem, und dass es einfach meinen Kindern gut geht, das ist das Wichtigste. Doch … da habe ich eigentlich nicht große Wünsche und dass ich etwa meine Arbeitsstelle … dass ich nicht etwa sie verlieren würde,
man weiß ja nie. Dass ich immer etwas arbeiten kann und vor allem gesund bin.
Interessant sind hier ihre Wünsche. Der erste ist der, dass sie ihre gute Gesundheit
behält. Nicht ein langes und möglichst gesundes, damit auch beschwerdefreies
Arbeit, Beruf und Habitus
227
Leben wünscht sie sich, sondern die Fortdauer der Gegenwart. So fürchtet sie sich
vor Krankheiten, weil man sich dann mehr sich selbst zuwenden muss: Man muss
sich selbst pflegen, aber auch die Fragen bezüglich des eigenen Lebens und Lebenssinnes werden drängender. Flurina hofft aber, wie bisher, und also möglichst
gesund, weiterhin für andere, vor allem für ihre Kinder da zu sein. Hier verdeutlicht sich wieder die Fixierung auf ihre Kinder. Schließlich erwähnt sie noch ihre
Arbeitsstelle, die sie nicht verlieren will. Also auch hier geht es um eine Vermeidung, konkret um die Vermeidung von Arbeitslosigkeit. Nicht weiterhin will sie
eine mehr oder weniger interessante Arbeit ausführen, oder bei einem Arbeitgeber beschäftigt sein, der ein angenehmes Arbeitsklima garantiert, sondern der
Arbeitsplatz ist für sie auch Existenzgrundlage, auf die sie ja auch angewiesen ist.
Die Fallstrukturhypothese, die auf der Grundlage der objektiven Daten formuliert wurde, wurde durch die interpretierten Interviewsequenzen weitgehend
bestätigt. Erwerbsarbeit hat für Flurina überwiegend einen instrumentellen Charakter, ist vor allem Mittel zum Zweck der materiellen Existenzsicherung. Ihr geht
es nicht darum, ihre Talente und Begabungen in der Erwerbswelt auszuleben, was
aber nicht ausschließt, dass der Nutzen ihrer Tätigkeit für die Allgemeinheit für
sie keine Bedeutung hat. Das Interviewmaterial verdeutlicht, dass Flurina den
Zweck ihres Daseins hauptsächlich in der Fürsorge ihren Kindern gegenüber sieht.
Ihnen möchte sie als Mutter eine schöne und angenehme Kindheit bieten. Die
Beziehung zu einem Mann, erst zum Vater (Herbert Messerli), dann zu ihrem Lebensgefährten (Thomas Reag) ist der Beziehung ihren Kindern gegenüber nachgeordnet. Die Ehe- oder Liebesbeziehung besteht für sie vor allem in der gemeinsam ausgeübten Elternschaft.
Nun fragt man sich an dieser Stelle, warum Flurina gerade durch einen solchen traditionellen Habitus geprägt ist, warum sie, trotz gegebener Aufstiegsmöglichkeiten, habituell in ihrem Herkunftsmilieu verbleibt. Bezüglich des äußeren
Rahmens sieht man, dass Flurina erhebliche Anpassungsleistungen vollzog: Aus
der ursprünglichen Fabrikarbeiterin wurde eine Datatypistin, schließlich eine
Sachbearbeiterin. Flurina wechselte erfolgreich das Erwerbsmilieu. Und auch die
familiäre Geschichte dokumentiert eine Entwicklung: War Flurinas erster Mann
trotz seiner Ausbildung als Metzgergeselle letzten Endes Fabrikarbeiter, so übt ihr
zweiter Mann als Laborant einen qualifizierten manuellen Beruf aus. Flurinas Biografie verdeutlicht die erfolgreiche Anpassung an veränderte sozio-ökonomische
Rahmenbedingungen, die durch den wirtschaftlichen Strukturwandel bedingt
sind. Erfolgreich ist die Anpassung deswegen, weil der traditionelle Habitus des
Herkunftsmilieus genügend Potenzial für diese Anpassung bereithält. Man kann
hypothetisch fragen, wie sich ein sozialer Aufstieg für Flurinas alltägliches Leben
228
Stefan Kutzner
auswirken würde. Wäre Flurina an einem sozialen Aufstieg interessiert gewesen,
hätte sie mit Sicherheit einen Mann aus dem sozialen Milieu, in dem sie sich hätte
etablieren wollen, geheiratet. Dann aber wäre sie als Milieufremde ihrem Mann
gegenüber in einer unterlegenen Position gewesen. Das Machtgefälle innerhalb
der Ehe wäre zu ihren Ungunsten ausgeprägt gewesen. Mit der Entscheidung, ihr
Leben mit einem Mann aus dem gleichen Herkunftsmilieu zu verbringen, sichert
Flurina sich wahrscheinlich eine kontrollierende Position innerhalb des Paar- und
auch des Familiengefüges.
4.2
Zweite Fallrekonstruktion (Herbert Anton)
1958
Herbert Anton wird in Fribourg geboren und wächst in einem Dorf im Senseland auf.
Der Vater, Jahrgang 1931, ist Sägereiarbeiter, die Mutter Hausfrau. Herbert hat fünf Geschwister.
Zum methodischen Vorgehen: Auch hier beginnen wir wieder mit den objektiven Daten
zur familiären Herkunft, um daraus das soziale Herkunftsmilieu zu erschließen.
Das für den Kanton Fribourg bereits im Kontext des vorherigen Falles Gesagte,
zu seiner wirtschaftlichen Entwicklung sowie der Stellung der deutschsprachigen
Minderheit (Senseland ist das ländliche Deutsch-Freiburg), können wir hier gerade übernehmen. Allerdings entstammt Herbert Anton einem anderen sozialen
Milieu als Flurina Messerli: Die Familie Anton ist situiert im einfachen ländlichen
Arbeitermilieu. Das Einkommen eines Sägereiarbeiters dürfte kaum ausreichen,
um die siebenköpfige Familie zu ernähren, vielleicht wird noch etwas Subsistenzwirtschaft nebenbei betrieben, Gemüseanbau und Hühnerhaltung beispielsweise.
Dass für Kinder Investitionen vorgenommen werden sollten, für die Söhne ausbildungsbezogen, und sei es nur, um eine gewerbliche Lehre zu ermöglichen, für
die Töchter eine wenn auch bescheidene Mitgift, entspricht in diesem Fall noch
nicht der Vorstellungswelt, sonst hätten sich die Eltern Anton auf weniger Kinder beschränkt. Traditionelle Schicksalsgläubigkeit oder auch die Orientierung an
bäuerlichen Verhältnissen, in denen Kinder ja auch als Arbeitskräfte mitwirken,
können den Hintergrund für den Kinderreichtum dieser Familie bilden. Herbert
wächst jedenfalls in ärmlichen Verhältnissen auf.
Arbeit, Beruf und Habitus
229
Zum methodischen Vorgehen: Im Folgenden konstruieren wir gedankenexperimentell
Möglichkeiten, wie der weitere Werdegang Herberts aussehen könnte.
Nach Abschluss der Schulpflicht, also mit 15 oder 16 Jahren, stellt sich für Herbert
die Frage, wie es mit ihm weitergehen soll. Da in den 1970er Jahren die Wirtschaft
eher boomt, der Kanton entwickelt sich, wie schon erwähnt wurde, besteht gar
nicht die Notwendigkeit, woanders hinzugehen. Entweder ist die Fabrikarbeit als
angelernte Arbeitskraft eine Möglichkeit oder eine Lehre im Handwerk, als Maurer, Bäcker, Dachdecker zum Beispiel.
1974 – 77
Lehre als Bauschreiner bei H+G, einem kleinen Betrieb, der im Gebäudeneubau sowie
in der Gebäuderenovierung tätig ist.
Herbert entscheidet sich für einen Lehrberuf. Immerhin müssen seine Eltern die
drei Lehrjahre für ihn aufkommen. Als Bauschreiner profitiert er einmal vom
Bauboom im Kanton Freiburg in den 1970er Jahren, wählt also einen Beruf mit
Zukunftsaussichten, und verbleibt darüber hinaus beruflich im familiären Rahmen: Der Sohn eines Sägereiarbeiters wird Bauschreiner. Er ist im Gebäudebau
damit zuständig für Fensterrahmen, Türen und Türrahmen sowie Holztreppen.
Wie geht es nach der Lehre weiter ? Die Frage ist, ob Herbert sich nicht für eine
gewisse Mobilität entscheidet oder ob er sich von vornherein auf seinen Betrieb
festlegt. Im ersten Fall würde er sich als Geselle einen anderen Arbeitgeber suchen,
entweder in seiner Heimatregion, vielleicht auch einmal woanders, um Erfahrungen zu sammeln, seien sie beruflicher, seien sie anderer Art. Das würde nicht
ausschließen, dass er irgendwann auch einmal in seine Heimatregion zurückkommen würde, um Familie zu gründen. Er könnte vielleicht aber auch woanders eine
junge Frau finden, die ihn veranlasst, sich an einem anderen Ort niederzulassen.
1977
Anschließend bis zur Gegenwart (2000) ist Herbert Anton bei H+G beschäftigt.
Lehr- und Wanderjahre finden gar nicht statt, Herbert bleibt seiner Region und
seinem Arbeitgeber treu. Die Lehre war für ihn offensichtlich das Eintrittsbillet in
eine gesicherte Existenz in seinem Heimatkanton. So können wir auch vermuten,
dass er sich familiär im deutschsprachigen Teil Fribourgs etablieren wird. Jedenfalls möchte er die ihm vertrauten Lebenswelten nicht verlassen. Wir können hier
230
Stefan Kutzner
berechtigt vermuten, dass es sich bei Herbert Anton um einen Fall von Traditionalismus und Immobilismus handelt.
1981
Heirat mit Elfriede Baumgartner (Jg. 1959). Elfriede übt seit 1977 angelernte Fabriktätigkeiten aus. Ihre Eltern betreiben ein Fuhrunternehmen in einem kleinen Ort des
Kantons Bern (Ort ist nahe an Fribourg gelegen). Das Paar bekommt drei Kinder (1983,
1985 und 1988). Mit der Geburt des ersten Kindes hört Elfriede auf zu arbeiten.
Zum methodischen Vorgehen: Wir formulieren jetzt auf der Basis der bisher interpretierten Daten Lebensführungsmuster.
Auch hier zeigt sich wie im vorherigen Fall das Muster der Lebensführung bei
Paaren in traditionellen Milieus: Die Frau ist allenfalls Dazuverdienerin, also in
erster Linie auf Haushaltsführung und Kindererziehung konzentriert. Die Frage
stellt sich, ob die fünfköpfige Familie von dem Einkommen, das Herbert als Bauhandwerker erzielt, leben kann. Bezüglich des Erwerbshabitus Herbert Antons
lässt sich jetzt auf der Basis der objektiven Daten Folgendes formulieren: Herbert Antons Erwerbshabitus ist als traditionalistisch zu bezeichnen. Erwerbsarbeit
dient für ihn in erster Linie der Existenzsicherung. Bei seiner Berufswahl ging es
ihm in erster Linie darum, sich einen in ökonomischer Hinsicht möglichst profitablen Arbeitsplatz zu sichern. Zum Zeitpunkt der Berufswahl (1974) schien das
Baugewerbe eine krisensichere Branche zu sein. Falls das erzielte Gehalt für die
Lebensführung nicht ausreichen sollte, wird die Erwerbstätigkeit ausgedehnt, sei
es durch Nebenjobs als Bauschreiner, sei es durch Dazuverdienerinnentätigkeiten
seiner Frau.
1998
Beginn der Einkommensverwaltung durch das Sozialamt aufgrund von Schulden, die
wegen nicht gezahlter Steuerrechnungen entstanden. Herbert erledigt zusätzlich als
Nachbarschaftshilfe Arbeiten im Gebäudeneubau. Elfriede übernimmt in ihrem Mietshaus den Hausmeisterposten, zusätzlich arbeitet sie auf Teilzeitbasis als Raumpflegerin.
Es zeigt sich, dass das von Herbert erzielte Einkommen als Bauhandwerker nicht
ausreicht, sonst hätten die Antons ihre Steuerrechnungen bezahlt. Anders als in
Deutschland muss in der Schweiz auch ein unselbstständig Erwerbstätiger sein
Einkommen selbst versteuern. Die Verschuldung muss erhebliche Ausmaße angenommen haben, sonst wäre es nicht zu einer Intervention des Sozialdienstes
Arbeit, Beruf und Habitus
231
gekommen. Beide, Herbert und Elfriede, dehnen ihre Erwerbstätigkeit aus, um
der Schuldensituation zu begegnen. Herbert engagiert sich mit freiberuflichen
Nebenjobs (die man durchaus als Schwarzarbeit bezeichnen kann), Elfriede übernimmt einen Hausmeisterposten und arbeitet abends für eine Raumpflegefirma.
Als nächstliegender Grund für die Verschuldung der Familie Anton dürfte
angenommen werden, dass fortwährend mehr konsumiert wurde als durch das
Einkommen gedeckt war. Vielleicht ist ein zu teurer Wagen auf Kreditbasis angeschafft worden, vielleicht hat sich das Paar bei der Wohnungseinrichtung finanziell übernommen.
Methodisches Vorgehen: Jetzt lässt sich, nachdem alle objektiven Daten interpretiert
wurden, eine Fallstrukturhypothese formulieren. Dabei sollten mögliche Motive für die
Verschuldung, also für ein nicht dem Einkommen angemessenes Konsumniveau in Betracht genommen werden.
Die Fallstrukturhypothese lautet: Herbert Anton wählt den Weg eines traditionellen Bauhandwerkers und versucht, sich in seiner Herkunftsregion sozial zu
etablieren. Die Verschuldung erklärt sich daraus, dass Herbert Anton einen ökonomischen Status vorzutäuschen versucht, den er mit seinem bzw. dem gesamten
Haushaltseinkommen nicht bestreiten kann, dass er also innerhalb seines Milieus
einen sozialen Aufstieg anstrebte. Gerade durch seine familiäre Herkunft, sein
Vater war Sägereiarbeiter, ist das Aufstiegsmotiv plausibel.
Methodisches Vorgehen: Wir überprüfen jetzt die Fallstrukturhypothese anhand ausgewählter Interviewsequenzen.
Wenden wir uns jetzt dem Interview wieder zu. In der folgenden Sequenz beschreibt Herbert Anton die Firma, in der er arbeitet.
Interviewer: Geht es wieder aufwärts ?
Herbert Anton: Bei uns, bei uns, ich bin jetzt 27 Jahre dort, bei uns hat noch niemand
eine Minute gestempelt, das gab es noch nie. In der Zwischenzeit etwa fünf Rezessionen hindurch, wir arbeiten immer, Vollgas, da merkt man bei uns nichts. Gut, wir sind
heute nicht abhängig von Neubauten, das ist eben unser Vorteil. Wir sind ziemlich bekannt für Renovationen, also Sanierungen von Häusern.
Zunächst, er identifiziert sich vollumfänglich mit der Firma als einem Arbeitgeber: durch die Verwendung des Personalpronomens „wir“ und „uns“ rechnet er
232
Stefan Kutzner
sich implizit zu den Miteigentümern von H+G, was er ja tatsächlich gar nicht ist,
als würde die Firma vollständig den dort Arbeitenden gehören. Weiterhin betont
er, dass für H+G Rezessionen keine Bedeutung haben, „wir arbeiten immer, Vollgas“. Herbert Anton betont den Vorzug, einer Firma anzugehören, die wegen ihres
Engagements für Renovationen nicht von sinkender Nachfrage nach Gebäudeneubauten betroffen ist: Entlassung und Arbeitslosigkeit sind in dieser Firma kein
Thema.
Allerdings ist die Gebäuderenovierung für die Firma H+G weniger profitabel
als der Gebäudeneubau, was Herbert Anton in der folgenden Interviewsequenz
schildert:
Herbert Anton: Wenn ich denke, was sind das, zehn Jahre her, gut ich habe noch im
Akkord gearbeitet, ich bin im Stundenlohn angestellt gewesen, habe zum Beispiel bei
einem ganzen Block die Fenster montiert in einer Woche, habe ich Quadratmeterpreis
gehabt. Dann bin ich zum Beispiel auch auf 2 000 Franken gekommen in der Woche.
Das hat es gegeben. Aber diese Zeiten sind vorbei. Das gibt es nicht mehr, Blöcke nicht
mehr, wann habe ich den letzten Block gemacht ? Zehn Jahre her bald, und heute machen wir nur noch 20 % Neubauten und der Rest ist Renovationen und so sind unsere Löhne im Verhältnis immer mehr in den Keller. Also unser Geld hat immer weniger Wert.
Bei der Montage von Fensterrahmen hat sich Herbert Anton im Akkordlohn zahlen lassen und ist damit auf einen recht ansehnlichen Lohn gekommen. Da aber
H+G kaum noch im Gebäudeneubau beschäftigt ist und die Gebäuderenovierung
weniger lukrativ ist, sind die Löhne gesunken.
Seit 1990 (also zehn Jahre vor dem Interview) spielt der Gebäudeneubau keine nennenswerte Rolle mehr für H+G. Zu diesem Zeitpunkt hätte sich Herbert
Anton, der damals 32 Jahre alt war, eine andere Firma als Arbeitgeberin suchen
können. Möglich wäre eine Firma in einem Kanton mit mehr Gebäudeneubau,
eine Firma, die im Messeaufbau engagiert wäre oder eine Firma, die in der gesamten Schweiz tätig ist und ihre Mitarbeiter während der Arbeitswoche auf Montage
schickt. Herbert Anton bleibt aber seiner Firma treu, die Familie Anton kürzt
zwangsweise ihre Ausgaben für die Lebenshaltung und sowohl er als auch seine
Frau nehmen Nebenjobs an.
Arbeit, Beruf und Habitus
233
Interviewer: Haben Sie eine billigere Wohnung ?
Elfriede Anton: Jawohl. Aber vorher, als wir eine Miete gehabt haben von fast 1 700
Franken, da war es schon fast chaotisch. Da musste man alles zurückstellen und
schauen, wie man diese Rechnung oder das zahlen konnte.
Interviewer: Wieviel zahlen Sie hier ?
Elfriede Anton: Hier zahlen wir, wir sind noch Hauswart, wir zahlen jetzt 970, aber
sonst wäre sie 500 Franken mehr.
Beide, Herbert und Elfriede Anton übernehmen in dem Mietshaus mit der neuen
und für sie billigeren Wohnung den Hausmeisterposten. An anderer Stelle des Interviews sagt Elfriede Anton, dass sie neun Stunden in der Woche für eine Reinigungsfirma als Raumpflegerin tätig ist.
Herbert Anton: Wenn mein Karren verreckt, irgendetwas Außergewöhnliches kommt,
eine Reparatur von 400 Fr., dann bin ich schon am Arsch, dann muss ich die Oberhosen selbst anziehen und darunterliegen. Das Material vielleicht selber kaufen, möglichst billig und es selber schrauben. Ich kann es nicht einer Garage geben und sagen
„Du repariere mein Auto“. Von dem her ist es einfach.
Immerhin kommt die handwerkliche Begabung Herbert Anton insofern entgegen,
als er Reparaturarbeiten am Auto (und wohl auch in der Wohnung) selbst ausführen kann und nicht einen Handwerker beauftragen und bezahlen muss. Dennoch
erledigt er Reparaturen an seinem Auto mit Widerwillen, denn dass er seinen
Wagen nicht „in eine Garage geben“ kann, ist für ihn ein Status-Verlust.
Herbert Anton: Das andere ist dann, der Büezer, der einzelne Büezer hat viel Freizeit,
was macht er mit dem ? Wenn der Lohn auch nicht mehr stimmt ? Schwarzarbeit ! Das
ist das Einfachste von der Welt. Wenn jeder, ich sage zum Beispiel, auf der Baubranche
arbeitet, da kann jeder Schwarzarbeit machen. Am Samstag, am Abend schnell noch
ein paar Stunden arbeiten, hat man einen guten Lohn, er verdient schwarz. Der, der
sein Häuschen baut, baut es relativ günstig.
Nun lässt es Herbert Anton an dieser Stelle offen, ob er selbst Schwarzarbeit verrichtet hat. Da er sich aber an keiner Stelle im Interview davon distanziert, kann
man berechtigt davon ausgehen, dass er diese Möglichkeit, die sich ja jedem bietet,
der „auf der Baubranche arbeitet“, ebenfalls genutzt hat.
Auf alle Fälle bestätigt sich das Muster, dass Einkommenseinbußen nicht dazu
führen, sich um eine andere, besser bezahlte Position zu kümmern, sei es durch
234
Stefan Kutzner
einen betrieblichen Aufstieg, sei es durch einen Wechsel des Arbeitgebers, sondern dass Nebenjobs angenommen werden, also die Arbeitszeit insgesamt ausgedehnt wird.
Herbert Anton: Der älteste Sohn, der ist in der Ausbildung, auswärts Essen jeden Tag,
Zug und alles zusammen. Sein Lohn ist nicht unbedingt riesig hoch, also, ein bisschen
Unterstützung von daheim hat er schon noch zugute.
Dass Herbert Anton seinem ältesten Sohn, der gerade eine Lehre absolviert, Unterstützung in dem Sinne zuerkennt, dass er von seinem Lehrlingslohn nichts zu
Hause abgeben muss, verdeutlicht, dass er sich in der Position des paternalistischen Ernährers sieht. Er hätte ja auch sagen können, dass der Lehrlingslohn zu
gering ist, um von seinem Sohn noch einen Haushaltsbeitrag einzufordern, zumal
sein Sohn sein Essen tagsüber sowie die Bahnkosten aus seinem Lehrlingslohn
bestreiten muss. Eigentlich ist von dem Sohn finanziell nichts zu holen, aber Herbert Anton stellt es dar, als sei es seine Entscheidung, seinen Sohn, wenn auch in
geringem Maße, zu unterstützen.
Interviewer: Vielleicht können Sie mir noch ein bisschen schildern, wie dies so ist mit
der Sozialhilfe. Wann Sie zu H.-U. [Sozialarbeiter, Anm. SK] gingen und aus welchen
Gründen, wann dies ungefähr war, dass Sie hierzu noch etwas erzählen könnten.
Elfriede Anton: Ja, der Ausschlag ist gewesen, wie waren damals in einem Einfamilienhaus, gemietet. Dann kamen einfach immer mehr Rechnungen, Heizöl, hier, da, dort,
und sagte ich, weißt Du was, ich kann nicht mehr, ich weiß nicht mehr wie zahlen,
weiß nicht mehr wie drehen. Wollen wir nicht zur Sozialhilfe und schauen, was man
machen kann. Zuerst hat er sich ein wenig dagegen gesträubt der Mann. Dann habe
ich gesagt, Du ich weiß wirklich nicht mehr, wie drehen, damit ich das zahlen, dass ich
hier kann, und gehen wir doch. Und seither, ich habe dann gesagt, ich habe dann einen Rückhalt, wenn etwas ist, weiß ich was machen.
Interessant ist, dass erst über die Sozialhilfe die Lebenshaltung der Familie Anton
ihren tatsächlichen Einkünften angepasst wird. Es ist Elfriede Anton, die diesen
Schritt gegen den Willen ihres Mannes einleitet.
Methodisches Vorgehen: Wir vergleichen jetzt die Ergebnisse der Interpretationen der
ausgewählten Interviewsequenzen mit der bereits formulierten Fallstrukturhypothese
und ziehen ein Fazit.
Arbeit, Beruf und Habitus
235
Wir können jetzt ein Fazit ziehen. Das Fallmaterial bringt sehr deutlich zum Ausdruck, wodurch ein traditioneller Erwerbshabitus gekennzeichnet ist, nämlich
durch zwei Momente. Das erste Moment: Es besteht eine Loyalitätsverpflichtung
dem Arbeitgeber gegenüber, denn dieser garantiert mit seinem Unternehmen die
Existenz des Arbeiters. Der Erfolg, in Krisensituationen nicht arbeitslos zu werden, verdankt sich in erster Linie der Zugehörigkeit zu einem krisenresistenten
Unternehmen, weniger dem eigenen Können. Das zweite Moment: In Krisensituationen, wenn also das Einkommen nicht ausreicht, wird der Erwerbsgrad ausgedehnt. In diesem Falle durch die Hausmeistertätigkeit des Paares, dem Raumpflegejob der Ehefrau und aller Wahrscheinlichkeit durch Schwarzarbeit. Letztere
hängt davon ab, dass man in der Region in sozialer Hinsicht gut verankert ist und
entsprechende Aufträge an Land ziehen kann. Diese Nebenjobs basieren dagegen
auf dem eigenen Können und den selbst hergestellten sozialen Netzwerken. – Die
Verschuldung der Familie Anton interpretieren wir durch das Interesse, einen sozialen Status zu demonstrieren, der jedoch nicht durch das erzielte Einkommen
gedeckt ist. Herbert Anton erlitt das Pech, dass sich ab den 1990er Jahren der Gebäudeneubau im Kanton Fribourg im Niedergang befindet. So muss er einerseits
Lohneinbußen hinnehmen, gleichzeitig gelangt er an weniger Nebenaufträge.
Was bindet Herbert Anton derartig an seine Heimatregion und sein soziales
Milieu ? Auch hier können wir nur abschließend mutmaßen, weil hier die entsprechenden Daten fehlen. Vieles spricht dafür, dass Herbert Anton von einem
sozialen Etablierungswunsch seines Vaters getrieben wird. Sein Vater war Sägereiarbeiter, in einem ländlichen Milieu eine sehr tief stehende soziale Position,
wenn man sie mit der etablierter Handwerkern oder Bauern vergleicht. Als gelernter Bauhandwerker wäre für die nächstfolgende Generation, also für Herbert,
die Etablierung möglich gewesen. Allerdings kam die Veränderung der Baubranche dazwischen.
5
Resümee
Was zeigen diese beiden Fallrekonstruktionen ? Überraschend ist die Konstanz
des jeweiligen Habitus, die Fortdauer traditioneller Strukturmuster, vor allem
in den Aspekten, welche das Erwerbsleben betreffen. Flurina bleibt im Wesentlichen dazuverdienende Mutter, Arbeit ist für sie überwiegend Mittel zur materiellen Existenzsicherung, keinesfalls sieht sie das Erwerbsleben als Möglichkeit
einer Selbstverwirklichung, eines Auslebens ihrer Talente und Neigungen an. Den
236
Stefan Kutzner
Sprung von der Fabrikarbeit in den Informatiksektor nutzt sie nicht für ein berufliches Fortkommen, sondern verbleibt in der Position derjenigen, die sich den
gegebenen Arbeitsanforderungen geschickt anpasst. Der gleiche Sachverhalt zeigt
sich in der zweiten Fallrekonstruktion: Aufgrund der sinkenden Nachfrage nach
Gebäudeneubauten wird die Tätigkeit eines Bauschreiners immer weniger lukrativ. Herbert Anton ist jedoch so fest in seiner Heimatregion und damit in seinem
Milieu verwurzelt, dass ein Stellenwechsel, der eventuell mit einem Umzug und
der damit verbundenen Herauslösung aus seinen sozialen Netzwerken verbunden
ist, als Möglichkeit gar nicht infrage kommt.
Der zweite Fall, Herbert Anton, ist ein Beleg für das, was Bourdieu als „hysteresis“ bezeichnet: die Fortexistenz eines Habitus, der den gegebenen veränderten
Umständen nicht mehr angemessen ist (Bourdieu 1982: 237 – 240). Zwar verdeutlichen beide Fallrekonstruktionen, dass die jeweiligen Akteure ihr Erwerbsleben
in einem Zeitraum des ökonomischen Strukturwandels verbringen: Traditionelle
Branchen wie die angelernte Fabrikarbeit und das Baugewerbe befinden sich im
Niedergang und werden durch modernere Branchen allmählich ersetzt. Während
Herbert Anton in dieser Zeit nichts anderes übrig bleibt, als die noch verbliebenen
Nischen zu besetzen und hinzunehmende Einkommensverluste durch Ausdehnung der Arbeitszeit auszugleichen, indem er selbst oder seine Frau zusätzliche
Jobs annehmen, gelingt Flurina Messerli erfolgreich die Anpassung an ein neues
und auch zukunftsträchtiges Erwerbsmilieu.
Die ausgesprochene Leistungsmotivation, die in beiden Interviews zum Ausdruck kommt, führt jedoch in diesem Strukturwandel, der allmählichen Erosion
traditioneller Branchen und Erwerbsstrukturen, nur noch bedingt zum (ökonomischen) Erfolg. Insofern repräsentieren beide Fälle einen Typus, dem der traditionelle Habitus inzwischen zum Verhängnis werden könnte. Flurina Messerli und
Herbert Anton stehen für diejenigen Angehörigen traditioneller Arbeitermilieus,
die langfristig ihren bisherigen gesellschaftlichen Status zu verlieren und in die
soziale Prekarität abzugleiten drohen. Beide reagieren aber auf diesen Strukturwandel unterschiedlich. Gleichwohl bleibt in beiden Fällen der traditionelle Habitus erhalten. Dennoch, und dafür steht der Fall Flurina Messerli, enthält er so viel
Entwicklungsmöglichkeiten, dass es zu einer Neuanpassung an veränderte sozioökonomische Rahmenbedingungen kommen kann, ohne dass sich der Habitus in
seiner Grundlage entscheidend verändert.
Auch für die Objektive Hermeneutik gilt, dass mit dem Abschluss einer Auswertung erstmal neue Forschungsfragen entstehen. Mit diesen beiden Fallrekonstruktionen konnte die Persistenz des traditionellen Habitus nachgewiesen werden. Nicht aber alle Angehörigen traditioneller Arbeitermilieus verbleiben in
Arbeit, Beruf und Habitus
237
dieser habituellen Traditionalität, es gibt genügend Beispiele für gelungene soziale
Aufstiege in andere, modernere Milieus. Durch Fallvergleiche die entsprechenden
Gründe zu ermitteln, warum es in manchen Fällen zu umfassenden Habitustransformationen kommt, durch welche erst der Aufstieg in andere, modernere Erwerbsbranchen möglich wird, wäre eine interessante Fortsetzung der hier dargestellten Fallrekonstruktionen.
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Biografische Ressourcen –
ein zentrales Konzept in der biografischen
Bildungs- und Arbeitsmarktforschung
Anne Juhasz Liebermann
1
Einleitung
Der Begriff der ‚biografischen Ressource‘ findet in den letzten Jahren insbesondere
in Publikationen, die auf biografischen Studien beruhen, vermehrt Verwendung,
eine besondere Bedeutung kommt ihm in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung zu. Der Begriff taucht indes in unterschiedlichen thematischen Zusammenhängen auf. Gemeinsam ist den verschiedenen Ansätzen, dass die Beschäftigung mit biografischen Ressourcen einem Paradigmenwechsel in verschiedenen
Forschungsrichtungen entspricht, die auch als „Ressourcenorientierung“ bezeichnet wird (siehe dazu z. B. Bartmann 2006 und Griese / Griesehop 2007: 100). Intendiert ist mit diesem Paradigmenwechsel, so etwa Griese und Griesehop (ebd.),
der Wechsel von einer Problem- bzw. Defizitorientierung hin zur Entdeckung von
individuell zur Verfügung stehenden Potenzialen, zur Förderung und zum Einsatz von Stärken des Einzelnen gerade in Problemsituationen. Bartmann zufolge
(2007: 82 f.) hängt das seit den 1980er Jahren gewachsene Interesse am Begriff der
Ressource damit zusammen, dass infolge der Annahme zunehmender Individualisierung und Fragmentierung von Erfahrungen die Frage des Umgangs mit der
sich zügig verändernden Gesellschaft an Relevanz gewinne und infolgedessen die
jeweiligen Potenziale des Einzelnen stärker in das Blickfeld des wissenschaftlichen
Interesses geraten. Damit verknüpfe sich auch ein Subjektverständnis, in dem der
Einzelne als Akteur seines Lebens Berücksichtigung finde. Außerdem, so Bartmann (Bartmann 2005: 25 f.) gehe es auch um die Frage des Umgangs mit Belastungen, um die Frage nach Ursprüngen psychischer Stabilität bzw. Instabilität.
„Welche Faktoren wirken sich fördernd oder hemmend auf die Ausbildung von
Widerstandskraft und Belastungsfähigkeit aus, welche Rolle spielen dabei frühkindliche Erfahrungen sowie lebensgeschichtliche Ereignisse ?“
242
Anne Juhasz Liebermann
Insbesondere in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung, aber auch in der
Migrationsforschung, wird der Begriff häufig verwendet. Eine genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass der Begriff ‚biografische Ressourcen‘ in diesen Studien sehr
unterschiedlich verstanden und eingesetzt wird. Im vorliegenden Beitrag werden
daher relativ ausführlich Begriffsdefinitionen und konzeptuelle Überlegungen zu
‚biografischen Ressourcen‘ erörtert. Zunächst werden jedoch kurz die Inhalte und
Ziele biografischer Forschung skizziert und die Frage diskutiert, was biografische
Forschung in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung leisten kann. Darauf folgt
die erwähnte Auseinandersetzung mit dem Konzept der biografischen Ressourcen, bevor methodische Fragen diskutiert werden, die im Hinblick auf die Rekonstruktion biografischer Ressourcen besonders relevant sind.
2
Inhalte und Ziele biografischer Forschung
Als ‚Biografie‘ wird gewöhnlich der Lebensablauf eines Menschen bezeichnet, im
Alltag wird der Begriff oft auch synonym zu ‚Lebensverlauf ‘ verwendet. Anders
verhält es sich jedoch mit dem Konzept der Biografie, die den Gegenstand sozialwissenschaftlicher Biografieforschung darstellt. Biografie bezieht sich hier nicht
einfach auf einen äußeren Verlauf, die Chronologie eines Lebens, die Abfolge ‚objektiver‘ biografischer Daten. Genausowenig bezieht sich Biografie allerdings nur
auf die ‚subjektive‘, gewissermaßen innere Wahrnehmung äußerer Daten. Es geht
mit anderen Worten auch nicht nur um die Frage, wie Lebensereignisse erinnert,
erfahren und erzählt werden. Vielmehr richtet sich das Interesse der Biografieforschung1 auf die Frage, wie – in der Terminologie von Gabriele Rosenthal – erlebte und erzählte Lebensgeschichte miteinander verschränkt sind und welche
Fallstruktur in dieser Verschränkung erkennbar wird (Rosenthal 1995; Rosenthal
2010).
Es geht darüber hinaus in der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung
auch nicht bloß darum, einen besonderen Fall in seiner Einzigartigkeit möglichst
genau zu beschreiben. Sozialwissenschaftliche Biografieforschung zielt vielmehr
darauf ab, im Fall etwas Allgemeines zu erkennen und aus der Analyse einer Biografie, eines Falls also, Schlussfolgerungen zu ziehen, die über diesen Fall hinaus
1
Von ‚der‘ Biografieforschung zu sprechen, ist eigentlich irreführend, da ganz unterschiedliche
theoretische und methodologische Standpunkte sowie damit korrespondierend unterschiedliche methodische Vorgehensweisen nebeneinander bestehen. Siehe dazu z. B. Griese (2010), Jüttemann / Thomae (1998), Völter et al. (2005) und von Felden (2007).
Biografische Ressourcen
243
von Bedeutung sind. Vereinfacht formuliert kann man sagen, dass eine Biografie als Spiegel historischer, gesellschaftlicher und kultureller Rahmenbedingungen begriffen wird (Kirchhof 2008: 45). Allerdings sind diese Rahmenbedingungen nicht als den Menschen äußerliche zu begreifen, denn die Sozialisation ist
kein einseitiger und mechanischer Prozess (Berger / Luckmann 1980 [1966]: 142),
keiner, in dem Individuen durch „äußere“ gesellschaftliche Strukturen „geprägt“
oder „geformt“ werden. Vielmehr handelt es sich bei der Sozialisation um Aneignungen der sozialen Wirklichkeit in Auseinandersetzung mit ihr. Wie Marx
es einst auf den Punkt gebracht hat: „Menschen machen ihre eigene Geschichte,
aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen“
(Marx 1960 [1851 – 1852], zit. nach Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 115). Und hier
liegt auch der Grund dafür, dass wir in jedem Besonderen, in jedem Fall also, Allgemeines auffinden können. Jede Rekonstruktion eines Falles ist zugleich eine
Rekonstruktion allgemeiner Strukturen, denn nur als Besonderes, das sich am
Allgemeinen gebildet hat, ist es als Besonderes auch bestimmbar. Das Allgemeine
ist repräsentiert in den Handlungsmöglichkeiten, die einem Fall (einer Person,
einer Familie, einer Organisation etc.) objektiv gegeben sind. Besondere werden diese Möglichkeiten, weil sie für einen Fall gegeben sind, der aus ihnen eine
Wahl trifft, der sich also entscheidet und auf eine bestimmte Handlungsmöglichkeit festlegt. Diese Wahlen wiederum sind nicht beliebig (selbst Zufallsauswahlen
beruhen auf einer Entscheidung, nämlich der Entscheidung, die Entscheidung
dem Zufall zu überlassen), sondern es wird, wenn eine Entscheidung getroffen
wird, soziale Ordnung zugleich produziert und reproduziert (Bergmann 1985 zit.
in Hildenbrand 1999: 13). Auf diese Weise wird ein Muster ausgebildet, „das den
individuellen Fall und die Geschichte seiner Entscheidungsprozesse übergreifend
kennzeichnet“ (ebd.). Dieses Muster wird nach Oevermann (2000) als Fallstruktur bezeichnet.
Allgemein ist das Allgemeine nicht, weil es häufig vorkommt, und es geht
in der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung nicht um Allgemeinheit im
quantitativen Sinn einer Verteilung, im Sinne von ‚Repräsentativität‘. Vielmehr
geht es beim Begriff des Allgemeinen, der hier von Bedeutung ist, um soziale
Regeln, die die Genese eines Falls überhaupt erst ermöglichen, aber sie darin zugleich beschränken (da sich einer Praxis immer nur bestimmte Möglichkeiten
eröffnen). Und das Allgemeine bezieht sich auf Deutungsmuster und normative
Begründungsstrukturen, auf die sich das Subjekt bezieht und mittels derer es sein
Handeln rechtfertigt, die es zugleich selbst gestaltet und verändert.
244
Anne Juhasz Liebermann
Die Analyse einer Biografie lässt daher nicht nur Rückschlüsse zu auf ein einzelnes Leben, sondern immer auch auf den sozialen Zusammenhang, in dem sich
diese Biografie herausgebildet hat. Damit ist ein weiterer wichtiger Punkt angesprochen: Die Rekonstruktion einer Biografie bezieht sich auf einen zeitlichen
Verlauf und umfasst die Prozesshaftigkeit von sozialen Phänomenen. Im Zentrum
der Betrachtung stehen Handlungsabläufe, Entscheidungs- und Sozialisationsprozesse. Zwar scheint es naheliegend zu sein, dass eine Analyse von Biografien
impliziert, Entwicklungen und Veränderungen in den Blick zu nehmen. Dennoch
ist es wichtig, diesen Aspekt hervorzuheben, da damit zum einen inhaltliche und
zum anderen methodische Implikationen verbunden sind. Insbesondere für den
vorliegenden thematischen Zusammenhang ist dieser Punkt bedeutsam, denn die
Rekonstruktion von Biografien ist in besonderer Weise dazu geeignet, Bildungsprozesse und berufliche Verläufe zu untersuchen. Daher ist es naheliegend, die
biografische Methode auch in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung einzusetzen.
3
Was kann biografische Forschung in der Bildungsund Arbeitsmarktforschung leisten ?
Wie ausgeführt, ist die biografische Methode besonders geeignet dazu, in der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung eingesetzt zu werden, da sie die Rekonstruktion von Bildungsprozessen und Erwerbsverläufen, von sozialen Auf- und Abstiegsprozessen oder auch Statusübergängen2 erlaubt.
In der Bildungsforschung ist der Einsatz biografischer Methoden heute keine
Seltenheit mehr. Dass der Gegenstand der Biografie und die Biografieforschung
mittlerweile Eingang in die Sozial- und Erziehungswissenschaft, die Erwachsenenbildung und auch in die Soziale Arbeit gefunden haben, davon zeugen zahlreiche Publikationen (siehe z. B. das „Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung“ Krüger / Marotzki 2006, das Themenheft der ZBBS „Biographie
und Lernen“ Dick / Marotzki 2005, aber auch Alheit / Dausien 2006, Miethe 2011
oder von Felden 2008). Die Themen, die mithilfe biografischer Methoden untersucht werden, sind vielfältig: Bildungsprozesse Jugendlicher und junger Erwachsener, (schulische) Sozialisationsprozesse, geschlechtsspezifische Unterschiede in
Bezug auf Bildungsprozesse, Migration und Bildung, Schülerbiografien, Lehrer2
Siehe dazu in diesem Band die Beiträge von Karin Schittenhelm, Arnd-Michael Nohl und Stefan
Kutzner.
Biografische Ressourcen
245
biografien, Übergänge von der Schule bzw. dem Studium in den Beruf, Erwachsenenbildung u. v. a. Auch wenn der Begriff „Arbeitsmarktforschung“ vor allem mit
quantitativer Forschung verbunden wird, sind mittlerweile auch in diesem Themenfeld biografische Studien durchgeführt worden (z. B. Apitzsch / Kontos 2003;
Apitzsch / Kontos 2008; Grimm / Vogel 2010; Reißig 2010; Schaffner 2007; Schiek
2011; Schmeiser 2003). Beispiele für Themen, die untersucht werden, sind zum Beispiel: Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, Berufliche Auf- und Abstiegsprozesse,
Prekarisierung von Erwerbsbiografien und Exklusionsprozesse, (Langzeit-)Arbeitslosigkeit, selbstständige Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten.
Fragestellungen, die anhand einer biografisch orientierten Forschung untersucht
werden, sind beispielsweise: Wie bewältigen junge Erwachsene den Übergang von
der Schule in den Arbeitsmarkt ? Wodurch zeichnen sich berufliche Auf- bzw. Abstiegsprozesse aus und wie lassen sie sich erklären ? Wie verlaufen Biografien von
Personen in prekärer Erwerbslage ? (Nicht nur) bei biografischen Arbeiten lassen sich Fragestellungen der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung oft nicht klar
voneinander trennen, sind doch Bildungs- und Berufsbiografie eng miteinander
verknüpft. Und gerade diese Verknüpfung stellt selbst einen interessanten Gegenstand biografischer Bildungs- und Arbeitsmarktforschung dar.
Auch wenn mittlerweile viele Studien im Themenfeld Bildung und Arbeitsmarkt eine biografisch orientierte Fragestellung verfolgen, können nicht alle diese Arbeiten eindeutig ‚der‘ biografischen Forschung zugeordnet werden. Eine
genauere Betrachtung der methodischen Vorgehensweisen zeigt, dass zwar oft
biografisch-narrative Interviews durchgeführt werden, diese jedoch nicht immer
rekonstruktiv und sequenzanalytisch ausgewertet werden. Rekonstruktive und
nicht rekonstruktive Vorgehensweisen unterscheiden sich jedoch grundlegend
in ihrer Logik3. Nur ein rekonstruktives Auswertungsverfahren kann die Einbettung einzelner Themen in die Gesamtgestalt der Lebensgeschichte rekonstruieren.
Dies wiederum ist erforderlich, um die biografische Bedeutung und Genese von
Bildungsprozessen und Erwerbsverläufen untersuchen zu können. Ein äußerlich
identischer beruflicher Verlauf (z. B. die Ausbildung zur Lehrerin) kann, im biografischen Kontext betrachtet, etwas sehr unterschiedliches bedeuten. Die eine
Person mag Lehrerin geworden sein, weil sie aus einer ‚Lehrer-Familie‘ stammt
und sich in ihren eigenen biografischen Entwürfen an einem familialen Muster
3
Als nicht rekonstruktive Verfahren können Vorgehensweisen bezeichnet werden, die subsumtionslogisch vorgehen, d. h. z. B. mit vorab definierten Kategorien das Material auswerten. Siehe
zur Unterscheidung zwischen rekonstruktiven und nicht rekonstruktiven Verfahren ausführlicher z. B. Rosenthal 2005b: S. 56 ff.
246
Anne Juhasz Liebermann
orientiert hat, eine andere Person hat dagegen diesen Beruf gewählt, weil sie aus
einem schwierigen Erlebnis in der eigenen Schulzeit heraus die Motivation entwickelt hat, es ‚besser zu machen‘. In diesem Fall kann die Berufswahl als Kompensation oder Reparatur eines traumatischen Erlebnisses gedeutet werden. Solche Zusammenhänge werden nur erkannt, wenn das Auswertungsverfahren einer
sequenziellen und rekonstruktiven Logik folgt und vorschnelle Subsumtionen
unter vermeintlich identische Kategorien vermeidet.
4
Das Konzept biografischer Ressourcen –
Begriffsklärung und konzeptionelle Überlegungen
Das Bildungs- und Erwerbssystem kann in Bourdieus (Bourdieu 1984) Terminologie als mehrdimensionaler sozialer Raum begriffen werden, der nach bestimmen Regeln strukturiert ist und in welchem Individuen und Gruppen unterschiedliche Positionen einnehmen. Diese Stellung einer Person im sozialen Raum
bestimmt sich, so Bourdieus Annahme, über seine Ressourcenausstattung, mit
anderen Worten über sein ökonomisches4, kulturelles5 und soziales6 Kapital. Die
drei unterschiedlichen Kapitalsorten sowie das symbolische Kapital7 sind eng miteinander verbunden. Dies, weil sie sich erstens unter bestimmten Bedingungen
gegenseitig umwandeln lassen (Bourdieu 1983: 195 f.), und zweitens, weil in vielen
Fällen erst das Vorhandensein von bestimmten Kapitalsorten die Verwertbarkeit
anderer Kapitalformen ermöglicht. Dies gilt insbesondere für das soziale Kapital,
das den Zugang zu bestimmten sozialen Positionen ermöglicht und erst auf diese
4
5
6
7
Ökonomisches Kapital (Besitz, Eigentumsrechte) bildet die dominierende und am direktesten in
Geld umzuwandelnde Form von Kapital (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).
Kulturelles Kapital existiert in inkorporierter Form im Sinne von dauerhaften Dispositionen (Bildung, Wissen, Fähigkeiten, Interessen, ein bestimmter Habitus), in objektivierter Form (materialisierte Erzeugnisse aus Kunst und Wissenschaft wie Bücher, Gemälde etc.) und in institutionalisierter Form (Titel) (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).
Das soziale Kapital bilden jene Ressourcen, die sich aus (dauerhaften) sozialen Beziehungen ableiten und damit in der Regel auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen. Soziales Kapital
bestimmt sich zum einen nach der Anzahl von sozialen Beziehungen, zum andern danach, wie
„kapitalträchtig“ diese Beziehungen sind bzw. über wie viele (ökonomische, kulturelle und symbolische) Ressourcen die Mitglieder jener Gruppe verfügen, welcher der oder die Einzelne angehört (Bourdieu 1983: 185 ff., zit. nach Juhasz / Mey 2003: 63 f.).
Das symbolische Kapital, das keine eigenständige Kapitalsorte darstellt, lässt sich aus dem Gesamt der drei vorgenannten Kapitalien ableiten. Es wird verstanden „als wahrgenommene und
als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien (gemeinhin als Prestige, Renommee, usw. bezeichnet)“ (Bourdieu 1985: 11, zit. nach Juhasz / Mey 2003: 64).
Biografische Ressourcen
247
Weise die Verwertbarkeit beispielsweise eines schulischen Titels garantiert (Bourdieu 1983: 186). In der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung spielen diese Kapitalformen eine zentrale Rolle, etwa wenn es darum geht, den Zugang von Personen zu bestimmten Positionen zu erklären. Allerdings zeigt die Empirie, dass die
Ausstattung mit den genannten Kapitalsorten den Bildungs- und Erwerbsverlauf
einer Person nicht vollständig determiniert, mit anderen Worten Bildungs- und
Erwerbsverläufe oft unerwartet verlaufen. Die Ausstattung einer Person mit kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital alleine kann Bildungs- und Erwerbsverläufe nicht erklären. Genau hier setzt das Konzept der biografischen Ressourcen an, auf das insbesondere dann Bezug genommen wird, wenn unerwartete,
‚positive‘ oder ‚erfolgreiche‘ Bildungs- und Erwerbsverläufe beschrieben und erklärt werden sollen.8 Allerdings wird der Begriff der biografischen Ressource oft
verwendet, ohne genauer definiert zu werden. Aus diesem Grund wird im Folgenden zunächst eine Begriffsbestimmung vorgenommen, bevor das Konzept theoretisch verortet wird.
4.1
Zum Begriff „biografische Ressourcen“
Unter dem französischen Wort „ressource“ versteht man Mittel, Hilfs- und Einnahmequellen. Laut Pons (2006) wird das Wort heute in folgenden drei Formen
gebraucht: „(1) als eine Quelle für Hilfsmittel oder Rohstoffe; (2) Geldmittel;
(3) psychische Kräfte zur Bewältigung von Problemen“ (Pons 2006: 1137). Oft wird
in der Literatur zwischen inneren und äußeren Ressourcen unterschieden, bzw.
zwischen individuellen und sozialen Ressourcen (Bartmann 2007: 82). Darüber
hinaus findet sich eine Klassifizierung in materielle, kulturelle und personale Unterstützungsquellen, was an Bourdieus Unterscheidung (Bourdieu 1983) zwischen
ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital erinnert.9 Im Kontext der Biografieforschung findet sich auch ein Verständnis von Ressourcen als „Kraftquellen,
8
9
Bourdieus Theorie wird denn auch vorgeworfen, zu deterministisch zu sein.
Griese / Griesehop (2007: 101) unterscheiden in Anlehnung an Haye und Kleve (2003: 119) zwischen a) persönlichen Ressourcen; b) lebensweltlich-sozialen Ressourcen; c) sozialen Ressourcen; d) sozioökonomischen Ressourcen. Meines Erachtens ist diese Unterscheidung wenig
sinnvoll. Insbesondere die Unterscheidung zwischen lebensweltlich-sozialen („im Sinne von unterstützenden, wertschätzenden Beziehungen zu Verwandten, Freunden, Nachbarn etc., die von
Menschen hergestellt werden können“) sowie sozialen Ressourcen („im Gemeinwesen in Form
von Mitgliedschaften in Vereinen, hilfreichen Beziehungen zu Ärzten, Psychologen, Pfarrern, kooperative Kontakte zu Schulen oder anderen Einrichtungen im Sozialraum“) erscheint willkürlich und nicht trennscharf.
248
Anne Juhasz Liebermann
die zur Bewältigung alltäglicher Anforderungen und Lebensaufgaben von zentraler Bedeutung sind“ (Hölzle 2011; 2009: 43).
Doch worin besteht der Unterschied zwischen „Ressourcen“ und „Kapital“ ?
Ist in der Biografieforschung von biografischen Ressourcen die Rede, wird der
Unterschied zwischen den beiden Begriffen selten thematisiert, die beiden Begriffe werden meist synonym verwendet. Eine Ausnahme bildet die Arbeit von
Kontos (Kontos 2000), in welcher Ressourcen verstanden werden als „Vorrat an
Werten (…), die genutzt werden können, um etwas in Wirtschaft und Gesellschaft
zu erreichen“ (Kontos 2000: 53). Als Kapital werde dagegen ein Gegenstand, ein
Wert oder eine Eigenschaft betrachtet, wenn sie auf dem Markt Erträge erzielen
können. Insofern sei Kapital ein marktnaher Begriff. Ressource hingegen ist nach
Kontos „eine Vorform von Kapital. Aus der Ressource kann Kapital erschlossen
werden“ (ebd.).
Der Begriff der „biografischen Ressource“ wurde von Erika Hoerning in die
Biografieforschung eingeführt (Hoerning 1987; 1989; 1995).10 Hoerning versteht
unter biografischen Ressourcen „Handlungsmittel, die zur Bewältigung der biografischen Handlungskorrektur eingesetzt werden können“ (1987: 97). In einer
späteren Arbeit (Hoerning 1989: 148) bezeichnet Hoerning „Lebenserfahrungen
und daraus gewonnenes biographisches Wissen“ als Ressourcen, die „zukünftige
Handlungen nicht nur steuern, sondern die als Wertanlage gesellschaftlich geschätzt und dadurch individuell für die Ausgestaltung zukünftiger biographischer
Projekte verwendet werden können“ (ebd.). Biografische Ressourcen sind nach
Hoerning somit Wissensbestände, die aus biografischen Erfahrungen resultieren.
Die Terminologie („eingesetzt“ bzw. „verwendet“ werden können) impliziert, dass
biografische Ressourcen bewusst und zielgerichtet von ihrem ‚Besitzer‘ eingesetzt
werden können, ganz so, wie wenn es sich dabei um ihm äußerliche Mittel wie
Geld oder Rohstoffe handeln würde. Die Anlehnung an eine Begriff lichkeit, die
der Ökonomie entstammt („Wertanlage“), impliziert, es gehe insbesondere darum,
aus den biografischen Ressourcen gewissermaßen Kapital zu schlagen, sie also
‚produktiv‘ und gewinnbringend einzusetzen.
Neben diesem Verständnis von biografischen Ressourcen als „Handlungsmittel“ oder „Handlungsressource“, das auf kognitive Aspekte abhebt, findet sich in
10 Hoerning selbst verwendet die Begriffe Ressource und Kapital synonym: „(…) Erfahrungen als
biographische Kapitalstruktur (…), die nicht nur den weiteren Verlauf der Lebensgeschichte
steuern, sondern die gleichzeitig als biographische Ressourcen, sozusagen als soziales und kulturelles Kapital der Biographie, zur Bewältigung von Lebensereignissen eingesetzt werden können“
(Hoerning 1995: 237).
Biografische Ressourcen
249
der Literatur eine Konzeption von biografischen Ressourcen als Fähigkeit zu biografischer Artikulation bzw. Zusammenhangsbildung, die auf der Kompetenz beruht, Selbst- und Welt sinnvoll zu deuten (Griese / Griesehop 2007: 102 f.). Griese
und Griesehop schreiben: „Der Begriff der biographischen Ressource bezeichnet
im allgemeinsten Sinne also die Fähigkeit, biographische Kohärenz herzustellen
und Erfahrungen (narrativ) anzuordnen“ (S. 103).
Bartmann (Bartmann 2005; 2007) zufolge beinhalten biografische Ressourcen
beide genannten Aspekte, sie spricht von der doppelten Dimension biografischer
Ressourcen: Zum einen beziehen sich biografische Ressourcen auf die situative
Bearbeitung von Ereignissen, zum anderen auf die reflexive Bildung von Haltungen zu sich selbst und der Welt (2007: 84). Mit anderen Worten können biografische Ressourcen sowohl „handlungspraktisch unmittelbar wie biographisch reflexiv eingesetzt“ werden (Bartmann 2007: 84).
In eine andere Richtung weist dagegen ein Verständnis von biografischen Ressourcen, das nicht bloß die gemachten Erfahrungen umfasst, sondern auch die
„nicht- oder noch-nicht-gemachten, die potentiellen Erfahrungen“ (Kontos 2000:
49) einschließt. Apitzsch (1996: 137) spricht von latenten Potenzialen, die etwa
für die Transformationen von Krisen bedeutsam sind. Ein solches Verständnis
von biografischen Ressourcen beinhaltet gerade nicht Intentionalität und rationales, zweckgerichtetes Handeln, denn latente Potenziale sind ihrem ‚Träger‘ nicht
bewusst, können folglich von ihm auch nicht zielgerichtet als Handlungsmittel
eingesetzt werden. Kontos (2000) beschreibt als ein Beispiel für so verstandene
biografische Ressourcen die Motivation zur beruflichen Selbstständigkeit, die sich
aus einem Trauma in der Kindheit und Jugend (hier des Schulabbruchs) speist.
Und sie betont denn auch, dass sich Motivation als Ressource dem Akkumulationsprozess entziehe, mit anderen Worten nicht bewusst ‚angehäuft‘ werden
kann. Dies zum einen, weil sie in der Kindheit im unbewusst laufenden und daher
nicht steuerbaren Prozess der Sozialisation und Erziehung entstehe und zum anderen, „weil es nicht erstrebenswert sein kann, Traumata zu erzeugen, um Motivation aufzubauen, zumal das Resultat einer positiven Motivation aus Traumata mit
einer Vielzahl anderer Faktoren in Zusammenhang steht, welche das Aufkommen
von Motivation emergent und nicht voraussagbar machen“ (Kontos 2000: 53).
Aus den vorangegangenen Ausführungen sollte deutlich werden, dass unter
dem Begriff biografische Ressourcen sehr Unterschiedliches verstanden wird und
die Verwendung des Ressourcenbegriffs im Kontext sozialer Phänomene und
Sinnstrukturen umstritten ist. Eine weitere Problematik besteht darin, dass die
Abgrenzung des Begriffs biografische Ressourcen zu anderen soziologischen Kon-
250
Anne Juhasz Liebermann
zepten nicht immer deutlich wird.11 Zahlreiche weitere kritische Fragen an die
Verwendung des Konzepts biografische Ressourcen ließen sich stellen, die an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden sollen.12
4.2
Biografische Ressourcen und die Entstehung des Neuen
Trotz der genannten Differenzen und bisweilen auch Vagheiten der Begriffsdefinition ist die Tendenz erkennbar, auf biografische Ressourcen als sozialwissenschaftlichem Konzept dann Bezug zu nehmen, wenn es um die Beschreibung
und Erklärung von ‚gelungenen‘ biografischen Verläufen geht. Explizit fordern
etwa Griese / Griesehop (2007: 104) in Anlehnung an Hanses (2000: 372) von
„Ressourcenorientierung als Suche nach ‚Empowermentgeschichten‘, nach Episoden, in denen sich ‚gelungene Lebensstrategien und Erfahrungen‘ spiegeln“
(Griese / Griesehop 2007: 104) zu sprechen. Es sei angezeigt, so Griese und Griesehop weiter, nach Erzählpassagen Ausschau zu halten, in denen sich eine gelungene Umsetzung biografischer Handlungsschemata zeige oder sich Strukturen
einer Wende erkennen lassen. Auf den Kontext der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung übertragen hieße das, den Blick auf erfolgreiche Bildungs- und Erwerbsverläufe zu richten. Dies wirft allerdings die Frage auf, woran ‚erfolgreiche‘
biografische Verläufe gemessen werden, welche (impliziten) Maßstäbe in die Bewertung einfließen.13 Eine Möglichkeit besteht darin, die Nutzung und die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten und die Frage nach Handlungsautonomie
ins Zentrum zu stellen. Von besonderem Interesse sind in der Biografieforschung
dabei die biografischen Prozesse, die zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten führen. In Schützes Terminologie kann hier vom Durchbrechen von Ver11 Je nach Verständnis von biografischen Ressourcen besteht z. B. eine sehr große Nähe zum
Habitus-Konzept von Bourdieu und zum Konzept der biografischen Gesamtgestalt nach Schütze
(Schütze 1981; 1984).
12 Etwa weitere Fragen zur Begriff lichkeit, die sehr statisch wirkt. Zudem wird der Begriff nicht selten als Blackbox verwendet, das heißt, darunter wird all das gefasst, was etwa bei der Interpretation eines konkreten Falls nicht näher bestimmt werden kann.
13 Denkbar sind objektive Kriterien wie etwa eine soziale Aufwärtsmobilität oder das Erlangen einer hohen Ausbildung bzw. einer hohen beruflichen Position. Möglich sind aber auch subjektive
Kriterien, womit das Erreichte an den Maßstäben des Befragten selbst gemessen wird und sich
der Erfolg letztlich an der Zufriedenheit oder auch Lebensqualität des Befragten ‚messen‘ ließe.
Wird die subjektive Zufriedenheit zum Maßstab erhoben, bleibt allerdings die Frage offen, wie
Anpassungsprozesse oder sogenannte Abkühlungsprozesse gedeutet werden sollen, die beispielsweise bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufig beobachtet werden können (siehe dazu
z. B. Mey / Rorato 2010).
Biografische Ressourcen
251
laufskurven14 und Prozessen der Wandlung15 gesprochen werden. Auch wenn in
Schützes Arbeit der Begriff der Ressource keinen prominenten Platz einnimmt,
kann mit Kontos eine Verlaufskurve als der Zusammenbruch biografischer Ressourcen interpretiert werden (Kontos 2000: 49). In analoger Weise könnten positive Veränderungsprozesse als Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und
Folge einer Entfaltung biografischer Ressourcen verstanden werden. Das Interesse der Forschung, die sich mit biografischen Ressourcen beschäftigt, richtet
sich somit – auch wenn dies selten expliziert wird – weniger auf die erwartbaren erfolgreichen beruflichen Karrieren oder Bildungsverläufe, als vielmehr auf
die unerwarteten Verläufe, also auf jene, die aus bestimmten Gründen als wenig
wahrscheinlich gelten und genau deshalb erklärungsbedürftig sind (siehe z. B. die
Arbeit von Hummrich 2006). Aus diesem Grund wird das Konzept der biografischen Ressource oft auf biografische Erfahrungen von Personen bezogen, die
wenig kulturelles, ökonomisches oder soziales Kapital haben und deren erfolgreicher Bildungsverlauf oder beruflicher Erfolg unerwartet scheint.
Ist von biografischen Ressourcen die Rede, geht es jedenfalls im Kern, so die
hier vertretene These, um die Erklärung der Entstehung des Neuen. In Oevermanns (1991; 2004; 2008) Terminologie geht es um die Frage nach dem „Wie“,
der Genese oder dem Bildungsprozess einer konkreten Fallstruktur, mit Schütze
(2001) gesprochen steht die Frage nach dem Wirksamwerden von biografischen
Wandlungsprozessen im Zentrum. Mit dieser Präzisierung des Konzepts der biografischen Ressourcen soll auch vermieden werden, dass jegliche biografische
Erfahrung unter den Begriff der biografischen Ressourcen fällt. Denn bei den
gängigen Konzeptionen biografischer Ressourcen stellt sich die Frage, welche
Fähigkeiten nicht durch biografische Erfahrungen erworben wurden. Hier wird
daher vorgeschlagen, unter biografischen Ressourcen nur jene Erfahrungen zu
fassen, die eine zentrale Dimension der Erzeugung von Neuem darstellen. Damit
wird auf einen Erfahrungsbegriff Bezug genommen, der den Prozess der Konstitution von Erfahrung als krisenhaft versteht (vgl. Oevermann 1991; 2004; 2008).
14 Unter einer negativen Verlaufskurve versteht Schütze eine Verkettung von Ereignissen aufgrund
heteronomer Bedingungen, die vom Betroffenen nicht kontrolliert werden kann und für ihn mit
einer Einschränkung seines Möglichkeitsspielraums bis hin zum totalen Zusammenbruch einhergeht (Schütze 1981: 88 ff.).
15 „Biographische Prozesse der Wandlung sind dadurch gekennzeichnet, dass die Betroffenen in
sich selbst – mehr oder weniger verwundert – neue Kräfte feststellen, mit denen sie zuvor überhaupt nicht gerechnet haben. Sie erleben zunächst mehr oder weniger undeutlich, beginnen allmählich aufmerksam zu werden und begreifen dann anschließend abrupt, daß sie Vollzüge beherrschen, an deren Meisterung sie vorher nicht zu denken wagten bzw. auf die sie gedanklich
gar nicht gekommen wären“ (Schütze 2001: 142).
252
Anne Juhasz Liebermann
Das heißt, Erfahrungen konstituieren sich innerhalb des Prozesses einer Krisenbewältigung: „Solange man routinisiert handelt, macht man keine Erfahrungen, sondern lebt von Erfahrungen, die man schon gemacht hat“ (Oevermann
2004: 165). Oder anders gesagt: Die Erzeugung von Neuem ist an die Bedingung
der Krise gebunden und „Krise und Neuerung bedingen sich einander“ (ebd.).
Die Herausforderung bzw. das Problem besteht darin, „den Entstehungsprozess
des Neuen als solchen zu identifizieren, die Transformation von der Reproduktion
zu unterscheiden“ (Oevermann 1991: 296). Die eigentliche Schwierigkeit ist es also,
im konkreten Material Bildungsprozesse zu identifizieren und die Herausbildung
von Neuem zu erkennen. Dies kann letztlich nur durch den Vergleich mit einer
schon rekonstruierten Struktur oder Reproduktionsgesetzlichkeit gelingen.
5
Methodische Folgerungen:
Zur Erhebung und Auswertung biografischer Interviews
Aus den bisherigen Ausführungen kann gefolgert werden, dass biografische Erfahrungen und biografische Ressourcen nicht unabhängig von ihrer biografischen Einbettung und Bedeutung betrachtet werden können. Der von außen betrachtet ähnliche Verlauf einer Biografie kann ganz unterschiedlich motiviert sein
und ganz unterschiedliches bedeuten. Eine Beschreibung der äußeren Merkmale
eines biografischen Verlaufes sagt noch nichts über seine inneren Gesetzmäßigkeiten aus.
Genauso wenig können wir, wenn wir Fähigkeiten einer Person nur auf einer
deskriptiven Ebene erfassen, bestimmen, ob sie als biografische Ressourcen einzustufen sind. Denn biografische Erfahrungen müssen, wie Hoerning formuliert,
„in die jeweiligen Lebensabschnitte und historischen Situationen einpaßbar sein“
(Hoerning 1989: 155). Man könnte auch sagen, dass biografische Ressourcen abhängig sind vom jeweiligen Kontext (biografisch, sozial, historisch). Dieselben
Fähigkeiten können im einen Kontext eine hohe Bedeutung haben, während sie
in einem anderen Kontext bedeutungslos sind. Besonders im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung ist dieser Aspekt relevant, da beispielsweise
unterschiedliche Berufe unterschiedliche Fähigkeiten erfordern und das Bildungssystem ganz bestimmte, nämlich mittelschichtsorientierte, Fähigkeiten als
bedeutungs- und förderungswürdig erachtet, während andere Fähigkeiten keine
Beachtung finden. Für die Rekonstruktion biografischer Verläufe lässt sich daraus
folgern, dass biografische Ressourcen nur vor dem Hintergrund des biografischen
und sozialen Gesamtzusammenhangs angemessen interpretiert werden können.
Biografische Ressourcen
253
Zu den Prinzipien qualitativer Forschung und auch den Prinzipien der Erhebung und Auswertung biografisch-narrativer Interviews liegt eine umfangreiche
Literatur vor (Schütze 1976; Schütze 1981; Schütze 1983; Schütze 1984, Rosenthal
1995; Rosenthal 2005a; Rosenthal 2005b; Rosenthal 2010). Daher werden im Folgenden nur die zentralen Elemente der Erhebung und Auswertung dargestellt und
vor allem jene Aspekte in den Vordergrund gerückt, die für den vorliegenden thematischen Kontext als besonders wichtig erachtet werden.
5.1
Zur Erhebung biografisch-narrativer Interviews
Das Ziel eines biografisch-narrativen Interviews besteht darin, eine autobiografische Stegreiferzählung hervorzulocken, deren inhaltliche und formale Gestaltung
der interviewten Person überlassen wird (siehe dazu insbes. Schütze 1976; Schütze
1983; Rosenthal 1995; 2005a). Entscheidend ist, dass der Befragte mit einer relativ allgemein gehaltenen Erzählaufforderung um die Erzählung seiner Lebensgeschichte oder bestimmter Phasen und Bereiche seines Lebens gebeten wird
und er bei der Haupterzählung nicht mit Detaillierungsfragen unterbrochen wird.
Dies erfordert eine besondere Technik der Gesprächsführung, bei welcher auf die
Formulierung von möglichst erzählgenerierenden Fragen und Nachfragen geachtet wird.16 Erst auf diese Weise sind die Bedingungen dafür gegeben, dass sich die
Gestalt der erzählten sowie der erlebten Lebensgeschichte wirklich entfalten kann.
Ein biografisch-narratives Interview besteht in der Regel aus drei Teilen: einer
Eingangserzählung, einem internen Nachfrageteil und einem externen Nachfrageteil. Die Eingangserzählung wird durch eine Eingangsfrage eröffnet, die erzählgenerierend und temporal offen sein soll. Ein Beispiel wäre etwa: „Ich interessiere
mich für Lebensgeschichten von Frauen im Handwerk. Ich möchte Sie jetzt bitten, mir Ihre Lebensgeschichte zu erzählen, all die Ereignisse, die Ihnen einfallen.
Sie können sich dazu soviel Zeit nehmen, wie Sie möchten, ich werde Sie erstmal
nicht unterbrechen, mir nur einige Notizen für Nachfragen machen“. Auf die Eingangsfrage folgt jeweils eine mehr oder weniger lange Eingangserzählung. Wenn
die befragte Person signalisiert, dass sie die Eingangserzählung für beendet hält,
wird damit begonnen, interne Nachfragen zu stellen, d. h. dort nachzufragen, wo
16 So sind bspw. „warum“-Fragen, die dem oder der Erzählenden ermöglichen bzw. ihm nahelegen,
mit einem knappen „weil“-Satz zu antworten, in der Regel nicht erzählgenerierend; sinnvoller ist
die Fragestellung „wie ist es dazu gekommen, dass…“, die prozesshaft ausgerichtet ist und eine
Erzählung eröffnen kann.
254
Anne Juhasz Liebermann
in der Eingangserzählung etwas unklar geblieben oder nur kurz angedeutet worden ist. Auch hier soll möglichst versucht werden, erzählgenerierende Nachfragen zu stellen, etwa: „Können Sie mir noch mehr darüber erzählen, als…“ oder
„Sie haben die Person x erwähnt, können Sie mir noch mehr über sie erzählen“ ?17
Im dritten Teil des Interviews werden schließlich weitere narrative Fragen zu
Themen gestellt, die von den Befragten selber nicht in das Interview eingebracht
worden waren, für die Fragestellung aber dennoch wichtig sind (diese werden als
externe Nachfragen bezeichnet).
Im Kontext der Bildungs- und Arbeitsmarktforschung mutet es möglicherweise seltsam an, ein Interview mit einer ganz offenen Erzählaufforderung zu beginnen. Warum wird nicht themenbezogen gefragt oder direkt eine Frage nach
institutionell vorgegebenen Bildungs- und Berufslaufbahnen gestellt ? Wozu die
Frage nach der gesamten Lebensgeschichte ? Dahinter steht die Idee, dass die Bildungs- und Berufslaufbahn einer Person erst im Kontext ihrer gesamten Lebensgeschichte angemessen interpretiert werden kann. Wie oben ausgeführt, kann
zwei äußerlich betrachtet ähnlichen Berufslaufbahnen eine vollkommen andere
Struktur zugrunde liegen. Ihre Entstehungsgeschichte und ihre biografische Bedeutung können sich voneinander fundamental unterscheiden, obwohl sie oberflächlich betrachtet ähnlich scheinen. Umgekehrt können zwei nach außen ganz
unterschiedliche Bildungslaufbahnen eine ganz ähnliche Fallstruktur aufweisen,
beispielsweise beide durch einen Wunsch nach sozialer Anerkennung motiviert
sein. Solche Zusammenhänge können nur rekonstruiert werden, wenn möglichst
viel über die Familien- und Lebensgeschichte bekannt ist.
Ein weiterer Grund, nicht bloß gezielt nach der Bildungs- und Berufslaufbahn
zu fragen, liegt darin, dass biografisch-narrative Erzählungen oft unerwartete thematische Zusammenhänge erkennen lassen, die dem Forscher entgehen würden,
wenn er im Interview nur das ihn interessierende Thema ansteuern würde. Nicht
selten liegt gerade in jenen Textstellen, die auf den ersten Blick weit vom ‚eigentlichen‘ Thema entfernt scheinen, der Schlüssel zum Verständnis dessen, was für
die Forschungsfrage von zentraler Bedeutung ist. Darüber hinaus gilt: Je mehr
der Forscher das Interview steuert und thematisch lenkt, umso geringer ist die
Chance, dass er auf Phänomene stößt, die für ihn unbekannt sind. Zielt die Forschung somit nicht bloß auf die Wiederholung bereits bekannten Wissens, sondern sollen auch neue Zusammenhänge aufgedeckt werden, ist es angezeigt, eine
möglichst offene Interviewform zu wählen.
17 Siehe zu den narrativen Nachfragen und überhaupt zu den Prinzipien der Gesprächsführung zur
Gewinnung einer Lebenserzählung Rosenthal 1995: 186 ff.
Biografische Ressourcen
5.2
255
Zur Auswertung biografisch-narrativer Interviews
Die soeben beschriebene offene Interviewform ist allerdings nur dann sinnvoll,
wenn auch ein Auswertungsverfahren gewählt wird, das dieser Offenheit gerecht
wird.
Erstens ist damit gemeint, dass auch bei der Auswertung nicht nur die Bildungs- und bzw. oder Berufslaufbahn in den Blick genommen wird, sondern die
gesamte Lebensgeschichte von Interesse ist.
Zweitens ist ein subsumtionslogisches Vorgehen mit dem biografisch-narrativen Interview nicht kompatibel, weil es nicht in der Lage ist, die erwähnten inneren, oft auch latenten, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Themen in einer
Lebensgeschichte zu rekonstruieren und zu erklären. Dem Text werden bei einem
subsumtionslogischen Vorgehen jene Kategorien übergestülpt, die der Forscher
für wichtig erachtet, anstatt schrittweise die innere Logik und Sinnstruktur des
Textes zu rekonstruieren.
Ein biografisch-narratives Interview kann daher nur mithilfe eines rekonstruktiven, sequenziellen Vorgehens adäquat analysiert werden. Mittlerweile liegen verschiedene etablierte rekonstruktive Verfahren vor. Im Folgenden wird auf
das fallrekonstruktive Vorgehen Bezug genommen, wie es von Rosenthal (Rosenthal 1995; 2005b) in Anlehnung an die Vorgehensweisen von Schütze (Schütze
1983) und Oevermann (Oevermann 2000) sowie die thematische Feldanalyse
nach Fischer (1982, in Rosenthal 1995) entwickelt wurde. Rosenthal schlägt folgende Analyseschritte vor:18
a) Die sequenzielle Analyse der biografischen Daten: Hier werden zunächst die
kaum an die Interpretation der erzählenden Person gebundenen Daten in der
zeitlichen Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf analysiert. Das Ziel besteht
darin, die Ausgangssituation zu bestimmen, die den Fall charakterisiert und
darzulegen, welche Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten damit verbunden waren. Dann werden schrittweise die weiteren verfügbaren Daten interpretiert und gedankenexperimentell Hypothesen zu diesen biografischen
Daten entwickelt. Dabei geht es darum, Situationen zu rekonstruieren, um zu
verstehen, vor welche Handlungsprobleme der Befragte gestellt wurde und
welche Handlungsmöglichkeiten er hatte. Hierbei ist es wichtig, auch potenzielle Veränderungen und Wandlungen zu bedenken und nicht bloß eine Reproduktion der bestehenden Strukturen anzunehmen (Rosenthal 2005b: 176).
18 Diese sind ausführlich dargestellt in Rosenthal 1995 sowie Rosenthal 2005b.
256
b)
c)
d)
e)
Anne Juhasz Liebermann
Nacheinander werden sodann die verfügbaren biografischen Daten ausgelegt,
bis aus der Kontrastierung der objektiv gegebenen Möglichkeiten und des
vom Befragten tatsächlich eingeschlagenen Wegs das besondere Muster dieses Wegs identifiziert werden kann.
Thematische Feldanalyse des Interviews: Generelles Ziel dieses Analyseschrittes ist es, herauszufinden, wie sich der Befragte selber präsentiert, welches
implizite „Ziel“ der Selbstdarstellung er dabei verfolgt. Die streng sequenzielle Analyse der Textsegmente setzt sich zum Ziel, die Regeln und die Muster
der Selbstpräsentation aufzuspüren: „Interpretationsbedürftig sind bei diesem Analyseschritt die Art und die Funktion der Darstellung im Interview –
und nicht die biografische Erfahrung an sich“ (Rosenthal 1995: 219). In diesem
Auswertungsschritt werden insbesondere wichtige Hinweise auf die Gegenwartsperspektive des Befragten bzw. der Befragten gewonnen. Deutlich werden soll, welche Themen nicht thematisiert werden, obwohl sie unterschwellig
präsent sind, und wie der Befragte seine Erlebnisse systematisch nur in spezifische Themenfelder einbettet und mögliche andere den Erlebnissen inhärente
Rahmungen vermeidet. Am Ende dieses Analyseschrittes stehen zusammenfassende Strukturhypothesen, Strukturhypothesen zum erzählten Leben des
Befragten.
Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte: Bei diesem Analyseschritt
wird die erlebte Lebensgeschichte in ihrer Chronologie rekonstruiert. Im Unterschied zur Analyse der biografischen Daten, wo die Daten völlig unabhängig von der Erzählung des Befragten analysiert wurden, interessiert hier, ob
es Hinweise im Text darauf gibt, wie der Befragte eine bestimmte Situation in
der Vergangenheit erlebt hat. Im Zentrum steht hier somit die Erlebnisebene,
gesucht wird gewissermaßen nach Spuren des Erlebten in der Vergangenheit.
Feinanalyse einzelner Textstellen des Interviews: Mit der Feinanalyse bestimmter Textstellen wird bezweckt, bisher entwickelte Hypothesen über die Spezifik
eines Falles an dafür besonders geeigneten Textstellen zu überprüfen. Hierzu empfehlen sich insbesondere Sequenzen von hoher narrativer Dichte, d. h.
Sequenzen, die viele Hinweise auf vergangene Erlebnisse und Erfahrungen
enthalten. Mittels einer Feinanalyse werden auch jene Textstellen analysiert,
deren Bedeutung bis anhin nicht erschlossen werden konnte. Bei diesem Verfahren orientiert sich Rosenthal an der Vorgehensweise der Objektiven Hermeneutik (Oevermann et al. 1980; Oevermann 2000).
Kontrastierung der erlebten mit der erzählten Lebensgeschichte: In diesem
Auswertungsschritt geht es darum, aus der Kontrastierung der erzählten Lebensgeschichte mit dem (rekonstruierten) erlebten Leben zusätzliche Erkennt-
Biografische Ressourcen
257
nisse über die Unterschiede zwischen diesen beiden Ebenen, d. h. zwischen
Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive, zu gewinnen und Erklärungen
für diese Differenz zu finden. Auch hilft es besser zu verstehen, wie der oder
die Befragte mit biografischen Erlebnissen umgeht und diese verarbeitet.
f) Typenbildung: Das Ziel dieses Schrittes besteht darin, das Typische eines Falls
zu benennen und auf den Punkt zu bringen. Die Typenbildung ist bezogen auf
Konzepte, Themen, die Forschungsfrage. Ausgehend von einem Fall können
unterschiedliche Typen gebildet werden.
g) Verallgemeinerung: Wie bereits erwähnt, besteht das Ziel biografischer Forschung nicht bloß darin, einen Fall möglichst genau zu beschreiben, vielmehr
sollen aus der Analyse eines Falls allgemeine Schlussfolgerungen gezogen
werden, um über den Weg der Generalisierung zur Entwicklung neuer Erkenntnisse über soziale Zusammenhänge zu gelangen. Hat man die konstituierenden Regeln eines Falls rekonstruiert, kann daraus gefolgert werden, dass
bei einem Fall mit derselben Fallstruktur ein weiterer Repräsentant dieses Typus gegeben ist. Ob dieser andere Repräsentant aber real existiert und wie verbreitet der Typus ist, ändert an der Gültigkeit der rekonstruierten Regel nichts.
Welche Schlussfolgerungen gezogen werden, hängt von der konkreten Fragestellung ab, die untersucht wird. Wenn ich mich z. B. mit der Berufsmotivation von Lehrerinnen und Lehrern beschäftige, werde ich aus den analysierten
Fällen Schlussfolgerungen ziehen, die darauf zielen, die Berufsmotivation von
Lehrerinnen und Lehrern zu bestimmen. Interessiere ich mich dagegen beispielsweise für die Frage, welche geschlechtsspezifischen Merkmale berufliche
Verläufe aufweisen, werde ich aus genau denselben Biografien möglicherweise ganz andere Schlussfolgerungen ziehen. Welche Reichweite die Schlussfolgerungen haben, die aus einem Fall gezogen werden, hängt ebenfalls davon ab,
welche Fragestellung verfolgt wird und auf welches Erkenntnisinteresse hin
ein Typus gebildet wird. Oder anders gesagt: Die Reichweite der Generalisierung kann immer nur bezogen auf die konkrete Fragestellung bestimmt werden.
Bei der Auswertung eines biografisch-narrativen Interviews werden die genannten Analyseschritte nacheinander vorgenommen und die ganze Lebensgeschichte
rekonstruiert, ohne schon eine thematische Fokussierung vorzunehmen. Wie bei
der Erhebung eines biografisch-narrativen Interviews wird auch hier die eigentliche Forschungsfrage zunächst eingeklammert, und es wird erst dann wieder auf
sie Bezug genommen, wenn die Typenbildung vorgenommen wird. Eine vorschnelle Fokussierung der Analyse eines Interviews auf die Frage nach biografi-
258
Anne Juhasz Liebermann
schen Ressourcen würde dazu führen, dass der Gesamtzusammenhang und die
dem Fall zugrunde liegende Struktur nicht erfasst werden und die Analyse letztlich oberflächlich bleibt.
Dennoch gibt es Fragen, die hinsichtlich der Thematik der biografischen Ressourcen bei einzelnen Analyseschritten von besonderer Bedeutung sind. Bei der
Rekonstruktion der biografischen Daten können u. a. folgende Fragen aufgeworfen
werden: Über welche sozialen, ökonomischen und kulturellen Ressourcen verfügte die Herkunftsfamilie des Befragten zum Zeitpunkt seiner Geburt und wie
hat sich ihr Vorhandensein im Laufe der Zeit verändert ? Gibt es Hinweise auf
Krisenerfahrungen (Migration, Trennung von Eltern u. a.) und Hinweise darauf,
welche Konsequenzen diese für den weiteren Lebensverlauf hatten ?
Die Analyse der erzählten Lebensgeschichte ist hinsichtlich der Frage nach biografischen Ressourcen insbesondere deshalb interessant, weil die erzählte Lebensgeschichte Hinweise gibt auf die Art und Weise, wie Erlebnisse in die eigene Biografie eingeordnet und gedeutet werden. Wie wird beispielsweise über eine Phase
der Arbeitslosigkeit berichtet ? Betrachtet der Befragte im Nachhinein diese Phase
als sinnvoll für sein Leben, weil er z. B. wichtige Erfahrungen sammeln konnte ?
Gelingt es ihm, der Arbeitslosigkeit etwas Positives abzugewinnen und Sinn zu
verleihen oder hadert der Befragte nach wie vor mit dieser Erfahrung ? Oder: Wie
wird über eine berufliche Karriere gesprochen ? Tendiert die Befragte dazu, die
verschiedenen Karriereschritte als gewissermaßen logische aufeinanderfolgende
Schritte zu beschreiben, die sich wie von selbst ergeben haben ? Oder neigt sie
eher dazu, ihren eigenen Willen zu betonen oder die Anstrengungen und Entbehrungen in den Vordergrund zu stellen, die die berufliche Karriere ihr abverlangt haben ? Fragen wie diese geben Hinweise auf die Haltung des Befragten in
der Gegenwart und seine biografische Gesamtsicht. Letztlich dienen sie dazu, zu
analysieren, wie biografische Ressourcen reflexiv eingesetzt werden. Der nächste
Analyseschritt, die Rekonstruktion der erlebten Lebensgeschichte, gibt uns weitere
Antworten auf die Frage, wie sich die biografischen Ressourcen ausgebildet haben,
welche Erlebnisse in der Vergangenheit dazu führten, dass der Befragte heute so
und nicht anders auf sein Leben blickt und diese ganz besondere Haltung seinem Leben gegenüber einnimmt. Die Frage nach der Erlebnisebene ist in Bezug
auf die Frage nach biografischen Ressourcen besonders wichtig, weil die objektiv betrachtet identische Situation von zwei Personen sehr unterschiedlich erlebt
werden kann und daher in unterschiedlicher Art und Weise als biografische Erfahrung abgelagert wird. Genau diese Unterschiede stehen im Zentrum, wenn es
um die Frage geht, wie sich biografische Ressourcen ausbilden. Und es ist auch
diese Frage, die bei der Typenbildung und theoretischen Verallgemeinerung wie-
Biografische Ressourcen
259
der in den Vordergrund rückt: Welche unterschiedlichen Formen von biografischen Ressourcen finden sich im Material ? Wie haben sich diese ausgebildet, wie
kann ihre Genese erklärt werden ? Abschließend werden im folgenden Kapitel einige Beispiele dafür gegeben.
6
Anstelle eines Schlusswortes: Biografische Ressourcen – Beispiele
Im Kontext der qualitativen Bildungs- und Arbeitsmarktforschung taucht das
Konzept der biografischen Ressourcen auf, wenn unerwartete Bildungs- oder Berufsverläufe zu verstehen und zu erklären sind. Es geht damit nicht wie in anderen
thematischen Zusammenhängen vornehmlich darum, Potenziale und Fähigkeiten
von Personen zu erfassen und sie im Rahmen von Interventionen zu stärken. Vielmehr stehen die Rekonstruktion von Bildungsprozessen und die Erklärung von
Neuem im Zentrum.
Als ein Beispiel aus der qualitativen Arbeitsmarktforschung können die Arbeiten von Kontos zur Erklärung der selbstständigen Erwerbstätigkeit von Migrantinnen und Migranten genannt werden (Kontos 2000; 2001; 2003). Erklärungsbedürftig ist hier, warum sich bestimmte Migrantinnen und Migranten selbstständig
machen, während andere, die über dieselben ethnischen oder sozialen Ressourcen verfügen, eine Arbeit in abhängiger Position wählen. Die Analyse biografischer Interviews zeigt, dass viele dieser Selbstständigen Schulabbruch oder andere
Brüche in ihrer Kindheit und Jugend erlebt haben, so dass sie mit vergleichsweise
wenig formalen Bildungsabschlüssen ausgestattet sind. Gerade die Erfahrung dieser biografischen Brüche ist es aber, die Kontos als Quelle von Motivation identifiziert, die letztlich zur Grundlage für das Selbstständigkeitsprojekt wird (Kontos
2000: 50).
Verschiedene Arbeiten haben sich mit ‚unerwarteten‘ Bildungsverläufen unterschiedlicher Personengruppen beschäftigt. So haben etwa Juhasz / Mey (2003)
Biografien von Jugendlichen ausländischer Herkunft analysiert, die im Vergleich
zu ihren Eltern eine soziale Mobilität vollzogen haben. Auch hier fand sich bei der
Rekonstruktion der biografischen Interviews ein Zusammenhang zwischen Krisenerfahrungen und der Motivation, eine höhere Ausbildung zu absolvieren. Zu
diesen Krisenerfahrungen gehörte beispielsweise eine (zu) frühe Übernahme von
Verantwortung innerhalb der Familie. Dies zum Beispiel, weil die Eltern ganztags
arbeiteten und die Kinder sich selbst überlassen waren, oder weil die Eltern, der
Sprache der Aufnahmegesellschaft nicht mächtig, auf die Hilfe ihrer Kinder etwa
bei Behördengängen angewiesen waren. Als weitere Krisenerfahrung kann die
260
Anne Juhasz Liebermann
Benachteiligung durch Lehrpersonen genannt werden, die die befragten Jugendlichen auf ihre ausländische Herkunft zurückführten. Gerade daraus erwuchs oft
die Motivation, eine höhere Ausbildung zu absolvieren, um zu beweisen, dass die
Lehrperson mit ihrer Einschätzung der schulischen Leistungen und des Potenzials eines Schülers falsch lag.
Als weiteres Beispiel kann auf ein aktuelles Forschungsprojekt zur Sozialisation
von ‚benachteiligten‘ Jugendlichen hingewiesen werden (Zurstrassen / Juhasz 2011).
In diesem Projekt soll untersucht werden, über welche biografischen Ressourcen
Jugendliche und junge Erwachsene verfügen, die gemeinhin als ‚bildungsfern‘ und
‚ressourcenarm‘ gelten. Erste Interviews zeigen, dass auch hier der Wunsch nach
beruflicher Integration motiviert ist durch Krisenerfahrungen wie beispielsweise
eine sehr frühe Mutterschaft und die damit verbundene frühe Übernahme von
Verantwortung für andere.
Wie und unter welchen Umständen es dazu kommt, dass in einem Fall eine
Krisenerfahrung einen Bildungsprozess befördert und ‚positiv‘ in die Biografie
integriert werden kann, in einem anderen Fall jedoch das genaue Gegenteil bewirken kann, müssen weitere Analysen zeigen.
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Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven
des Erleidens im Management
Das Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse
Anja Schröder-Wildhagen
1
Verlaufskurvenphänomene und Professionalisierung im Management
Weder die neuere wirtschaftssoziologische Forschung noch die an Institutionen
orientierte wirtschaftswissenschaftliche Forschung beziehen sich zur Erklärung
des wirtschaftlichen Handelns noch ungebrochen auf das monologische Rationalitätsmodell ökonomischen Handelns. So sind die Diskurse zu den Grenzen der
vollinformierten rationalen Entscheidungsfindung (Simon 1979) sowie zur Ungeordnetheit von Kommunikations- und Entscheidungsvorgängen in Organisationen (Cohen / March / Olsen 1972) schon lange selbstverständlicher Bezugsrahmen.
Auch wird die Bedeutung von Institutionen, verstanden als soziale Regelsysteme,
für wirtschaftliche Handlungen anerkannt (Maurer 2008a). Klassische wie neuere
Forschung zu kulturellen und sozialen Einbettungsstrukturen des wirtschaftlichen
Handelns (Schumpeter 1987 [1934]; Polanyi 1977 [1944]; Schein 1992; Granovetter
1992; White 1992; Beckert 1997) zeigen schließlich, dass das Modell des methodologischen Individualismus die Bedingungen der wirtschaftlichen Handlungswirklichkeit nicht realistisch erfassen und erklären kann. Wirtschaftliches Handeln
wird heute also unstrittig als sozial eingebettetes Handeln bzw. als „normales“ soziales Handeln in Institutionen verstanden (vgl. Schröder 2010: 430 – 433).
Was bisher allerdings nicht systematisch in der Theoriebildung zu wirtschaftlichen Aktivitäten berücksichtigt wurde, ist diejenige Seite der sozialen Realität, die mit den Attributen des Unerwarteten, Widerständigen, Chaotischen und
Emergenten1 zu beschreiben ist.2 Es sind die Wirklichkeitsaspekte von heterono1
2
Diesbezüglich wird auf die biografische Prozessstruktur der Wandlung angespielt, die ebenfalls
eine chaotische Entfaltung haben kann (vgl. Schütze 1984: 92 – 95).
Wenige Ausnahmen sind biografieanalytische Untersuchungen über Führungskräfte, die die soziobiografische und interaktive Konstitution des Managerhandelns sichtbar machen und damit
auch seine fragilen sozialen Voraussetzungen (Nagel 2005; Schröder 2010; Domecka 2010).
268
Anja Schröder-Wildhagen
men Handlungsbedingungen und der Kreativitätsentfaltung (z. B. bei neuen Produktentwicklungen), die eine intentionale Handlungssteuerung verhindern. Insbesondere der erste Aspekt, die „dunkle“ Seite der sozialen Wirklichkeit, steht
dem ökonomischen Rationalitätsmodell in seiner idealtypischen Formulierung
begriff lich, aber vor allem kulturell-mental entgegen. Denn dass auch in der wirtschaftlichen Arbeitssphäre Handlungspläne immer wieder scheitern, Störungen
systematisch werden, Resignation und suboptimale Ausweichmanöver der Wirtschaftsakteure zur Regel werden und Arbeitsprozesse lange Zeit unproduktiv verlaufen, taucht im üblichen Sprechen und Nachdenken über das wirtschaftliche
Handeln nicht auf. Diese Störphänomene scheinen auch nicht in das zweckrational-strategische Handlungsmodell integrierbar zu sein. Für eine an der „ganzen“
Realität orientierte Theoriebildung sind deshalb analytische Kategorien vonnöten,
die diese heteronom wirkende und chaotischere Seite der wirtschaftlichen Handlungs- und Arbeitswirklichkeit erfassen können. Hier kann die qualitative Sozialforschung helfen. Denn sie hat eine Qualität sozialen Handelns ausgemacht, die
nicht dem intentionalen Handlungsprinzip zugerechnet werden kann: das Erleiden.
Die Beschäftigung mit dieser Erfahrungsqualität in der wirtschaftlichen Handlungssphäre steht im Zentrum des Artikels. Dazu werden zunächst die in der Biografieanalyse entwickelte theoretische Kategorie der Verlaufskurve des Erleidens
sowie die zu seinem Verständnis notwendigen Elemente der interaktionistischen
Theorie, insbesondere der Professionstheorie, skizziert (1.1 bis 1.3). Sodann wird
zu einer ersten Veranschaulichung von Verlaufskurvenerscheinungen im Management ein Fallbeispiel präsentiert, das Störungen auf der Arbeitsebene und
den Umgang eines Managers (des Personalmanagers Michael Richter3) mit denselben zeigt (2.1). Anschließend werden verschiedene Verlaufskurvenphänomene
und mit diesen verbundene professionelle Aufgabenstellungen konturiert, mit
denen Führungskräfte in Großunternehmen heute konfrontiert sind (2.2). Hiernach wird die gesamte berufsbiografische Entfaltung des Personalleiters Michael
Richter nachgezeichnet (2.3). Dazu werden zentrale Stellen des autobiografischnarrativen Interviews mit dem Personalmanager sequenziell analysiert. Das Methodeninstrumentarium wie auch das Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse
für die Untersuchung von Professionalisierungsprozessen und Verlaufskurvenerscheinungen bei Führungskräften wird so sichtbar gemacht. Auf einer allgemeineren Aussageebene werden alsdann zwei verschiedene Erscheinungsformen der
Verlaufskurvenprozessstruktur in Managerbiografien gezeigt (3). Zum Schluss des
3
Aus Gründen der Anonymisierung sind Namen im vorliegenden Beitrag geändert.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
269
Artikels folgt ein abschließendes Fazit zum Erkenntnispotenzial der Biografieanalyse (4).
1.1
Verlaufskurven des Erleidens im Management
Wie erwähnt, kennt die qualitative Sozialforschung, die soziale Prozesse in ihrer
sequenziellen Entfaltung untersucht, eine Erfahrungsqualität des Erleidens (vgl.
Strauss / Corbin 1978; Schütze 1999a, 2001). Erleiden stellt das Gegenprinzip zum
intentionalen Handeln dar. Letzteres wird in der Regel als Grundmodus des sozialen Handelns angenommen. Mit der theoretischen Kategorie der „Verlaufskurve
des Erleidens“, die in der Biografieforschung zur analytischen Beschreibung von
spezifischen biografischen Prozessen entwickelt wurde, wird ein Modus nur noch
konditionellen Reagierens erfasst. In diesen Reaktionsmodus geraten Menschen,
wenn sie aufgrund strukturell widriger (äußerer) sozialer und (innerer) biografischer Bedingungen in einen Zustand des Getrieben-Seins geraten (vgl. zu dieser Kategorie: Riemann / Schütze 1991; Schütze 1999a). Beispielsweise kann die Fähigkeit, intentional und gestaltend zu agieren, bei einer Personalmanagerin zum
Erliegen kommen, wenn Belegschaftseinheiten aus zwei verschmolzenen Unternehmen gegeneinander arbeiten und die Versuche der Personalleiterin, die Konfliktparteien zur Kooperation zu bewegen, fortlaufend fehlschlagen. Noch widriger
wird die Lage der Personalmanagerin, wenn zugleich Vorgesetzte unnachgiebig
Handlungserfolg anmahnen. Infolgedessen kann die unter Druck geratene Personalmanagerin, die Arbeitserfolge vorweisen soll, kaum mehr ein besonnenes,
perspektivenvermittelndes Vorgehen in der Konfliktbearbeitung durchhalten.
Dadurch aber werden die Widerstände bei den Konfliktparteien erneut befeuert.
Eine solche brisante soziale Situation, in der betriebliche Konfliktparteien wechselseitig Blockadehaltungen einnehmen und schuldzuweisende Interpretationslinien entwickeln, wirkt stark entmutigend auf die Personalmanagerin. Sie erfährt
sich zunehmend als gestaltungsohnmächtig und wird zur Getriebenen in einem
kaum mehr zu kontrollierenden Konflikt.
In Bezug auf die Arbeit von Managern und Managerinnen, denen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anbefohlen sind, sind Phänomene des Erleidens auf
verschiedenen Ebenen feststellbar: Auf einer ersten Ebene wird die Mitarbeiterschaft von Verlaufskurven des Erleidens betroffen. Insbesondere bei betrieblichen Strukturveränderungen, die sich auf die Organisation und Definition von
Arbeitsprozessen auswirken, werden leicht biografische und kollektive Relevanzen der veränderungsbetroffenen Mitarbeiterschaft (z. B. im Arbeitsvorgehen, der
270
Anja Schröder-Wildhagen
thematischen Ausrichtung, der beruflichen Orientierung, u. Ä.) verletzt. Solche
Verletzungs- und damit verbundene Enttäuschungserfahrungen können die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen tiefgehend in ihrer berufsbiografischen Orientierung erschüttern und sie auf Arbeitsanforderungen kritisch-ablehnend, resigniert
oder gar demoralisiert-unzugänglich reagieren lassen. Auf einer zweiten Ebene
– der Ebene des Arbeitsbogens4 – verlieren die personal- und entscheidungsverantwortlichen Führungskräfte einen kontrollierenden Zugriff auf die Arbeitsstörungen, die auf den Ebenen der Dynamik von sozialen Beziehungen und biografischen Entwicklungen anwachsen. Interventionen der Führungskräfte, die die
Fallbedingungen verkennen, verstärken dann die Erleidensprozesse und Arbeitsstörungen. Verbunden mit der so beförderten Konflikteskalation baut sich drittens – auf der Ebene der biografischen Entfaltung – auch bei den verantwortlichen
Managern und Managerinnen ein Verlaufskurvenpotenzial auf. Denn angesichts
des Kontrollverlusts kann bei den leitenden Wirtschaftsakteuren das psychisch
belastende Gefühl anwachsen, an den Ansprüchen eines gestaltenden Managements zu versagen. Daraus kann bei ihnen Resignation gegenüber den mit sozialer Verantwortung verbundenen beruflichen Aufgaben oder gar kühle Indifferenz
gegenüber erleidensbetroffenen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hervorgehen.
Genereller gesagt, können prinzipiell alle biografisch relevanten Erfahrungen mit Irritations-, Verletzungs- und Enttäuschungsgehalten, die die Erwartungen des Individuums konterkarieren, Verlaufskurven des Erleidens befördern.
Wird das Erleiden im Leben eines Menschen dominant, fühlt er sich angesichts
fehlschlagender Kontroll- und Stabilisierungsversuche zunehmend handlungsunfähig. Verlaufskurvenfördernd wirkt sich dabei insbesondere der Umstand aus,
dass die Problemlösungsversuche die ursächlichen und aufgeschichteten Fallbedingungen nicht tangieren (z. B. im obigen Beispiel das Fehlen von Aushandlungen bei einer betrieblichen Neustrukturierung und das Schweigen über damit
einhergehende Veränderungen von Entscheidungsmacht). Haben die verantwortlichen Führungskräfte kein Wissen von den fallspezifischen Entstehungs- und
4
Mit dem Arbeitsbogenkonzept („arc of work“) wurden von Anselm Strauss und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verschiedene Arbeitsdimensionen (Artikulationsarbeit, Gefühlsarbeit, Inhalts- und Evaluationsarbeit) entwickelt, die wesentliche Voraussetzungen der professionellen, am Klientenwohl orientierten Arbeit sind (vgl. Strauss et al. 1985: 151 ff.). So zeigt
beispielsweise die Einrichtungskomponente des Arbeitsbogens bzw. die Artikulationsarbeit, dass
Arbeitsschritte an sich verändernde Situationsbedingungen in der Fallbearbeitung anzupassen
sind. Insbesondere wird auch die soziale Komponente der Arbeit, z. B. die Herstellung von Vertrauen zwischen Klient und Professionellem, als konstitutiv für professionelle Tätigkeiten hervorgehoben. Siehe zum ‚arc of work‘ auch den Beitrag von Kirstin Bromberg in diesem Band.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
271
Dynamisierungsbedingungen solcher Verlaufskurvenerscheinungen, sind sie den
Eskalations- und Niedergangsbewegungen solcher Arbeitsstörungen wie auch eigenen Arbeitsschwierigkeiten hilflos ausgeliefert.
1.2
Der biografieanalytische Zugang zu Verlaufskurvenphänomenen
Die Biografieforschung ermöglicht es, Phänomene des Erleidens in Arbeitsprozessen und den Biografien von Managerinnen und Managern analytisch zu erfassen.
Zu diesem Zweck sind insbesondere autobiografisch-narrative Stegreiferzählungen als empirische Grundlage geeignet, denn sie umfassen dichte Beschreibungen
von Ereignissen, die für die Entfaltung von Lebensgeschichten und Arbeitsprozessen relevant sind. Grundsätzlich kennzeichnend für das autobiografische Stegreiferzählen ist, dass ein Erzähler bzw. eine Erzählerin die Ereignisse in einer sequenziellen Geordnetheit präsentiert. Diese Geordnetheit ist zum einen Ausdruck
der früheren Entfaltungshistorie des Geschehens; sie ist zum anderen Ausdruck
der Erzähllogik der autobiografischen Rekonstruktion, denn der Erzähler bzw. die
Erzählerin orientiert sich beim Schildern seiner bzw. ihrer Lebensgeschichte oder
eines länger gespannten Arbeitsprozesses an konkreten Elementen, genannt „kognitive Orientierungsfiguren“ (Schütze 1984). Sie geben der Stegreiferzählung eine
formale Ordnung und machen damit die Erzählung auf systematische Weise analysierbar (vgl. zum Aufbau von Stegreiferzählungen und zu den nachfolgenden
Ausführungen zu Erzählsegmenten: Schütze 2008, Teil 1: 225 – 239).
Eine erste Orientierungsfigur für den Erzähler bzw. die Erzählerin ist die Kette
von Erfahrungen und Ereignissen, die geschildert wird. In dieser verkettenden
Darstellung wird deutlich, welche Ereignisse für nachfolgende konditionell relevant sind. Ereignisse, die eine eigenständige Erfahrungsqualität für den Erzähler bzw. die Erzählerin (oder einen anderen Ereignisträger, über den berichtet
wird) besitzen, werden in einem Erzählsegment, der narrativen Einheit, präsentiert. Eingeleitet wird ein Erzählsegment durch ein so genanntes Rahmenschaltelement: Dabei handelt es sich in der Regel um eine Markierung wie „und dann“.
Die Erzähleinheit besteht dann aus mindestens einem Erzählgerüstsatz mit binomischem Charakter, d. h. der Erzähler bzw. die Erzählerin berichtet von einem
äußeren Ereignis (z. B. einer betrieblichen Umstrukturierung) im Zusammenhang
mit einem sozialen oder biografischen Prozess (z. B. seinem Berufseinstieg), der
einen Zeitraum von „vorher“ und „nachher“ umfasst. Dabei drückt der Erzähler
bzw. die Erzählerin in Verbindung mit dem geschilderten Ereignis auch eine Veränderung seines bzw. ihres inneren Zustands aus.
272
Anja Schröder-Wildhagen
Jede elaborierte Erzähleinheit enthält detaillierende Textpassagen (erzählende,
beschreibende oder argumentative). In diesen schildert der bzw. die Erzählende
zentrale Episoden, die den angekündigten Sachverhalt weiter erhellen. Eine wichtige formale Figur in den narrativen Einheiten sind dabei so genannte „Hintergrundskonstruktionen“ (Schütze 1984: 97). In ihnen werden belastende, mitunter
auch traumatische Erfahrungen präsentiert, die er bzw. sie in vorangegangenen
Ereignissen auszublenden versucht hat. Ihre Analyse ist oftmals besonders aufschlussreich für das Prozessverständnis. Schließlich endet eine entwickelte Erzähleinheit mit einem argumentativen biografischen Kommentar, in dem der Erzähler
bzw. die Erzählerin biografische Entwicklungen plausibel macht, (selbst-)kritisch
betrachtet oder legitimiert. Auch finden sich dort Zusammenfassungen, abstrakte
Kategorisierungen der Ergebnisse, reflektierende Einschätzungen sowie Bewertungen der jeweiligen sozialen Prozesse.
Über der Ebene der einzelnen Erzähleinheit ist die Erzählung durch sogenannte supra-segmentale Einheiten strukturiert: durch die biografischen Prozessstrukturen. Auf der Grundlage einer Vielzahl empirischer Analysen von Biografien
wurden vier biografische Prozessstrukturen festgestellt: die (bereits dargestellte)
Verlaufskurvenprozessstruktur des Erleidens, die Wandlungsprozessstruktur, das
Handlungsschema und die Prozessstruktur der Orientierung an institutionellen
Ablaufmustern. Auch diese vier biografischen Prozessstrukturen stellen als „generelle Erfahrungsprinzipien“ (Schütze 1984: 92) Ordnungsgesichtspunkte für
die Rekonstruktion der Lebensgeschichte dar. Während das Handlungsschema
und die Wandlungsprozessstruktur ihren Ausgangspunkt in Impulsen der IchIdentität haben und mit einem Kreativ-Werden der Selbstidentitäten der Prozessbetroffenen verbunden sind, wirkt die Prozessstruktur der Orientierung an institutionellen Ablaufmustern zunächst neutral auf das Identitätserleben. Gleichwohl kann dann, wenn die institutionellen Erwartungen nicht erfüllt werden, bei
dem betroffenen Menschen eine Verlaufskurve des Erleidens ausgelöst werden
(vgl. ebd.). Das Wirksamwerden einer Prozessstruktur der Verlaufskurve des Erleidens wird in einem autobiografisch-narrativen Interview etwa wie folgt eingeleitet: „Bis dahin lief alles noch ganz gut, aber in der neuen Position fühlte ich mich
plötzlich überfordert …“. Auch in den ergebnissichernden Passagen der übergreifenden Segmente wird die spezifische biografische Prozessstruktur, z. B. der Erleidenscharakter, noch einmal semantisch deutlich (z. B. „Das war wirklich eine
freudlose Zeit …“). Ein weiteres Element, an dem sich der oder die Erzählende in
der Rekonstruktion der eigenen Geschichte orientiert, sind die sozialen Rahmen,
in denen sich die Lebens- bzw. Arbeitsprozesse entfalten, z. B. in Interaktionssituationen, sozialen Beziehungen, sozialen Netzwerken, sozialen Welten, u. Ä. (vgl.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
273
ausführlich: Schütze 1984; Schröder 2010: 122 – 131). Die Analyse der sozialen Rahmen ist von Bedeutung für das Verständnis der Reaktions- und Handlungsbedingungen des Erzählers bzw. der Erzählerin. Schließlich ist deren autobiografische
Selbst-Thematisierung, d. h. die selbsttheoretische Sicht auf die Ereignisse des eigenen Lebens, eine wichtige kognitive Figur.
Die autobiografische Stegreiferzählung weist also konkrete formale und inhaltliche Strukturen der lebensgeschichtlichen Rekonstruktion auf. Dass die biografisch relevanten Ereignisse überhaupt ausreichend geschildert werden, liegt am
Wirken von Zugzwängen im Stegreiferzählen. Sie veranlassen den Erzähler bzw.
die Erzählerin dazu, seine bzw. ihre Lebensgeschichte oder einen Arbeitsprozess
in seiner ganzen Gestalt zu entfalten. Es sind dies die Zwänge zur Kondensierung
der relevanten Ereignisse, zum Schließen von eröffneten Erzählgestalten und zur
ausreichenden Detaillierung und Plausibilisierung von Ereignissen. All diese Erzeugungsregeln, die beim autobiografischen Stegreiferzählen wirksam werden, ermöglichen auf Forscherseite die Identifizierung der strukturellen Merkmale der
Aktivitäten und Reaktionen der Erzählenden. Sie umfassen auch die eigene Theoriebildung in Bezug auf das Verhalten und die biografische Entfaltung sowie die
sozialen Kontexte, die jemanden motivieren oder auch zwingen zu (re-)agieren.
Verlaufskurven des Erleidens können so detailliert in ihren jeweiligen Phasen und
konstitutiven Bedingungen rekonstruiert werden.
1.3
Interaktionistische Professionssoziologie und wirtschaftliches Handeln
Die interaktionistische Soziologie hat insbesondere bei der Erforschung von Arbeitsprozessen durch Angehörige der Professionen (z. B. im Medizinbereich) einen Fokus auf die „chaotische“ Seite des sozialen Handelns gelegt. Sie hat das
Emergente, Fehlerhafte und generell das eher Hintergründige in sozialen Prozessen in den Blick genommen, das die „gute“ Handlungsplanung ruiniert und Arbeitsprozesse chaotisch werden lässt (vgl. Hughes 1965; Strauss 1985). Während
Professionalisierung in einem alltagssprachlichen Verständnis zumeist als routinierte Expertenhaftigkeit gilt, werden in der Chicagoer Soziologietradition vor
allem die interaktionale Dimension der professionellen Arbeit und die Verantwortung des Professionellen gegenüber dem Klienten als Definitionsgrundlage
und Analysefokus bestimmt (z. B. Hughes 1965; Strauss et. al. 1985; Schütze 1999b).
Es wird in der interaktionistischen Theoriebildung davon ausgegangen, dass das
professionelle Handeln auf den Schutz wertvoller gesellschaftlicher Güter ausgerichtet ist. In der unmittelbaren Interaktion ist das Handeln der Professionellen
274
Anja Schröder-Wildhagen
– zumindest dem Prinzip nach – am Wohl ihrer Klienten orientiert (vgl. Schütze
1999b: 190 – 192).
Deshalb ist die Analyse von professionellen Arbeitsabläufen wie auch von
Professionalisierungsprozessen in der interaktionistischen Theorie auch von der
Einsicht motiviert, dass die Klienten die von den Professionellen vorgenommenen Aktivitäten oftmals als existenziell bedeutsam erleben (so der Patient eines
Herzchirurgen; die auf ihren Anwalt angewiesene Mandantin; der bei einem Sozialarbeiter Hilfe suchende suchtabhängige Mensch, u. Ä.). Dazu nimmt die interaktionistische Professionstheorie in der Analyse die soziale und interaktive
Konstitution von professionellen Arbeitsprozessen und Professionalisierungsprozessen zu ihrem Ausgangspunkt. Es geht um die Untersuchung von Entfaltungsqualitäten, Kreativitäts- und Kompetenzentwicklungen, aber auch von Störungen
und Arbeitsschwierigkeiten in der professionellen Praxis und der biografischen
Professionalisierung.
Ein solches existenzweltlich-altruistisches Verständnis von professionellem
Handeln scheint zunächst in einem deutlichen Widerspruch zu dem in der Welt
der Wirtschaft institutionalisierten strategischen Handlungsmodell individueller Nutzenmaximierung zu stehen. Aber: Analysen von Managerbiografien und
Falldarstellungen zeigen, dass das Management sicherlich nicht als eine „echte“
Profession wie diejenige der Medizin oder wie die der juristischen Berufe (z. B.
Parsons 1968; Oevermann 1999) verstanden werden kann. Denn anders als in diesen Professionen ist ein Hilfe-Auftrag der Manager und Managerinnen gegenüber
einer spezifischen Klientel nicht – im Sinne Parsons (1964: 166 – 168) – der institutionell geprägte Kern ihrer Arbeitsleistungen. Dies darf aber den Blick nicht dafür
verschließen, dass im Management „quasi-professionelle“ Leistungen erbracht
werden, die am Wohl einer „Quasi-Klientel“, den anbefohlenen Mitarbeitern, ausgerichtet sind: etwa dann, wenn sich eine Personalmanagerin auch gegen Widerstände von hierarchisch hochgestellten Führungskräften für den Verbleib eines
Mitarbeiters im Unternehmen engagiert, der aus dem Betrieb gedrängt werden
soll. Oder wenn es einem Produktmanager gelingt, dass ein demoralisierter Arbeitsbereich, den Führungskräfte über mehrere Jahre nur als Karrieresprungbrett
benutzt und dessen Leistungspotenziale sie ausgepresst haben, wieder auf den
Führungszirkel zu vertrauen beginnt. In diesem Sinne sozial orientierte, quasiprofessionelle Leistungen, die auf einen individuellen oder auch einen kollektiven
Quasi-Klienten ausgerichtet sind, erweisen sich vielfach als konstitutiv für wirtschaftliche Arbeits- und Handlungsprozesse (vgl. Beckert 1997; Schröder 2010).
Fallanalysen von Managern und Managerinnen machen deutlich, dass das
wirtschaftliche Handeln wie jedes andere soziale Handeln in Institutionen an
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
275
grundlegende Prinzipien bzw. Basisregeln der Interaktion gebunden ist: an Kooperationsleistungen, Interaktionspostulate und Idealisierungen der Beziehungsreziprozität (vgl. grundlagentheoretisch: Schütz 2003: 152 f.; Mead 1998 [1934]:
insbes. 177 – 186; Schütze 2001: 156 – 172; vgl. in Bezug auf Management: SchröderWildhagen 2011). Generell gesagt, gehört zu diesen Basisregeln sozialen Handelns
beispielsweise, dass Interaktionspartner Perspektiven und Bedeutungszuschreibungen hinsichtlich des Interaktionsgegenstands als miteinander gemeinsam
teilbar annehmen und dies ggf. auch explizit thematisieren, selbst wenn deren
Gemeinsamkeit empirisch-faktisch (noch) nicht erwiesen ist. Von Bedeutung
für das Gelingen der Interaktion ist deshalb, dass durch die Aktivitäten, die die
Interaktionspartner wechselseitig aneinander ausrichten, die Kooperationsbasis
zwischen ihnen aufgebaut und erhalten wird. Erst auf dieser sozialen Grundlage
können Handlungsschemata kooperativ und Schritt für Schritt umgesetzt werden.
Nach diesen allgemeineren Darstellungen möchte ich nun mit einem Beispielfall die Verlaufskurvenproblematik auf Arbeitsebene und sequenzielle Analyseschritte zeigen.
2
Der Fall des Personalmanagers Michael Richter:
Ein Beispiel für Verlaufskurvenphänomene
Dynamische Umbauten in Unternehmen, die im Kontext des globalisierten Marktes und seiner enormen Konkurrenz-, Flexibilisierungs- und Erfolgsdrücke, verstärkt durch den Einfluss von Finanzmärkten (z. B. Dobbin / Zorn 2005; Windolf
2005), seit den 90er Jahren fortlaufend stattfinden, wirken sich immer wieder krisenhaft auf Arbeitsprozesse in Unternehmen wie auch auf Karriereentwicklungen
bei Belegschaftsmitgliedern und Führungskräften aus (z. B. Faust 2002; Dörre /
Neubert 1995; Dörre 2003; Schröder 2010: insbes. Kap. F). Besonders augenfällig
ist ein Erratisch-Werden von organisationalen Prozessen. So werden Investitionsvorhaben mit langfristig angelegten Projekten bei Produkten, die mehrjährige
Innovationszyklen haben, wie auch über viele Jahre gewachsene Betreuungsverhältnisse zwischen Belegschaft und Führungskräften durch Umbrüche in Unternehmen strukturell gefährdet. Der Verlaufskurvencharakter dieser Entwicklungen zeigt sich in schleichend wie eskalativ verlaufenden Arbeitsstörungen, die
für die Betroffenen (meist Belegschaftsmitglieder, aber auch Führungskräfte) mit
Verlusterfahrungen verbunden sind. Verloren gehen Identifikationsgrundlagen
wie traditionelle Arbeitsauffassungen und Themenbezüge, verlässliche und vertrauensbegründete Arbeits- und Betreuungsbeziehungen, gewachsene Entschei-
276
Anja Schröder-Wildhagen
dungsstrukturen und Motivationsgrundlagen; Erwartungs- und Planungssicherheit brechen weg.
Die professionellen Aufgabendimensionen in verschiedenen Managementbereichen (insbesondere in den interaktionsintensiven Managementbereichen
Personalwesen und Produktentwicklung5) umfassen deshalb zunehmend die Bearbeitung von gestörten Handlungs-, Interaktions- und Biografieprozessen, die
wieder produktiv werden sollen. Am folgenden Fallbeispiel des Personalmanagers
Michael Richter soll dies nun veranschaulicht werden.
2.1
Verlaufskurvenphänomene im Arbeitsprozess
Der Werkspersonalleiter Michael Richter6 ist zum Zeitpunkt des Interviews in
einem Unternehmen in der Kraftfahrzeugindustrie (in Deutschland mit über
10 000 Mitarbeitern) tätig und 40 Jahre alt. Er berichtet von einem Fall aus seiner
beruflichen Praxis,7 bei dem es im Kern darum geht, einen langjährigen Mitarbeiter des Unternehmens zur Kooperation zu bewegen. Michael Richter (im Folgenden „E“) beginnt mit der Schilderung dieses Falls bzw. Arbeitsprozesses8 wie folgt:
1
2
3
4
5
5
6
7
8
I: [Stimulus zur Falldarstellung] Könnten Sie da mal so einen Fall erzählen (?)
E: (4 Sek.) [Erzählgerüstsatz] Ja es gibt / hier zum Beispiel in der Abteilung gibt es Referenten, die inzwischen schon- ich sag mal, es gab einen / es gibt andere, da ist das nicht
so stark ausgeprägt, es gab einen .. der inzwischen nicht mehr da ist / inzwischen ersetzt ist. /
In beiden Managementbereichen sind zentrale Aufgaben wie die Kreativitätserzeugung und Beziehungsgestaltung ihrer strukturellen Verfasstheit und Zielstellung nach – wie dies für professionelle Berufe charakteristisch ist – auf andere Menschen gerichtet. Deshalb sind sie für die Untersuchung des professionellen Managerhandelns besonders geeignet (vgl. Schröder 2010: 329 – 423)
Das Interview mit dem Werkspersonalleiter Michael Richter führte ich im Rahmen meiner Dissertationsforschung (Schröder 2010). Im Anschluss an das autobiografisch-narrative Interview,
in dem Michael Richter seine Lebensgeschichte erzählte, schilderte der Personalmanager diesen
Fall aus seiner Personalbetreuungspraxis.
Das Interview wurde nach folgenden Transkriptionsregeln verschriftlicht: I:Interviewerin,
E:Erzähler / in, / kurze Pause, .. 2 Sek. Pause, … 3 Sek. Pause, (x Sek.) x Sek. Pause, ( ) unverständlicher Wortlaut, (abc) Versuch, Wortlaut wiederzugeben, - Satz- bzw. Wortabbruch, Selbstkorrektur, ((flüsternd)) parasprachliche Merkmale des Erzählens. In der Transkription wurden zur
besseren Lesbarkeit Satzzeichen eingefügt. Ansonsten wurde versucht, den Erzählduktus des Informanten beizubehalten.
Weitere methodische Ausführungen zu den Schritten der sequenziellen Analyse erfolgen bei der
anschließenden Analyse der lebensgeschichtlichen Erzählung.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
6
7
8
9
10
11
12
13
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15
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I:
18 E:
17
19
20
21
I:
E:
22
23
24
25
26
27
28
I:
E:
29
30
31
32
33
I:
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35
36
37
38
39
40
41
42
43
E:
277
[Narrative Detaillierung, 1. Teil] Der nen stark, ich sag mal, nen unheimlich routinierten und strukturierten Arbeitsstil hatte. / Was aber zur Folge hatte, dass Kundenorientierung oder Dienstleistungsorientierung bei ihm ((länger einatmend)) ich sag mal,
sehr gering ausgeprägt war. / Der hat unheimlich viel bewegt. / Aber immer nur, ich
sag mal / in den Bahnen ehm die er kannte. .. Und er war nicht nicht bereit, jetzt seit
zweieinhalb Jahren da in irgendeiner Form hinzuzulernen und (daran) bin nicht nur
ich gescheitert, da ist mein Vorgänger dran gescheitert ((stark einatmend)). / Ne ziemlich starke Persönlichkeit. / Der sagt: Ich arbeite / weil das halt dazu gehört. Ich brauch
es finanziell eigentlich nicht. / Und ich arbeite so, dass ich nach 35 Stunden hier rausgehe / meinen Job gemacht habe und dann kümmer ich mich um die Dinge, die mich
interessieren.
[Frage, Unterbrechung der Narration] Das hat er auch so eh präsentiert(?)
[Fremdausgelöste weitere argumentative Detaillierung, 2. Teil] Ehm / der ist mit Vorgesetzten umgegangen, da hat man hinterher dagesessen und (gedacht): So nicht.
hm
[Weitere narrative Detaillierung] Aus den und den Gründen, und ich erwarte, dass das
in Zukunft anders läuft. .. Ja haben wir auch Konsens gefunden. / Beim nächsten Mal
lief das auch nen bisschen besser und beim übernächsten Mal lief das wieder anders. /
So das wir irgendwann gesagt haben: ‚Also komm, jetzt finden wir ne vernünftige Regelung.‘ Und dann- / es hat ihm auch zum Schluss keinen Spaß mehr gemacht / weil er
auch gemerkt hat, dass er dass er immer wieder / ehm Gegenwind bekommt.
hm
[Ergebnissicherung, Argumentation] So ehm ich hätte ihn gerne bewegt .. dass er sich
ändert und dass er hier bleibt. / Weil er auch unheimlich Erfahrung hat .. Mitarbeiter
kennt und und und / jetzt hab ich ne andere Lösung, mit der ich mindestens genauso
zufrieden, als wenn ich ihn bewegt hätte. [Abschließender biografischer Kommentar] /
Nur / bezogen auf die Person .. bin ich halt gescheitert.
[Nachfrage] hm … Und was heißt das jetzt, dass er sich so in seinen Feldern bewegt hat.
/ Also ich kann mir das nicht so vorstellen.
[Argumentative Detaillierung] Eh gut wenn Sie sich vorstellen, dass Mitarbeiter auf auf
meine Mitarbeiter zukommen / dann erwart ich, dass (sich) meine Leute in einem, ich
sag mal, einigermaßen akzeptablen Ton mit denen umgehen. / Dass sie irgendwo sichtbar machen, dass sie bereit sind, sich mit dem Anliegen der Leute beschäftigen, dass
sie sich damit beschäftigen / dass sie ne Lösung finden. […] Alles was aus seiner Routine rauslief, ihm zusätzliche Arbeit gemacht hätte, das hat er versucht abzubügeln. […]
Ehm / und / wir leben ich sag mal ja in so nem Spannungsfeld / zwischen auf der einen Seite hoheitlichen Aufgaben. / Ich muss auf bestimmte Dinge achten. Ob das Einhaltung von Arbeitszeitgesetz ist, ob das Betriebsvereinbarungen sind, ob das / ehm /
278
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45
46
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48
49
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Anja Schröder-Wildhagen
Dinge sind, die im disziplinarischen Bereich oder was auch immer liegen. / Irgendwo
haben wir- hat die Personalabteilung da ne hoheitliche Funktion. .. Auf der anderen
Seite haben wir ne Dienstleistungsfunktion. / Und ne Balance zu finden zwischen diesen beiden / die sich durchaus manchmal ins Gehege kommen, die Funktionen. / Das
ist nicht einfach. Und für ihn war das ganz klar. / Da war der Schwerpunkt auf der hoheitlichen Seite. Und damit kann ich keine Personalbetreuung machen. / Da hat sich
dann die Katze irgendwo in Schwanz gebissen / ne (?)
(Interview Michael Richter, im Originaldokument: 22:10–23:18)
Mit Blick auf die Art und Weise, in der der Personalmanager das Fallproblem
skizziert, ist Folgendes festzustellen: Zu Beginn des Erzählsegments (Z. 2 – 5) kündigt Michael Richter die Schwere des Fallgeschehens implizit an. Er erklärt, dass
der betreffende Mitarbeiter, um den es in dem Arbeitskonflikt ginge, „inzwischen ersetzt“ (Z. 4 f.) worden sei. An dieser Stelle ist bereits inhaltlich der tendenziell technizistische Ausdruck „ersetzt“ auffällig. Durch diesen Wortgebrauch
defokussiert Michael Richter sprachlich die existenzweltliche Bedeutung des
Arbeitsplatzverlustes für den betroffenen Arbeitnehmer. Zudem fällt an der einführenden Fallbeschreibung Michael Richters erzählformal auf, dass der Erzählmodus gerafft ist, d. h. es werden kaum und erst auf Nachfrage Details des Falls
geschildert. Dieser Erzählmodus zeigt an, dass sich der Personalmanager zwar
prinzipiell darauf einlässt, von einem Fall aus seiner Arbeitspraxis zu berichten.
Zugleich aber versucht er, einer am damaligen konkreten Ablauf der Ereignisse
orientierte Erzählung auszuweichen. Dieser Umgehungsversuch ist auch inhaltlich zu erkennen, als Michael Richter die Fallproblematik bereits zu Beginn der
detaillierenden Darstellung (Z. 6 f.) ursächlich zu erklären versucht. So meint der
Werkspersonalleiter, dass der „routinierte“ und „strukturierte“ Arbeitsstil des in
Rede stehenden Personalreferenten Grund für die Konfliktentfaltung gewesen sei.
Widersprüchlich zu dieser Kategorisierung ist allerdings, dass Michael Richter
zwar einen Mangel an Lern- und Veränderungsbereitschaft auf Seiten des Arbeitnehmers feststellt, andererseits aber erklärt er fast euphorisch, dass der Arbeitnehmer besonders leistungsfähig und kreativ gewesen sei. Hier stellt sich die
Frage, was die Gründe dafür sind, dass ein nach Aussage des Personalmanagers
erfahrener und leistungsfähiger Mitarbeiter plötzlich extrem widerständig reagiert und schließlich sogar seinen Arbeitsplatz verliert.
Festzuhalten ist bis hierhin, dass der Personalmanager zunächst keine falladäquate Betrachtung vornimmt, in der er das Fallgeschehen mit Blick auf den
sozialen Kontext des Arbeitsumfelds analysieren und präsentieren würde. Die
Nachfrage der Interviewerin macht deutlich, dass Michael Richter die Wider-
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
279
standsreaktionen seines Mitarbeiters in dessen Person begründet und einem Verhalten geschuldet sieht, nicht von der Routine ablassen zu können und Mehrarbeit
vermeiden zu wollen. Der Personalmanager setzt das Verhalten seines Mitarbeiters also nicht in den von ihm selbst – wenn auch implizit – erwähnten Zusammenhang einer grundlegend veränderten Aufgabenstruktur in der Personalabteilung, die ihre frühere quasi-hoheitliche Entscheidungsmacht verloren und sich
nun als eine am „Kunden“, den Betriebsangehörigen, dienstleistungsorientierte
Abteilung zu präsentieren hat. Dass mit diesem Aufgaben- und Mentalitätswandel
im Personalwesen auch das berufliche Selbstverständnis der Personalfachleute
grundlegend berührt wird, thematisiert der Personalmanager nicht (dazu im Folgenden mehr).
Zudem fällt auf, dass Michael Richter keine persönliche Verantwortung für
das Scheitern in dem Konflikt übernimmt. Obwohl es ihm nicht gelingt, den Arbeitnehmer zur Mitarbeit zu bewegen und ihm wieder eine Identifikationsbasis
mit dem Unternehmen zu ermöglichen – das formuliert Michael Richter als eigenen professionellen Anspruch –, fehlt professionelle Selbstreflexion, insbesondere die Fehlersuche im eigenen Handeln. Das zeigt sich auch in der Ergebnissicherung des Erzählsegments. Dort stellt Michael Richter sein Scheitern am Fall
mit dem Scheitern seines früheren Vorgesetzten in einen Erklärungszusammenhang. Dadurch weist der Personalmanager die Verantwortung für den widrigen
Verlauf des Konflikts dem aus seiner Sicht unkooperativen Arbeitnehmer zu. Zu
erwähnen ist schließlich auch, dass der Personalmanager in der Bearbeitung des
Konflikts an der Vorstellung orientiert handelt, ein konformes Verhalten des Personalreferenten mit den Erwartungen der Unternehmensleitung (die eine dienstleistungsorientierte Personalabteilung haben will) zu befördern.
Verallgemeinernd kann man sagen, dass der Konflikt des Personalmanagers
mit seinem Mitarbeiter auf einer Mikroebene zeigt, wie die moderne Dienstleistungsorientierung in Unternehmen das Personalwesen unter erheblichen Rechtfertigungsdruck setzt. Personalreferenten sehen sich demnach zunehmend in die
Rolle eines (unkritischen) Dienstleisters gezwungen, in der ihre unabhängige Expertise kaum mehr gefragt ist. Ein solcher Veränderungs- und Legitimationsdruck
lastet nicht nur auf dem betreffenden Mitarbeiter, sondern zweifelsohne auch auf
Michael Richter selbst. Er macht es ihm schwer, in dem Arbeitskonflikt eine reflexive Distanz zu seiner Rolle als hochgestellter Personalmanager einzunehmen,
der die Arbeitgeberseite des Unternehmens repräsentiert und neue Richtlinien
umsetzen muss. Michael Richter ist in dieser Situation in der Paradoxie des Adressatendilemmas gefangen: Er muss sich bei der Betreuung des Personals einerseits an den Organisationshandlungsschemata des Unternehmens orientieren und
280
Anja Schröder-Wildhagen
eine Dienstleistungsorientierung durchsetzen; auf der anderen Seite – und diese
Anforderung blendet Michael Richter tendenziell aus – besteht die Anforderung
an ihn, die Legitimität der neuen Arbeitsanforderungen an den Personalbereich
zu durchdenken, Gestaltungsmöglichkeiten zu eruieren und die Betreuungs- und
Vertrauensverhältnisse zu den Mitarbeitern im Personalbereich zum Erhalt produktiver Arbeitsbeziehungen zu schützen (vgl. Schröder-Wildhagen 2011). Dies
gilt zumindest dann, wenn die Identifikation der betrieblichen Mitarbeiter mit
ihren Aufgaben und dem Betrieb erhalten werden soll.
Der zweite Teil des Erzählsegments (Z. 18 – 32) wird durch eine Nachfrage der
Interviewerin zum Verhalten des Mitarbeiters ausgelöst, woraufhin der Personalmanager von einer offen-widerständigen Verhaltensweise des Mitarbeiters berichtet. Hier macht nun der Erzählablauf deutlich, dass die Strategie Michael Richters,
den Arbeitnehmer zu engagierter Mitarbeit und zur Anpassung an die Unternehmensmaximen aufzufordern, an den dynamischen Bedingungen der Fallentfaltung vorbeigeht. So verweigert sich der zur Raison gerufene Mitarbeiter erneut
den Anforderungen. Diese soziale Eskalation ist Ausdruck einer Verlaufskurvenentwicklung auf Seiten des Mitarbeiters, der sich nun Änderungsaufforderungen
entzieht. Auf diese Fallkomplikation findet der Personalmanager mit seinen rationalistischen Appellen keinen Zugriff. Erzählformal fällt dabei auf, dass die Schilderung des Problemgeschehens an dieser Stelle wieder stark gerafft und das damalige Gespräch zwischen Michael Richter und dem betroffenen Arbeitnehmer
auf wenige Erzählgerüstsätze reduziert ist. Grund dafür ist, dass die Darstellung
des Konflikthergangs nur aus der Deutungsperspektive des Managers entwickelt
wird, während die Perspektive des Mitarbeiters und dessen bedrängte Situation
vom Personalmanager nicht präsentiert werden.
Als der Konflikt ein weiteres Mal auflodert, macht der Personalmanager dem
Arbeitnehmer schließlich das „Angebot“, eine „vernünftige Regelung“ finden zu
wollen. Dass Michael Richter damit in tendenziell euphemistischer Rede die von
ihm avisierte Beendigung des Arbeitsverhältnisses beschreibt, aber nicht ausspricht, erfährt man erst am Ende des Segments. Dort wird die Dramatik der Fallentwicklung noch einmal sichtbar: Der Mitarbeiter wird von Seiten des Personalmanagers unter Druck gesetzt. Man kann annehmen, dass zu diesem Zeitpunkt
bereits disziplinarische Verfahren gegen ihn eingeleitet wurden. Bezeichnender
Weise verschwindet in der Erzähldarstellung nun auch das handelnde Subjekt.
Dieses Erzählphänomen zeigt an, dass der Personalmanager seine Handlungsverantwortung zu verschleiern beginnt, weil er Aktivitäten zu einer kooperativen Lösung einstellt. Dementsprechend wird in der Konfliktbearbeitung auch ein
Modus des Drohens dominant; Machtasymmetrien werden von Michael Richter
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
281
zur Durchsetzung seiner Ziele bewusst genutzt. Bei Anlegung von professionellen Standards der Fallbearbeitung ist defizitär, dass Michael Richter eine Orientierung am Wohl des Mitarbeiters nun aufgibt. Das kann der Werkspersonalleiter
auch nicht in der abschließenden Ergebnissicherung des Segments kaschieren. So
bemüht sich Michael Richter zwar zu erklären, wie erfahren und leistungsfähig
der Mitarbeiter angesichts seiner umfassenden Personalkenntnis gewesen sei, und
dass er ihn deshalb gerne im Unternehmen gehalten hätte. Wenig plausibel in
Bezug auf diese Äußerung klingt dann aber die Einschätzung des Managers, mit
der Entlassung des Mitarbeiters „mindestens genauso zufrieden“ zu sein. Obwohl
der Personalmanager am Ende zugibt, gescheitert zu sein, hebt die vorherige Einschätzung den selbstkritischen Gehalt dieser letzten Aussage wieder weitgehend
auf. Das abstrakt formulierte Eingeständnis, „nur“ an der Person gescheitert zu
sein, erscheint formelhaft. – Soweit zum Fallbeispiel.
In dem Konfliktgeschehen zeigen sich auf drei Ebenen Verlaufskurvenphänomene des Erleidens: zunächst auf der Ebene des Klienten-Problems, das der Mitarbeiter als Quasi-Klient von Michael Richter symptomatisch durch seine Verweigerungshaltung präsentiert; sodann auf der Ebene des Arbeitsbogens der
Fallbearbeitung, auf der sich die Frage nach der situativen Adäquatheit der Interventionen des Personalmanagers stellt; und schließlich auf der Ebene der biografischen Entfaltung der fallverantwortlichen Führungskraft. Denn Michael Richter
scheitert in seiner Position als Werkspersonalleiter an der ihm zugedachten und
auch von ihm selbst formulierten professionellen Aufgabe, einen qualifizierten
Mitarbeiter im Unternehmen zu halten. Weil der Personalmanager sein partielles Versagen nicht selbstkritisch durchdenkt und eigene Handlungsanteile an der
Falleskalation ausblendet, ist er nicht in der Lage, aus diesem partiellen Scheitern
zu lernen. Infolgedessen können sich – auf lange Sicht gesehen – auch berufsbiografische Entwicklungsmöglichkeiten für ihn reduzieren.
Mit dem Fallbeispiel wird anschaulich, dass ein Wissen von Managern und
Managerinnen über Verlaufskurven des Erleidens für ihr professionelles Handeln zentral ist. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Wissens ist, dass die Verlaufskurvenrealität der Struktur des einfachen zweckrationalen Handelns entgegensteht. Professionelles Vorgehen, so zeigt sich, erfordert umsichtiges, eher zyklisches denn lineares, die Handlungswiderstände ergründendes Vorgehen.
282
2.2
Anja Schröder-Wildhagen
Die mit Verlaufskurvenstrukturen des Erleidens verbundenen
professionellen Aufgabenaspekte im Management
Auf einer allgemeineren Ebene können auf der Grundlage einer Vielzahl von Interviews mit Managern und Managerinnen (im Personal- und Produktentwicklungsmanagement) die folgenden professionellen Anforderungen im Zusammenhang mit Erleidenserfahrungen genannt werden:9
■
Im Bereich des Personalmanagements – das zeigt auch das zuvor präsentierte
Fallproblem – treten Verlaufskurvenentwicklungen des Erleidens auf der
Ebene individueller oder kollektiver Problementwicklungen auf. Sie können als
Widerstands- und Demoralisierungserscheinungen beim Personal angesichts
neuer, nicht mit ihm ausgehandelter Arbeitsanforderungen und Rationalitäten
sichtbar werden. Das Personalmanagement sieht sich mit symptomatischen
Verweigerungshaltungen bis hin zu Sabotage- und Racheakten konfrontiert.
Es ist gefordert, diese ernst zu nehmen, ihre Hintergründe zu erkunden und
Wege zu finden, stabilisierend, ermutigend und aufklärend die Betreuung des
Personals gerade auch in Krisenzeiten zu gewährleisten.10 Um die teils dramatisch ablaufenden sozialen Prozesse verstehen und umsichtig auf die Interaktionsabläufe einwirken zu können, braucht das Personalmanagement sozialanalytische Fähigkeiten. Denn kann es die komplexen Entstehungs- und
Dynamisierungsbedingungen in der Ereignishistorie erfassen, wird es möglich, an der entstandenen Interaktions- und Arbeitsstörung ansetzende, perspektiven- und situationssensible Handlungsstrategien zu entwickeln.
■ Angesichts fortlaufender Umbrüche in Großunternehmen ist die Arbeit am
Aufbau von Vertrauensbeziehungen („Vertrauensarbeit“) zwischen Personal
und Personalmanagement von zentraler Bedeutung. Um Vertrauen erlangen
zu können, sind Personalmanagement und Personalfachleute aufgefordert, die
Perspektive problembetroffenen Personals (eines einzelnen Mitarbeiters, eines
betroffenen Bereiches oder eines Tochterunternehmens) zu übernehmen. Dadurch können sie subjektive Bedeutungszuschreibungen der Betroffenen und
deren Gründe für Abwehrreaktionen und Resignation erfahren. Erst dann
können sie Handlungsstrategien zur Deeskalation, zum Aufbau von Kooperationsplattformen, zum Schutz von (individuellen und kollektiven) Identitäts9
Die im Folgenden präsentierten professionellen Aufgabendimensionen sind in Teilen bereits entwickelt worden in Schröder 2010, Teil E.
10 Vgl. hierzu ausführlicher Schröder 2004: 218 – 221.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
283
grundlagen wie auch zur De-Stigmatisierung (von einzelnen Arbeitnehmern
oder größeren Bereichen) entwickeln. Gewachsene Betreuungsbeziehungen,
die ‚Insider-Know-how‘ von Bereichshistorien, Bereichskompetenzen, Lernerfordernissen, Arbeitsweisen wie auch von Konfliktpotenzialen hervorbringen, sind Grundlage einer solchen Vertrauensarbeit. Sie werden durch Standardisierungs- und Zentralisierungsdruck in den Unternehmen gefährdet.
Eine weitere damit verbundene Verlaufskurvenproblematik ist, dass betreuenden Personalfachleuten und dem Personalmanagement angesichts eines solchen Standardisierungsdrucks Sinnquellen ihres Berufs und dadurch eigene
professionelle Identifikationsgrundlagen verloren gehen können.
■ Mit Blick auf die eigene Handlungs- und Interaktionspraxis ist eine Personalmanagerin oder ein Personalmanager stets gefordert, Selbstkritik- und
Selbstvergewisserungsarbeit zu leisten, um eigene Handlungsanteile an problematischen, eskalativen Prozessen auszumachen. Insbesondere müssen sich
selbstreflexive Leistungen auf Fragen einer gestörten und wiederherzustellenden Beziehungsreziprozität richten. Leitungsakteuren, die auf diese Weise reflektieren, fällt es leichter, sich über identitäts-, vertrauens- und kooperationsgefährdende Wirkungen vorangegangener Aktivitäten zu vergewissern und
diesen kommunikativ-symbolisch und handlungspraktisch entgegenzusteuern.
■ Der Flexibilisierungs- und Innovationsdruck macht das Finden und die Förderung von kreativem Personal erforderlich. Personalfachleute und Personalleitende brauchen biografische Sensibilität, in der sie fähigkeitsspezifische
und erfahrungsbezogene Voraussetzungen der ihnen anbefohlenen Mitarbeiter-Klienten oder auch Führungskräfte-Klienten erkennen. Professionalisierte
Personalfachleute entwickeln in Bewerbungs- und Personalentwicklungsgesprächen eine Aufmerksamkeit für die zumeist eher im Hintergrund von
Erzähldarstellungen aufscheinenden Lern- und Wandlungsgehalte beruflicher
und außerberuflicher Erfahrungen. Sie wissen, dass beispielsweise Führungskräfte, die längere Zeit im Ausland gearbeitet haben und mit anderen kulturellen Orientierungen vertraut sind, oftmals besondere Vermittlungskompetenzen entwickelt haben; und dass für Manager und Managerinnen mit der
Überwindung von schweren berufsbiografischen Erleidensprozessen (neue)
ethische Orientierungen in ihrem Beruf handlungsleitend werden können.
■ Das Management in Produktentwicklungsabteilungen steht vor der professionellen Aufgabe, Innovationen zu ermöglichen, und zwar unter der widrigen
Bedingung von organisatorischer Instabilität. Diese Konstellation setzt das
Management insbesondere bei langfristig angelegten Projekten extremen, der
284
Anja Schröder-Wildhagen
Logik der Kreativitätsentfaltung entgegenstehenden, Planungszwängen und
einem hohen Rechtfertigungsdruck aus. So werden die Erkundung von neuartigen Anwendungsbereichen sowie ein zeitintensives, experimentierendes
Vorgehen stark erschwert. Auch können spezifische Arbeitsbereiche durch betriebliche Umbrüche an den Rand des Produktportfolios gedrängt und von
Auflösung bedroht werden. Produktentwicklungsmanager und -managerinnen brauchen deshalb ein quasi-seismografisches Gespür für Veränderungsdynamiken in Unternehmen, die zu veränderten Relevanzen in Bezug auf
Projekte, Produkte und fachliche Schwerpunktsetzungen führen. Sie stehen
oftmals vor der kommunikativ und fachlich anspruchsvollen Aufgabe, integrierende Aspekte von „Kernproduktstätigkeit“ und peripheren Bereichsaktivitäten aus- und sichtbar zu machen, um diese Aktivitätsbereiche zu schützen.
■ Professionalisiert handelnde Produktentwicklungsmanager und -managerinnen sehen sich in der Betreuung der technischen Entwicklungsarbeit vor der
schwierigen Aufgabe, trotz einem auf ihnen lastenden Planungs-, Kontrollund Erfolgsdruck Freiheitsräume für die Entwicklungsingenieure und -ingenieurinnen zu schaffen und diese zur Suche nach dem noch Unbekannten zu
ermutigen. Dafür ist es erforderlich, Binnenzeit im Projektablauf zu entstrukturieren und diskursorientierte Arbeitsarrangements zur Fehlersuche zu schaffen. Ein professionelles Bewusstsein der Führungskräfte für Antinomien (z. B.
zwischen wirtschaftlicher Erfolgsorientierung und Kreativitätsorientierung)
und Paradoxien in ihrer Arbeit (wie z. B. zwischen den widerstreitenden
Orientierungen, einerseits Anregungen zu Neuentwicklungen durch Erkundung fremdartiger Anwendungsbereiche zu ermöglichen und andererseits
Desorientierung durch das Verlassen bestehender Pfade zu vermeiden) versetzt sie in die Lage, verlaufskurvenfest zu werden. Sie können sich dann
leichter bei (unvermeidbaren) Rückschlägen im Projektablauf von drückenden institutionellen Erwartungshaltungen reflexiv distanzieren und bemühen
sich, innovative Projektlinien zu schützen (vgl. zu Paradoxien Schröder 2010:
390 – 422; vgl. zu Antinomien auch Kalkowski / Mickler 2009; Schröder-Wildhagen 2011).
2.3
Verlaufskurvenphänomene in der biografischen Entfaltung
Es soll nun wieder am Beispiel des Personalmanagers Michael Richter gezeigt
werden, dass ein Verlaufskurvenprozess des Erleidens auf der Ebene der Biografie abträglich für die biografische Professionalisierung ist. Auch wenn Karrieren
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
285
von Managerinnen und Managern oftmals auf den ersten Blick als biografische
Erfolgsgeschichten erscheinen und auch so präsentiert werden, lassen sich in vielen Fällen Verlaufskurvenerfahrungen des Erleidens in diesen Lebensgeschichten
finden (vgl. Schröder 2010: 239 f.). Im vorliegenden Beispiel wird nun der Prozessstruktur-Verlaufstyp einer negativen Steigverlaufskurve mit Kompetenzverlust (Schröder 2010: 296 – 298) analytisch beschrieben. Um die Analyse in ihrem
Textvolumen zu begrenzen, werden nur die letzten Segmente des autobiografischnarrativen Interviews mit dem zum Interviewzeitpunkt 40-jährigen Personalleiter
analysiert. Zur Einbettung der jeweiligen Erzählabschnitte wird zunächst der biografische Hintergrund umrissen:
Die Eltern von Michael Richter sind beide in kaufmännischen Berufen ausgebildet, der Vater arbeitet zum Zeitpunkt des Interviews als selbstständiger Handelsvertreter, die Mutter ist nach ihrer kaufmännischen Ausbildung und nach Familiengründung auf Wunsch des Vaters nicht mehr berufstätig. Mit fünfeinhalb
Jahren eingeschult, absolviert Michael Richter mit bereits knapp 18 Jahren sein
Abitur. Er spricht im Interview von „Irrwegen“, die er bezüglich seiner Berufswahl
zunächst gegangen sei und erklärt (sich) diese mit seinem jungen Alter zum Zeitpunkt des Schulabschlusses. So zerschlägt sich für Michael Richter unmittelbar im
Anschluss an die Schule die Hoffnung, eine zwölfjährige Offizierslaufbahn, durch
die ein Studium finanziert würde, könnte der für ihn passende Karriereweg sein.
Denn schon kurz nach seinem Eintritt in die Bundeswehr erkennt Michael Richter, dass er sich mit der hierarchischen Organisation der Bundeswehr und einem
auf den russischen Feind bezogenen imaginierten Kampfauftrag (in der Zeit des
Kalten Krieges) nicht identifizieren kann. Michael Richter sucht nach einer alternativen beruflichen Perspektive und entscheidet sich schließlich – ohne durch
seine Familie oder andere Berater Anregungen zu erhalten – für eine kaufmännische Ausbildung.
Eine besonders angesehene Ausbildungsform ist eine auf Fachholschulniveau
angesiedelte Ausbildung zum Industriekaufmann, bei der die Auszubildenden
neben der betrieblichen Praxis Betriebswirtschaftslehre studieren. Michael Richter erhält eine solche Ausbildungsstelle und stellt bald fest, dass er den Anforderungen im Theorieunterricht ohne Probleme nachkommen kann. Das gibt
ihm das nötige Selbstvertrauen, um sich nach Abschluss seiner Ausbildung für
ein Studium der Wirtschaftspädagogik zu entscheiden. Allerdings kann Michael
Richter auch während dieses Studiums keine tragende berufliche Perspektive für
sich entwickeln. Er erkennt, dass ihm zur Umsetzung seines Berufswunsches, später einmal als Trainer in der Wirtschaft tätig zu sein, fachliches und erfahrungsbegründetes Wissen fehlt. In dieser Phase partieller berufsbiografischer Desorien-
286
Anja Schröder-Wildhagen
tiertheit bemüht sich der Wirtschaftspädagoge im Anschluss an sein Studium um
eine Promotionsstelle. Die Zusage an seinen Doktorvater zieht Michael Richter
allerdings zurück, als ihm nach einem Unternehmensplanspiel in einem ortsansässigen Unternehmen aus der Fahrzeugindustrie unerwartet eine Stelle als
Trainee im Personalbereich angeboten wird. Diese nimmt er an.
Nach zwei Jahren erhält Michael Richter seine erste eigenständige Betreuungsaufgabe und wird für die Betreuung des männlichen kaufmännischen Personals im
Unternehmen verantwortlich. Es beginnt eine Phase des beruflichen Substanzaufbaus, da Michael Richter nun Betreuungsverantwortung übernehmen kann und
grundlegende Arbeitsabläufe im Personalbereich kennenlernt. Andererseits aber
erlebt der junge Personalreferent insbesondere bei Fragen der Personalauswahl
Arbeitsschwierigkeiten. Es fällt ihm schwer, gegenüber Fachvorgesetzten deutlich
zu machen, welche Gründe für die Einstellung oder für die Ablehnung von Bewerbern sprechen. Michael Richter argumentiert mit weitgehend abstrakten Eigenschafts- und Persönlichkeitskategorien, die er bezeichnenderweise zum Interviewzeitpunkt auch nicht differenzierter darstellen kann: „Wir wollen / wir wollen
Leute haben, die Potenzial haben, sich weiterzuentwickeln, […] die engagieren sich,
die bringen was, sind kreativ / eh die bringen das Thema irgendwo, für das sie eingesetzt werden, voran, eben auch das Potenzial, da weiterzukommen“ (S. 10: 35 – 39).
Michael Richter gelingt es in dieser beruflichen Phase nicht, eine professionalisierte Betrachtungsweise zu entwickeln, in der er die Kompetenzen eines Bewerbers mit Blick auf dessen Erfahrungshintergründe individuell-fallbezogen erfassen und vermitteln kann. Dieses Kompetenz- und Präsentationsdefizit nährt eine
im Selbsterleben des Personalreferenten schon während der Schulzeit und dann
im Studium begonnene Selbstverunsicherung. Eine der Verunsicherung zum Teil
entgegenwirkende Bedingung in dieser frühen beruflichen Phase ist die persönliche Beziehung Michael Richters zu seinem Vorgesetzten. Der erfahrene Vorgesetzte ermöglicht seinem „Novizen“ in gemeinsamen Gesprächen, über Werte der
Personalarbeit und professionelle Aufgabenstellungen im Personalwesen nachzudenken. Der Vorgesetzte hinterfragt die abstrakten und idealistischen Vorstellungen Michael Richters und hält ihn zu kritischer Selbstreflexion an.
Im nun folgenden Erzählsegment zeigt sich, wie für Michael Richter im Anschluss an diese weitgehend produktive Phase neue Schwierigkeiten bei der Arbeit anwachsen. Michael Richter schildert, dass er nach einem dreiviertel Jahr
durch eine betriebliche Umorganisation seinen Betreuungsbereich verliert und
ein neues Betreuungsgebiet erhält. Das Erzählsegment besteht aus zwei kleineren
Teilsegmenten und lautet wie folgt:
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
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[Erzählgerüstsatz 1] Nach nem dreiviertel Jahr kam das,
[Argumentation] wo ich heute sage ,eigentlich Quatsch‘ eh man muss Personalreferenten eigentlich längere Zeit auf nem Aufgabengebiet belassen, weil ein Pfund, mit dem
man wuchern kann, ist / Vertrauen, das Mitarbeiter zu einem haben. / Das ergibt sich
nur über Zusammenarbeit. / Und die braucht Zeit. (I: hm) Und das andere ist Personenkenntnis. / Beides konnte in der Zeit, in der ich diese Aufgabe gemacht habe, nicht
wachsen.
[Fortführung des Erzählgerüstsatzes 1] Dennoch gab’s ne Umorganisation,
[Ergebnissicherung 1] die Sinn machte.
[Beschreibende Detaillierung 1] Nämlich sich kundenorientiert aufzustellen und zu sagen: Eh / es gibt, jetzt mal, orientiert an Bereichen, einen Personalreferent (der) immer
für einen bestimmten Bereich zuständig ist. /
[Erzählgerüstsatz 2] Ich kriegte daraufhin einen eh kleineren Geschäftsbereich mit damals phh sieben, achthundert Leuten zur Betreuung,
[Ergebnissicherung 2] und das war ne absolut runde Aufgabe. /
[Beschreibende Detaillierung 2] Als einzelner für diesen Geschäftsbereich in der Personalabteilung zuständig zu sein: / die Geschäftsleitung, Produktbereichsleitung, Abteilungsleitung. / In der Kommunikation zu sein, irgendwo die Geschicke dieses Geschäftsbereichs auch mit zu begleiten und nach Möglichkeit mit zu unterstützen.
(Interview Michael Richter, S. 13:2–16)
Formal leicht feststellbar, findet sich zu Beginn des ersten Teilsegments (Z. 2 – 7)
eine argumentative Passage, die einen Verlaufskurven-Markierer aufweist. So erklärt Michael Richter, indem er das folgende Ereignisgeschehen vorgreifend einschätzt, es sei „eigentlich Quatsch“ (Z. 2) gewesen, was „man“ getan habe. Mit
dieser Kategorisierung weist der Personalmanager auf eine problematische Entwicklung hin und – übernimmt man seine Perspektive – lässt die nun anschließende Karriereepisode im Lichte einer berufsbiografischen Fehlentscheidung erscheinen. So spricht Michael Richter von dem Problem, dass es auf Seiten seiner
Vorgesetzten im Kontext einer Betriebsrestrukturierung hingenommen worden
sei, ihn nach einer nur sehr kurzen Arbeitsperiode für einen anderen Betreuungsbereich abzustellen. An dieser Stelle ist formal auffällig, dass der Informant den
Erzählgerüstsatz durch seine retrospektiv vorgenommene Kritik des Stellenwechsels unterbricht. Das zeigt an, dass sich Michael Richter während des Erzählens
argumentativ mit der früheren Entscheidung auseinandersetzt und rückblickend
mit den berufsbiografischen Kosten hadert, die der damalige Stellenwechsel für
ihn bedeutet hat. So erklärt Michael Richter, er habe durch den Stellenwechsel
weder Personenkenntnis noch Vertrauensbeziehungen aufbauen können. Beides
288
Anja Schröder-Wildhagen
aber seien zentrale Ressourcen einer professionellen Personalarbeit. Indirekt thematisiert Michael Richter damit ein sich zu diesem Zeitpunkt in seiner Berufskarriere zeigendes Kompetenzdefizit, über das er allerdings nicht weiter nachdenkt.
Auch die strukturellen Zwänge, die vom Umbau des Unternehmens ausgehen,
sind nicht Gegenstand seiner retrospektiven Reflexion.
Diese Reflexionsgrenze festigt sich, als der Personalmanager nach einem dreiviertel Jahr einen weiteren Karriereschritt unternimmt. Michael Richter wird
Gruppenleiter eines neu organisierten Betreuungsbereichs und wiederholt damit
den gleichen Fehler eines Stellenwechsels nach nur sehr kurzer Zeit. Er entwickelt
also kein Bewusstsein – auch nicht retrospektiv zum Zeitpunkt des Interviews –
für die Gefahr, durch den schnellen Aufstieg kein ausreichendes fach- und personenbezogenes Erfahrungswissen aufbauen und vertiefen zu können. Im zweiten
Erzählsegment zeigt sich nun, welche Probleme für Michael Richter mit diesem
neuen Karriereschritt entstehen:
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[Erzählgerüstsatz ] Das währte auch etwa ein dreiviertel Jahr. Dann kriegte ich das Angebot, ne Gruppenleitung innerhalb dieser Personalabteilung zu übernehmen. /
[Detaillierung, narrativ] Das heißt, wir haben, weil das in ner Wachstumsphase zu dem
Zeitpunkt war / wir gesagt haben, wir müssen Personalarbeit intensivieren. / Wir müssen- haben zusätzliche Leute da rein gebracht. / Eh Stellen geschaffen. / Und gesagt, die
Struktur ist jetzt so, dass wir- sie gleichzeitig auch das Thema Angestellten- und Lohnempfängerbetreuung zusammengeführt / auch in Person zusammengeführt. / Haben
gesagt, da müssen wir … eh Struktur einziehen. / Das kann einer alleine nicht mehr
führen. / Deswegen gab’s Gruppen. / Eine Gruppenleitung kriegte ich dann. (4 Sek.).
[Argumentation] Eigentlich war das das, was ich mir so auch immer vorgestellt hatte,
Führungsverantwortung zu übernehmen, aber .. zu dem Zeitpunkt, das ist ähnlich wie
in der Schule / aus nem gut strukturierten Bereich heraus, hast jetzt ne neue Funktion +was war+ ((geheimnisvoll flüsternd)) Führung (?) wie, woran machte sich das
bemerkbar. /
[weitere narrative Detaillierung] Ich war der jüngste in meiner Gruppe / altersmäßig
und von der Berufserfahrung. / Hatte da so’n paar alte Hasen, die mich also mühelos
hätten jederzeit also aufs Kreuz legen können. .. Musste dann gucken, dass ich irgendwo
so ne Basis der Zusammenarbeit mit denen finde, die sich durchaus auch hätten vorstellen können so was zu machen so ne Aufgabe. .. Die Basis der Zusammenarbeit zu finden
wo-‚Na gut, komm. / w- wir müssen zusammenarbeiten. / Ich bin’s jetzt halt. / Jetzt lass
uns so organisieren, dass wir- dass ihr Eure Freiheit behaltet, ich trotzdem einigermaßen
informiert bin eh und wir Dinge, die, sag ich mal, übergeordnet in der Gruppe zu entscheiden sind, auch übergeordnet entscheiden / bei (mir) am Tisch.‘ …
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[Ergebnissicherung] Ich bin mir im Nachhinein nicht sicher, ob ich das hingekriegt hab. ..
Ehm / das war .. war nicht ganz einfach, weil ich (zusätzlich) (I: hm) ich hatte zusätzlich mein Betreuungsgebiet. / Das haben wir zwar verkleinert / aber ich hatte eigentlich gar nicht groß die Zeit / ehm / mich mit der Führung so auseinander zu setzen wie
das erforderlich gewesen wär.
(Interview Michael Richter, S. 13:17–41)
Inhaltlich fällt auf, dass Michael Richter den Karriereaufstieg in die Position eines
Gruppenleiters in einer Erwählungsrhetorik formuliert: „Dann kriegte ich das Angebot …“ (Z. 1 – 2). Unklar bleibt, was die genaueren Umstände des Karriereangebots waren. Mit Blick auf die sich abzeichnende Verhaltensstruktur des Informanten ist es empirisch begründet zu vermuten, dass der spätere Personalmanager
Michael Richter sich selbst stark um diese Leitungsposition bemühte. Für diese
Vermutung spricht, dass der Erzähler in einer anschließenden Argumentation erklärt, sich sehr einen Karriereschritt mit Personalverantwortung gewünscht zu
haben. Zudem zeigen spätere Karriereschritte des Personalmanagers, dass er sich
immer wieder bemühte, Vorgesetzte zu Förderern seiner Karriere zu machen
(dazu im Folgenden mehr).
In der narrativen wie auch argumentativen Detaillierung des Erzählsegments
finden sich dann Hinweise auf das Wirksam-Werden einer Steigverlaufskurve. Sie
zeigt sich darin, dass der aufgestiegene junge Personalmanager erhebliche Akzeptanzprobleme in seiner Führungsposition erfährt. Bezeichnenderweise deutet
Michael Richter diese Probleme aber nur an (in der argumentativen Passage des
Segmentabschnitts, Z. 10 – 14), wenn er auf einer allgemeineren Ebene über Merkmale von guter Führung nachdenkt. Dass die Lage für Michael Richter in seiner
ersten Leitungsposition durchaus brisant war, zeigt sich allerdings auf semantischer Ebene. So spricht der Personalmanager davon, dass seine früheren Kollegen
(„alte Hasen“), die ihm nun hierarchisch unterstellt sind, ihn hätten „aufs Kreuz
legen können“ (Z. 17). Michael Richter präsentiert an dieser Stelle, wenn auch auf
halb verdeckte Weise, erhebliche Durchsetzungs- und Führungsschwierigkeiten.
Grund dafür ist, dass der Aufstiegsschritt von Michael Richter mit einer Verletzung von Reziprozitätsstrukturen einherging, weil Michael Richter die informelle,
auf Erfahrungswissen und Betriebszugehörigkeit begründete Hierarchie in der
Abteilung ignorierte und damit Irritationen sowie Abwehr bei seinen früheren
Kollegen erzeugte. Zur Festigung seiner Führungsprobleme trägt bei, dass Michael Richter diese strukturelle Problematik nicht erkennt. Stattdessen rationalisiert der Personalmanager die Akzeptanzprobleme als Ausdruck von generellen
Schwierigkeiten in Führungspositionen. Er gesteht sich nicht selbstehrlich die ne-
290
Anja Schröder-Wildhagen
gativen Wirkungen seines Karriereschritts ein. Der junge Personalmanager kann
in seiner ersten Leitungsposition deshalb keine ausreichende Autorität als Führungskraft entwickeln und wird von seinen Mitarbeitern aus Informationsflüssen
ausgeschlossen. Um in dieser karrieregefährdenden und unproduktiven Managementsituation nicht zu kapitulieren, versucht Michael Richter, eine Zusammenarbeit mit seinen früheren Kollegen herzustellen, indem er ihnen vorschlägt, auf
fremdbestimmende Führung und Kontrolle zu verzichten, wenn er im Gegenzug
Informationen erhielte. Mit diesem ängstlichen Kompromiss baut sich ein Verlaufskurvenpotenzial bei Michael Richter auf. Denn der Gruppenleiter verliert
nun sichtbar Führungsautorität und Entscheidungsmacht. Zudem wird sein berufliches Selbstverständnis als Führungskraft unterminiert. Der Verlaufskurvencharakter dieser biografischen Entwicklung wird auch in der Ergebnissicherung
sichtbar. Dort äußert der Personalmanager Zweifel am Führungserfolg in seiner
damaligen Position (Z. 24).
Auch das nächste Textsegment zeigt die Instabilität der beruflichen Position
Michael Richters. In einer rezessiven Phase der Unternehmensentwicklung werden weitere Strukturveränderungen beschlossen, die mit Bereichsverschmelzungen und Personalabbau einhergehen. In diesem Zusammenhang kommt es zu
einer dramatischen Entwicklung in der Karriere von Michael Richter.
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[Erzählgerüstsatz] Nach nem / knappen Jahr .. nach nem knappen Jahr / das war dann
91 Ende 91 .. ehm / kam die Phase, wo der Rotstift angesetzt wurde. (I: hm)
[Beschreibende Detaillierung] Und das heißt immer, man spart. / Man guckt sich vor allem auch Strukturen an. / Und wir hatten uns sicherlich für die Größe diese Abteilung
mit vier Gruppenleitern nen bisschen dick eingedeckt. ..
[Narrative Detaillierung] Ja und dann kam die Aufgabe / jetzt macht euch mal Gedanken, wie ihr die Personalabteilung in Zukunft strukturiert / mit so und so viel Prozent
weniger. .. und dann hab ich mich nach einem Jahr selber wegrationalisiert. ((leichtes
Lachen)) .. Ehm / weil denn aufgrund von, ich sag mal, auch Zusammenschmelzen in
den Bereichen / die ich mit meiner Gruppe betreut habe / einfach, die Frage war, macht
das überhaupt noch Sinn diese Gruppe aufrechtzuerhalten. (I: hm) ..
[Ergebnissicherung] War auch mal ne interessante Erfahrung, sich selbst wegzurationalisieren.
(Interview Michael Richter, S. 13:41–14:4)
Nun erklärt Michael Richter anekdotenhaft, sich selbst „wegrationalisiert“ zu
haben (Z. 8), denn die Gruppenleitungsposition in dem von ihm betreuten Personalbereich sei organisatorisch nicht mehr zu rechtfertigen gewesen. Dieser kriti-
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
291
sche Karrieremoment wird von Michael Richter aber nicht als hochproblematisch
evaluiert. Im Gegenteil: Der Informant verschleiert den Krisencharakter seiner
beruflichen Situation, indem er den Vorschlag zur Kürzung seiner eigenen Stelle
als eine im Sinne des Unternehmens getroffene Managementinitiative präsentiert.
Damit umgeht er erneut – auch noch zum Zeitpunkt des Interviews – biografische
Arbeit, die ihm abverlangen würde, eine zeitweilige berufliche Instabilität mit seinem zuvor unternommenen legitimationsproblematischen Karriereschritt im Zusammenhang zu sehen.11 Taktisch geschickt kommt Michael Richter mit diesem
Schritt aber wohl einer ihm drohenden Absetzung als Gruppenleiter zuvor. Zuvor
sondiert er die Möglichkeit, nach seinem Stellenverzicht einen unter Beschuss geratenen Personalfachmann im Bereich der Führungskräftebetreuung ersetzen zu
können. Auf Nachfrage der Interviewerin schildert Michael Richter diese Situation im Anschluss an die Haupterzählung:
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Ehm ich wusste zu dem Zeitpunkt, dass der / Führungskräftebetreuer / nicht so das
Standing hatte, / dass nen Interesse sag ich mal unsererseits da war / betrieblicherseits,
dass er was anderes macht. / Und sein Interesse auch da war, was anderes zu machen.
..Und insofern / hab ich gesagt: Na gut im Zweifel kannst du wahrscheinlich das machen. (I: hm) Und / ich hab dann gesagt: ‚Aus meiner Sicht ist das meine Aufgabe, die
da wegfällt und wir müssen meine Gruppe rationalisieren / aufteilen und dann müssen
wir natürlich darüber reden, was ich tue. / Ich hab versucht das offensiv anzupacken. /
Ja und dann eh ging das, sag ich mal, relativ schnell.
(Interview Michael Richter: S. 21:19–28)
Mit einem Gespür, problematisch werdenden Berufssituationen rechtzeitig zu
entkommen – dies wird auch bei weiteren Karriereschritten sichtbar –, gelingt es
Michael Richter, trotz der Krise seine Karriere weiterzuentwickeln. Begleitet wird
sein Karriereaufstieg allerdings von den Auswirkungen der Verhinderung seines
beruflichen Substanzaufbaus infolge der schnellen Stellenwechsel. Damit wächst
auch seine Abhängigkeit von Vorgesetzten, deren Unterstützung er sich immer
wieder ängstlich vergewissert.
Die Berufskarriere entwickelt sich wie folgt bis zur Interviewgegenwart: Im
Anschluss an die aufgegebene Gruppenleitungsposition erhält Michael Richter
11 Vgl. zur Kategorie „biografische Arbeit“ Schütze 1999c: 327 f.; Detka 2010; Schröder 2010: 358 – 368
und 416 – 419. Biografische Arbeit als selbsthistorische Vergegenwärtigungsleistung trägt zu einem Bewusstsein für abträgliche wie auch unterstützende Bedingungen der eigenen biografischen Entfaltung bei.
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Anja Schröder-Wildhagen
die von ihm anvisierte Arbeitsstelle als Betreuer für Führungskräfte. Bei einem
neuerlichen Betriebsumbau nutzt der Personalfachmann dann die Chance, einen
weiteren Aufstiegsschritt zum Bereichskoordinator zu unternehmen. Auch dazu
verhilft ihm ein Vorgesetzter. Inhaltlich ist an der Ereignisdarstellung auffällig,
dass der Informant in beiden Textpassagen, in denen diese Arbeitsstellen evaluiert
werden, wieder auf Arbeitsschwierigkeiten hinweist. So deutet Michael Richter
auf versteckte Weise auf Probleme in seiner beruflichen Position als Führungskräftebetreuer hin, wenn er erklärt: „Also war … war eh war schon zunächst mal
auch ne Herausforderung.“ (Interview Michel Richter, S. 14: 29 f.). In der zweiten
ergebnissichernden Passage, die sich auf darauf folgende Tätigkeit als Koordinator
eines neu strukturierten Personalbereichs bezieht, spricht Michael Richter andeutungsweise von neuerlichen Akzeptanzschwierigkeiten: „Und das war die Chance,
ich sag mal, so nen großen Laden ehm quasi zu führen, ohne dafür nen Mandat zu
haben, was die Sache nicht einfacher macht.“ (ebd., S. 15: 19 f.).
Immer mehr verliert sich eine handlungsschematische Prozessstruktur und
Abhängigkeitsverhältnisse werden zum charakteristischen Merkmal in der Karriere Michael Richters. Dass der Personalmanager sein berufliches Schicksal in
die Hände machtvollerer Vorgesetzter legt, die ihn protegieren sollen, hat auch
biografische Kosten. Das zeigt sich zum Beispiel, als Michael Richter nach kurzer Zeit unerwartet von seinem Vorgesetzten eine Stelle als Personalleiter eines
kleineren Tochterunternehmens angeboten wird. Der Personalmanager möchte
das Angebot annehmen, aber seine Ehefrau votiert, nur drei Monate nach der Geburt des gemeinsamen zweiten Kindes, dagegen. Zwar kann Michael Richter seine
Frau schließlich zum Umzug bewegen, dennoch wird nun – über die Perspektive der Ehefrau – eine Bedingung von Heteronomie der privaten Lebenssituation
deutlich. Denn die plötzliche Veränderung der privaten Wohnsituation gefährdet
das soziale Beziehungsnetzwerk des Ehepaares. An einer späteren Stelle im Interview wird die private Situation durch einen weiteren Wohnortwechsel noch einmal auf eine ganz ähnliche Weise belastet.
Die neue berufliche Situation als Personalleiter entwickelt sich für Michael
Richter dabei zunächst günstig. Der Personalmanager kann in dieser Position
Substanz aufbauen, als er mit seinem Team in der Personalentwicklungsabteilung
innovative Feedback-Systeme entwickelt und als verantwortlicher Vorgesetzter
implementiert. Als das Geschäftsfeld aber im Zuge starker Marktveränderungen
aufgegeben wird, nimmt Michael Richter eine neue Arbeitsstelle als Werkspersonalleiter an, so dass auch diese erstmals produktive berufsbiografische Entwicklungslinie wieder abbricht. Im Personalmanagement des Werks übernimmt er
Aufgaben, die er als „pragmatisch operativ“ beschreibt, aber innerlich als fremd
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
293
empfindet. Denn für die Leitungstätigkeit im Werk muss sich der Personalmanager stark mit arbeitspolitischen Themen beschäftigen, und damit kann sich Michael Richter nicht biografisch identifizieren. Ein weiterer semantischer Hinweis
auf Erleiden findet sich auch in der abschließenden Evaluation des entsprechenden Erzählsegments, in dem Michael Richter Zweifel auch an dieser Karriereentscheidung ausdrückt:
1
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3
„Ehm das hat von der Einarbeitung hier eigentlich am längsten gedauert, weil die Fragen am detailliertesten waren / die hier zu klären waren. / Hier habe ich mich zu Anfang
manchmal gefragt, ob das denn so die richtige Entscheidung war, hierherzukommen […]“
(Interview Michael Richter, S. 19: 34–36)
Schließlich bestätigt auch die – im nachfolgenden Interviewzitat präsentierte –
autobiografische Selbstthematisierung Michael Richters die empirisch entwickelte
These, dass der Personalmanager keine ausreichende biografische Arbeit leistet,
um die verlaufskurvenhafte Entfaltungsqualität seiner Berufsbiografie erfassen
und bearbeiten zu können. So bezieht sich der Personalmanager, ohne von Seiten
der Forscherin dazu aufgefordert zu sein, auf die Forschungsfrage nach Professionalisierung im Personalmanagement. Bezeichnenderweise spricht er an dieser
Stelle keine Schwierigkeiten in seiner Karriere an, obgleich er zuvor, wenngleich
verdeckt-symptomatisch, von Führungsproblemen, dem Fehlen von thematischer
Spezialisierung und tief verankerten Selbstzweifeln berichtet hat, die als wiederkehrende Erleidensphänomene seine Lebensgeschichte mitprägen. Mit der selbsttheoretischen Vorstellung Michael Richters, Karriere und Professionalisierung
über Lernprozesse realisiert zu haben, verschleiert er vor sich selbst die leidvolle
und auch professionsabträgliche Verlaufskurvenqualität, die seine Karriere mit
kennzeichnet.
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Wenn sie über Professionalisierung reden, dann eh kann man sicherlich zusammenfassend sagen .. was ich jetzt zwischendurch immer wieder reingestreut hab, das hat
irgendwas mit Lernen von anderen zu tun. / Das hat mit Erfahrungsbreite in unterschiedlichen Umfelden- feldern, sagen wir mal / also eh unterschiedlichem Umfeld,
bleiben wir mal beim Singular (I: ja) Ehm / das hat mit Selbstreflexion zu tun / Klammer auf, für die man (immer) Zeit finden muss, Klammer zu. / Was nicht ganz einfach
ist. […] Auch das ist etwas, was, ich sag mal, was mit Beharrlichkeit / ehm wie insgesamt in der Personalarbeit, mein ich, zu tun hab. / Irgendwo nen Ziel vor Augen zu haben / in kleinen Schritten, dann mal links rum, mal rechts rum, ein paar Schleifen zu
ziehen. / Und irgendwann trotzdem dann zum Ziel zu kommen ((5 Sek.) Ja das jetzt
294
11
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Anja Schröder-Wildhagen
mal so in der- jetzt hab ich doch ne ganze Weile geredet. / Ehm … der Versuch das so
darzustellen, dass Sie hoffentlich davon profitieren können.
(Interview Michael Richter, S. 19:45–20:21)
Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Personalmanager in Führungssituationen mehrfach Akzeptanzschwierigkeiten erlebt und keine langfristig tragfähigen
Gestaltungsvorstellungen entwickelt und verfolgt. Auch finden sich keine belastbaren Hinweise, dass Michael Richter Wissensbestände (z. B. das Wissen, dass
für Personalführung die Herstellung von Konsens wichtig ist; oder das Wissen,
dass das betriebliche Personal Chancen zur kreativen Entwicklung braucht) situativ sensibel erfolgreich anwenden kann. Charakteristischer Weise ist auch die
abschließende theoretische Einschätzung Michael Richters zur Personalarbeit, die
wie bereits seine Äußerungen zuvor im Vorkoda-Kommentar12 erschien, von Vagheitsmarkierern wie „irgendwo“ oder „irgendwann“ durchzogen. Sie bleibt unkonkret, von Zweifeln gekennzeichnet und beinhaltet keine Aussagen über konkrete Gestaltungsprozesse und -absichten.
3
Entfaltungsvarianten von Verlaufskurven im Management
Allgemeiner gesprochen, zeigen sich Professionalisierungsprozesse von Managern und Managerinnen als verbunden mit kreativen biografischen Prozessen, in
denen die Führungskräfte Fähigkeiten zur Beziehungsgestaltung, sozial-und fallanalytische Kompetenzen sowie generell eine hohe Interaktionssensibilität entwickeln (vgl. Schröder 2010: 272 – 294). Gelingende biografische Professionalisierung
kann zum Beispiel mit einem Handlungsschema der Identitätsarbeit verbunden
sein. In ihm bilden Manager und Managerinnen eine Handlungsaufmerksamkeit für psychische Belastungen der ihnen anbefohlenen Mitarbeiter-Klientel aus.
Andere professionalisierungsrelevante Prozessstrukturen sind das Handlungsschema der Gestaltung von sozialen Beziehungen im Betrieb und biografische
Wandlungsprozesse. Im Verlauf dieser biografischen Prozesse werden Manager
und Managerinnen wahrnehmungssensibel für die vielschichtigen sozialen Aufgabendimensionen und die zum Teil extrem widersprüchlichen Anforderungen
12 Das Ende einer autobiografischen Stegreiferzählung wird vom Erzähler formal und inhaltlich mit
einer Koda angezeigt. Zum Beispiel sagt ein Erzähler: „Hier mache ich eine Zäsur. Fragen Sie !“
Generell gesagt, nimmt der Erzähler bzw. die Erzählerin im Erzählabschnitt vor der Koda, im so
genannten „Vorkoda-Kommentar“, selbsttheoretisch Bezug auf die von ihm / ihr zuvor präsentierten Lebensereignisse.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
295
in ihrer Arbeit, entwickeln sozialanalytisches Verständnis, Umsicht und kreative
Gestaltungsideen.
Der hier präsentierte Fall des Michael Richter zeigt eine andere Seite: dass nämlich solchen biografischen Lern-, Wandlungs- und offenen Handlungsschemaprozessstrukturen im Management professionalisierungsabträgliche Prozessstrukturen mit Erleidenscharakter entgegenstehen. Letztere sind wegen des Aufstiegserfolgs von Managern und Managerinnen nur schwer als Erleidensprozesse zu
erkennen. Zur Gegenüberstellung sollen abschließend zwei professionalisierungsabträgliche Entfaltungsvarianten im Management dargestellt werden13:
Im Fall Michael Richter dominiert die Prozessstruktur einer negativen Steigverlaufskurve mit Kompetenzverlust. Generell gesagt nimmt der Prozess des Karriereaufstiegs einen Fallencharakter an, wenn in der Managementkarriere Reifungsund Lernvoraussetzungen umgangen werden. Professionalisierungsabträgliche
strukturelle Merkmale der negativen Steigverlaufskurve mit Kompetenzverlust
sind:
■
■
■
■
■
■
eine fehlende Handlungsaufmerksamkeit für die Gestaltung der sozialen Beziehungen im Betreuungsbereich;
die Erosion von tragenden und lernförderlichen Beziehungsgeflechten im Betrieb;
Fluchthandlungsschemata zu (Leitungs-)Positionen und damit verbunden das
Ausblenden von sozialer Verantwortung für anbefohlene Mitarbeiter sowie ein
geringes Bewusstsein für Paradoxien in der Managerarbeit;
die Dynamisierung und das Erratisch-Werden einer thematischen berufsbiografischen Linie durch den schnellen Aufstieg im Kontext von Abhängigkeitsstrukturen von Vorgesetzten;
mangelnde Innovationsfähigkeit infolge fehlender fachlich-bereichsbezogener
Wissenstiefe und – damit verbunden – fehlender analytischer Vergleichskompetenzen zur Analyse von Arbeitsprozessen, sowie
eine schleichende Desensibilisierung für die Bedeutung biografischer Erfahrungshintergründe in der Karriere infolge des (weitgehenden) Fehlens der eigenen biografischen Identifikations- und Entwicklungsbasis im Beruf.
Eine zweite professionalisierungsabträgliche Prozessstruktur ist das Aufstiegshandlungsschema mit Verführungscharakter. In dessen Verlauf stellen die Füh13 Vgl. ausführlich zu den allen Prozessstrukturvarianten gelingender und misslingender Professionalisierung im Management Schröder 2010, Teil D.
296
Anja Schröder-Wildhagen
rungskräfte – zunächst ähnlich wie bei der Entfaltungsvariante der zuvor genannten einfachen Steigverlaufskurvenentwicklung – in ihrer Berufskarriere die Frage
hintan, was für sie tragfähige biografische Handlungsschemata und was Sinnquellen ihrer Berufstätigkeit sind, die eine Entfaltung ihres Kreativitätspotenzials
unterstützen könnten. Das Aufstiegshandlungsschema hat folgende strukturelle
Merkmale:
■
Durch die Fokussierung von Aufstiegsmöglichkeiten wird die Bedeutung von
vertrauensvollen Beziehungen zu den Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen
sowie der Zeit- und Energiebedarf zum Aufbau und zur Pflege der Beziehungen systematisch unterschätzt.
■ In der Betreuung der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wird keine ausreichende Sensibilität für die der Aufstiegsrationalität entgegenstehenden biografischen Lern- und Wandlungspotenziale entwickelt.
■ Durch die Verführbarkeit und das Geködert-Werden mit Aufstiegsinsignien
(z. B. eine höhere Stellung, neue Weisungs- und Entscheidungsbefugnisse,
eine höhere Vergütung, symbolische Aufstiegsinsignien wie ein größeres
Büro, einen Dienstwagen, ein eigenes Sekretariat), legitimationsproblematische oder besonders problematische Managementaufgaben zu übernehmen,
wird ein Abbruch von kreativen biografische Entfaltungslinien in der Berufskarriere wahrscheinlich.
■ Schließlich verliert sich bei den auf den Karriereaufstieg überfokussierten Managern und Managerinnen zunehmend ein Bewusstsein für ihre eigene Verführbarkeit zum Aufstieg und für die mit diesem verbundenen biografischen
Kosten.
Das Aufstiegshandlungsschema kann zu einer komplexeren Variante der Steigverlaufskurve führen, wenn eine Entmoralisierungstransformation einsetzt. Der zentrale Prozessstrukturmechanismus ist dann eine zunehmende Degeneration der
ethischen Orientierung der betroffenen Führungskräfte, die willfährig die Organisationshandlungsschemata der Konzernführung übernehmen und umsetzen. In
diesem Verlauf werden die Führungskräfte zu Getriebenen, die ihr betriebliches
Mandat zur Gestaltung der Arbeitsbeziehungen und -organisation Stück für Stück
verspielen.
Professionalisierungsprozesse und Verlaufskurven des Erleidens im Management
4
297
Schlussdiskussion
Die Prozessstrukturen mit Verlaufskurvencharakter in der Karriere wirken sich
systematisch abträglich auf die biografische Professionalisierung von Managern
und Managerinnen aus. Es wurde gezeigt, dass diese Prozessmechanismen eine
reduzierte soziale Handlungsaufmerksamkeit und situationsinadäquate Bearbeitungsstrategien mit sich bringen. Chaotisch-eskalative Entwicklungen auf der
Ebene der sozialen Beziehungen im Betrieb sowie anwachsende Probleme auf
der Ebene der Biografiekonstruktion können von den verlaufskurvenbetroffenen
Führungskräften immer schlechter unter Kontrolle gebracht, geschweige denn auf
eine produktive, perspektiveneröffnende Weise bearbeitet werden. Für die biografische Professionalisierung von Managern und Managerinnen ist es deshalb von
besonderer Bedeutung, Verlaufskurvenerfahrungen des Erleidens als einen Teil
der sozialen Wirklichkeit zu kennen und anzuerkennen. Erst dann können sie
diese im Unternehmens- und Berufsalltag als soziale Prozesse mit einer eigenen
Entfaltungslogik wahrnehmen und adäquat intervenieren.
Die Biografieanalyse macht mit ihrem Methoden- und Theorieinstrumentarium die strukturellen Merkmale von Verlaufskurvenprozessen des Erleidens auf
der Ebene der Entfaltung von Biografien und Arbeitsbögen sichtbar. Sie ermöglicht es, fördernde wie auch abträgliche Bedingungen der biografischen Professionalisierung und der professionellen Arbeit im Management zu erarbeiten.
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Teil III
Theoretische Konzepte
und Forschungsstrategien
„Arc of Work“ – als ‚sensitizing concept‘
für den Zusammenhang von beruflicher Arbeit
und Organisationskulturen1
Kirstin Bromberg
1
Einführende Bemerkungen
Anliegen dieses Beitrages ist es, eines der analytischen Konzepte des Symbolischen Interaktionismus (S. I.), nämlich das sogenannte ‚arc of work‘-Konzept vorzustellen. Hierbei greife ich in erster Linie auf diejenigen Publikationen zurück,
die stärker auf den S. I. als empirische Forschungstradition denn als theoretische
Position abstellen. Damit ist einerseits gesagt, dass es sich beim S. I. um eine sowohl theoretische als auch methodische Richtung zunächst der amerikanischen
und später der europäischen Soziologie handelt, wobei andererseits die Perspektive auf dieselbe verschieden gewichtet werden kann. Und noch eine weitere Differenzierung möchte ich gleich eingangs vornehmen: Die Formulierung „der
Symbolische Interaktionismus“ oder auch „die Chicago School“ (C. S.) impliziert,
dass es sich dabei um eine homogene Gruppe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen handelt. Dem ist jedoch weder im einen noch anderen Fall so.2 Der
Begriff „Symbolischer Interaktionismus“ geht auf auf Herbert Blumer und das
Jahr 1938 zurück,3 der dieser soziologischen Richtung allerdings auch eine spezifi1
2
3
Auszüge dieses Beitrages wurden am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie des Instituts für Soziologie an der Universität Wien im April 2010 in einem Vortrag zur Diskussion gestellt. Für die
Anregungen, die in den erweiterten Artikel in der vorliegenden Form eingeflossen sind, danke
ich im Besonderen Sighard Neckel.
„[…] practitioners of symbolic interaction research and thinking often have little in common
beyond their common possession of certain ,sensitizing concepts‘, their inductive approach to
empirical research, and their adherence to the faith that the proper object of that research is ,the
natural of every-day experience‘ […]“ (Becker / McCall 1990: 2).
Folgende theoretische Annahmen liegen nach Blumer dem S. I. zugrunde: Jedes menschliche Ereignis kann als durch die beteiligten Personen hervorgebrachtes Resultat verstanden werden, indem sie ihre Handlungen fortlaufend daran ausrichten, wie sie selbst im Lichte dessen handeln,
was andere tun. Daraus ergibt sich eine individuelle Handlungskette, die zu den Handlungen des
bzw. der jeweils anderen passt. Das allerdings nur dann, wenn man davon ausgeht, dass Menschen typischerweise nicht mechanisch handeln, sondern die Reaktionen Anderer in ihre eige-
304
Kirstin Bromberg
sche Fassung gab, die, sowohl durch jüngere Forschungsarbeiten als auch Forscher
und Forscherinnen beeinflusst, eine Modifizierung erfahren sollte. Wenn ich also
im Folgenden vom S. I. spreche, stelle ich auf diejenigen Symbolischen Interaktionisten ab, deren Tradition es ist, Theorien an den jeweiligen empirisch untersuchten Gegenstand zu binden, und eben gerade nicht Konzepte entlang festgelegter
Theorien zu entwickeln. Das trifft, und damit komme ich auf jene bereits angesprochenen Modifikationen des S. I. zurück, jedenfalls explizit auf die sogenannte
zweite und stärker noch auf die dritte Generation der Chicagoer Soziologie zu,
also insbesondere auf Everett C. Hughes4, Anselm Strauss und Howard S. Becker
(vgl. Chapoulie 2004). Studierende des Departments für Soziologie der Chicagoer
Universität wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren nicht auf einzelne soziologische Großtheorien hin orientiert, sondern vielmehr in einen spezifischen Forschungsstil einsozialisiert. Insofern wird es nachfolgend darum gehen, das analytische Konzept des ‚arc of work‘ im Kontext dieser jüngeren Entwicklungen des
Symbolischen Interaktionismus in der Traditionslinie von Park über Hughes zu
Strauss und Becker in seiner komplexen Struktur vor- und darzustellen. Ferner
werden die mit diesem Konzept verbundenen Optionen zur Erkenntnisgenerierung herausgearbeitet und an aktuellen forschungspraktischen Beispielen nachvollzogen.
4
nen Handlungen aufnehmen und auf diese Weise antizipieren, was vermutlich passieren wird.
Das „Symbolische“ am S. I. ist auf die Betonung der Art und Weise, wie Menschen die Bedeutung
der Handlungen Anderer konstruieren, zurückzuführen. Im Zentrum steht das Interesse an der
„Bedeutung“, und die große Stärke des symbolisch interaktionistischen Zugangs zur Bedeutung
liegt darin, dass er empirisch ist: Der S. I. betrachtet die konkrete, empirische Welt gelebter Erfahrungen als seinen Untersuchungsgegenstand und behandelt die Theorie als etwas, das mit der
empirischen Welt zusammengebracht werden muss (Blumer 1969: 1 – 60).
Denn eine allgemeingültige theoretische Position, die soziale Phänomene erklären würde, nehmen Interaktionisten in der Tat nicht für sich in Anspruch. Wenn diese nämlich eine Position
innehaben, dann ist es gerade nicht das Vertreten einer allgemeingültigen, abstrakten Theorie,
wie es Everett C. Hughes, Schüler von Robert E. Park, Gründer der sogenannten ‚Chicago School
of Sociology‘, aus Sicht seiner Studenten wohl am eindrücklichsten vermitteln konnte. Auf die
Frage seiner Studierenden, was er denn über „Theorie“ denke, antwortete er denn auch eher ruppig: „Theory of what ?“ „He thought that there were theories about specific things, like race and
ethnicity or of the organization of work, but that there wasn’t any such animal as Theory in general“ (Becker 1998: 1).
„Arc of Work“
2
305
Der Symbolische Interaktionismus
in der deutschsprachigen Rezeption
Über den S. I. ist kontinuierlich und differenziert geschrieben worden. Wie kann
jedoch die besondere Prominenz, zu der es einzelne Protagonisten der Chicagoer Universität in verschiedenen Zeiten, wie Dewey und Mead, Strauss und
Becker es hierzulande gebracht haben, mit der verbreiteten Meinung in Verbindung gebracht werden, dass der Interaktionismus in der deutschsprachigen Soziologie, insbesondere in der Arbeits- und Berufssoziologie sowie in der Wissenschafts- und Techniksoziologie, kaum Beachtung gefunden habe (vgl. Strübing
1997) ? Diese Ansicht könnte jedenfalls als Hinweis auf Defizite bei der deutschsprachigen Rezeption des S. I. gedeutet werden, dem ich im Folgenden nachgehen
möchte.
Die Beschäftigung mit dem S. I. umfasst ein breites inhaltliches Spektrum von
eher theorie- und traditionsbezogenen Beiträgen, angefangen beim Beitrag von
Brumlik, der 1973 erschien, und dem von Joas aus dem Jahr 1988 über den von
Neckel von 1997 hin zu Garz, der 2006 über die Integrationsversuche von strukturalistischer Theorie und S. I. schreibt, die er bei Strauss ausgemacht hat. Unter
anderem auch auf seine zentralen Akteure Bezug nehmend, verfasst Strübing mit
Fokus auf Strauss und Glaser drei Beiträge zwischen 1997 und 2007 (Strübing 1997,
2005, 2007). Einige jüngere Beiträge, die zwischen 2002 und 2009 erschienen sind,
beziehen sich auf die empirische Anwendung der theoretischen Konzepte des S. I.,
wie der von Ackermann (2005), Bräu (2002), Thräne (2003), Feindt und Broszio
(2008), die allerdings mehr Anwendung denn theoriegenerierend sind. Ich werde
später noch einmal ausführlicher auf sie zu sprechen kommen, denn an ihnen
scheint dennoch das erkenntnisgenerierende Potenzial des ‚arc of work‘ auf. Nur
gelegentlich widmen sich Beiträge explizit dem mit dem S. I. verbundenen Forschungsstil. Bohnsack stellt hier mit seinem Aufsatz aus dem Jahr 2005, in dem
er am Beispiel zweier klassischer Studien der Chicagoer Soziologie den charakteristischen Forschungsstil rekonstruiert, eine solche Ausnahme dar. Ebensolche
Ausnahmen bilden jene wenige Publikationen, die all jenen soeben genannten
Aspekten auf einmal gerecht werden: die also sowohl auf den Forschungsstil bezogen sind als auch auf die Potenziale zur empirischen Anwendung sowie zur Theoriebildung Aussagen treffen, wie die Aufsätze von Schütze (1987, 2002), aber auch
von Strübing (1997, 2005, 2007).Während sich also die Beiträge mit einer eher
theoretischen Ausrichtung mit denjenigen einer überwiegend forschungspraktischen noch gerade die Waage halten, fällt die Ausbeute mit Blick auf die Diskussion der theoretischen Konzepte des S. I. und ihr theoriebildendes Potenzial eher
306
Kirstin Bromberg
gering aus. Auch wenn, so kann abschließend festgehalten werden, einige Aufsätze sowohl theorie- als auch forschungspraktische Bezüge herstellen, so möchte
ich auf die Tendenz der deutschsprachigen Rezeption hinweisen, die methodologischen Implikationen der theoretischen Kategorien und des Forschungsstils der
C. S. und des S. I. bislang nur ansatzweise rekonstruiert zu haben. Zu eben jenem
theoriebildenden Potenzial insbesondere für die Arbeits- und Berufssoziologie
werde ich mich nun äußern und hoffe, hiermit dem Rezeptionsdefizit etwas entgegensetzen zu können.
3
Zum ,arc of work‘ als ‚sensitizing concept‘ für den Zusammenhang
von beruflicher Arbeit und Organisationskulturen
Das Konzept des ‚arc of work‘ wird zu den „Grundbegriff lichkeiten“ (Bohnsack
2005: 105) oder auch „grundlagentheoretischen Zentralkategorien“ (Schütze 1987)
des S. I. gerechnet.5 Wie weit die Forschungstraditionen zu theoriebildenden
Konzepten zurückreichen, wird unterschiedlich eingeschätzt. Bohnsack (2005)
erkennt sie bereits in den zu Klassikern gewordenen Studien des sogenannten
„golden age“ der Chicagoer School, also in den 1920er- bis 1930er-Jahren, andere stellen konkrete Bezüge erst zu einer späteren Zeit her, die sich mit der Forschungs- und Lehrtätigkeit von Everett C. Hughes an der Chicagoer Universität
verbinden (Schein 2004; Chapoulie 2001; Corbin / Strauss 1993). Der ‚arc of work‘
gehört zu den theoretischen Konzepten zu Berufen und Professionen (Schütze
1987) und verbindet sich mit dem Konzept der ,social worlds‘ und dem der ‚trajectories‘. Diese wären daher auch sinnvollerweise in ihrem Zusammenhang zu
diskutieren, was jedoch den hier möglichen Rahmen sprengen würde.6 Die interaktionistischen Konzepte dienen seit den 1950er-Jahren insbesondere zur Erforschung der Einsozialisierung in das Sinnsystem von Berufen sowie zur Untersuchung der jeweiligen Arbeitsabläufe im Beruf. Hughes, auf den die Tradition zur
Untersuchung beruflicher Arbeit zurückgeht, fiel im Verlauf seiner Forschungs-
5
6
Zum allgemeinen theoretischen Orientierungsbestand des S. I. gehören bspw. so prominent gewordene theoretische Kategorien wie die „natural histories“, das „signifikante Symbol“, die des
„signifikanten anderen“ oder des „verallgemeinerten anderen“, die sich mit dem Namen George
Herbert Mead verbinden (Joas 2003: 98 f.) .
Zum Einsatz der Konzepte der ‚social worlds‘ und ‚arenas‘ bei der Untersuchung von Organisationen empfehle ich Clarkes (1991) Aufsatz oder den Beitrag von Wiener (1991), alternativ auch Schützes (2002) Ausführungen hierzu. Zur Kategorie der ,trajectories‘ siehe Strauss
(1991: 149 – 176) oder Grathoff (1991: 373 – 381).
„Arc of Work“
307
arbeiten auf, „[…] dass die Berufe, insbesondere die professionellen, eine je für sie
charakteristische moralische Kollektivität oder soziale Welt ausbilden“ (Schütze
1987: 536). Dieser Befund stellt also den Ausgangspunkt einer zunehmend systematischen und forschungsmethodisch versierten Untersuchung zur Organisations- und Berufswelt dar, die sich stärker in die Traditionslinie von Robert E.
Park über Everett C. Hughes zu Anselm Strauss und Howard S. Becker stellen
lässt.7 Um zu einer klaren Vorstellung zu kommen, auf welche analytische Haltung
sich diese Studien gründen, greife ich auf ein Zitat von Hughes zurück:
„Work is the central theme of sociological and social psychological study of work.
Certainly not all students of work would agree that ‚work as interaction‘ is the central theme of their specialization, but probably everyone does assume that work rests
on interaction even if theirs analyse or description do not focus on interaction itself “
(Hughes 1971: 304 zitiert nach Corbin & Strauss 1993: 81 f.).
Man wäre allerdings einem Irrtum erlegen, Hughes Aussage „work rests on
interaction“8 so zu verstehen, dass die Symbolischen Interaktionisten ihre Untersuchungen auf die mikroanalytische Dimension von beruflicher Arbeit beschränkten. Ihre Konzepte bieten vielmehr den Vorzug, nicht nur mikroanalytische Aspekte zu erfassen, sondern diese darüber hinaus in ihren meso- und
makroanalytischen Dimensionen und Bezügen verorten zu können. Wenn man
verstehen will, was es mit dem Konzept des ‚arc of work‘ auf sich hat, sollte man
zunächst wissen, welchen Begriff des Handelns Strauss hier zugrunde legt und
ferner wie er Organisationen hierauf gründend definiert. Strauss geht es, „[…] um
die Fundierung von Sozialität im Handeln, ohne dabei die Struktur sozialer Organisation und gesellschaftlicher Institutionen als bloße Handlungsfolgen“ zu denken (Strübing 2007: 10). Seine Untersuchungen basieren auf der Grundannahme
eines Wechselverhältnisses von unhintergehbaren Strukturen, die im Handeln jedoch stets neu erfahren werden, und dem Handeln selbst, durch das die Handelnden sich mit ihrer als strukturiert erlebten Umwelt ins Verhältnis setzen. Handeln
7
8
In Ergänzung der Traditionslinie von Mead, Dewey zu Blumer (Interview mit Howard S. Becker
am 25. 08. 2010).
Chapoulie (2001) macht auf die häufig missverstandene Implikation des Begriffes „Interaktion“
aufmerksam und hält fest: „[…] I must insist, against the most frequent interpretation, that the
term ,interaction‘ was used neither by Park, nor later in the Chicago tradition, to mean only faceto-face interactions among individuals. According to the terminology in the Park and Burgess
textbook, it first referred to relations of competitions among groups that did not imply actual
contact“ (ebd.: 179).
308
Kirstin Bromberg
stellt sich für Strauss als ein in erster Linie fortgesetzter Strom von Routinen dar,
weshalb er seine Untersuchungen konsequent im beruflichen Alltag der Akteure
verankert. Hierbei richtet er allerdings sein Augenmerk auf die Kontingenzen und
Brüche der Routinen, an denen sich Charakteristisches des jeweiligen Untersuchungsbereiches zeigen lässt. Diese Haltung hat Konsequenzen: auch für das Verständnis von Organisationen als sich ständig verändernde Einheiten, die sich ihm
als Prozess darstellen.
Das von Anselm Strauss entwickelte Konzept des ‚arc of work‘ selbst nimmt,
darauf hatte ich bereits hingewiesen, insbesondere Anschluss an die Arbeiten von
Hughes zu Professionen (1951, 1971). Daher verwundert es nicht, dass es vornehmlich aus medizinsoziologischen Studien hervorgegangen ist.9 Strauss’ Überlegungen zu den in und durch Interaktion artikulierten Strukturen beruflicher Arbeit
im Allgemeinen und sein Konzept des ‚arc of work‘ im Besonderen entstehen also
im Kontext von intensiven Feldstudien zur medizinischen Arbeit in Krankenhäusern. Strauss interessierte sich neben der Entwicklung von Projekten insbesondere für Erleidensprozesse. Auf der Basis langjähriger Feldforschungen erkennt
er Abschnitte eines Arbeitsprozesses und segmentiert diesen analytisch. Ein Segment, das sich prozesshaft auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausrichtet,
definiert er als ‚project‘.10 Im Kontrast hierzu stehen größere Einheiten oder Segmente des Arbeitsprozesses wie bspw. ‚lines of work‘ (Strauss 1991: 116). Er findet
heraus, dass mit einem Projekt eine gewisse Anzahl von Aufgaben verbunden ist,
die über eine bestimmte Zeit getan werden müssen und nach spezifischen Kriterien auf verschiedene handelnde Personen oder auch auf Gruppen von Personen
verteilt werden. Ein ‚project‘ ist in einen Aktionsverlauf eingebunden und bringt
eine Arbeitsteilung hervor. Strauss’ Konzeption zielt dabei weniger auf die handelnden Personen als vielmehr auf die Handlungen selbst ab.
Die Gesamtheit der Aufgaben, ‚tasks‘, die zu einem ‚projekt‘ gehören, hat
Strauss the arc of work genannt und die hierin eingeschlossenen Arbeitsformen –
‚work types‘.11 Seine Studien zielen darauf herauszufinden, wie Organisationen das
9
Diese sind allerdings auch biografisch motiviert, denn Strauss hat aufgrund eigener Erkrankungen selbst einige Zeit seines Lebens in Krankenhäusern verbracht. Verallgemeinernd können wir
dazu bei Chapoulie (2001: 185) Folgendes nachlesen: „Some of these empirical studies – maybe
the majority, if one believes certain suggestions by Hughes – were done by researchers already
familiar, by virtue of their own biographies and even before beginning their research, with the
occupations or institutions they studied.“
10 Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Strauss 1991: 71 – 98.
11 Das Modell geht davon aus, dass jede umfassende Arbeit, jedes Projekt, durch einen übergreifenden, weitgespannten ‚arc of work‘ (Arbeitsbogen) definiert ist, der die einzelnen Tätigkeiten und
Aufgaben umfasst. Dabei sind sowohl intendierte Handlungen als auch sich zufällig ergebende
„Arc of Work“
309
für sie charakteristische Niveau von Artikulation (‚articulation work‘) erreichen
und wie es von deren Mitgliedern aufrechterhalten wird (Strauss 1991: 117). Mit
der nachstehenden Abbildung sollen die bisher genannten zentralen Elemente des
‚arc of work‘ visualisiert und mit einem Blick erfassbar dargestellt werden.
Eigene Darstellung zum ‚arc of work‘
In den bisherigen Ausführungen ging es darum, das Konzept des ‚arc of work‘
einzuführen, d. h. jene Perspektive von Strauss deutlich werden zu lassen, die ihre
Aufmerksamkeit auf Interaktionsprozesse legt, durch die sich Arbeitsprozesse
grundsätzlich entwickeln. Ich komme nun auf eine übergeordnete Arbeitsform
– die ‚sentimental work‘ – zu sprechen, die in der deutschsprachigen Rezeption
bislang eine marginale Position einnimmt. Sie kann sich jedoch insbesondere für
den Zusammenhang zwischen beruflicher Alltagspraxis und Organisationskultuund unerwartete Zwischenfälle eingebunden. Bei umfassenden, komplexen Projekten oder Veränderungsprozessen kann der ‚arc of work‘ daher stets erst rückblickend rekonstruiert werden,
da er nicht in allen Details antizipiert werden kann. Die Metapher eines arc (Bogen) suggeriert
zwar einen Beginn und ein Ende der Gesamtgestalt, das Modell geht aber gerade nicht von einem
festgelegten Verlauf an Arbeitsschritten und Tätigkeiten aus. Der arc als geschlossene Form zeigt
vielmehr an, dass mit ihm eine retrospektive Strukturierung und somit eine Vereinfachung des
gesamten Prozessverlaufs und -geschehens mit dem Ziel des Verstehens möglich wird.
310
Kirstin Bromberg
ren, und damit für die Beziehungen zwischen mikroperspektivischen Befunden
und mesostrukturellen Einsichten, als analytischer Schlüssel erweisen (Bromberg
2009, 2010).
3.1
‚Sentimental work‘ als übergeordnete Arbeitsform
im Kontext des ‚arc of work‘
Bei der Gefühlsarbeit, so die Übertragung ins Deutsche,12 handelt es sich um
einen prozessbegleitend auftretenden Arbeitstypus, der seinen „Ursprung in der
elementaren Tatsache [hat], daß jede Arbeit mit oder an menschlichen Wesen
deren Antworten auf diese instrumentelle Arbeit in Rechnung stellen sollte“
(Strauss et al. 1980: 629). Somit sei leicht zu sehen, „daß jede ‚Servicearbeit‘, die
Agenten und deren Klienten umfaßt, die Möglichkeit und geradezu Wahrscheinlichkeit von Gefühlsarbeit beinhaltet“ (ebd.: 629). Obgleich es sich bei diesem
Arbeitstypus um einen „bereitwillig und geradezu universell wahrgenommenen
Aspekt beruflicher Arbeit handelt, sei Gefühlsarbeit weder per se analysiert noch
in Verbindung zu anderen Arbeitsformen gebracht worden, so schreiben Strauss
et al. bereits 1980.
Wenn ich nun über das „sentimental work“ als übergeordneten Arbeitstypus
spreche, beziehe ich mich in einem ersten Gedankenschritt auf meine eigene Studie zu Gewerkschaften (Bromberg 2009), um verständlich zu machen, was es
damit auf sich hat. Nach einem knappen Fazit zu meinen Ausführungen werde
ich in einem zweiten Gedankenschritt die oben bereits erwähnten forschungspraktischen Anwendungen des ‚arc of work‘ einbeziehen (Ackermann 2005; Bräu
2002; Thräne 2003; Feindt / Broszio 2008), um die Implikationen und Potenziale
dieser Analyseeinstellung an weiteren Beispielen herauszuarbeiten. Was versteht
man nun unter ‚sentimental work‘ ? Gefühlsarbeit ist
„Arbeit, die speziell unter der Berücksichtigung der Antworten der bearbeiteten Person oder Personen geleistet wird und die im Dienst des Hauptarbeitsverlaufs erfolgt“
(Strauss et al. 1980: 629).
Bei der Übersetzung des Begriffes ‚sentimental work‘ in „Gefühlsarbeit“ können Irritationen auftreten. Strauss et al. (1980: 650) weisen darauf hin, dass bei
12 Strauss, Anselm et al. (1980): Gefühlsarbeit. Ein Beitrag zur Arbeits- und Berufssoziologie. In:
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. 32. 629 – 651.
„Arc of Work“
311
dem Wort ‚sentimental‘ mitnichten auf den im deutschen Sprachgebrauch existenten Sinn von „rührselig“ oder „sentimental“ abgestellt wird, sondern dass es
sich um eine Anlehnung an den Begriff ‚sentiments‘ handle, der sich auf Emotionen und Leidenschaften beziehe. Hierbei räumen die Autoren ein, dass der von
ihnen gewählte Ausdruck durchaus eine altmodische Formulierung sei (Strauss
et al. 1980: 650). Gefühlsarbeit hat nun ihren Ursprung in der elementaren Tatsache, dass jede Arbeit mit oder an menschlichen Wesen deren Antworten auf diese
Arbeit in Rechnung stellen sollte; ihre Antworten können in der Tat ein zentraler
Bestandteil dieser Arbeit sein. Allerdings wird die ‚sentimental work‘ häufig gerade nicht zur institutionell ausweisbaren Arbeit gerechnet. Ältere Anwendungen
zur Gefühlsarbeit stellten heraus, dass ‚sentimental work‘ entweder ideologisch
fundiert ist (Jackall 1978) oder einer Handlungsorientierung entspringt, die auf
das Erreichen eines speziellen Zieles hin angelegt ist. Ein solcher sogenannter „Situationstypus“ ist in einer Untersuchung von Glaser (1976) zum Interaktionsprozess zwischen dem zukünftigen Eigentümer eines Hauses und den dieses Haus
bauenden kommerziellen Bauhandwerkern zutage getreten. Während ein großer
Teil der Arbeit technischer Natur sei und in enger Beziehung zur Konstruktion
des Hauses selbst stehe, betreffe ein anderer, minder großer Teil gefühlsbezogene
Arbeit. Zwischen beiden Akteursgruppen bestehe ein maximal kontrastierendes
Verhältnis, das sich auf ihr persönliches Engagement beim Bau des Hauses bezieht.
So bezögen sich die Gefühlsaufgaben des künftigen Hauseigentümers darauf, die
Handwerker zu maximalen Leistungen beim Hausbau zu motivieren – während
die Handwerker sich darauf konzentrierten, zu verhindern, dass der Hauseigentümer außer Fassung gerät, wenn sie weit unterhalb dieser anvisierten Leistungen
blieben. Gefühlsbezogene Arbeit sei es auch, ihn zügig aus diesem Zustand wieder
herauszuholen (Strauss et al. 1980: 649).
In meiner Studie zu Gewerkschaften (Bromberg 2009) nutzte ich ‚sentimental work‘ bspw. als analytisch sensibilisierendes Instrument zur Rekonstruktion
beruflicher Arbeit bei Gewerkschaften. Hierdurch wurden auf der mikroanalytischen Ebene Einsichten in die gewerkschaftskulturelle Rekrutierungs- und Bindungsarbeit befördert, die zugleich Voraussetzung für Erkenntnisse auf einer
mesoanalytischen Ebene, hier zur sozialen Welt der Gewerkschaften, gewesen
sind. Strauss und seine Mitforscherinnen haben in ihren Untersuchungen ‚sentimental work‘ nicht nur im Allgemeinen im Blick,13 sondern fragen nach den
verschiedenen Arten der Gefühlsarbeit, unter welchen Bedingungen sie auftau13 Das Konzept des ‚sentimental work‘ lässt sich bis zu den frühen medizinsoziologischen Studien
von Glaser und Strauss zurückverfolgen (bspw. 1965, 1968).
312
Kirstin Bromberg
chen, wie und von wem Gefühlsaufgaben erledigt werden, in welcher Verbindung
solche Gefühlsaufgaben zu Nichtgefühlsaufgaben stehen sowie welche Konsequenzen sich aus der vollzogenen bzw. nicht oder nicht erfolgreich vollzogenen
Gefühlsarbeit ergeben. Diese Fragen erlangten auch für die Übertragung des Konzeptes auf meine Analyse zur beruflichen Arbeit von Akteuren bei der Gewerkschaft zentrale Bedeutung, wie ich im Weiteren noch ausführen werde. Nicht nur
die Einzelfallanalysen, sondern auch die angeschlossenen komparativen Analysen
konnten hierdurch im Grad ihrer Präzision deutlich erhöht werden.
Eigene Darstellung zum ‚sentimental work‘
Strauss et al. können im Zuge ihrer Studien sieben Dimensionen der ‚sentimental
work‘ identifizieren und genauer untersuchen (ebd.: 635 ff.).14 Von diesen waren
vier Dimensionen für meine Untersuchung im engeren Sinne relevant. Erstens das
,interactional work and moral rules‘: Es handelt sich hierbei um die elementarste
Form interaktionsbezogener Arbeit. Sie ist stets von Regeln des gewöhnlichen
Umgangs und daher moralisch geprägt. Ein Beispiel für gewerkschaftskulturelle
Moral, hier als Ermunterung zu politischer Partizipation im Bereich der Jugendarbeit, stellt die folgende Aussage eines Gewerkschaftsakteurs dar:
14 Vgl. im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, Strauss et al. 1980: 635 ff.
„Arc of Work“
313
„ich seh meinen Job nich als unbedingt als Dienstleistung //hm// muss ich sagen also
ich möchte was anderes transportieren //hm// auch so ’n gewissen Idealismus (.) der
den kann man manchmal entdecken in Menschen die schon einige schlechte Erfahrungen gemacht haben und sagen //hm// also irgendwie kann das nicht sein aber die
fühlten sich nie befähigt was zu machen weil //hm// sie nich wussten wie //hm// und
wenn man da den Punkt kriegt dann kann man da sehr viel Interesse wecken“. (Auszug
aus dem Interview mit Regine Bauer15, s. a. Bromberg 2009: 226).
Zweitens zeigt sich die ,trust work‘, die Vertrauensarbeit, als relevante Dimension
gewerkschaftlicher Rekrutierungsarbeit. Strauss et al. beobachteten ihre Notwendigkeit beispielsweise in Situationen, in denen es darum geht, die medizinische
Versorgung (Versorgung von Wunden, chirurgische Eingriffe etc.) zu gewährleisten. Das Begründen und Erhalten von Vertrauen als eine herausragende Gefühlsaufgabe erlangt insbesondere im Kontext der Bindung von aktiven Mitgliedern an
Gewerkschaften eine zentrale Bedeutung:
„aber im Moment bin ich wirklich das wird immer krasser (.) dazu da wirklich die
Leute aufzurichten dass sie überhaupt noch mal die Traute haben sich zu //hm// rühren //mhm// und ja und das ist eigentlich immer schade //hm// also wenn de zwanzig
Leute hast dann klagen vielleicht dann vier davon obwohl wenn sie alle zwanzig zusammenhalten würden wär das ’ne (easy)*Geschichte* ((*lachend gesprochen)) //hm//
das wäre wunderbar //mhm// aber sie tun’s halt nich obwohl sie zum Teil auch in der
Gewerkschaft sind //hm// die machen das nich und manche die kriegst du rucki zucki rum und die wenn die einmal Erfolg hatten dann machen die das auch weiter ne //
hm// ohne Rücksicht auf Verluste und die bleiben meistens auch am *längsten* ((*lachend gesprochen)) //hm// in so ’m Laden“.(Auszug aus dem Interview mit Regine
Bauer, s. a. Bromberg 2009: 227).
Die Aspekte der ‚biographical work‘16 und der ‚identity work‘, deren Übergänge
sich als fließend darstellen, erwiesen sich ebenfalls als für meine Untersuchung re-
15 Aus Gründen der Anonymisierung handelt es sich hier, wie auch im Folgenden, um codierte Namen.
16 Als ein Beispiel für biografische Arbeit führt Strauss die amnesistische und diagnostische Befragung zu Beginn der medizinischen Behandlung an. Diese könne als Form der biografischen Arbeit mit oder ohne Augenmerk für deren gefühlsbezogenen Aspekte getan werden. Das Personal
könne diese Befragung demnach als ein Abfragen von Fakten hinter sich bringen oder aber als
ein Gespräch, das neben den Informationen zur Krankengeschichte zudem die Art und Weise
zu leben, soziale Beziehungen zu nahen Verwandten und Freunden des Patienten zutage fördert.
314
Kirstin Bromberg
levant. Der nachfolgende Interviewauszug dokumentiert den Aspekt der biografie- und identitätsbezogenen Arbeit an den Adressaten der Gewerkschaftsarbeit:
„es gibt äh von uns dieses Planspiel ready steady go //mhm// das ist ein autobiografisches Planspiel ((holt es vom Schrank)) //aha// wo wir versuchen gemeinsam äh mit
Kooperationspartnern Bewerbertraining zu machen //mhm// hier hab ich in den letzten halben dreiviertel Jahr also Ende 2005 glaub siebenhundert oder achthundert Jugendliche erreicht in der Region S-Stadt //mhm// über dieses Planspiel //ist ja ’ne
Menge// das isch halt auch noch ’ne Arbeit wo viel Aufwand bedeutet viel Kontaktpflege von Betriebsräten“.(Auszug aus dem Interview mit Jürgen Teschner, s. a. Bromberg 2009: 216).
Dass diese Form der biografischen Arbeit nicht nur an den Adressaten, sondern
auch von den Gewerkschaftsakteuren an sich selbst verrichtet werden kann, zeigt
der nachfolgende Auszug, in dem sich Regine Bauer die Frage stellt, ob ihre berufliche Entscheidung, Gewerkschaftssekretärin zu werden, die richtige gewesen ist:
„also wenn ich das äh wieder rückg- gängig machen könnte ich würde auch wieder
gern als Verwaltungsangestellte arbeiten weil das is einfach einfacher //mhm// und
ich ähm kann hab man hat das Gefühl man kann mehr für die Mitglieder tun //mhm//
weil man ein Ergebnis sieht … ja du machst halt wieder Kasse Buchhaltung und hast
immer Kontaktzeit bestimmte Dinge aus (.) schreibst Einladungen und du kümmerst
dich immer du hast immer direkten Kontakt mit den Mitgliedern es geht immer über
dich //mhm// und während Sekretäre ja äh mh oft nur ein sozusagen direkten Kontakt draußen haben aber alles andere was Mitgliedschaft angeht läuft indirekt ab also
man gibt mal was weiter also wenn man sagt die Kontonummer hat sich geändert oder
(.) ähm //mhm// dadurch ist die Betreuung eigentlich oder der Kontakt letzten Endes
fast noch intensiver //mhm// sehr wertvoll also //mhm// und ganz wichtig //mhm//
und das man Bescheid weiß und sacht das kann man für d- das kannst du kriegen und
die Ansprüche hast du meinetwegen //mhm// auch bei uns wenn man sechs Wochen
krankes Geld kriegt //mhm// ne Zuschuss zum Krankengeld oder Freizeitunfallversicherung halt solche Sachen bearbeitet man dann auch //mhm// und du hast’n ErUm die Therapie für chronisch erkrankte Patienten planen zu können, sei es ferner wichtig, den
Überlebenswillen einschätzen zu können, wozu eine sensible Gesprächsführung, ausreichend
Zeit und Ruhe beim Personal nötig ist. Identitätsarbeit beispielsweise könne jedoch vom Personal
auch an sich selbst verrichtet werden, indem es sich die emotionale Teilnahme am Krankheitsverlauf eines Patienten nicht anmerken lässt, folglich Fassung bewahrt, oder indem es sich mit
persönlichen Problemen ihrer Patienten auseinandersetzt (Strauss et al. 1980: 640).
„Arc of Work“
315
gebnis du hast abends siehst du was du getan hast und das siehst in dem Job draußen
kaum //mhm// wann kriegste mal nen Meldebogen das nen neuer Betriebsrat gewählt
is //mhm// wenn de Glück hast zweimal im Jahr //mhm// *als Erfolgserlebnis* ((*lachend gesprochen) oder mal //mh// das se zu dir sagn Mensch das hat das war klasse
wir haben was erreicht und so //mhm// das ist auch äußerst selten ne //mhm// das die
Leute dann mal positiv //mhm// da mit solchen Sachen rüberkommen“ (Auszug aus
dem Interview mit Regine Bauer, s. a. Bromberg 2009: 177).
Als weniger übertragbar erschien mir die ,composure work‘, womit die Arbeit angesprochen wird, die im medizinischen Kontext darauf abzielt, die mentale Fassung der Patienten und ihrer Angehörigen oder die eigene auch dann aufrechtzuerhalten, wenn der Krankheitsverlauf eine ungünstige Entwicklung nimmt oder
gar zum Tode des Patienten oder der Patientin führt. Ebenso wenig wie der Aspekt des Fassung Bewahrens waren diejenigen Formen von Gefühlsarbeit, die
Strauss als ,awareness context work‘ und ,rectification work‘ bezeichnet, für meine
Studie von Bedeutung.
Um meine Ausführungen zum angekündigten knappen Fazit zusammenzubinden, möchte ich explizit erwähnen, dass sich das ‚arc of work‘-Konzept nicht
nur für eine tiefere Analyse von beruflicher Arbeit im Kontext von Medizin eignet, sondern letztlich zur Untersuchung jeder auf Interaktionen basierender beruflichen Arbeit erkenntnisfördernd eingesetzt werden kann. Exemplarisch kann
hier auf aktuelle Anwendungen in der Berufs- und Professionsforschung verwiesen werden. Allerdings hat Strauss das selbst auch schon so eingeschätzt, wenn
er sagt:
„The arc concept – with its implicated phases, types of work, clusters of tasks, and articulation of tasks – can be central for a deeper analysis of medical work in relation
to division of labor issues, and possibly for work in other settings“ (Strauss 1991: 76).
Bei der Anwendung dieses Analyseinstrumentes sollte indes sorgfältig darauf geachtet werden, in welchen Bereichen es vergleichbare Aspekte zur jeweils untersuchten beruflichen Arbeit gibt und wo eine Erweiterung und Ausdifferenzierung
des ‚arc of work‘-Konzeptes nötig ist. In welcher Weise dies bislang forschungspraktisch umgesetzt und mit welchen analytischen Einsichten diese Anwendungen verbunden werden konnten, soll Gegenstand meiner nachfolgenden Ausführungen sein.
316
3.2
Kirstin Bromberg
Beispielstudien zur Anwendung des ‚arc of work‘
Das ‚arc of work‘-Konzept ist dasjenige der interaktionistischen Konzepte, welches am häufigsten Anwendung auf aktuelle Studien findet. Die nachfolgend referierten Studien nutzen sein theoriebildendes Potenzial insofern, als sie sich nicht
in mikroanalytischen Aspekten und Prozessen beruflichen Handelns erschöpfen.
Vielmehr sind die Forscher und Forscherinnen daran interessiert, ihre empirischen Befunde auch auf abstraktere Ebenen wissenschaftlicher Erkenntnisse zu
transferieren und auf dieser Grundlage unter Umständen auch Empfehlungen
für die Praxis zu entwickeln. Beispielsweise findet sich eine Reihe von Studien,
die Erkenntnisse zur beruflichen Handlungspraxis zu den Inhalten der jeweiligen Ausbildungsphase in Beziehung setzen und Vorschläge zu ihrer Weiterentwicklung unterbreiten (Thräne 2003; Bräu 2002; Feindt / Broszio 2008). Wenn
man sich den inhaltlichen Bezügen aktueller Anwendungen des ‚arc of work‘Konzeptes widmet, so beziehen sich zwei der insgesamt fünf Studien auf den Untersuchungsbereich Schule (Bräu 2002; Feindt / Broszio 2008 mit Bezug auf die
Ausbildungsphase zum Lehramt) und drei Studien untersuchen eine konkrete berufliche Handlungspraxis (Bromberg 2009 zur beruflichen Arbeit bei Gewerkschaften; Ackermann 2005 zur psychologischen Beratungsarbeit; Thräne 2003
zum beruflichen Handeln von Fahrlehrern). Allen Studien gemeinsam ist, dass
sie das ‚arc of work‘-Konzept zur Datenanalyse heranziehen. Hierbei generiert
lediglich die Studie von Bräu Feldforschungsdaten, während die anderen das ‚arc
of work‘-Konzept zur Analyse von Interviewdaten, die überwiegend in Form von
biografisch-narrativen Interviews nach Schütze (1983) generiert wurden, einsetzen. Forschungsmethodisch muss darauf hingewiesen werden, dass sich Strauss
und seine Mitarbeiter stets eines Feldforschungsdesigns bedienten.17 Es handelt
sich damit um unmittelbar im relevanten Untersuchungsbereich durchgeführte
Datenerhebungen, mit der sich die Möglichkeit zu einer prozessualen Perspek17 Zu den personellen, zeitlichen und technischen Ressourcen des Forschungsprojektes, welches
der Publikation von 1980 zugrunde liegt, ist hervorzuheben, dass es sich hierbei um vier Feldforscher handelte, die über einen Zeitraum von zwei Jahren zahlreiche Stationen in sechs Krankenhäusern in Kalifornien beobachtet haben (Strauss et al. 1980: 630). Jüngere Klassifikationen von
qualitativen Methoden der Datenerhebung, die auf die Trennung sogenannter reaktiver Verfahren (Interviewverfahren, Gruppendiskussionen, Ethnografische Verfahren teilnehmende Beobachtung) von nicht-reaktiven (Tagebücher, archivierte Dokumente und Materialien etc.) abheben
(z. B. Marotzki 1999: 112 ff.), lassen sich nicht ohne Weiteres auf den Forschungsstil der Symbolischen Interaktionisten und das von ihnen bevorzugte Feldforschungsdesign übertragen. Dieses konstituiert sich sowohl durch explorative Beobachtungsverfahren als auch durch Interviews
und den Einbezug von schriftlichen Dokumenten (Chapoulie 2001: 179).
„Arc of Work“
317
tive auf berufliche Arbeitskontexte eröffnet. Eine Prozessperspektive eröffnet sich
bspw. in der von mir durchgeführten Studie (Bromberg 2009) lediglich durch die
narrative Grammatik, also aufgrund der Struktur meiner Interviewdaten. Feindt
und Broszio (2008) geht es beim Einsatz des ‚arc of work‘-Konzepts zur Analyse ihrer Interviewdaten zum einen um die Rekonstruktion der studienbiografischen Perspektive auf Lehramtsstudierende und zum anderen um deren Forschungspraxis (ebd.: 5).18 Zwischen meiner hier vorgestellten Studie und der von
Feindt und Broszio bestehen daher sowohl mit Blick auf die Verwendungsweise
des Konzeptes im Sinne Blumers als „sensitizing concept“ (1969: 147 – 151) als auch
in ihrem Erkenntnisinteresse an berufsbiografischen Verläufen und beruflicher
Handlungspraxis deutliche Parallelen. Feindt und Broszio (2008: 11 – 15) diskutieren zudem auf anspruchsvolle Weise Entstehung und Konzeptualisierung des
‚arc of work‘ durch die Forschungsarbeiten von Strauss und seinen Mitforschern
(1991) als auch seine theoretische Schärfung durch Schütze (1984, 1987) und hierbei zutage tretende Differenzen. Bräu, Ackermann und Thräne beziehen sich hingegen in der Anwendung des Konzeptes zur Datenanalyse am konsequentesten
auf den systematischen Ordnungs- und Weiterentwicklungsversuch, den das
Konzept durch die Arbeiten von Schütze (1984, 1987) erfahren hat. Dabei geht
es ihnen weniger um die Einführung und Kontextualisierung des ‚arc of work‘Konzeptes selbst, sondern vielmehr um das gezielte Aufgreifen von Aspekten des
Strauss’schen Konzeptes. So fokussiert beispielsweise Thräne (2003) auf Schwierigkeiten in der beruflichen Handlungspraxis von Fahrlehrern und identifiziert
konkrete Problemstellen in der Fahrlehrerausbildung, im Berufseintritt sowie in
den Bedingungen des beruflichen Handelns selbst. Er arbeitet mit Bezug auf professionstheoretische Fragestellungen heraus, dass die Ausbildung zum Fahrlehrer
bzw. zur Fahrlehrerin überwiegend auf technische Aspekte bezogen ist, woraus
Schwierigkeiten auf der interaktiven und kommunikativen Ebene des „fahren lehrens“ entstehen können. Weiterhin rekonstruiert er eine überwiegend „dienstleistungsorientierte“ Berufseinstellung der Fahrlehrer, d. h. eine innere Haltung zur
beruflichen Arbeit, die auf nur wenigen Sinnquellen beruht und im Verein mit
den fremdbestimmten Arbeitsbedingungen – vor allem den Arbeitszeiten – häufiger zu einem beruflichen Ausbrennen führt (ebd.: 286). Dabei gehören die berufsbiografischen Aspekte, die in den referierten Studien überwiegend thematisiert
werden, nicht im engeren Sinn zum ‚arc of work‘-Konzept selbst. Vielmehr handelt es sich hierbei um weitergehende empirische Erträge, die auf seiner Grund18 Die Studie von Feindt und Broszio (2008) untersucht den Umgang mit und die Reflexion von
Forschungsaufgaben im Lehramtsstudium.
318
Kirstin Bromberg
lage, insbesondere mit Bezug auf die „Evaluationskomponente“ (Schütze 1984: 16),
generiert werden können, was einmal mehr auf den sensibilisierenden Charakter
des Konzeptes aufmerksam macht.
Professionstheoretische Fragen fundieren auch die Studien von Ackermann,
Bräu sowie die von Feindt und Broszio. Ackermann (2005) widmet sich in ihrer
qualitativen Studie beispielsweise dem Schnittfeld von Professionssoziologie und
Beratungsforschung, einem Forschungskontext, der ebenso zu Strauss’ Untersuchungsinteressen zählte. Gemeint ist die professionelle Bewältigung von Prozessen des Erleidens, hier im Kontext unerwünschter Kinderlosigkeit. Ackermann
bezieht sich insoweit auf die Ebene des ‚arc of work‘ bei Strauss, als sie die psychosoziale Fallarbeit als ‚project‘ definiert. Sie erhebt auf der Grundlage biografisch-narrativer Interviews (Schütze 1983) Informationen zur biografischen und
handlungspraktischen Dimension psychosozialer Beratung und bezieht diese auswertungsmethodisch auf das ‚arc of work‘-Konzept. Die Arbeit von Ackermann
(2005) ist hierbei konsequent an dem von Schütze (1984) erarbeiteten Ordnungsversuch orientiert, in welchem er Strauss’ auf eine Vielzahl von Texten „verteilte“
theoretische Überlegungen zum ‚arc of work‘ analytisch ordnet und zu übergeordneten Komponenten zusammenführt. Die auf dieser Grundlage rekonstruierten und für die Beratung im Kontext pränataler Diagnostik als zentral identifizierten Tätigkeiten kennzeichnen die berufliche Praxis der Beraterinnen und
beschreiben die für diese Bedeutung sich entfaltenden Bedingungsfaktoren vorwiegend auf einer mikroanalytischen Ebene.
Feindt und Broszio (2008) hingegen sind stärker an einer mesoanalytischen
Diskussion ihrer Befunde zu einer forschungsbasierten Lehramtsausbildung interessiert. Ihre Vorschläge zur curricularen Platzierung und Durchführung schulbezogener Forschungsprojekte basieren auf Interviewdaten, die sie im Zuge der
akademischen Lehramtsausbildung erhoben haben. Sie ziehen das ‚arc of work‘Konzept heran, um die Bedingungen schul- und unterrichtsbezogener Handlungspraxis aus professionstheoretischer Perspektive zu untersuchen. Hierzu
greifen sie den Diskurs zur ‚research-based teacher education‘ auf: Zwar sei die
Bedeutung des forschenden Lernens in der Ausbildung von Lehramtskandidaten
an sich unbestritten, indes sei sie nicht durch empirische Daten belegt (ebd.: 3). Sie
befragen daher, ebenfalls auf der Grundlage des biografisch-narrativen Interviews,
Lehramtsstudierende zu ihren Erfahrungen mit schul- und unterrichtsbezogenen
Forschungsarbeiten und generieren auf diese Weise Daten zu deren studienbiografischer Perspektive einerseits sowie zur Forschungspraxis der Studierenden
andererseits. Der Reflexivität als professionstheoretische Schlüsselkategorie gilt
dabei ihr besonderes Forschungsinteresse. Feindt und Broszio rekonstruieren mit
„Arc of Work“
319
Bezug auf die Dokumentarische Methode (Bohnsack 2010, 2003) Arbeitsbögen
studentischer Forschungspraxis, an denen sich die Kategorie „Reflexivität“ auf
zwei Ebenen zeigen lässt:
„[…] zum einen als Reflexivität erster Ordnung, die originär an die unmittelbare inhaltliche Fragestellung des jeweiligen Forschungsvorhabens gebunden ist, und zum
anderen als Reflexivität zweiter Ordnung, die sich als Reflexion über die eigene Forschungspraxis zeigt“ (Feindt / Broszio 2008: 1).
Am Beispiel eines ausführlich dargestellten Arbeitsbogens zur studentischen Forschungspraxis zeigen die Autoren, wie sie zu einer aus professionstheoretischer
Sicht zentralen Erkenntnis gelangen (ebd.: 17 – 30): Diese besteht in der Einsicht,
dass sich die Reflexion zur eigenen Forschungspraxis in den Darstellungen der
Lehramtsstudierenden als dominante Kategorie dokumentiert. In ihrem Schatten
steht demnach die als „Reflexion erster Ordnung“ beschriebene Kategorie, die das
Handlungsfeld Schule im Kontext von Forschung reflektiert. Sie führen die Dominanz von Auseinandersetzungs- und Aushandlungsprozessen im Rahmen der
studentischen Forschungsarbeit auf die fehlende Routine forschungspraktischer
Aktivitäten im Zuge der Lehramtsausbildung zurück. In der Diskussion ihrer Ergebnisse empfehlen sie daher die curriculare Ausbalancierung von Settings, Prozessen und Methoden einer forschungsbasierten Lehrerausbildung einerseits und
ihren Inhalten andererseits.
Auch Bräus Studie (2002) unterbreitet auf der Ergebnisebene Vorschläge zur
Schulentwicklung und zu Schulprogrammen für die gymnasiale Oberstufe, allerdings auf der Basis einer forschungsmethodisch anderen Strategie. Ihre Ergebnisse
basieren, im Gegensatz zu den bisher genannten Studien, auf Feldforschungsdaten,
womit sie der Strauss’schen Forschungsstrategie forschungsmethodisch am ähnlichsten ist. Bräu benutzt Strauss’ Konzept zur Analyse von Gruppentätigkeiten
bei einer Projektarbeit in der gymnasialen Oberstufe. Die qualitative Fallstudie
zum gymnasialen Oberstufenunterricht verfolgt das Anliegen, die Komplexität
der Praxis dieser Lernform zu erfassen und zu verstehen, indem sie die Projektarbeit auf Prozessabläufe untersucht. Hierdurch sollten die besonderen Anforderungen identifiziert werden, die selbstständiges Lernen in der gymnasialen Oberstufe sowohl an die in Gruppen aufgeteilten Lernenden als auch an die Lehrenden
stellt. Die Ergebnisse der von Bräu beobachteten Arbeitsprozesse fließen zunächst
in eine Darstellung der Gruppenaktivitäten der Schülerinnen ein, die von einer
Analyse der Tätigkeiten der Lehrerin gefolgt wird. Bräu diskutiert abschließend
Konsequenzen, die sich aus der Analyse der Projektpraxis ergeben im Hinblick auf
320
Kirstin Bromberg
Anforderungen, die sich mit einer solchen Unterrichtsform verbinden. Hierbei fokussiert sie auf die von der Lehrerin im Kontext dieser Lernform zu leistende Betreuungsarbeit (‚sentimental work‘, vgl. Bräu 2002: 222 ff.). Um zu diesen Einsichten zu gelangen, bedient sich Bräu bei ihrer komparativen Analyse, an Schützes
(1984) Vorschlag orientiert, folgender Vergleichskriterien: der „Einrichtungstätigkeiten“, der „Inhaltlichen Arbeit“, der „Sozialen Dimension“, wie zum Beispiel der
Bildung und Zusammensetzung der Gruppen, der Arbeitsteilung sowie schließlich der „Reflexionsprozesse“ (Bräu 2002: 146 – 221). Bräu legt diese Vergleichskriterien sowohl auf die Gruppentätigkeiten als auch auf die analytisch abgeleiteten
Anforderungen für gymnasiale Lernformen an (ebd.: 146 – 221). Hierbei fokussiert
sie die mikroanalytische Dimension und bezieht die sozialen Beziehungen auf
der Ebene der Schülerinnen sowie zwischen Lehrer, Lehrerin und Schülerinnen
ein. Im Zuge ihrer abschließenden Analyse zu den Konsequenzen ihrer Feldforschungsergebnisse erweitert sie schließlich diesen mikroperspektivischen Ansatz
um die mesoanalytische Dimension, indem sie Vorschläge zur Schulentwicklung
und zu Schulprogrammen für die gymnasiale Oberstufe unterbreitet.
4
Abschließende Bemerkungen
Am Beispiel der in diesem Beitrag vorgestellten Studien zu verschiedenen Kontexten beruflicher Arbeit bestätigt sich Strauss’ oben gegebene Einschätzung, dass
sich das ‚arc of work‘-Konzept nicht nur für eine tiefere Analyse von beruflicher
Arbeit im Kontext von Medizin eigne, sondern letztlich zur Untersuchung jeder
auf Interaktionen basierenden beruflichen Arbeit erkenntnisfördernd eingesetzt
werden kann.
Was bedeutet es also, um zum Ende meines Beitrages zu kommen, in der Tradition des S. I. bzw. mit Bezugnahme auf seine grundlagentheoretischen Konzepte
zu Organisationen, ihren Konzepten und Kulturen zu forschen ? Worin dokumentieren sich die zentralen Merkmale jenes prominent gewordenen Forschungsstils,
wie wir sie auch bei Strauss entdecken ? Zur Beantwortung der aufgeworfenen
Fragen bediene ich mich zunächst der Aussagen prominenter Vertreter Symbolischer Interaktionisten.
„For Strauss, understanding organizational phenomena centers on viewing environments, organizations, industries, and sectors as structured arenas of action. Through
simultaneous attention to collective commitments, tasks at hand, concrete work, institutional settings, structural conditions, and social processes, social worlds / arenas
„Arc of Work“
321
theory dissolves the confounding ‚split‘ between organizations and environments“
(Clarke 1991: 146).
Forschen bedeutet in diesem Sinne, die eigentümliche, aufgeteilte Perspektive zwischen Organisationen und deren Umgebungen zu überwinden. An ihre Stelle tritt
die gleichzeitige Aufmerksamkeit für kollektive Verpflichtungen, konkrete berufliche Arbeit, institutionelle Settings sowie für strukturelle Rahmen und soziale
Prozesse. Der Begriff Prozess ist dabei nicht nur eine theoretische Zierde, sondern
impliziert die Überzeugung, dass soziale Prozesse Abläufe sind, die durch aufeinander folgende Schritte konstituiert sind, sich also gerade nicht „in einem Rutsch“
ereignen (Becker / McCall 1990: 6). Die besondere Stärke des ‚arc of work‘-Konzeptes liegt hierbei darin, auf empirischem Weg zeigen zu können, dass berufliches Handeln häufig projektförmig verläuft und sich regelmäßig durch sowohl
simultan als auch sequenziell auftretende Segmente und Einheiten konstituiert.
Zudem zeigt sich die theoretische Stärke interaktionistischer Konzepte, hier
am Beispiel des ‚arc of work‘-Konzeptes, deutlich an ihrer methodischen Flexibilität und ihrem Augenmerk auf das Kontingente an sozialen Prozessen. Mit diesem
Forschungsstil verbinden sich demnach keine Vorgaben, spezielle Phänomene zu
untersuchen oder wie Becker (1992: 19 f.) dies formuliert:
„Symbolic interactionist theory lacks a body of substantive propositions that would
have directed our attention to particular phenomena in the way that, for instance, a
psychoanalytically based theory might do. […] The areas we found ourselves concentrating on were consistent with our general theoretical assumptions but did not flow
logically and inevitably from them“.
Schließlich verbindet sich der hier referierte interaktionistische Forschungsstil
mit einer konsequent empirischen und komparativen Forschungspraxis, die in
ihrer Komplexität und forschungsmethodischen Versiertheit nichts an ihrer beispielgebenden Bedeutung für aktuelle Studien der Arbeits- und Organisationssoziologie der Gegenwart eingebüßt hat.
322
Kirstin Bromberg
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Komparative Verfahren und Grounded Theory
Uta Liebeskind
1
Einleitung
Zieht man auf dem „Warentisch“ empirischer sozialwissenschaftlicher Forschung
an dem Zipfel, auf dem „Vergleich“ geschrieben steht, dann entfaltet sich nach
sehr ergiebigem Ziehen ein überaus buntes Tuch. Dieses Tuch weist vielschichtige Facetten und Verweise in alle Richtungen sozialwissenschaftlicher Forschung
auf. Das Thema rührt an sehr grundsätzliche Fragen wie etwa: Was heißt eigentlich „wissenschaftliches Erkennen“ ? Was ist unter dem Begriff „Theorie“ zu verstehen ? Welches ist die eigene Position als Forscher1 im Forschungsfeld ? Diese
Fragen werden in diesem Artikel nicht systematisch beantwortet, vielmehr durchmisst der Artikel das bunte Tuch anhand eines einzelnen Fadens und berührt
die genannten Fragen dabei am Rande. Dieser durchgehende Faden besteht in
einem Vorschlag, wie Grounded Theory2 genutzt werden kann, um inhaltlich vergleichende empirische Forschungsprojekte anzugehen. Als illustrierendes Beispiel
dient ein empirisches Projekt der Autorin, das in französisch-deutscher Perspektive die soziologische Betrachtung der Lehre an der Universität zum Inhalt hatte
(Liebeskind 2011).
1
2
Die Autorin hat sich bemüht, den Text in geschlechtergerechter Sprache zu verfassen. Im Text
werden deshalb aleatorisch mal weibliche, mal männliche Formen zur Bezeichnungen von Personen verwendet. Vor allem im Plural ist das mitunter eine irritierende Lösung, weswegen auch
auf die Schreibweise mit Binnen-I zurückgegriffen wird.
Der Ausdruck „Grounded Theory“ bezeichnet sowohl das spezifische Set an Forschungsmethoden,
die den gesamten Forschungsprozess strukturieren, als auch das Ergebnis des Forschungsprozesses selbst, der nämlich zur Entwicklung einer „grounded“, meint: gegenstandsbezogenen Theorie
führen soll. In der Fachliteratur ist deswegen zur Unterscheidung zwischen Methode und Ergebnis oft von „Grounded Theory Methode“ bzw. -„Methodologie“ („grounded theory methods“ bzw.
„grounded theory methodology“) die Rede (s. z. B. Charmaz 2005; Mey / Mruck 2011a). In diesem
Artikel geht es, sofern nicht explizit anders gekennzeichnet, um die Diskussion der Methode,
weswegen der ursprüngliche, auch von den Vätern der Methode so eingeführte Begriff „Grounded Theory“ benutzt wird.
326
Uta Liebeskind
Ziel des Artikels ist es zum einen, die Leserin im Hinblick auf ihre eigenen
empirischen Projekte für die Vielschichtigkeit des sozialwissenschaftlichen Vergleichens zu sensibilisieren. Zum anderen möchte der Beitrag aufzeigen, welche
Chancen konkret Grounded Theory für vergleichende Projekte bietet. Der Beitrag
richtet sich damit nicht nur an diejenigen, die nach Grounded Theory arbeiten
wollen. Die Überlegungen zum Vergleichen, die im Zusammenhang mit Grounded Theory angestellt werden, markieren wichtige Anhaltspunkte, die die Reflexion und Auswahl konkreter Forschungsschritte in vergleichenden empirischen
Projekten generell systematisieren helfen, – und so mag der Beitrag all denjenigen
Anregungen bieten, die an inhaltlich vergleichenden Projekten interessiert sind.
Es wird nun zunächst dargelegt, was es bedeutet, in der Soziologie über verschiedene soziale und kulturelle Kontexte hinweg inhaltlich vergleichend zu arbeiten.3 In einem zweiten Schritt folgt dann eine kurze Vorstellung der Grounded
Theory unter dem Blickwinkel der zuvor entwickelten Überlegungen zum Vergleichen.4 Daraufhin wird zur Illustration ein Beispiel aus einem konkreten Forschungsprojekt entfaltet: Es wird ein deutsch-französischer Vergleich auf dem
Feld soziologischer Hochschulforschung erarbeitet. Im Fazit werden dann die
wichtigsten Punkte noch einmal zusammengetragen. Zudem wird dort auch noch
einmal aus allgemeiner Perspektive auf Grounded Theory in der vergleichenden
Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung zu blicken sein.
2
Was heißt „Vergleichen“ in der empirischen Sozialforschung ?
Explizit auf Vergleiche abstellende Arbeiten nehmen immer mehr Raum in der
sozialwissenschaftlich-empirischen Forschungslandschaft ein: So, wie die Lebensverhältnisse der Menschen überall auf der Welt längst nicht mehr innerhalb nur
nationaler Bezugsrahmen verankert sind, haben aktuelle sozialwissenschaftliche
Fragestellungen mehr und mehr einen interkulturellen bzw. internationalen und
3
4
Der Artikel stützt sich allerdings nicht auf einen wohl bestimmten Begriff von Kultur, der zunächst systematisch zu entwickeln wäre. Für eine Einführung in die Kultursoziologie und ihre
Begriffsbildung s. z. B. Wohlrab-Sahr (2010).
Als allgemeine Einführung in den Forschungsstil ist dieser Artikel nicht geeignet. Wer eine methodologisch fundierte und zugleich praktisch orientierte Einführung zu Grounded Theory erhalten möchte, sollte z. B. in Przyborski und Wohlrab-Sahr (2008: Kap. 9.1) nachlesen oder, falls
man sich für die (jeweils auch debattierten) Weiterentwicklungen der Grounded Theory interessiert, in Strauss und Corbin (1996) oder Charmaz (2006) nachschauen. Für eine Darstellung, die
sowohl in das praktische Vorgehen nach Grounded Theory als auch in die wissenschaftshistorische Herkunft und die erkenntnistheoretischen Grundlagen einführt, s. Strübing (2008).
Komparative Verfahren und Grounded Theory
327
damit vergleichenden Aspekt. Es liegt also nahe, beispielsweise Bildungs- und Erwerbsbiografien nicht mehr aus dem Kontext nur eines Landes heraus verstehen
zu wollen, sondern vielmehr Biografien eingebettet in internationale Perspektiven
zu betrachten, um übergreifende Zusammenhänge zu erkennen oder eben nationale Besonderheiten von Bildungs- und Arbeitsmarktsystemen herauszuarbeiten (s. z. B. Allmendinger 1989 oder den ebenfalls als Klassiker zu bezeichnenden
Sammelband von Müller und Shavit 1998, für ein neueres Beispiel aus der qualitativen Arbeitsmarktforschung s. Nohl et al. 2010, darin insbesondere die Einleitung). Einige Forschungsfelder sind geradezu dadurch definiert, dass in irgendeiner Form Vergleiche zwischen kulturell unterschiedlichen Gruppen angestellt
werden. Dies trifft z. B. auf die Migrationsforschung zu, die – wie auch immer ein
Projekt konkret ausgerichtet sein mag – mit unterschiedlichen kulturell geprägten
Orientierungen zentral umgehen muss. Was aber heißt eigentlich „Vergleichen“ ?
Vergleichen an sich ist ein völlig alltäglicher Vorgang in der wissenschaftlichen Praxis; der Vergleich ist eine der fundamentalen Methoden des Erkenntnisgewinns: Er ist der Schlüssel zum induktiven und deduktiven Schließen, weil die
Gleichartigkeit von Objekten bzw. die Übereinstimmung von Gesetz und Randbedingungen nur auf Basis von Vergleichen möglich ist.5 Vergleichbarkeit hängt
dabei an einer wichtigen Bedingung: Die zu vergleichenden Objekte müssen Träger eines gemeinsamen Merkmals sein. Verschiedene Äpfel kann man nur deswegen miteinander vergleichen, weil sie sämtlich ein den Äpfeln typisches Farbspektrum, Säurespektrum, eine den Äpfeln typische Form aufweisen. Birnen kann
man deswegen nicht mit Äpfeln vergleichen, weil sie diese gemeinsamen Merkmale eben sämtlich nicht mit den Äpfeln teilen. Dieser von den Vergleichsobjekten zu teilende Maßstab wird auch das tertium comparationis, das Dritte des Vergleichens, genannt.6
5
6
Damit ist auch Messen, ein in der quantitativen Sozialforschung zentrales Element, nichts anderes als Vergleichen: Ein empirisches Relativ ist qua Vergleich adäquat in ein numerisches Relativ
zu übersetzen. Wie das Messen, also genau diese vergleichende Übertragungsleistung, im Falle
kulturübergreifender Forschung zu geschehen hat, wird in der quantitativen Forschung intensiv diskutiert, allerdings orientiert sich die Diskussion eher an der Harmonisierung der kulturell
geprägten Begriff lichkeiten: Das Problem, das beim Messen mit standardisierten Erhebungsinstrumenten entsteht, ist, dass alle Beteiligten, also sowohl die Forscherin als auch jeder einzelne Befragte, potenziell jeweils etwas anderes unter den benutzten Indikatoren verstehen.
Werden z. B. alle Befragten in einer in verschiedenen Ländern ausgeführten Studie das Gleiche
verstehen unter „gerechtem Einkommen“ oder unter „einer der Ausbildung adäquaten Beschäftigung“ ? S. dazu z. B. Harkness et al. (2003), auch Hoffmeyer-Zlotnik und Wolf (2003).
Zur Verdeutlichung: Selbstverständlich lässt sich einwenden, dass man Äpfel und Birnen sehr
wohl miteinander vergleichen kann. Das gilt aber nur dann, wenn man sie in ihrer gemeinsamen
Eigenschaft als Kernobst betrachtet. Dann ist aber das Ziel des Vergleiches, etwas über die Eigen-
328
Uta Liebeskind
In der Soziologie spielte der Vergleich von Beginn an eine bedeutende Rolle.
Sowohl Max Weber als auch Emile Durkheim nutzten den Vergleich zur Theoriebildung; Durkheim setzte gar das Vergleichen als die einzige zulässige Methode
der Soziologie ein (Durkheim 1984). Später ist die Art und Weise, wie Emile
Durkheim das soziologische Vergleichen dachte, als kulturblind kritisiert worden (Matthes 1992a: 79 ff.). In jedem Fall aber zeigt die Durkheimsche Einsetzung
des Vergleichs als Kardinalmethode der Soziologie ganz klar, dass das Vergleichen
keineswegs nur abzielt auf das Verstehen unterschiedlicher gesellschaftlicher Phänomene oder Einheiten, sondern dass dem Vergleich vielmehr erhebliche methodologische7 Bedeutung zukommt: Der Vergleich wird nicht als l’art pour l’art, als
das nebeneinanderstellende Betrachten zweier Vergleichsgegenstände ausgeführt,
sondern er kann aufgefasst werden als ein Mittel zum Erkenntnisgewinn, zur soziologischen Theoriebildung schlechthin (vgl. Kohn 1987).8 Max Weber nutzte
im Gegensatz zu Emile Durkheim den Kulturvergleich in seiner Theoriebildung
auch dazu, seinen eigenen Standpunkt zu relativieren, er erkannte also, dass die
eigene Begriffsbildung der eigenen Kultur verhaftet ist. Damit ist in seinem Denken schon angelegt, was als das Wesentliche des soziologischen Vergleiches gelten kann.
Obwohl nun dem Vergleich in der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung
eine wichtige Rolle zukommt, wird er methodologisch, also hinsichtlich seiner
Voraussetzungen und Möglichkeiten zur Theoriebildung, nur selten reflektiert.9
7
8
9
schaften von Kernobst zu erfahren, und nicht, Erkenntnisse jeweils über Äpfel und / oder Birnen
zu erhalten.
Oft werden die Begriffe „methodologisch“ und „methodisch“ synonym verwendet, was nicht
ganz richtig ist. Methodologie ist die Lehre davon, auf welche Weise Erkenntnis überhaupt gewonnen werden kann. Der Begriff gehört also in den Bereich der Wissenschaftstheorie. Methoden hingegen sind die sehr konkreten Werkzeuge, mit denen dann wissenschaftliche Erkenntnisse konkret hervorgebracht werden. Methodologische Entscheidungen sind immer mit
theoretischen Entscheidungen verknüpft. Das ist der Grund, warum gerade in der qualitativen
Sozialforschung die Begriffe „Methode“ und „Methodologie“ ineinander verschwimmend gebraucht werden: Eine jede Methode (z. B. also die Dokumentarische Methode, die Objektive Hermeneutik oder eben die Grounded Theory) hat einen methodologisch-theoretischen Hintergrund,
mit dem grundsätzliche theoretische Fragen, etwa das Akteurs- oder Strukturverständnis, oft
schon festgelegt sind.
Für ein Beispiel in der Soziologie s. Richard Münchs „Kultur der Moderne“, wo in der Einleitung
zu lesen ist: „Ich erzähle hier keine Geschichte einzelner Gesellschaften. Meine Absicht ist eine
andere: ein zusammenhängendes und nach einzelnen Gesellschaften differenziertes Verständnis
der Kultur der Moderne zu gewinnen“ (Münch 1986: 34).
Das wird im Übrigen der Vergleichenden Politikwissenschaft oft vorgeworfen, die ihre Erkenntnisse allein auf den Vergleich stützt, denselben aber kaum methodologisch diskutiert oder methodisch näher fixiert (Nohlen 1995a: 833 f.).
Komparative Verfahren und Grounded Theory
329
Eine bedeutende Schneise in das Nachdenken über das Vergleichen in der Soziologie schlug einst Joachim Matthes mit seinen Ausführungen zur „Operation called ‚Vergleichen‘“ (Matthes 1992a). Matthes, der zuletzt selbst hauptsächlich kulturvergleichend arbeitete, kondensiert in diesem Aufsatz seine Kritik am
Ethnozentrismus der westlich geprägten Soziologie: Theoriebildung würde häufig
(nicht zuletzt in Fortsetzung Durkheimscher Tradition) faktisch mit einem Anspruch auf Universalität betrieben, der von kulturellen Kontexten der Theoriebildung vollkommen absieht. Er bezeichnet dieses Vorgehen als „Nostrifizierung“
(Matthes 1992a: 84), also als Vereinnahmung des Fremden durch die Begriff lichkeiten des Eigenen. Dies geschieht selbst dann, wenn sich die Theoriebildung ausdrücklich auf Vergleiche mit anderen Gesellschaften stützt. Am Beispiel des Konzepts der westlichen Kleinfamilie, das in ethnologischen Studien unreflektiert an
andere, außereuropäische Gesellschaften herangetragen wurde, illustriert er seinen Gedankengang. Auf diese Weise zu „vergleichen“ heißt, sich stillschweigend
von der Suche nach einem tertium comparationis zu verabschieden. Das tertium
comparationis, das beides zu Vergleichende eint und dessen gemeinsame Qualität
darstellt, ist dann kein gemeinsames Drittes mehr, sondern nur noch eine Projektion aus dem eigenen Standpunkt heraus, die auf den Vergleichsfall angewendet
wird. Äpfel werden dann mit Birnen verglichen, aber letztere werden dann mit
den nur den Äpfeln typischen Eigenschaften beschrieben.
Einen wichtigen Anteil an dieser „nostrifizierenden“ Art des Vergleichens hat
die Vorstellung von Gesellschaften und / oder Kulturen als gegeneinander abgeschlossene Einheiten. Matthes spricht vom meist räumlich abgrenzbaren „Gebildecharakter“ (1992a: 86), der der Gesamtheit aller Angehörigen einer Kultur
oder Nation unterschwellig attribuiert wird. Hinter dieser Attribuierung verbirgt
sich letztlich der spezifische Gesellschaftsbegriff der westlichen Welt, der von der
Vorstellung von nach außen abgegrenzten Nationen bestimmt ist. Dass dem nicht
so ist, dass also „Gesellschaften“ oder „Kulturen“ sich immer durch Wechselwirkungen definieren, durch Austausch mit Angehörigen aus „anderen“ Gesellschaften, hat Friedrich Tenbruck (1992) gezeigt, auf den sich Matthes an der Stelle auch
bezieht. Nicht nur das Projizieren der eigenen Kategorien auf fremde Gesellschaften, sondern auch das vorgefertigte Denken in Kategorien von „eigener“ Gesellschaft und davon scharf abgrenzbarer „anderer“ Gesellschaft ist also dem tatsächlichen Vergleichen in der Soziologie abträglich.
Matthes schlägt als Remedium nun vor, einen „gemeinsamen Denkraum“ beim
Vergleichen zweier Kulturen zu eröffnen, in dem zwei oder mehr unvermeidbar
jeweils „nostrifizierend“ zu entwickelnde Standpunkte miteinander in Kommunikation treten. Im Dialog können die Anhänger beider Standpunkte einander auf
330
Uta Liebeskind
der Suche nach dem tertium comparationis korrigieren. Vergleichen wird damit,
so Matthes, zu einem letztlich nicht abschließbaren Prozess, der nicht mit endgültigen Befunden aufwarten kann, sondern der, nimmt man das Vergleichen ernst,
einen offenen Kommunikationsprozess abbildet.
Matthes’ Kritik richtete sich nun vor allem an das eher ethnologische Vergleichen von „modernen“ und „vormodernen“ Gesellschaften. Sein Gedankengang
zu „Nostrifizierung“ und zur impliziten Vorstellung vom „Gebildecharakter“ sozialer Gruppen ist aber unbedingt auf jeden anderen soziologischen Vergleich zu
übertragen: Im soziologischen Vergleich sollte immer die Idee des sozialen Austauschs über abstrakt festgesetzte Grenzen hinweg mitschwingen. Nur so ist die
Offenheit dafür vorhanden, dass soziale Mechanismen möglicherweise unabhängig oder nur graduell abhängig von nationalen oder kulturellen Zugehörigkeiten
wirken. In den Ergebnissen empirischer Forschungsarbeiten ist das schon deutlich
herausgearbeitet worden. Beispielsweise kommt so Karin Schittenhelm (2005) zu
dem Schluss, dass für junge Frauen im Übergang von Schule zur Berufsausbildung nicht eine bestimmte regionale oder kulturelle Zugehörigkeit das entscheidende Kriterium für den Verlauf des Übergangs ist, sondern hier andere, erst im
Forschungsprozess hervorgetretene Kriterien über alle betrachteten Gruppen hinweg in ähnlicher Weise wirken.
Was ist nun also, synthetisierend und ein erstes Fazit ziehend, das Spezifikum
soziologischen Vergleichens ? Wir lernen aus den Matthesschen Ausführungen,
dass sozialwissenschaftliches Vergleichen immer darum bemüht sein sollte, den
eigenen, notwendig „nostrifizierenden“ Standpunkt zu relativieren. Dabei sollte
die Forscherin möglichst versuchen, das „Eigene“ und das „Fremde“ nicht als
gegeneinander abgeschlossene Einheiten zu denken. Vergleichs„objekte“ in der
Soziologie sind der vergleichenden Forscherin nicht völlig äußerliche Einheiten
(weswegen hier auch Anführungszeichen gesetzt worden sind). Gelingt diese Relativierung, so gerät das Verhältnis zwischen „Eigenem“ und „Fremdem“ zu etwas
Graduellem, und der Vergleich oszilliert zwischen den Polen des dem vergleichenden Forscher Vertrauten und des ihm eher Fremden. Dieses immer graduelle
Maß von Fremdheit und Vertrautheit lässt sich auch mit dem von Karl Mannheim geprägten Begriff der Standortgebundenheit des eigenen Denkens beschreiben (Mannheim 1964).Und genau dieses ist auch der zentrale Unterschied zu Vergleichsvorgängen etwa in der Naturwissenschaft oder im Alltag: Der Ausgang des
Vergleichs hängt von der Position des Vergleichenden ab, Subjekt und Objekt des
Vergleichens, also derjenige, der vergleicht und dasjenige, was er vergleicht, sind
gar nicht ganz eindeutig voneinander zu trennen.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
3
331
Vergleich und Grounded Theory
Grounded Theory nun bietet gute Möglichkeiten, diesen Überlegungen zur Relativierung des eigenen, kulturell geprägten Standpunkts in empirisch-vergleichenden Forschungsprojekten gerecht zu werden. Im Folgenden geht es darum, die
Eignung von Grounded Theory für inhaltlich-vergleichende soziologische Arbeiten aufzuzeigen.
3.1
Die methodologische Perspektive
Schon das Nachdenken über den Namen „Grounded Theory“ führt auf das Thema
des Artikels, auf den Vergleich hin. Zunächst einmal deutet nämlich der Name
selbst nicht auf eine Methode hin, sondern auf eine bestimmte Art von Theorie,
eben eine „grounded“, also eine in Daten begründete Theorie (s. FN 2). Damit
ist das angestrebte Ergebnis des Forschungsprozesses zum Namen für eine Methode geworden. Grounded Theory ist von ihren Vätern, Barney Glaser und Anselm Strauss, aus einer Kritik an der bestehenden Art, Gesellschaft theoretisch
zu denken, entwickelt worden. Die Entwicklung von Grounded Theory war eine
Antwort auf die empirisch kaum überprüfbaren „grand theories“, die in den 60erJahren die soziologische Debatte in den USA bestimmten. Glaser und Strauss
wollten gegenstandsbezogene Theorien von mittlerer Reichweite entwickeln. Sie
hatten dabei auch ein Erkenntnisziel – und das bleibt in den neueren Diskussionen um die Methode oft unerwähnt –, das über eine bloße gegenstandsbezogene
Theorie hinausgeht: Die im Forschungsprozess A entstehende Grounded Theory
soll später in Beziehung gesetzt werden zu „grounded theories“ aus anderen Gegenstandsbereichen, die in Forschungsprozessen B, C und D entstanden sind
(s. Glaser / Strauss 1967: 251 ff.). Auf diese Weise soll sich eine gegenstandsbezogene Theorie in das übergreifende Gebäude einer soziologischen Theorie einordnen, die dann eben nicht mehr eine empirisch nicht gut prüfbare „grand theory“
ist, sondern die „tatsächlich zu dem passt, was in alltäglichen Situationen ‚los ist‘“
(Glaser / Strauss 1967: 97, Übersetzung UL). Ein wichtiger methodologischer Aspekt, der sich mit Grounded Theory verbindet, ist also u. a. in der Frage zu sehen,
welchen Stellenwert das Forschen nach Grounded Theory in der Generierung einer
332
Uta Liebeskind
zwar empirisch gebundenen, aber nicht nur einen einzelnen Gegenstand betreffenden, allgemeinen soziologischen Theorie einnimmt.10
An dieser Stelle kreuzt nun der Faden auf unserem bunten Tuch ein fast uferloses Muster, die Frage nämlich, was eigentlich soziologische Theorie heißt. Funktionalistisch-systemtheoretische Theorien treffen auf mikrosoziologisch orientierte Handlungstheorien, kritische Theorie auf positivistisches Denken. Diesen
fundamentalen Fragen wird an dieser Stelle allerdings nicht weiter nachgegangen.11 Im Hinblick auf die hier leitende Fragestellung ist an dieser Stelle lediglich festzuhalten, dass das Ergebnis eines Grounded Theory-Forschungsprozesses
selbst idealerweise wieder Gegenstand eines Vergleiches ist, nämlich eines strukturellen Vergleichs der erarbeiteten Theorie mit auf die gleiche Weise erarbeiteten
Theorien aus anderen Forschungsprojekten. Nimmt man diesen Anspruch ernst,
ist ihm bereits eine Chance auf den von Matthes eingeforderten gemeinsamen
Denkraum inhärent, wenn auch noch auf sehr abstrakte Weise: Der Nutzen einer
grounded theory zeigt sich dann, wenn sie mit anderen Theorien, die ihrerseits
ebenfalls gebunden sind an den sozialen Standort ihrer Autoren, konfrontiert
wird.
3.2
Zur Methode
Die Parameter, die ein Forschungsvorhaben zu einem nach Grounded Theory geleiteten Vorhaben qualifizieren, benannte Anselm Strauss in einem Rückblick auf
sein Schaffen wie folgt: Grounded Theory heißt immer: 1) kodieren, 2) theoretisch basiert Fälle auswählen und 3) ständig vergleichen (Strauss 2011: 74). Im Folgenden wird es nun darum gehen, die Eignung dieser zentralen methodischen
10 In einem anderen Sinne liegt der methodologische Aspekt der Grounded Theory darin begründet, welches Verständnis von Akteur und Struktur diejenige hat, die nach Grounded Theory arbeitet. In der Grundlegung von Glaser und Strauss (1967) war das nicht klar ausgeführt, allerdings
entfacht sich später am von Anselm Strauss eingeführten Kodierparadigma (s. Strauss 1994) ein
Streit um genau diese Frage. Spätere Weiterentwicklungen, z. B. die von Kathy Charmaz (2006),
nehmen auf die methodologische Einbettung der Methode eindeutig Bezug. Sie teilen damit mit
anderen etablierten Forschungsmethoden der qualitativen Sozialforschung die Überzeugung,
dass eine derartige Positionierung zu grundsätzlichen theoretischen Annahmen für die Generalisierung der empirischen Ergebnisse notwendig ist. Diese eindeutige Positionierung hinsichtlich des Verhältnisses von Akteur und Struktur bleibt bei den unzähligen Arbeiten, die sich auf
Grounded Theory beziehen, allerdings meistens aus.
11 Allerdings sollte jede empirisch Forschende sich in ihrem Projekt zu Fragen grundsätzlicher
theoretischer Einbettung positionieren, s. FNen 7 und 10.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
333
Elemente der Grounded Theory für inhaltliche Vergleiche aufzuzeigen. Dazu ist
zunächst sehr kurz aufzuführen, was die drei von Strauss genannten Punkte im
Rahmen der Grounded Theory bedeuten.
Insbesondere das ständige Vergleichen, die constant comparative method, wie
Glaser und Strauss das den gesamten Forschungsprozess prägende Vergleichen
nannten (1967: 101 ff.), ist als zentrales Kennzeichen der Grounded Theory aufgenommen worden und als starker Impuls in die qualitative Methodenentwicklung
ganz allgemein eingegangen. Es wäre allerdings zu kurz gedacht, nur auf den der
Methode inhärenten Vergleichsanspruch hinzuweisen, um die Methode auch für
inhaltliche Vergleiche verschiedener „Gesellschaften“ oder „Kulturen“ zu qualifizieren.12 Deswegen wird nun näher ausbuchstabiert, wie genau die methodologischen Überlegungen zum Vergleich und die constant comparative method im
Zusammenhang mit den anderen beiden von Strauss genannten Punkten zusammengehen.
Anselm Strauss nannte zunächst das Kodieren als eines der drei Charakteristika der Grounded Theory. Zwar unterscheiden sich die einzelnen Versionen der
Methode hinsichtlich der genauen Vorgehensweise und der Auffassungen vom
Kodieren voneinander,13 aber gemeinsam ist allen, dass das Kodieren als der relevante interpretative Schritt bezeichnet wird. Über das offene Kodieren zu Beginn des Auswertungsprozesses sind sich alle AutorInnen zur Grounded Theory
einig, und dieser Arbeitsschritt enthält viel vom „Geist“ der Grounded Theory. In
dieser allerersten Phase des Auswertungsprozesses werden Textstellen (bzw. Ausschnitten aus anderen Formen von Auswertungsmaterial, z. B. Beobachtungsprotokollen aus nicht standardisierten Beobachtungssituationen) Codes zugeordnet.
Dabei besteht von Anfang an der Anspruch, theoretisch gehaltvoll zu arbeiten,
also einzelnen Materialstellen eine theoretische Dimension zu geben. Daten werden mit theoretischem Denken konfrontiert, allerdings in einer ungebundenen
Weise, ohne also sogleich theoretisches Vorwissen direkt zur Kodierung zu benutzen. Auf das offene Kodieren folgen, und auch darüber sind sich die verschiedenen AutorInnen der Grounded Theory-Methoden im Grunde einig, (in irgend-
12 So interpretieren etwa Stern und Pyles (1985) die Vorzüge der Grounded Theory für inhaltliche
Vergleiche.
13 Während das axiale Kodieren ein Begriff aus Straussschem bzw. Strauss-Corbinschem Repertoire
ist und von Barney Glaser heftig angegriffen wurde, ist der Begriff des fokussierten Kodierens der
Version der Grounded Theory (Strauss 1994; Strauss / Corbin 1996) entlehnt, die Kathy Charmaz
(2006: 42 ff.) vorgeschlagen hat.
334
Uta Liebeskind
einer Form) weitere, fortführende Kodiervorgänge.14 Dieser Schritt ist allerdings
ohne die constant comparative method nicht denkbar. Codes werden in fortgeschrittenen Kodierphasen vor allem auf Basis von internen und externen Vergleichen gefunden und vergeben: Interviewstelle a wird mit einer weiteren Interviewstelle b zum gleichen Thema verglichen. Dies geschieht sowohl innerhalb ein
und desselben Falls (Interview oder Beobachtung oder Gruppendiskussion oder
Dokument etc.), als auch über verschiedene Fälle hinweg. Auf diese Weise werden
Codes verfeinert, zu Kategorien verdichtet, dieselben dimensionalisiert und Beziehungen zwischen Codes und / oder Kategorien hergestellt.
Das ständige Vergleichen schließt alle zum Projekt gehörigen Textformen ein:
Daten, Codes, daraus entstehende Kategorien und letztendlich die elaborierten
theoretischen Konzepte werden in allen relevant erscheinenden Kombinationen
miteinander verglichen – also z. B. Daten mit Kategorien, Konzepte (meint: z. B.
neu gebildete Hypothesen über Zusammenhänge) mit Daten, Codes mit Konzepten und so weiter. In diesen Prozess eingeschlossen ist explizit auch der Vergleich von empirischem Material und Forschungsliteratur zum Thema. Theoretische Konzepte in dieser Weise nur als „sensitizing concepts“, also als Ideenbringer
zu verwenden, entspricht dem Prinzip der Offenheit, das die theorieorientierte
qualitative Sozialforschung insgesamt leitet.
Im ständigen Vergleichsprozess bildet sich nach und nach die so genannte core
category, die Kernkategorie, heraus, um die herum sich die Konzepte gruppieren,
die die entstehende Theorie ausmachen. Für die Interpretation des Materials ist
also das Gegenüberstellen von Daten und Befunden sehr wichtig, die constant
comparative method wird damit zur eigentlichen heuristischen Technik: Codes,
Kategorien, Konzepte und letztlich die entstehende Theorie sind Ergebnisse aus
Vergleichen. Unter welchen Umständen aber trägt die constant comparative method
tatsächlich zur Etablierung eines von Joachim Matthes so genannten „gemeinsamen Denkraums“ in kultur- oder gesellschaftsvergleichenden Arbeiten bei ?
14 Zu den unterschiedlichen Versionen und damit zusammenhängenden Kodiervorschlägen möge
man z. B. die in FN 4 bereits genannten Lehrbücher konsultieren und auch die Strausssche (1994)
vs. Glasersche (1992) Variante zur Kenntnis nehmen.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
335
Die constant comparative method und das tertium comparationis
Der inhaltliche Vergleich über verschiedene kulturelle Kontexte hinweg ist letztlich durch Annahmen zu Unterschieden zwischen den betrachteten Gesellschaften motiviert – sei es durch die nähere Untersuchung tatsächlich bestehender Unterschiede oder durch das Hinterfragen unterstellter Unterschiede, sei es durch
die Frage, ob einst manifeste Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften tatsächlich noch bestehen oder ob sie vielmehr in Auflösung oder Veränderung begriffen sind. Derlei Vorannahmen sind sehr dominant, denn sie haben
letztlich das gesamte Forschungsvorhaben motiviert. Hätte man nicht die begründete Idee, dass zwei Gruppen, Länder, Systeme, Kulturen sich in den interessierenden Punkten unterscheiden oder ihnen gemeinhin ein Unterschied in diesen
Punkten unterstellt wird, der näher zu hinterfragen ist, wäre die Wahl nicht auf
diese zu vergleichenden „Einheiten“ gefallen.
Ein adäquates Studiendesign, das die oben referierte Kritik am „Denken in
abgrenzbaren Gebilden“ ernst nimmt, sollte nun aber in der Auswertung des Materials das Ziel haben, diese Annahmen zunächst so gut wie möglich auszublenden. Hier ist zu unterscheiden zwischen dem gesamten Forschungsdesign und
dem Auswertungsprozess: In der Festlegung des Forschungsdesigns muss stets
klar im Bewusstsein bleiben, dass implizit oder explizit die Annahme zur Unterschiedlichkeit der involvierten Gruppen mitschwingt. Jeder Schritt im Forschungsdesign sollte in dieser Hinsicht reflektiert werden, was ganz besonders
bei der Sammlung des Materials zu beherzigen ist. Im Auswertungsprozess allerdings sollten die forschungsleitenden Vorannahmen zur Unterschiedlichkeit der
betrachteten Gruppen zunächst suspendiert werden bzw. offen und sehr flexibel
als sensitizing concepts benutzt werden.
In diesem Sinne ist der auszuwertende Materialkorpus für die Auswertung
nicht gemäß der inhaltlich vergleichenden Fragestellung vorab aufzuspalten.
Codes und Kategorien sollten im offenen Kodierverfahren simultan über das gesamte Material hinweg gesucht werden. Die fortführenden Kodierschritte sind
nun für den inhaltlichen Vergleich entscheidend. Hier zeichnen sich nun durch
den expliziten Vergleich von Materialstellen, Codes und aus der Literatur bekannten Konzepten Kategorien der zu formulierenden grounded theory ab. Die Vergleiche sollten hier nicht entlang der qua Forschungsfrage eingeführten Vergleichslinien erfolgen, vielmehr ist über das gesamte Material hinweg nach minimalen
und maximalen Kontrasten zu suchen. Im ständigen Vergleichen zeichnet sich die
core category ab, anhand derer sich das interessierende Phänomen beschreiben
336
Uta Liebeskind
und darstellen lässt. Die core category ist die Kategorie, mit der alle Fälle etwas zu
tun haben, unabhängig davon, zu welcher Vergleichsgruppe der Fall gehört.
Für das inhaltliche Vergleichen gewinnt die Kernkategorie eine ganz besondere Bedeutung: Material im Modus ständigen Vergleichens zu analysieren, ist
nichts anderes als die Suche nach dem tertium comparationis. Die Forschungshaltung, die sich im ständigen Vergleichen zeigt, ist genau die, die zur unvoreingenommenen Suche nach dem gemeinsamen Maßstab notwendig ist.
Allerdings ist die constant comparative method selbst noch kein Garant dafür,
dass tatsächlich ein Auswertungsprozess gelingt, der so wenig wie möglich „nostrifiziert“, der also nach Möglichkeit das Material des Vergleichsfalls nicht nur in
den Begriffen der eigenen, kulturell geprägten Vorstellungen fasst. Einen gemeinsamen Oberbegriff über Codes und etablierte Kategorien zu finden, ist keine Garantie dafür, dass die Forscherin den Blickwinkel des Eigenen verlassen hat. Es ist
deswegen wichtig, neben der nicht vorab nach den Vergleichsgruppen zu trennenden Materialanalyse bewusst nach weiteren Möglichkeiten zu suchen, die den
eigenen Standpunkt im Auswertungsprozess korrigieren und relativieren.
Der Königsweg zur Relativierung des eigenen Standpunktes ist sicherlich, die
üblichen Formen der intersubjektiven Kontrolle in der qualitativen Sozialforschung auszunutzen: Die beste Möglichkeit, die Materialinterpretation tatsächlich in einem „gemeinsamen Denkraum“ stattfinden zu lassen ist wohl, das Material ganz oder in Teilen in einer Forschergruppe auszuwerten, die in international
vergleichenden Projekten kulturell gemischt besetzt sein sollte. Hier besteht eine
gute Chance, Sichtweisen einzufangen, die man allein oder in einer nur der eigenen Kultur angehörigen Gruppe nicht hätte entwickeln können.
Eine kulturell gemischte, regelmäßig zusammen arbeitende Forschergruppe
zu etablieren, ist sicherlich nur in den wenigsten Forschungskontexten möglich.
Es stehen aber viele weitere Wege zur interkulturellen Kontrolle des Auswertungsprozesses offen. Um gezielt Unterschiede zwischen kulturell geprägten Deutungen
„anzufärben“, kann der Forscher auch vor oder während der Feldphase Gespräche mit Expertinnen aus dem jeweils anderen kulturellen Kontext führen, wobei
der Begriff des „Experten“ hier sehr weit zu fassen ist. Im Projekt, aus dem das
Forschungsbeispiel stammt, waren Experten etwa Menschen, die ausschließlich
oder längere Zeit an einer französischen Universität studiert hatten, aber auch
Franzosen bzw. Französinnen ganz allgemein, da jedes Gesellschaftsmitglied gesellschaftlich geteilte Deutungen zu den Institutionen des Bildungssystems unterhält. „Experten“ sind weiterhin natürlich auch ExpertInnen im engeren Sinne, im
vorliegenden Fall also etwa französische Forscherinnen, die sich selbst mit dem
Gegenstand befassen.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
337
Auch die üblichen wissenschaftlichen Gepflogenheiten können, wenn sie bewusst im interkulturellen Kontext des Projekts gestaltet werden, zur Relativierung
des von der eigenen Kultur geprägten Standpunkts beitragen: (Zwischen-)Ergebnisse der Forschungsarbeit etwa auf internationalen Konferenzen zu präsentieren
oder mit KollegInnen aus dem oder den jeweils anderen Ländern zu diskutieren,
wird erhellende Impulse zu den eigenen Interpretationen bieten.15
Eine sehr wichtige, weil in der Regel stets zugängliche Möglichkeit zur interkulturellen Kontrolle ist es, die Forschungsliteratur aus dem anderen Land bzw.
den anderen Ländern in besonderer Weise zur Auswertung heranzuziehen. Verabschiedet man sich nämlich von der meist implizit waltenden Annahme, dass publizierte Forschungsergebnisse kulturell „neutral“ sind, meint: unbeeinflusst von
den sozialen, historischen und kulturellen Gegebenheiten, in die die Forschung
eingebettet war, betrachtet man also Forschungsliteratur aus einem diskursanalytischen Blickwinkel, dann wird man von ihr nicht nur in ihrer Eigenschaft als
„Faktenlieferantin“ profitieren, sondern man wird gleichzeitig eine weitere Datenquelle zur Verfügung haben: Forschung geschieht niemals im sozial und kulturell
neutralen Raum,16 und so lassen sich allein z. B. aus einer Analyse der Schwerpunkte, die in der wissenschaftlichen Debatte um den Forschungsgegenstand hervortreten, Hypothesen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Kulturen formulieren.
Theoretical Sampling und vergleichende Fragestellungen
Auch theoretical sampling, der dritte im Bunde der von Strauss genannten Punkte
zur Charakterisierung von Grounded Theory, kann bewusst genutzt werden, um
die forschungsleitenden Vorannahmen zur Unterschiedlichkeit der Vergleichsobjekte zu relativieren. Die grundsätzliche Idee des theoretical sampling ist, in Abhängigkeit von den ersten Auswertungsbefunden sukzessive weiter Fälle auszu15 Das schlägt im Prinzip auch Matthes selbst vor, für den der „gemeinsame Denkraum“ überhaupt
erst dann eröffnet ist, wenn reflektierende Begegnungen zwischen der Forscherin und Angehörigen der jeweils anderen Kultur stattfinden (Matthes 1992: 96).
16 Das ist nicht nur im Kontext von Nation und Kultur, sondern z. B. auch im Vergleich akademischer Disziplinen sichtbar (Becher / Trowler 2001, auch Knorr Cetina 2002). Sehr deutlich wird
die soziale Beeinflussung der Art, wie geforscht wird, im Kontext sich wandelnder Beziehungen von Forschung und Gesellschaft sichtbar: Die „Wissensgesellschaft“ und mit ihr neue Strömungen in der Steuerung von Wissenschaft und Forschung verändern wissenschaftliche Arbeitsweisen, hierin ausdrücklich inbegriffen die Themenwahl und das Kooperationsverhalten von
WissenschaftlerInnen (Braun 1999; Gibbons et al. 1994).
338
Uta Liebeskind
wählen, um über Phänomene, die sich bis dahin als relevant erwiesen haben, mehr
erfahren zu können. Das Material ist also idealerweise nicht auf einen Schlag in
nur einer Feldphase zu erheben, vielmehr wird das Sample erst nach und nach
zusammengestellt, je nachdem, welche Erkenntnisse sich aus den bisherigen Auswertungsgängen ergaben.
Zwar haben Glaser und Strauss einst theoretical sampling nicht speziell im
Hinblick auf vergleichende Forschungsprojekte vorgeschlagen, aber das Konzept passt sich nahtlos ein in die hier entfalteten Überlegungen zum Vergleichen,
denn es geht eine Symbiose ein mit der Tenbruckschen Idee der Kulturbegegnung:
Möglicherweise zeigt sich, dass sich Menschen aus zu vergleichenden Ländern
oder aus anderweitig unterschiedenen sozialen Kollektiven hinsichtlich der interessierenden Forschungsfrage gar nicht unterscheiden, sondern dass die Unterscheidungen in anderen Kriterien begründet liegen, z. B. im Bildungsniveau, im
Geschlecht oder im Zusammenspiel verschiedener Kriterien. Konsequentes theoretical sampling würde nun bedeuten, nicht vornehmlich nach Ländern weiterzusamplen, sondern Fälle vor allem nach den Kriterien auszuwählen, die sich bislang als relevant erwiesen haben.17
In Projekten, in denen theoretical sampling im ursprünglichen Sinne aus forschungspraktischen oder inhaltlichen Erwägungen heraus nicht möglich ist, kann
die Forscherin bezüglich des Samples vorab eine hilfreiche, auf einen gemeinsamen Denkraum hin abstellende Reflexion anstellen und im Sampling berücksichtigen: Welche Chancen bestehen im angestrebten Sample auf Diffundierung gesellschaftlicher Grenzen ? Im Fall des vergleichenden Projekts der Hochschullehre,
das nun im Folgenden zur Illustration herangezogen wird, sind diese Chancen
sehr groß: UniversitätswissenschaftlerInnen sind eine international hoch mobile
Gruppe, die mit großer Wahrscheinlichkeit Erfahrungen in anderen Universitätsund Wissenschaftssystemen gesammelt haben. Diese besondere Eigenschaft der
Angehörigen des untersuchten Feldes mag die Wahrscheinlichkeit erhöhen, bedeutsame Gemeinsamkeiten in den Deutungen universitärer Lehre zu finden.
17 Je stärker allerdings das Erkenntnisinteresse sich auf geteilte Wissensbestände und weniger auf
Handlungen und ihre Kontexte bezieht, desto weniger lässt sich in diesem ursprünglich gemeinten Sinn theoretisch samplen (s. Liebeskind 2011: 111 f.).
Komparative Verfahren und Grounded Theory
4
339
Ein Beispiel: Lehre an der Universität
Ein konkretes Beispiel aus der empirischen Forschung wird nun das soeben Entwickelte in einigen Punkten illustrieren. Die Darstellung ist notwendigerweise
beschränkt, nicht nur, weil es unmöglich ist, auf wenigen Seiten alle zum ständigen Vergleichen herangezogenen Materialstellen, Literaturauszüge und Auswertungstexte (also Codes und Memos) gemeinsam mit der Entwicklung der
entsprechenden Interpretationen zu präsentieren, sondern auch, weil die Arbeit
nach Grounded Theory immer den gesamten Forschungsprozess umfasst und zirkulär zwischen Materialsammlung und -auswertung hin- und herzuspringen ist,
je nachdem, welche Erkenntnisse der bisherige Auswertungsgang hervorgebracht
hat. Eine gewisse Spur des mäandernden Auswertungsvorgangs hinterlassen lediglich Memos, die chronologisch und thematisch gut zu organisieren sich im
Sinne der „Verwaltbarkeit“ des Auswertungsprozesses sehr anbietet. Weil der Auswertungsgang nachträglich kaum linearisiert und Schritt um Schritt transparent
gemacht werden kann, wird nun (allerdings schon im Lichte der Ergebnisse) versucht, den Auswertungsgang ex post nachzuzeichnen, ihn also anhand der vier
Materialstellen zu „simulieren“. Ziel dieses Textabschnittes ist es damit, an Hand
eines kleinen Materialauszugs insbesondere einige zentrale Punkte im Auswertungsprozess zu markieren, den Weg zur Interpretation so gut wie möglich nachzuzeichnen und dabei einige Techniken zu benennen, die den inhaltlichen Vergleichsprozess unterstützen.
4.1
Zur inhaltlichen Einbettung des Forschungsbeispiels
Das Forschungsprojekt zur Lehre an der Universität (Liebeskind 2011) war motiviert durch die tief greifenden Veränderungen, die die Universitäten in den letzten 20 Jahren erfahren hatten und noch immer erfahren. Insbesondere die Lehre
ist stark betroffen: In Deutschland und allen anderen Staaten der EU ist unter
dem Label „Bologna-Prozess“ mittlerweile flächendeckend das Bachelor- / MasterStudium etabliert worden, die Studienleistungen sind kleinteiliger, die Menge der
beizubringenden Leistungsnachweise ist größer geworden. Zudem werden die
Ansprüche an die Universitäten direkter. AbsolventInnen sollen qua Hochschulbildung optimal auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden.
Das Forschungsprojekt nun fragte danach, wie es inmitten dieser Veränderungen eigentlich um die Sicht der Akteure auf die universitäre Lehre steht. Es sollte
rekonstruiert werden, welches die sozial geteilten Muster sind, nach denen Profes-
340
Uta Liebeskind
sorinnen und Professoren die Lehre deuten und gestalten. Weil die bildungspolitischen Trends, die den Bologna-Prozess ermöglichten, nicht nur für Deutschland
gelten, sondern auch für Europa (und darüber hinaus), lag es nahe, das Thema in
ländervergleichender Perspektive zu bearbeiten. Die Wahl fiel auf Deutschland
und Frankreich als Vergleichsobjekte, weil beide Länder maßgeblich an der Etablierung des Bologna-Prozesses beteiligt waren und sie gleichzeitig sehr unterschiedliche Hochschulsysteme aufwiesen. Im Vergleich der Deutungsmuster von
Lehrenden aus zwei unterschiedlichen Systemen lässt sich besser erkennen, auf
welchen Boden die Hochschulreformen eigentlich gefallen sind.
Neben dieser französisch-deutschen Vergleichslinie wurde ferner vor dem
Hintergrund sehr verschiedener Fachkulturen (s. Becher / Trowler 2001, auch
Knorr Cetina 2002) die Studie bewusst auf zwei Disziplinen18 beschränkt: Gesprächspartner in den Interviews, die die zentrale Datenquelle des Projekts bilden, waren ProfessorInnen der Chemie und der Literaturwissenschaft bzw. den
lettres, wie das Fach in Frankreich genannt wird. Insgesamt wurden 26 Interviews
ausgewertet.
Eine zentrale Frage im Auswertungsverlauf der Interviewmaterials war die
nach den Zielen der Lehre: Welchen Sinn, welche Bedeutung messen die ProfessorInnen den Zielen ihrer Lehre bei ? Geht es ihnen um möglichst direkte Anschlussfähigkeit an das, was auf dem Arbeitsmarkt später nachgefragt werden
wird, oder stehen andere Ziele, etwa die Persönlichkeitsbildung der Studierenden,
die Verfolgung eigener oder allgemeiner Forschungsinteressen im Vordergrund ?
Eine der Fragen zur Lehrpraxis, auf deren Antworten hernach die Rekonstruktion der Ziele der Lehre hauptsächlich zurückging, war die Frage, was die Lehrenden ihren Studierenden jenseits des bloßen Lehrstoffes mitgeben wollen.19 Die
folgende Darstellung stützt sich auf eine kleine Auswahl aus den Antworten auf
diese Interview-Frage.
Die hier verwendeten Interview-Passagen stammen aus Interviews mit deutschen und französischen ProfessorInnen beider Fächer. Frau Sanden20 ist deutsche
18 Genau genommen sind es Angehörige jeweils gleicher Subdisziplinen beider ausgewählter Fächer. Die Subdisziplinen werden aus Gründen der Anonymisierung allerdings nicht genauer benannt.
19 Die Leitlinie in der Konstruktion des Leitfadens war, die Fragen so eng wie möglich an der konkreten Lehrpraxis und den konkreten Erfahrungen im Lehralltag zu orientieren (vgl. Helfferich
2005: 158 ff.). Allgemeine Reflexionen über die Situation der universitären Lehre waren in den
Gesprächen weniger von Belang.
20 Der Name ist wie alle folgenden ein Pseudonym; den InterviewpartnerInnen des Projekts ist Anonymität zugesichert worden.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
341
Literaturwissenschaftlerin, M. Guidon ist ebenso wie M. Tanguy französischer
lettres-Professor. Herr Kazmarek ist deutscher Chemiker. Die Interviewauszüge
sind sämtlich (mehr oder weniger) unmittelbare Antworten auf die Frage danach,
was den Studierenden jenseits der bloßen Lehrinhalte mitzugeben sei. Dort, wo
die Frage in etwas anderer Variante gestellt wurde, ist die Frage mit aufgeführt.
4.2
Material und Codes
Zunächst einmal werden die Materialstellen21 selbst und das Ergebnis des Kodierens dieser Materialstellen aufgeführt. Neben den Materialstellen und Codes sind
auch einige Code-Kommentare direkt im Anschluss an die Materialstellen festgehalten.22 Die hier aufgeführten Codes sind diejenigen, die zu Ende des Projekts
an den Materialstellen zu finden waren. Hier sind also Codes aus dem offenen Kodieren und aus selektiven Kodierschritten vermengt, ohne dass es im Nachhinein
möglich wäre, initiale Codes von veränderten oder auf immer selektiveres Kodieren hin vergebenen Codes und Kommentaren unterscheiden zu können.
Frau Sanden, Abs. 106:
Und ähm, was ich, was ich tatsächlich vermitteln will=Interesse is zu zu schwach gesagt. Also,
ich möchte, dass die ihre affektiven Reaktionen auf diesen Gegenstand kultivieren. ((kurze Unterbrechung)) dass die, also dass sie ihre, äh (sozusagen) ihre Interessen und ihre- ihr’n Leidenschaften auch zuhören lernen. Natürlich soll’n sie auch, das he- schließt ein, kritische Reflexion darauf, aber soviel in diesem Fach is oft so:::: trocken und die trau- Also, (sozusagen) sich
zu verlassen auf das was einen fasziniert und da weiterzumachen, ja? Ich glaub, das is so’n bisschen meine- Ja, ja, nee, nee, das mach ich.
Dieser Materialstelle wurden folgende Codes zugeordnet: „affektive Reaktionen
kultivieren“, „Interesse“ und „Literatur und Affekt“ vergeben.
21 Zur Transkription: Unterstreichungen geben die besondere Betonung des Wortes oder Wortteiles
wieder, aufeinanderfolgende Doppelpunkte das Langziehen einzelner Silben, Wörter in einfachen
Klammern nicht eindeutig Verständliches, Bindestriche abgebrochene Sätze oder Satzteile, Zahlen in Klammern die in Sekunden ungefähr gemessene Länge von Sprechpausen.
22 Die Codes und Kommentare sind teilweise nur einzelnen Sequenzen aus den zitierten Passagen
zugeordnet. Auf den genauen Beleg der entsprechenden Sequenz wurde hier verzichtet, weil der
Beleg an dieser Stelle nicht zum Argument beitragen würde.
342
M. Guidon, Abs. 41–42:
I: Hm. D’accord. Vous avez dit que vous
transmettiez quelque chose. Vous pourriez
expliquer ça? Qu’est-ce que vous transmettez
à vos étudiants?
P: Oui, c’est pas facile, c’est pas facile à
défini::r. Euh, j’essaie d::e leur apprendre à lire.
(2) A lire bien, d’essayer de, quand on est devant un texte, n’importe quel texte, de de le
lire vraiment. C’est très, très rare. Une vraie
lecture, c’est une chose de extrêmement rare.
Moi, je connais un écrivain français qui dit
que des bons écrivains, il y en a des tas, mais
il y a très peu de bons lecteurs. C’est beaucoup
plus rare qu’un bon écrivain, un bon lecteur.
Donc, si on peut essayer de devenir un bon
lecteur, c’est bien, c’est bien.
Uta Liebeskind
I: Hm. Gut. (.) Sie sagten, Sie übermitteln etwas. Könnten Sie das erklären? Was vermitteln Sie Ihren Studierenden?
P: Ja, das ist nicht einfach, das ist nicht einfach zu definieren. Ähm, ich versuche, ihnen
das Lesen zu lehren. (2) Gut zu lesen, zu versuchen, wenn man einen beliebigen Text vor
sich hat, diesen wahrhaftig zu lesen. So etwas gibt es nicht oft. Echte Lektüre ist etwas
höchst Seltenes. Ich kenne einen französischen Schriftsteller, der sagt, es gibt unzählige
gute Schriftsteller, aber es gibt nur sehr wenige gute Leser. Ein guter Leser ist viel seltener als ein guter Schriftsteller. Wenn man also
versuchen kann, ein guter Leser zu werden, ist
das schon sehr gut.
Die Codes, die diesem Interview-Auszug23 mit M. Guidon zugeordnet worden
sind, lauten wie folgt: „echte Lektüre“, „Ziel von Lehre: ganz in der Sache sein“.
Außerdem wurden dieser Stelle mehrere Code-Kommentare und Memos hinzugefügt, einer der Kommentare – bewusst in seinem originalen Wortlaut wiedergegeben, um den flüchtigen, assoziativen, kreativen Charakter des Interpretierens
zu illustrieren – wird hier mit aufgeführt, da er für spätere Ausführungen noch
relevant sein wird: „Hier ist die Frage umgekehrt: Es liegt nicht mehr in seiner
[M. Guidons, Anm. UL] Hand, nichts mehr von transmettre [also „vermitteln,
weitergeben“, Anm. UL]. Ein guter Leser muss man schon selbst werden.“
23 Die fremdsprachigen Zitate werden zur besseren intersubjektiven Kontrolle ihrer Interpretation
sowohl im französischen Original als auch in der (von der Autorin vorgenommenen) Übersetzung aufgeführt. So wird der Tatsache Rechnung getragen, dass auch schon das Übersetzen selbst
Interpretation ist.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
343
M Tanguy, Abs. 34
Alors, on on apprend- On essaye d’abord de Also, wir, wir ler- wir versuchen zunächst sie
les amener à lire des textes. Alors, ((5 Silben dazu zu bringen, Texte zu lesen. Das heißt,
unverständlich)). On essaye de les amener à wir versuchen, sie zu einer intelligenten Lekles lire de manière intelligente, c’est-à-dire à türe hinzuführen, sie also dazu zu befähigen,
être capables d’articuler un point de vue ana- einen analytischen Standpunkt zu den gelelytique sur les textes qu’ils lisent, de leur don- senen Texten zu artikulieren. Wir versuchen
ner, d’ailleurs, des outils intellectuels pour ça, weiterhin, ihnen die dazu benötigten inteldes outils qui sont très variables suivant le lektuellen Werkzeuge an die Hand zu geben,
type de texte qu’on leur propose d’analyser.
Werkzeuge, die sehr verschieden sind abhängig von den Texten, die zu analysieren wir ihnen vorschlagen.
Die Codes zu dieser Stelle: „Lehre als Gemeinschaftsunternehmen“, „echte Lektüre“, „Verhältnis zu Studis: hinführen“, „Verhältnis zu Studis: distanziert belehrend“, „Analysefähigkeit“, „Ausdruck“. Die beiden Codes zum Verhältnis zu den
Studierenden sind noch mit Code-Kommentaren versehen, auf die später zurückzukommen sein wird.
Herr Kazmarek, Abs. 163
So wenn Sie mich noch fragen, was man denen mitgeben will, ja wwweiß ich nich, also erstmal möchte ich dass das gute Wissenschaftler werden, klar; und ähm::: da müssen wer sehen
wie die auch integre Persönlichkeiten werden find ich; und das dürfen nich solche falschen
Fuffziger werden. Sollte sie- Da denk ich immer dran, wenn ich an meine Doktoranden denke.
An dieser Materialstelle wurde nun nur ein Code vergeben, „Doktoranden als Adressaten von Lehre“, der zusätzlich noch mit einem Kommentar versehen wurde:
„Es scheint eine Fächerunterscheidung zu geben zwischen Chemie und LiWi: Die
Doktoranden werden hier viel häufiger genannt, oft bei den mitgeben-Fragen. Sie
sind ganz natürliche eine Zielgruppe von Lehre. Fertig sind die Studierenden dieser Fächer erst mit der Promotion.“
Es geht nun im Folgenden weniger darum, die Differenzierungen der Interpretationen zu den Lehrzielen vollständig zu entfalten (s. dazu Liebeskind 2011:
131 ff.), als vielmehr darum, den Weg vom Kodieren zur Kernkategorie der Lehrziele und damit zum gesuchten tertium comparationis zu skizzieren. Daraufhin
wird zu sehen sein, wie sich – vor allem gestützt auf die constant comparative method – Aussagen zum Ländervergleich gewinnen lassen.
344
4.3
Uta Liebeskind
Ständig vergleichen: Hin zum tertium comparationis
Die oben aufgeführten Codes sind recht heterogen. Sie zeigen, dass das Kodieren,
wenngleich ein wichtiger interpretativer Schritt, nicht hinreichend ist zur Interpretation des Materials. Das Interpretieren muss über das Kodieren hinausgehen,
wobei sich (in dieser Arbeit) die letztliche Interpretation nicht mehr in Codes ausdrückt.24 Im über die Codes hinausgehenden Interpretieren rückte nun im Projekt
die constant comparative method in den Vordergrund, deren Zwischenergebnisse
hin zur Theoriebildung sich überwiegend in Form von (oft nicht mehr an Materialstellen gebundenen) Memos materialisieren.
Im Ergebnis dieses in alle Richtungen gerichteten Vergleichens hat sich nun
mehr und mehr abgezeichnet, dass das, was die Lehrenden den Studierenden jenseits der Lehrinhalte mitgeben wollen, stets in Bezug auf den disziplinären Gegenstand formuliert wird. Das ist erstaunlich. Denn obwohl nach dem gefragt wurde,
was „jenseits der bloßen Stoffvermittlung“ angestrebt wird, ist die Definition der
sozialisatorischen Ziele, und als solche lassen sich die Lehrziele sämtlich bezeichnen, offenbar nicht ohne Rekurs auf die eigene Disziplin möglich. Das markiert
einen wichtigen Unterschied zwischen universitären und schulischen Bildungsvorgängen.
Dass die Lehrenden in der Formulierung ihrer Ziele immer auf den Gegenstand der eigenen Disziplin rekurrieren, lässt sich nun wie folgt im Rahmen der
hier präsentierten kurzen Materialauszüge nachvollziehen: Frau Sanden nennt
den disziplinären „Gegenstand“ direkt und stellt ihn mit dem persönlichen „Affekt“ der Studierenden zusammen. Sie kennzeichnet die Kultivierung sehr persönlicher Reaktionen auf den Gegenstand als Voraussetzung dafür, sich überhaupt adäquat mit dem disziplinären Gegenstand auseinandersetzen zu können.
Der französische lettres-Professor M. Guidon verweist ganz anders auf den Gegenstand, der zweite vergebene Code und der Kommentar zu dieser Textstelle
machen hier zusammen das Wesentliche der Interpretation aus: M. Guidon formuliert ein Ziel in sich, nämlich das, ein guter Leser zu werden. Während Frau
Sanden noch einen um-zu-Zusammenhang eröffnet (persönliche Reaktionen
kultivieren, um den Gegenstand überhaupt erst adäquat erschließen zu können
[„Also sich zu verlassen auf das, was einen fasziniert und da weiterzumachen“]),
24 Anselm Strauss wollte Grounded Theory nicht als starres Regelwerk verstanden wissen, und
er wies darauf hin, dass (jenseits einiger nicht verhandelbarer Konstanten des Arbeitens, s. o.)
„[j]eder Forscher […] auch seinen eigenen Arbeitsstil [hat]“ (Strauss 1994: 32). So ist das in diesem Projekt gewählte Verhältnis von Codes, Interpretationen und Ergebnisdarstellung zu verstehen.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
345
erhebt M. Guidon durch den Vergleich mit dem Schreiben das Lesen selbst zur
höchst individuellen Kunstform, die ihr Ziel in sich hat. Er nimmt auch eine Rollenverschiebung vor: Er richtet dieses Ziel nicht mehr nur an Studierende, sondern er verallgemeinert es auf alle, die sich mit Literatur beschäftigen. Dies ist
bereits ein Indiz für ein ganz anderes Verständnis der eigenen Disziplin zwischen
beiden Interview-Partnern, auf das etwas später zurückzukommen sein wird. Bei
M. Guidons Kollegen M. Tanguy wiederum geht es auf den ersten Blick offenbar
um Ähnliches wie bei Frau Sanden: Auch hier wird das Erschließen von Literatur
thematisiert, Ziel ist deren „intelligente Lektüre“. Allerdings, und hier liegt der bedeutende Unterschied zu Frau Sanden, ist M. Tanguys Ziel weniger, dass die Studierenden als Startpunkt für eine sich anschließende wissenschaftliche Analyse
des Textes zunächst einmal in eine persönliche Beziehung zum disziplinären Gegenstand treten, sondern vielmehr möchte er allen Studierenden gleichermaßen
ein Instrumentarium mitgeben, das „intelligente Lektüre“ ermöglicht. Es wird erkennbar, dass der letzte Zweck einer solchen adäquaten Beschäftigung mit dem
Gegenstand darin besteht, sich analytisch zu diesem Text zu äußern („articuler
un point de vue analytique“), was durch die Gleichsetzung „intelligenter Lektüre“,
M. Tanguys Ziel, mit qualifizierter Äußerung zum Text deutlich wird. Die Betonung des Ziels, sich kohärent zu einem Text bzw. allgemein: zu den Gegenständen, mit denen sich die lettres beschäftigen, äußern zu können, wird durch die
hier nicht mehr abgedruckte Fortsetzung der Passage untermauert. In Übereinstimmung mit Interpretationen, die sich auf den Vergleich vieler weiterer Interviewstellen aus dem empirischen Material beziehen, wird damit ein Aspekt von
Beschäftigung mit dem disziplinären Gegenstand in den Vordergrund gerückt,
der Literatur weniger als Objekt von Forschung und Analyse, sondern viel eher
als Fokus eines analytischen Diskurses konzipiert. Herr Kazmarek schließlich, der
deutsche Chemiker, bezieht sich in der Formulierung des Ziels seiner Lehre ebenfalls auf den disziplinären Gegenstand, und dies insofern, als er eine bestimmte
Form der Persönlichkeitsbildung in Zusammenhang bringt mit seiner bzw. der
Wissenschaft ganz allgemein. Damit seine Doktoranden, auf die hin er seine Antwort auf die Frage hauptsächlich formuliert,25 später gute Wissenschaftler sind,
25 Dass die Doktoranden ausdrücklich unter die Studierenden subsumiert werden, ja, dass die
Lehrziele ausdrücklich erst im Hinblick auf diese Gruppe hin formuliert wird, ist ein typisches
Phänomen in der deutschen Chemie, in der die Mehrheit der Studierenden noch immer mit der
Promotion das Studium beendet. Der besondere Fokus auf die Doktorandinnen lässt sich eingedenk des starken Forschungsbezugs der Chemie auch außerhalb der Universität verstehen: Auch
im späteren Arbeitsfeld der Chemie-AbsolventInnen, in der chemischen Industrie, spielt Forschung eine zentrale Rolle, so dass universitäre Grundlagenforschung und arbeitsmarkttaugli-
346
Uta Liebeskind
müssen sie „integre Persönlichkeiten“ werden. In diesem Zusammendenken von
Person und adäquatem Gegenstandsbezug zeigen sich vor allem Parallelen zur
Literaturwissenschaftlerin Frau Sanden, auch wenn beide aus völlig verschiedenen Fächern kommen: Frau Sanden hatte das Einbringen der eigenen Person, bei
ihr durch die „Kultivierung persönlicher Affekte“, als Voraussetzung für die forschende Auseinandersetzung mit dem Gegenstand genannt, und so – nämlich als
die notwendige Einbringung der eigenen Person in die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenstand – lässt sich letztlich auch Herrn Kazmareks Antwort
verstehen.
Im Zuge des ständigen Vergleichens, in welchem Codes verfeinert, revidiert,
zusammengefasst und zueinander in Beziehung gesetzt wurden, hat sich also
schließlich ein gemeinsamer Bezugspunkt, die core category, herausgebildet. Die
Kategorie „Gegenstandsbezug der Lehrziele“ kann gleichzeitig – so ist es weiter
oben eingeführt worden – als das gesuchte tertium comparationis gelten, also als
der gemeinsame Maßstab, um den sich in der Rekonstruktion des Phänomens
alles dreht. Er kann nun in weiteren Schritten als Basis für die inhaltlichen Vergleiche herangezogen werden, weil er Zugang bietet zu einem „gemeinsamen
Denkraum“.
In der Benennung der Kernkategorie spielte die kultursensible Beschäftigung
mit der Forschungsliteratur zum Thema eine besondere Rolle. Das Themenfeld
„Universität und Lehre“ wird in Deutschland und Frankreich nicht aus deckungsgleichen Blickwinkeln betrachtet: Speziell zur Bestimmung universitärer Lehre
lassen sich sehr eindeutig zum einen der Aspekt persönlicher Bildung (Mittelstraß 1994; Renaut 1995, 2002), zum anderen der Wissenschaftsbezug universitärer Lehre (Kopetz 2002), zum dritten deren Wechselverhältnis zueinander (Koppetsch 2000; Schimank 1995) als bedeutende Faktoren in der Deutung der Lehre
identifizieren. Dabei ist sehr klar eine unterschiedliche Gewichtung zwischen
französischer und deutscher Literatur zu erkennen: Die französische Forschungsliteratur stellt Fragen von Bildung und Ausbildung in den Vordergrund. Hier wird
die Universität eher in ihrer Eigenschaft als Bildungsinstitution diskutiert, etwa
anhand der Frage, welchen Beitrag die Universität zur Demokratisierung und
zum Ausgleich von sozialer Ungleichheit leistet (Renaut 1995, 2002). In der deutschen Debatte um die Universität geht es hingegen eher darum, unter welchen
Bedingungen die Universität nach wie vor simultan Bildungs- und Forschungseinrichtung sein kann (Schimank 1995) und in welcher Weise Lehre tatsächlich an
cher Anwendungsbezug in der Chemie eher ineinander verschwimmen als in anderen Wissenschaften.
Komparative Verfahren und Grounded Theory
347
die Wissenschaft gebunden ist (Huber 2004; Klüver 1983) oder sein sollte (Kopetz
2002; Mittelstraß 1994). In der französischen Literatur tritt also der Aspekt von
Bildung und Ausbildung, von Wissensvermittlung und allgemeiner Sozialisation
viel deutlicher hervor als das für die deutsche Diskussion typische Thema der Verbindung von Lehre und Wissenschaft.
Für die Benennung der Kernkategorie heißt das nun, dass es falsch gewesen
wäre, die Kernkategorie etwa als „Wissenschafts-“ oder „Forschungsbezug der
Lehre“ zu bezeichnen. Das hätte bedeutet, die in der deutschen Debatte deutlich hervortretenden Aspekte in der Bestimmung der Kernkategorie einfach zu
übernehmen. Diese Aspekte mussten, ebenso wie diejenigen der (Bürger-)Bildung, die in der französischen Debatte besonders wichtig erscheinen, im Einklang
mit dem Interview-Material in die Interpretation eingewoben werden. Auf diese
Weise entstand also eine Bezeichnung für die Kernkategorie, die nicht „Wissenschaft“ / „Forschung“ im Namen führte, sondern die allgemeiner auf den „disziplinären Gegenstand“ verweist und damit das Verhältnis von Forschung und Lehre
an der Universität in einen weiteren Kontext stellt.
4.4
Inhaltlich vergleichen
Bereits zu Ende des letzten Abschnitts zeigte sich, dass das ständige Vergleichen
den inhaltlichen Vergleich immer schon mitführt. Die Arbeitsweise, die nun zum
expliziten inhaltlichen Vergleichen „deutscher“ oder „französischer“ Muster in
der Deutung der universitären Lehre führt, bleibt nun genau dieselbe wie die zur
Suche nach dem gemeinsamen Vergleichsmaßstab: Weiterhin ist es das ständige
Vergleichen von Material, Auswertungstexten und Forschungsliteratur, welches
den Schlüssel bildet zum Länder- und (hier nicht weiter verfolgten) Fächervergleich. Unterhalb des gemeinsamen Nenners, also hier: unterhalb der gemeinsamen Ebene der Gegenstandsbindung der Lehrziele, ist nun nach Differenzierungen und weiterhin auch nach Gemeinsamkeiten zu suchen, um weitere zentrale
Kategorien, die sich um die core category ranken, zu identifizieren. Als Leitlinien
dienen zunächst vor allem die in der qualitativen Forschung üblichen generischen
Heuristiken: Welche Materialstelle bietet zur gerade analysierten Materialstelle
einen minimalen, welche einen maximalen Kontrast ?
Auch in diesem Auswertungsschritt ist es jedoch unbedingt zu vermeiden, ex
ante die Differenzierungslinien auf die Ländergrenze (bzw. eine der anderen vorab
durchs Sampling festgelegten Vergleichslinien) festzusetzen. Die Forscherin sollte
gleichsam „blind“ sein für die qua Sampling oder qua Fragestellung eingeführten
348
Uta Liebeskind
Vergleichslinien. Sie sollte eine Analysehaltung entwickeln, die für Unterschiede
ebenso offen ist wie für eine überraschende Feststellung von Unterschiedslosigkeit zwischen den Objekten des Vergleichs. Erst nachdem sich Differenzierungen
entfaltet haben, ist nun zu rekonstruieren, wie sich die Sampling-Gruppen dazu
verhalten. So wird das inhaltliche Vergleichen, also die Bewertung der eingangs
gestellten vergleichenden Forschungsfrage, übertrieben ausgedrückt, zu einem
Nebenprodukt der Kategorienbildung zum Forschungsgegenstand.
In der vergleichenden Beschäftigung mit dem Material ist nun also nicht nach
einer „Gegenstandsbindung Frankreich“ vs. „Gegenstandsbindung Deutschland“
gesucht worden. Vielmehr wurde in der Auswertung ex post betrachtet, wie sich
die beiden Gruppen von GesprächspartnerInnen, französische und deutsche
Lehrende, zu den differenzierten Zielen verhalten. Und obwohl sich meistens
GesprächspartnerInnen jeweils beider Länder einzelnen Spielarten der Kernkategorie zuordnen ließen (s. dazu Liebeskind 2011: 131 ff.), hoben sich in der Rekonstruktion der Lehrziele doch elementare Unterschiede zwischen den Ländern
ab. Die Unterschiede lassen sich vor allem auf zwei weiteren, sehr zentralen Kategorien abbilden: Es sind dies a) das Verständnis, das Lehrende von der Beschäftigung mit der eigenen Disziplin haben – das ist allerdings in erster Linie in der
Literaturwissenschaft / den lettres eine relevante Kategorie – und b) die Frage, wie
sich das Verhältnis zu den Studierenden gestaltet bzw. welche Selbst- und Studierendenbilder die Lehrenden unterhalten. Diese Kategorien erwiesen sich als die
Kriterien, anhand derer sich französische und deutsche Deutungsmuster universitärer Lehre unterscheiden ließen.26
Der Nutzen, den diese beiden sich anschließenden Kategorien für den Vergleich haben, lässt sich auch an den wenigen hier zitierten Materialstellen nachvollziehen. Zunächst zum Selbstverständnis der wissenschaftlichen Disziplin, hier
zum Selbstverständnis der lettres und der Literaturwissenschaft: Vor allem Frau
Sanden und M. Guidon bilden in der Formulierung ihrer Ziele einen großen Kontrast. Frau Sanden hatte die affektiven „Reaktionen auf den Gegenstand“, also den
ganz persönlichen Zugang zur Literatur als Ausgangspunkt gekennzeichnet für
Weiteres. Dieses Weitere, so geht es tendenziell aus der Materialstelle selbst („Das
schließt kritische Reflexion nicht aus, aber […].“), deutlicher aus anderen Stellen
26 Die Trennkraft für beide Kategorien, was die Unterscheidung französischer vs. deutscher Deutungsmuster universitärer Lehre angeht, ist allerdings im Falle der Literaturwissenschaft / lettres
eindeutig größer als im Falle der Chemie. Das wiederum ist inhaltlich ein wichtiger Befund: Disziplinäre Kultur kann so gegen nationale Kultur abgewägt werden, welche in der Literatur zur
Profession der UniversitätsprofessorInnen beide als wichtige Einflussgrößen auf deren Sichtweisen und Überzeugungen markiert werden (Clark 1983).
Komparative Verfahren und Grounded Theory
349
im Interview mit Frau Sanden (und auch mit anderen GesprächspartnerInnen
aus der deutschen Literaturwissenschaft) hervor, besteht in einer gemeinsamen
analytischen Rekonstruktion des fraglichen Textes. M. Guidon hingegen definiert
das Ziel seiner Lehre ganz anders. Sein Ziel ist die „echte Lektüre“ selbst. Er formuliert also in der persönlichen Verbindung von Gegenstand und Literatur ein
Ziel an sich. Nicht Analyse und Rekonstruktion, nicht wissenschaftlich motiviertes Verstehen stehen hier im Vordergrund, sondern die Kultivierung eines ganz
individuellen Zugangs zur Literatur. Damit ist die Individualität des Lesers das
eigentliche Ziel M. Guidons. Auf diese Weise wird – und das ist das Spannende
an dieser Interviewstelle und gleichsam die Untermauerung des Unterschieds zu
Frau Sanden – die Universität als Forschungs- und Bildungsinstitution transzendiert: M. Guidons Ziel ist von generellem Charakter, es ist nicht speziell an Wissenschaftlichkeit und / oder an besondere inhaltliche Vermittlungsziele, sprich: an
institutionelle Bildungsziele gebunden, sondern es könnte auch für Situationen
und für ein Publikum außerhalb der Universität gelten, in denen bzw. vor dem
M. Guidon als homme des lettres, also als ein mit Literatur befasster Intellektueller auftritt.
Damit ist auch die akademische Beschäftigung mit Literatur in ein anderes
Licht gerückt: Nicht die wissenschaftlich nachvollziehbare, reliable Analyse – die
deutschen LiteraturwissenschaftlerInnen kennzeichnen die universitäre Beschäftigung mit Literatur sämtlich so, nämlich: (idealerweise) als ein Gemeinschaftsprodukt einer ideal verlaufenden Seminarsitzung (s. dazu Liebeskind 2011: 222 ff.),
deren Ergebnis Bestand haben muss vor wissenschaftlichen Argumenten Anderer – ist Fokus der Beschäftigung mit Literatur, vielmehr wird ein ganz individueller, eigener Zugang zu letzterer angestrebt. Im Vergleich mit dem Auszug aus
dem Gespräch mit M. Tanguy bestätigt sich dieser andere Fokus: M. Tanguy teilt
das Merkmal der Transzendenz der Universität als Institution nicht – sein Lehrziel bleibt ganz in der Bildungsinstitution Universität verortet, wie sogleich noch
etwas auszuführen sein wird. Aber auch M. Tanguys Ziel in der Lehre ist es in erster Linie, die Studierenden zu einem individuellen Standpunkt zu einem Text zu
befähigen. Das ist M. Guidons Ziel ähnlich, auch wenn M. Tanguy sein Ziel viel
normierter, viel schulischer formuliert als sein Kollege.
Ohne, dass das eine das andere ausschließt, ohne also, dass französische
lettres-Lehrende die wissenschaftliche Analyse von Texten und deutsche Literatur-Lehrende die Entwicklung eines individuellen Standpunkts zum Text ablehnen würden, ist zusammenfassend doch zu konstatieren, dass der Fokus in der
Beschäftigung mit Literatur ein anderer ist: wissenschaftliche Analyse hie, Originalität und die Entfaltung von individuellem esprit dort (vgl. dazu auch Münch
350
Uta Liebeskind
1986: 719 ff. bzw. 533 ff.). Daran lässt sich auch erkennen, dass Universität – zumindest was die lettres und einige verwandte Fächer angeht (zur Chemie allerdings
s. FN 29) – von den französischen GesprächspartnerInnen eher als Bildungsinstitution gedeutet, während die Lehrenden in Deutschland die Bildungsfunktion tatsächlich immer an das Streben nach wissenschaftlicher Erkenntnis binden und
also hier viel eindeutiger von der Universität als einem „Überschneidungsbereich
von Wissenschafts- und Erziehungssystems“ zu sprechen ist, wie es die (deutsche)
Systemtheorie einst formulierte (Luhmann / Schorr 1979: 53 ff.). Auch die weiter
oben angestellte Reflexion zu den thematischen Schwerpunkten der Forschungsliteratur zum Gegenstand der Studie dient als argumentative Stütze für diese Unterscheidung: Während die deutschen KommentatorInnen der Situation der Universitäten sich prominent mit der Frage beschäftigen, ob und wie Wissenschaft
mit Lehre zu vereinbaren ist, wird in der französischen Literatur zur universitären Lehre vor allem die Bildungsfunktion der Universität, auch zu fassen als die
Frage nach der individuellen (politischen, persönlichen, fachlichen) Reifung der
Studierenden, diskutiert.
Vor allem die zweite, durch ständiges Vergleichen etablierte Anschlusskategorie „Selbst- und Studierendenbild“ bzw. „Verhältnis zu den Studierenden“ ist es,
die dieses Muster weiter plausibilisiert. Zwar ist sowohl in den Deutungen der
deutschen als auch in denen der französischen ProfessorInnen stets erkennbar,
dass das Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden als ein hierarchisches gedeutet wird, was als ein Charakteristikum von Lehrenden-Lernenden-Beziehungen
gelten kann und also typischerweise zu institutionalisierten Bildungsprozessen
gehört. Doch zeigt sich auch, dass sich in der Deutung der deutschen Lehrenden
Hierarchie tendenziell auflöst, und zwar genau in dem Maß, in dem die Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden wissenschaftlich motiviert ist und
also den Charakter von Einweisung in die Disziplin und von Vermittlung verliert.
Im Rahmen des hier präsentierten sehr reduzierten Materialausschnitts ist es vor
allem der Vergleich zwischen Frau Sanden und M. Tanguy, der dieser Interpretation zu Grunde liegt. Der Indikator für den Unterschied ist die Art und Weise, in
der über die Studierenden gesprochen wird: Während Frau Sanden die Studierenden zwar als Subjekte von Erziehung („Reaktionen kultivieren“), in dieser Eigenschaft aber vor allem als Aktive, zu eigenem Tun zu Ermunternde darstellt („sich
darauf verlassen, was einen fasziniert und da weitermachen“), weist M. Tanguy
den Studierenden eine Rolle zu, die sich ganz klar als Schülerrolle bezeichnen
lässt: M. Tanguy spricht von „uns“, also dem Lehrkörper, vs. „ihnen“, also den Studierenden, zudem ist die Richtung der Impulse in der Formulierung des Lehrziels
immer klar: „wir […] führen sie hin“, „wir versuchen […] sie zu befähigen“, „wir
Komparative Verfahren und Grounded Theory
351
schlagen ihnen vor“. In Frau Sandens Äußerung hingegen ist die gemeinsame wissenschaftliche Diskussion bereits absehbar, die sich anschließt an den Punkt, an
dem die „affektiven Reaktionen“ der Studierenden „kultiviert“ sind und also ein
adäquater Zugang zum Gegenstand gefunden ist.
Kulturell geprägte Muster scheinen sich also vor allem für die LiteraturwissenschaftlerInnen / lettres-Lehrenden eindeutig abzuzeichnen. Die Zuweisungen
von empirischen Befunden zu qua Studiendesign festgelegten Sampling-Gruppen
– hier also jeweils zu den durch Land- und Fachzugehörigkeit gebildeten vier Untergruppen des Samples – sollten allerdings nicht vorschnell vorgenommen oder
als endgültig akzeptiert werden. Auf der Suche nach Differenzierungen im Material ist es ratsam, auch konträr zu den sich abzeichnenden Unterschieden zu
suchen. Hier lassen sich neben den oben genannten Möglichkeiten zur intersubjektiven Kontrolle verschiedene heuristische Techniken nutzen, um vorschnelles, möglicherweise sehr aus dem eigenen Standpunkt heraus verfasstes Zuordnen von Sampling-Gruppen zu Befunden zu vermeiden. Im Forschungsprojekt,
aus dem das Beispiel stammt, wurde etwa ein absichtsvoll „paradox“ konzipierter
Auswertungsgang eingeschaltet, der zum Ziel hatte, genau im deutschen Material
das französische Muster zu finden und umgekehrt. Also: Wer von den deutschen
Gesprächspartnerinnen äußert sich zu den Lehrzielen in einer Weise, die den als
französisches Muster identifizierten Deutungen ähneln ? Dieser Analyseschritt hat
nicht nur zur Revision der getroffenen Zuordnungen von Franzosen und Deutschen zu den identifizierten Mustern (und zur Identifikation von Ausnahmen)
geführt, sondern auch zur Revision der Kategorienbildung selbst. Im Beispiel: Ist
es wirklich ein Unterschied im Wissenschaftsverständnis, wenn Frau Sanden „affektive Reaktionen“ der Studierenden kultivieren will und M. Guidon zu „wahrer
Leserschaft“ verhelfen will ? Geht es M. Tanguy tatsächlich eher um Bildung denn
um wissenschaftliche Forschung, und besteht hier wirklich ein Unterschied zu
Frau Sanden ? Die Fragen sind im Kontext weiteren, hier nicht berichteten Materials aus den Interviews mit den drei GesprächspartnerInnen mit „Ja“ beantwortet
worden. (Immerhin speist sich das Forschungsbeispiel aus einem abgeschlossenen
Projekt mit fertigen Ergebnissen.) In der Auswertung des gesamten Materials ist
diese Technik aber immer wieder genutzt worden, um inhaltliche Vergleiche zu
validieren. Auf diese Weise sind Differenzierungen und die Kennzeichnung von
Ausnahmen vom jeweiligen Muster zustande gekommen (s. Liebeskind 2011).
352
4.5
Uta Liebeskind
Schlussbetrachtung zum Forschungsbeispiel
Das Ziel qualitativer Forschung ist in der Regel, einen Beitrag zur Theoriebildung
zum untersuchten Gegenstand zu leisten. Was kann also nun der Ertrag sein, den
ein qualitatives, empirisch-vergleichendes Forschungsprojekt einbringen kann ?
Die Bedeutung, die im hier vorliegenden Fall der Vergleich einnahm, bewegt
sich zwischen zwei Positionen: Zum einen ging es darum, Aussagen zu zwei unterschiedlichen Universitätssystemen zu gewinnen; es ging also darum – damit
kehren wir zum eingangs verwendeten Analogon aus dem Alltag zurück –, zwei
unterschiedlich benannte Apfelsorten näher zu beschreiben und dabei herauszufinden, ob sich die beiden tatsächlich hinsichtlich relevanter Dimensionen voneinander unterscheiden und wenn ja: wie die Differenzen gelagert sind. Zum
anderen ging es allerdings darüber hinaus um soziologische Theoriebildung: Welchen Beitrag leistet die Studie auf dem Gebiet der Wissenschaftssoziologie, welche
ihrerseits an viele weitere Felder, etwa die Professionssoziologie anschließt ? Im
Alltagsanalogon ausgedrückt heißt das: Was bringt der Vergleich für die nähere
Beschreibung von Äpfeln allgemein ? Der Vergleich hatte also im Projekt eine inhaltlich-gegenstandsbezogene und eine methodologische Bedeutung.
Inhaltlich brachte das Projekt hervor, dass die Deutungen zur Lehre an der
Universität in der Tat sehr stark davon abhängen, welcher Gesellschaft die Lehrenden angehören. Während in Frankreich die Deutung überwiegt, dass die universitäre Lehre ein Baustein des Bildungssystems ist, schlägt sich in Deutschland sehr
deutlich nieder, dass sich gleichwohl ebenfalls als solche beschreibbare universitäre Bildung ganz eindeutig auf eigenständige Beschäftigung mit Wissenschaft
stützt. Es zeigte sich zudem, dass das disziplinäre Selbstverständnis der Literaturwissenschaft / der lettres Traditionen des Bildungs- und Wissenschaftssystems sehr
stark widerspiegelt: Während in den französischen Deutungen Originalität und
die Entfaltung individuellen Esprits im Vordergrund stehen, während also die Beschäftigung mit Literatur einen besonderen Fokus auf Persönlichkeitsbildung hat,
schlägt sich in der deutschen Literaturwissenschaft nieder, was sich historisch als
Szientifizierung der akademischen Disziplinen bezeichnen lässt (vgl. dazu Koppetsch 2000: 141 ff.).
Fragt man nun, was sich hinsichtlich soziologischer Theoriebildung aus dem
angestellten Vergleich ziehen lässt, dann finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte. Blickt man etwa aus der Richtung der Professionssoziologie27 auf die Er27 Für eine Einführung in die verschiedenen Ansätze der Professionssoziologie s. z. B. Mieg und
Pfadenhauer (2003).
Komparative Verfahren und Grounded Theory
353
gebnisse, dann lassen sich interessante Schlüsse für die Art und Weise formulieren, in der universitäre Lehre in beiden Ländern gesellschaftlich prozessiert wird:
Aus der Rekonstruktion dessen, welche Ziele die Lehrenden mit ihrer Lehre verbinden, lässt sich erkennen, dass die Ziele autonom auf der Basis disziplinären Ermessens formuliert werden, ohne dabei auf die deutlicher werdenden Ansprüche
zu reagieren, die von außen an die Universität herangetragen werden. Die UniversitätsprofessorInnen teilen damit auch in ihrer Eigenschaft als Lehrende eine zentrale Eigenschaft von Professionen, was a) angesichts erstarkender externer Ansprüche an die Universität und damit verbundener Organisationsreformen nicht
als Selbstverständlich betrachtet werden kann28 und was b) auch nicht einfach aus
dem Professionellen-Status, den die Professorinnen als Wissenschaftler und Forscherinnen aus professionssoziologischer Sicht zweifelsohne haben, auf die Rolle
als Lehrende extrapoliert werden kann.
Im Lichte des deutsch-französischen Vergleichs werden allerdings auch stark
generalisierende systemtheoretische Aussagen zur Universität relativiert, die zur
soziologisch-theoretischen Definition der Universität aufgestellt worden sind:
Wenn von der „Universität als Überschneidungsbereich von Wissenschafts- und
Erziehungssystem“ die Rede ist, dann sollte dies nicht allgemeingültig für „die“
Universität formuliert werden, wie es etwa Luhmann und Schorr (1979) in ihrer
systemtheoretischen Betrachtung des Erziehungssystems taten, sondern eine solche Aussage sollte mit notwendigen Einschränkungen für diejenigen Gesellschaften / Kulturen und auch historischen Zeitpunkte versehen werden, auf die sie zutrifft.
5
Fazit: Das Vergleichen „vergessen machen“
Der wichtigste Unterschied zwischen dem sozialwissenschaftlichen Vergleich und
Vergleichsvorgängen etwa in den Naturwissenschaften ist, dass die Vergleichsobjekte dem Vergleichenden nicht äußerlich sind, dass also ein Vergleich immer
von einem bestimmten, sozial gebundenen Standpunkt aus angestellt wird. Wird
dieser Umstand nicht reflektiert und sodann in der Forschungspraxis nach Möglichkeit ausgeglichen, dann besteht die Gefahr, so hatte es Joachim Matthes ge-
28 Angesichts der neuen Steuerungsformen der Universitäten werden vielerorts Befürchtungen geäußert, dass der Professionsstatus der ProfessorInnen gerade hinsichtlich ihrer Autonomie in der
Gestaltung von Lehre und auch Forschung erodiert (Beaud 2009; Schimank 2005; Stock / Wernet
2005).
354
Uta Liebeskind
nannt, „nostrifizierend“ zu arbeiten, also den Vergleich von Beginn an nur durch
die Brille kulturell geprägter, eigener Begriffsbildung anzustellen.
Nostrifizierung zu vermeiden oder zu mildern heißt, das inhaltliche Vergleichen in entscheidenden Phasen des Forschungsprozesses „vergessen zu machen“.
Grounded Theory ermöglicht dieses „Vergessen-Machen“ besonders gut. „Vergessen machen“ ist nicht ganz wörtlich zu nehmen und auch nicht auf jeden
Schritt des gesamten Forschungsprozesses zu übertragen. Hier ist zwischen der
Forschungsmotivation, die durch Annahmen zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Vergleichsobjekten bestimmt ist, und der Planung des
Forschungsprozesses zu unterscheiden. Den Vergleich „vergessen machen“ soll
heißen, im Moment der Auswertung die Annahmen zu Gemeinsamkeiten und
Unterschieden der Vergleichsobjekte genauso zu behandeln, wie sonstiges theoretisches Vorwissen in der qualitativen Forschung auch: Wenn die Unterscheidungslinien, die sich aus der bereits vorhanden Theorie ableiten lassen, die Materialauswertung nicht bestimmen, sondern allenfalls die Rolle von sensitizing concepts
einnehmen, wenn es also gelingt, diese Annahmen so offen zu behandeln, dass
sie grundsätzlich im Zuge der Auswertung adaptiert oder zurückgewiesen werden
können, dann ist ein wichtiger Schritt getan, um sich vom Denken in Begriffen
des „Eigenen“ und des „Fremden“ zu lösen. Vergleichende Forschungsprojekte, in
denen dieses Ziel bewusst verfolgt wird, sind dem einst von Jürgen Matthes eingeforderten „gemeinsamen Denkraum“ im Vergleichen ein großes Stück näher.
Die vorgeschlagenen konkreten Techniken, etwa die kultursensible Rezeption
der Forschungsliteratur aus verschiedenen kulturellen Kontexten, die Diskussion
von Zwischenergebnissen mit Expertinnen aus der jeweils anderen Kultur, die hier
in Bezug auf das Vorgehen nach Grounded Theory zusammengetragen worden
sind, lassen sich problemlos auch auf andere Verfahren der qualitativen Sozialforschung übertragen. Wichtig ist – und das gilt eben unabhängig vom gewählten
Forschungsvorgehen in qualitativ-empirischen Forschungsprojekten –, dass die
Standortgebundenheit der Forscherin an jedem Schritt des Forschungsprozesses
eine Rolle spielt, dass also an jedem Schritt eines vergleichenden Projekts reflektiert werden sollte, inwieweit die eigene soziokulturelle Prägung den Verlauf des
Materialsammelns und -auswertens beeinflusst.
Das zur Illustration genutzte Forschungsbeispiel zu Deutungsmustern der universitären Lehre in Deutschland und Frankreich ist thematisch günstig gelagert,
entstammt es doch einem Themenfeld, das mit Bildung und (Geistes-)Wissenschaft in prominenter Weise einige sehr stark kulturell geprägte gesellschaftliche
Komparative Verfahren und Grounded Theory
355
Teilbereiche behandelt.29 Verallgemeinert betrachtet, lässt das Forschungsbeispiel
erkennen, dass die qualitativ-empirische Sozialforschung dank ihrer rekonstruktiven Verfahrensweise Entscheidendes zur Theoriebildung in kulturell stark geprägten gesellschaftlichen Bereichen beitragen kann. Davon kann insbesondere
die Bildungs- und Arbeitsmarktforschung profitieren, die ihren derzeitig nicht
nur in Deutschland zu beobachtenden starken Auftrieb vor allem dem Interesse
am internationalen Vergleich messbarer Bildungsoutcomes verdankt. Die qualitative Sozialforschung kann demgegenüber Vergleiche von Bildungssystemen30 und
-vorgängen relativieren, die auf harmonisierten Indikatoren basieren. Kulturelle
Einflüsse auf Bildungsverläufe werden hier schließlich nicht vor der Erhebung
von empirischem Material so gut wie möglich neutralisiert, um Messergebnisse
vergleichbar zu machen, wie es in indikatorenbasierten Vergleichen gängige und
auch notwendige Praxis ist. Kulturellen Einflüssen auf Bildungs- und Erwerbsverläufe wird vielmehr durch geeignete, systematisch vergleichende Methoden in der
empirischen Analyse angemessen Raum gegeben. Das ist letztendlich nicht nur
dem Zweck dienlich, Unterschiede und Gemeinsamkeiten möglichst umfassend
zusammenzutragen und abzubilden, sondern es ermöglicht auch und in erster
Linie eine adäquate Begriffs- und Theoriebildung.
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92 – 102
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29 Zur kulturellen Prägung von Bildungs- und Denksystemen s. z. B. Bourdieu (1971).
30 S. dazu die erhellende, bereits 1967 verfasste Kritik von Bourdieu und Passeron.
356
Uta Liebeskind
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Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
Rekonstruktive Sozialforschung
zwischen Habitus- und Feldanalyse
Florian von Rosenberg
1
Einleitung
Wenn man davon ausgeht, dass Lern- und Bildungsprozesse und noch eindeutiger berufsbiografische Laufbahnen in gesellschaftliche Strukturen eingefasst
sind, stellt sich für eine rekonstruktive Sozialforschung1 die Frage, wie diese zu
untersuchen sind. Der folgende Beitrag geht davon aus, dass sich gesellschaftliche Strukturen aus zwei Blickwinkeln rekonstruieren lassen: Einerseits können
gesellschaftliche Strukturen aus der Perspektive von Akteuren untersucht werden, wobei dann Prozesse der Aneignung und des Umgangs mit gesellschaftlichen
Strukturen im Fokus der Analyse stehen, anderseits können jedoch auch gesellschaftliche Eigenlogiken untersucht werden, die sich jenseits von Akteursintentionen tradieren und transformieren.
Ein Theorieansatz, der beiden Perspektiven Rechnung trägt, findet sich in der
Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu und seiner Unterscheidung zwischen Habitus und Feld. In der Folge möchte ich zunächst einige Linien einer Theorie der
Praxis im Zusammenhang mit der rekonstruktiven Sozialforschung und der Untersuchung von Biografien skizzieren (2), um dann methodologische Möglichkeiten von Habitus- und Feldrekonstruktionen aufzuzeigen (3, 4). Anschließend
möchte ich beispielhaft auf empirische Umsetzungen eingehen (5).
1
Statt von qualitativer und quantitativer Forschung möchte ich im Weiteren von einer rekonstruktiven Sozialforschung sprechen, welche ich von hypothesenprüfenden Verfahren unterscheide
(hierzu ausführlich Bohnsack 2010: 13 ff.). Eine rekonstruktive Sozialforschung arbeitet vom empirischen Material ausgehend theoriegenerierend, wohingegen hypothesenprüfende Verfahren
empirische Materialien stärker zur Verifikation bzw. Falsifikation theoretischer Überlegungen
heranziehen.
360
2
Florian von Rosenberg
Rekonstruktive Sozialforschung und eine Theorie der Praxis
Der gemeinsame Nenner zwischen einer rekonstruktiven Sozialforschung und
einer Theorie der Praxis kann in dem Anspruch einer empirisch fundierten und
nicht-dualistisch operierenden Theoriebildung gesehen werden. Sowohl bei der
ohnehin empirisch ausgelegten rekonstruktiven Sozialforschung (vgl. Bohnsack /
Nentwig-Gesemann / Nohl 2007) als auch in den Ausarbeitungen von Bourdieu
(vgl. z. B. 1987) ist Theoriebildung nicht als ein Gegenstand rein philosophischer
Reflexion zu verstehen, sondern die Generierung einer Theorie beruht immer
auf einem Wechselspiel zwischen empirischer Rekonstruktion und sozialwissenschaftlicher Reflexion. Hiervon ausgehend kann man auch von einer „theoretischen Empirie“ (Kalthoff / Hirschhauer / Lindemann 2008) beziehungsweise empirisch fundierten Theorie sprechen.
Ein Anliegen von Bourdieus Theoriemodell, welches von der rekonstruktiven
Sozialforschung geteilt wird, ist es, „der Zwangsalternative von Subjektivismus
und Objektivismus zu entkommen“ (Bourdieu 1989: 72). Hierfür entwirft Bourdieu (1979) eine Theorie der Praxis. Subjektivistische Erkenntnisformen, zu denen
Bourdieu vornehmlich die Phänomenologie und die Ethnomethodologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt, kritisiert er wegen ihres fehlenden Bruchs
gegenüber den primären Erfahrungen von sozialen Akteuren. Die subjektivistische Erkenntnisform nimmt hier nur das „krud Gegebene“ (Bourdieu 1979: 150)
in den Blick, die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis werden jedoch weitestgehend vernachlässigt. Anders Bourdieus Kritik an den
objektivistischen Erkenntnisformen, zu denen er vor allem die Soziologie Durkheims und den Strukturalismus Leví Strauss’ zählt (vgl. Bourdieu 1979: 158 ff.).
Der Objektivismus vollzieht zwar den Bruch mit den primären Erfahrungen der
Akteure, dabei werden jedoch die Konstruktionsarbeiten der Akteure derart vernachlässigt, dass Handlungen nur noch als determinierte Ableitung aus gesellschaftlichen Strukturen erscheinen.
Der subjektivistischen und der objektivistischen Erkenntnisform stellt Bourdieu nun eine praxeologische gegenüber. Die praxeologische Erkenntnisweise soll
die Defizite und Einseitigkeiten der subjektivistischen und objektivistischen Erkenntnisweise überwinden und trotzdem ihre Errungenschaften bewahren. Geschehen soll dies durch einen doppelten Bruch. Aus phänomenologischer Perspektive soll mit der primären Erfahrung gebrochen werden, um eine notwendige
Distanz zum Objekt zu erhalten und der Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis
zu entgehen. Aus objektivistischer Perspektive soll die primäre Erfahrung wieder
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
361
eingeführt werden, um damit die eigenständige Konstruktionsarbeit der Akteure
berücksichtigen zu können.
Um beiden Ansprüchen gerecht zu werden, entwirft Bourdieu auf der metatheoretischen Ebene die analytische Unterscheidung von Habitus und Feld. Während der Habitus gesellschaftliche Strukturen vor allem auf der Ebene von Akteuren und Akteursgruppen beschreibt, nimmt der Feldbegriff gesellschaftliche
Eigenlogiken in den Blick, die sich jenseits von Akteursintentionen reproduzieren
und transformieren. In der Folge möchte ich die Rekonstruktion dieser beiden
Forschungslinien als zwei Möglichkeiten der empirischen Analyse von Gesellschaft thematisieren, um anschließend auf unterschiedliche Formen der empirischen Umsetzung einzugehen. Beginnen möchte ich mit der Habitusrekonstruktion.
3
Habitusrekonstruktion
Ein gängiger Weg, die gesellschaftliche Fundierung von biografischen Materialien aus einer bildungstheoretischen Perspektive in den Blick zu nehmen, wird im
Habituskonzept Pierre Bourdieus gefunden (Alheit 1992; Herzberg 2004; Koller
2002, 2009; Rosenberg 2011a). Der Habitus stellt hier ein gesellschaftlich konstituiertes Generierungsprinzip für Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen dar (Bourdieu 1993: 101). In diesem Sinne kann der Habitus als ein Vermittlungsmodus zwischen Subjekt und Gesellschaft verstanden werden. Auf einer
methodologischen Ebene haben sich vor allem die Arbeiten um eine praxeologische Wissenssoziologie (Bohnsack 2010; Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl
2007; Nohl 2006a) für eine Habitusrekonstruktion als anschlussfähig erwiesen
(vgl. auch Meuser 2007). Gegenüber intentionalen Handlungstheorien betont die
dokumentarische Methode wie auch die Habitustheorie Bourdieus den kollektiven und routinisierten Charakter der a-theoretischen Wissensbestände von Akteuren und Akteursgruppen. Damit zielen sowohl die Habitustheorie als auch der
primäre Zugang der praxeologischen Wissenssoziologie zunächst auf kollektive
Strukturen, die sich in Akteuren und Akteursgruppen abbilden. Gesellschaftliche Phänomene, die sich jenseits von Akteursintentionen vollziehen, kommen
nur dann vermittelt in den Blick, wenn es darum geht, wie Akteure mit diesen
Strukturen einen Umgang finden. Aus diesem Grund möchte ich die Habitusrekonstruktion als die Analyse einer akteursgebundenen Perspektive kennzeichnen, deren primärer Zugang auf die Aneignung, Reproduktion und Transformation gesellschaftlicher Strukturen zielt.
362
Florian von Rosenberg
Methodologisch entscheidend für den Zugang zu den habitualisierten Wissensbeständen ist für die praxeologische Wissenssoziologie ein Wechsel in der
Analyseeinstellung von den Was- zu den Wie-Fragen. Es wird in der empirischen
Rekonstruktion nicht der Frage nachgegangen, was die gesellschaftliche Realität
in der Perspektive der Akteure ist, sondern wie die gesellschaftliche Realität in
der Praxis der Akteure hergestellt wird (vgl. Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl
2007: 12). Damit zielt die empirische Rekonstruktion auf das dem Habitus zugrunde liegende Generierungsprinzip, auf seinen modus operandi. Es wird davon
ausgegangen, dass der aus einem Interview oder aus einer Gruppendiskussion
entstehende Text selbst ein Produkt einer oder mehrerer Habitusdimensionen ist.
In diesem Sinne zielt die empirische Rekonstruktion dieser Dokumente auf übergreifende Muster – zunächst innerhalb eines Falles – ab, die sich an unterschiedlichen Textstellen belegen lassen müssen.
Bei der Rekonstruktion des Habitus muss zweierlei beachtet werden. Zum
einen wird der Geltungscharakter von Akteursaussagen eingeklammert. Das
heißt, es wird nicht bewertet, ob die Aussagen eines Akteurs oder einer Akteursgruppe wahr oder falsch, moralisch gut oder schlecht oder ästhetisch ge- oder
misslungen sind.2 Die Aussagen eines Akteurs werden durch die Einklammerung
ihres Geltungscharakters in erster Linie hinsichtlich eines sich darin zeigenden
Generierungsprinzips untersucht (vgl. Bohnsack 2010: 64 ff.). Zum anderen verbleibt die Habitusrekonstruktion nicht beim Einzelfall, sondern durch komparative Analysen werden fallübergreifende Muster in den Blick genommen.
Die komparative Analyse stellt damit die Schlüsselstelle innerhalb der Habitusrekonstruktion dar. In ihr geht es darum, durch empirische Fallvergleiche
das zu interpretierende Dokument mit empirischen Gegenhorizonten zu kontrastieren und zu differenzieren. Dies geschieht aus zwei Gründen: Zum einen
wird das Material so nicht ausschließlich mit dem interpretativen Gegenhorizont des Forschers konfrontiert, sondern es werden empirische Gegenhorizonte
von Vergleichsfällen in die Interpretation mit aufgenommen, wodurch die eigene Standortgebundenheit der Forschenden methodologisch und forschungspraktisch relationiert wird (vgl. Nohl 2007). Zum anderen kann durch die komparative Analyse ein empirischer Zugang zur Mehrdimensionalität des Habitus
geschaffen werden. Durch das Heranziehen von empirischen Vergleichshorizonten beispielsweise hinsichtlich der Dimensionen von Generation, Milieu oder
Geschlecht kann man den rekonstruierten Habitus dann aus unterschiedlichen
2
Zur Illustrierung der Einklammerung des Geltungscharakters und des Wechsels von den Was- zu
den Wie-Fragen vgl. auch das Forschungsbeispiel in Abschnitt 4.
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
363
Blickwinkeln beleuchten. Bei der Rekonstruktion von Habitusformen muss dabei
immer von Überlappungsphänomenen ausgegangen werden; Habitusrekonstruktionen als Typenbildungen sind demnach konstitutiv mehrdimensional. Mit den
zusammenhängenden Begriff lichkeiten der Einklammerung des Geltungscharakters, der komparativen Analyse und der mehrdimensionalen Typenbildung zeigt
die dokumentarische Methode elaborierte und methodologisch reflektierte Forschungsinstrumentarien auf, um eine Habitusrekonstruktion gangbar zu machen
(vgl. Bohnsack 2010; Bohnsack / Nentwig-Gesemann / Nohl 2007).
Bei der Rekonstruktion von Prozessverläufen zeigt sich insbesondere die Biografieforschung für den Versuch, Subjektivismen und Objektivismen zu unterlaufen, als anschlussfähig. Die Biografieforschung möchte nicht nur Aussagen über
die Orientierungswechsel Einzelner machen, sondern, gerade wenn sie Biografien erforscht, ist sie „strukturell auf der Schnittstelle zwischen Subjektivität und
gesellschaftlicher Objektivität, von Mikro- und Makroebene angesiedelt und eröffnet somit die Möglichkeit, Lern- und Bildungsprozesse im Spannungsfeld zwischen subjektiver und objektiver Analyse zu erfassen“ (Krüger / Marotzki 2006: 8).
In diesem Zusammenhang wird unter dem Stichwort der „Weltvergessenheit“
insbesondere in der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung gerade
die fehlende Anbindung biografischer Analysen an die Rekonstruktion gesellschaftlicher Bedingungen der Möglichkeit von Biografizität kritisiert (vgl. hierzu
Nohl / Koller 2010; Wigger 2010; Stojanov 2010; Rosenberg 2010). Als Manko erscheint, dass eine empirisch fundierte Bildungstheorie an die Problemlagen einer
Rekonstruktion von gesellschaftlicher Objektivität nicht heranreicht, „wenn sie
sich auf die akribische Bearbeitung der Frage beschränkt, wie Subjekte mit ihren
Erfahrungen umgehen oder sich in der Welt orientieren“ (Wigger 2004: 490). Gefordert wird hier, biografische Rekonstruktionen durch die Analysen der gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Biografizität zu ergänzen. Um
dieser Aufgabe gerecht zu werden, bietet sich neben dem Habitusbegriff der Feldbegriff an,3 insofern er nochmal eine andere Perspektive auf gesellschaftliche
Strukturen einnimmt.
3
Insofern der Habitusbegriff die Strukturiertheit und Voraussetzungen von biografischen Orientierungen in den Blick nimmt, stellt er selbst schon eine Analysekategorie für die Rekonstruktion
der Bedingungen der Möglichkeit von Biografizität dar. In der Folge wird deutlich werden, inwiefern der Feldbegriff andere, beziehungsweise zu ergänzende Optionen bereitstellt.
364
4
Florian von Rosenberg
Feld als Diskursrekonstruktion
Betrachtet man die Theorie der Praxis Pierre Bourdieus, zeigt sich, dass das Habituskonzept nur einen Teil der Rekonstruktion von gesellschaftlichen Strukturen
darstellt. Programmatisch fasst Bourdieu (1987: 175) seinen Praxisbegriff in der
Formel „Habitus (Kapital) + Feld = Praxis“ zusammen. Die Habitusrekonstruktion als eine empirische Analyse auf der Ebene von Akteuren und Akteursgruppen muss demnach um eine Feldrekonstruktion, welche gesellschaftliche Strukturen jenseits von Akteursintentionen in den Blick nimmt, ergänzt werden.
Bezogen auf gesellschaftliche Eigenlogiken können mit dem Feldbegriff unterschiedliche Aspekte der Reproduktion und Transformation von Gesellschaft fokussiert werden. Während der Habitusbegriff als ein Vermittlungsmodus gesehen
werden kann, der sich auf „inkorporierte Strukturen“ von Akteuren und Akteursgruppen bezieht, ist der Feldbegriff auch auf die Analyse gesellschaftlicher Eigenlogiken gerichtet, die Bourdieu (1998: 7) als „objektive Strukturen“ kennzeichnet.
Dass der Feldbegriff gegenüber dem Habitusbegriff eine eigenständige Analysekategorie darstellt, verdeutlicht Bourdieu in seinem doppelten Geschichtskonzept.
Einerseits geht Bourdieu von einer sich reproduzierenden Geschichte der inkorporierten sozialen Strukturierung aus, die sich auf den Habitus und damit auf
Akteure und Akteursgruppen bezieht, andererseits differenziert Bourdieu von der
inkorporierten und habitualisierten Geschichte eine Geschichte, welche sich jenseits der Akteursintentionen eigenlogisch reproduziert. Bourdieu und Wacquant
führen hierzu aus: „Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen
und in den Köpfen, in den Feldern und in dem Habitus, innerhalb und außerhalb
der Akteure“ (Bourdieu / Wacquant 1996: 161).
In bisherigen Debatten zu Bourdieus Feldtheorie sind häufig durch seine Analysen zu unterschiedlichen Verteilungen von ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital rezipiert worden.4 Dahingegen werden Bourdieus
Analysen zum Begriff der Illusio, mit dem ich mich in der Folge im Kontext von
Feldrekonstruktion beschäftigen möchte, weit weniger häufig in den Fokus gerückt.
Der Illusiobegriff thematisiert den grundlegenden Glauben an ein Spiel (vgl.
Bourdieu 2001: 122 f.). Stärker als der Kapitalbegriff, welcher vornehmlich auf der
4
Vgl. hierzu beispielhaft Kneers (2004: 39 ff.) Ausführungen zum Differenzierungsbegriff bei
Bourdieus Theorie sozialer Felder .
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
365
Ebene von Habitusverhältnissen argumentiert,5 kann man mit dem Begriff der
Illusio symbolische Eigenlogiken eines Feldes analysieren, die sich nicht direkt auf
Akteure beziehen (vgl. Bourdieu 2001: 122 f. u. 210 ff.). Die Untersuchung der Illusio thematisiert stärker die konstituierenden Regeln eines Feldes. Welchen Komplexen von Praktiken müssen sich die Akteure und Akteursgruppen unterwerfen,
wenn sie in ein Feld eintreten und agieren wollen ? Wie unterscheiden sich die
konstituierenden Regeln eines Feldes von denen eines anderen ?
Zur forschungspraktischen Beantwortung dieser Fragen lässt sich methodologisch passend für eine Feldrekonstruktion die Diskursanalyse anschließen. Die
Diskursanalyse, die sich – wie im Weiteren noch ausgeführt wird – mit gesellschaftlichen Sinnproduktionen befasst, stellt ein geeignetes methodologisches Instrumentarium zur Rekonstruktion der konstitutiven Eigenlogiken von Feldern
dar.6
Einer Theorie der Praxis verbunden, stellt der Diskurs im Anschluss an die Arbeiten von Michel Foucault ein Ensemble von diskursiven und nicht-diskursiven
Praktiken dar.7 Hieran anschließend, wird ein Diskurs nicht als eine bloße Konstruktion von Common-Sense-Annahmen verstanden, sondern als ein Ausdruck
von Praktiken. In diesem Sinne können Diskursanalysen nicht nur als sprachliche
oder linguistische Analysen verstanden werden, vielmehr zielen auch sie auf die
Rekonstruktion von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ab.
Ernesto Laclau (1981: 176, zitiert nach Jäger 2001: 92) führt aus: „Unter dem
,Diskursiven‘ verstehe ich nichts, was sich im engen Sinne auf Texte bezieht, sondern das Ensemble der Phänomene gesellschaftlicher Sinnproduktion, das eine
Gesellschaft als solche begründet. Hier geht es nicht darum, das Diskursive als
eine Ebene oder eine Dimension des Sozialen aufzufassen, sondern als gleichbedeutend mit dem Sozialen als solchem (…). Folglich steht nicht das Nicht-Diskursive dem Diskursiven gegenüber, als handelte es sich um zwei verschiedene
Ebenen, denn es gibt nichts Gesellschaftliches, das außerhalb des Diskursiven bestimmt ist. Die Geschichte und die Gesellschaft sind also ein unabgeschlossener
5
6
7
Vgl. hierzu auch Bourdieus (1987: 175) schon angeführte Formel „Habitus (Kapital) + Feld = Praxis“, bei der der Kapitalbegriff auf der Seite der Habitusverhältnisse verortet wird.
Angemerkt werden muss an dieser Stelle, dass die Diskursanalyse nicht als eine einheitliche Methode gesehen werden kann (vgl. Keller 2007). Im Folgenden möchte ich deshalb eine Perspektive für eine dokumentarische Interpretation von Diskursen andeuten. Dabei geht es mir weniger darum, eine systematische Ausarbeitung einer einheitlichen Forschungsrichtung vorzustellen
(vgl. hierzu auch Rosenberg 2011a: 106 – 115).
Vgl. zur Einordnung Michel Foucaults Diskurstheorie in den Rahmen einer Theorie der Praxis
Reckwitz 2000: 262 – 307.
366
Florian von Rosenberg
Text.“ Diskurse können so als „regelgeleitete Praktiken“ (Schwab-Trapp 2006: 35)
gesehen werden, in denen diskursive und nicht-diskursive Elemente untrennbar
zusammenhängen. Der Diskursbegriff verweist damit, vor allem in den Arbeiten
von Michel Foucault (vgl. 1974, 1981), auf gesellschaftliche Eigenlogiken die sich
jenseits von Akteursintentionen reproduzieren und transformieren.
Anders als andere Formen der Gesellschaftsdiagnose bilden Methoden der
Diskursanalyse die Möglichkeit, den modus operandi und damit die Herstellungsweise einer gesellschaftlichen Eigenlogik nicht nur zu postulieren, sondern sie
auch empirisch zu rekonstruieren. Im Unterschied zu Habitusrekonstruktionen
zielt die Diskursanalyse weniger auf die Aneignungs- und Verarbeitungsmodi
von Akteuren, sondern auf gesellschaftliche Eigenlogiken. Die Methoden der Diskursanalyse können so theoretische und methodische Anregungen geben, wie
eine empirische Erforschung der modi operandi von Feldern angegangen werden
kann. Methodologischer Ausgangspunkt meiner folgenden Überlegungen ist die
schon im Zusammenhang mit der Habitusrekonstruktion angeführte rekonstruktive Sozialforschung (vgl. Bohnsack 2010).
Der von der rekonstruktiven Sozialforschung mit anderen Theorien und Methodologien der Praxis geteilte Theorieanspruch, „Subjektivismus“ und „Objektivismus“ relational zu überwinden, kann mit der Hinzunahme der Untersuchung
von gesellschaftlichen Eigenlogiken in seinem Komplexitätsgrad weiter gesteigert
werden. Wie bei der Habitusrekonstruktion steht auch bei einer rekonstruktiven
Interpretation von Diskursen mit Hilfe der dokumentarischen Methode der Perspektivenwechsel von den Was- zu den Wie-Fragen und die damit verbundene
Einklammerung von Geltungscharakteren sowie die komparative Analyse und die
Typenbildung im Vordergrund.
Ähnlich der Habitusrekonstruktion fokussiert eine in diesem Sinne dokumentarische Diskursanalyse nicht das Was, sondern das Wie eines Diskurses. Einhergehend mit diesem Perspektivenwechsel ist auch die Diskursanalyse ein rekonstruktives Verfahren.
Neben der Einklammerung von normativen, ästhetischen und propositionalen Geltungscharakteren unterscheidet sich die Interpretation von Diskursen gegenüber der Analyse von Habitusverhältnissen jedoch dadurch, dass hier zusätzlich die Einklammerung des Geltungscharakters von subjektiven oder kollektiven
Aneignungsformen vorgenommen wird. Nicht das Wie eines Habitus, sondern
das Wie eines Diskurses steht im Mittelpunkt der Analyse von Feldern. Es geht
also nicht um die Aneignung von und den Umgang mit gesellschaftlichen Strukturen seitens konkreter Personen bzw. Gruppen, sondern um die Rekonstruktion
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
367
von gesellschaftlichen Eigenlogiken, welche sich jenseits von Akteurskonstruktionen, beispielsweise in der Illusio von Feldern, reproduzieren und transformieren.
Dokumente werden so in der Diskursanalyse „als Produkte eines anonymen,
aber regelhaften Geschehens“ begriffen (Lüders 2007: 171). Der Begriff des Anonymen bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, dass die Akteure oder Akteursgruppen eines Diskurses nicht bekannt wären oder dass sie keine strukturellen Voraussetzungen für einen Diskurs darstellen, vielmehr macht der Verweis
auf das Anonyme die Einklammerung des Aneignungscharakters bei der Rekonstruktion deutlich.
Mit Koller und Lüders geht es so um „übersubjektive Regeln der gesellschaftlichen Produktion von Wissen, Wahrheits- und Wirklichkeitskonstruktionen“
(Koller / Lüders 2004: 58). Der Diskurs wird in diesem Sinne als „eine spezifische
Beobachterkategorie“ (Reckwitz 2008: 203) verstanden, welche sich eben von der
des Habitus unterscheidet. Um die spezifischen Codes eines Diskurses und damit
die spezifische gesellschaftliche Eigenlogik eines oder mehrerer Felder rekonstruieren zu können, bedarf es entsprechend der dokumentarischen Interpretation
einer komparativen Analyse.
Bezogen auf die Notwendigkeit einer komparativen Analyse für Diskurse führt
Michael Schwab-Trapp (2006: 38) aus: „Zur Diskursanalyse wird die Analyse diskursiver Beiträge nur dort, wo diese Analyse Vergleichshorizonte einbindet und
die Beiträge, die sie untersucht, in Beziehung zu anderen Diskursbeiträgen und
Diskursen setzt.“ In der Forschungspraxis werden, dem Anspruch der komparativen Analyse folgend, für eine Diskursrekonstruktion größere Dokumentsammlungen komparativ analysiert, um damit den modus operandi, das Wie eines Diskurses / Feldes, rekonstruieren zu können.
Ähnlich der Habitusrekonstruktion zielt auch die dokumentarische Diskursanalyse auf Typenbildungen ab. In der Regel geht es hier bei einer Diskursanalyse
nicht darum, einen Diskursbeginn exakt zu datieren oder ihn in Gänze zu erfassen, vielmehr wird der Herstellungsprozess eines Diskurses fokussiert. Je mehr
empirische Vergleichshorizonte mit einbezogen werden können, als desto höher
gilt der Generalisierungs- und Differenzierungsgrad der Typenbildung einer Diskursrekonstruktion. Es geht weniger darum, einen Diskurs in seiner Vollständigkeit zu erkennen, als vielmehr darum, typische Funktionsmodi, Abgrenzungen
und Überlappungen zu bestimmen.
368
5
Florian von Rosenberg
Empirische Rekonstruktion von berufsbiografischen
Lern- und Bildungsprozessen zwischen Habitus und Feld
Abschließend möchte ich auf empirische Beispiele eingehen, um Verknüpfungsmöglichkeiten von Habitus- und Feldrekonstruktionen aufzuzeigen. Im Fokus
steht hierfür zunächst eine Habitusrekonstruktion (5.1), welche dann durch eine
Feldrekonstruktion (5.2) ergänzt wird.
5.1
Rekonstruktion von Akteursperspektiven:
Antagonistische und nonkonforme Habitusformen
In unterschiedlichen Studien konnte ich über verschiedene Lebensphasen hinweg
neben anderen Habitusformen auch eine rekonstruieren, die ich bei Jugendlichen
als antagonistische beziehungsweise bei Erwachsenen als nonkonforme Habitusform gekennzeichnet habe (vgl. Rosenberg 2008, 2011a).
In der Jugendphase sind die Handlungspraktiken des antagonistischen Habitus durch Aktionismen geprägt, also durch Handlungsformen, die spontan und
ungeplant verlaufen (vgl. Bohnsack / Nohl 2001) und deren Funktion in der Suche
nach und der Bildung von adoleszenter Gemeinschaft besteht (vgl. Bohnsack et al.
1995). Anhand von ethnografischen Beobachtungen und Gruppendiskussionen
konnte in meiner Untersuchung rekonstruieren werden, wie sich die antagonistische Habitusform durch einen spezifischen Umgang mit sozialen Räumen
gegenüber der Institution Schule in Position bringt (vgl. Rosenberg 2011b). Die
antagonistisch orientierten Jugendlichen versuchen, die institutionellen Ablaufmuster der Schule zu konterkarieren, indem sie die Regeln und Erwartungshaltungen der Schule durch die der Peergroup ersetzen (vgl. Rosenberg 2008). Wie
sich in einer Untersuchung zum Zusammenhang von Entwicklungsphasen und
Berufsorientierung zeigt, besteht ein Problem der antagonistisch orientierten Habitusdisposition in der Negation berufsbiografischer Zukunftsentwürfe (vgl. Rosenberg / Schröder / Gerull 2006). Vor diesem Hintergrund möchte ich Lern- und
Bildungsprozesse von Erwachsenen fokussieren, die in ihrer Jugendphase antagonistisch orientiert waren und denen im Erwachsenenalter trotz oder gerade
wegen ihrer nonkonformen Habitusdisposition Einstiege in spezifische Berufsfelder gelingen. Dabei wird sich in Diskursrekonstruktionen zeigen, dass das Passungsverhältnis zwischen den nonkonformen Habitusformen und den gewählten
Berufsfeldern kein zufälliges, sondern ein historisch gewachsenes ist.
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
369
Ich beziehe mich in der Folge auf die fallübergreifende Analyse von drei biografischen Interviews, bei denen sich Bildungsprozesse im Sinne einer Habituswandlung rekonstruieren ließen (vgl. hierzu auch Rosenberg 2011a: 117 ff.). Die
drei Interviews wurden im Zuge einer Untersuchung zu berufsbiografischen
Orientierungen und Arbeitstechniken im Internet geführt. Herr Christophsen,
Herr Behrend und Herr Walters sind zwischen 30 und 40 Jahre alt und arbeiten gemeinsam an Netzkunstprojekten, welche sie zeitweise zu kommerzialisieren
versucht haben. Bei der Netzkunst geht es ihnen weniger darum, das Internet als
bloßen Raum für die Speicherung oder Verbreitung von analoger Kunst zu nutzten, sondern das Internet und seine technischen Möglichkeiten werden für die
Netzkünstler selbst ein ästhetisches Medium und damit zum Gegenstand einer
ästhetischen Praxis. In der komparativen Analyse der drei Interviews zeigt sich in
allen drei Fällen ein nonkonformer Habitus, dessen modus operandi, wie schon
beschrieben, in einer Verschiebung und Umwidmung von Rahmungen sozialer
Räume liegt. Exemplarisch kann in diesem Zusammenhang eine Passage aus dem
Fall von Herrn Christophsen angeführt werden, welcher sein Interview folgendermaßen beginnt:8
„Äh ich soll mein Leben erzählen. tja vorne anfangen. naja also ich bin in Berlin geboren, und äh man muss heute sagen in Ostberlin, //Interviewer: hmhm// und äh dann
ja die frühesten Erinnerungen sind dass ich äh schon sehr früh irgendwie sehr widerstandsf- äh äh widers- widerständig sozusagen war und da haben wir noch in so ner
Siedlung gewohnt da so ne kleine wie ist es wie heißt das Wohnbausiedlung, und ich
weiß noch eine Szene da mochte ich irgendwie das Essen nicht und bin einfach aus
dem Fenster gesprungen um abzuhauen als meine Mutter in der Küche war und das
war halt zum Glück Parterre gewesen. und dann ist sie aber außen um das Haus rumgerannt und hat mir dann ne Tracht Prügel verabreicht und ich glaube das ist so ganz
typisch sozusagen. meine Mutter ist ja relativ streng. und äh ja und ich bin eben halt
äh äh relativ durchgeknallt könnte man sagen“
In der Passage dokumentiert sich, dass sich Herr Christophsen gegenüber der
mütterlichen Autorität durch Entzug auf Distanz setzt. Er bricht die vorgegebenen Regeln (das Essen zu essen, den Raum durch die Tür zu verlassen, auf die An-
8
Im folgenden Interviewauszug wird entsprechend den Transkriptionsregeln nach Satzzeichen
klein weiter geschrieben, um deutlich zu machen, dass Satzzeichen die Intonation anzeigen und
nicht grammatikalisch gesetzt werden. Ein Komma zeigt dabei eine schwach steigende, ein Punkt
eine stark sinkende Intonation an.
370
Florian von Rosenberg
weisungen der Mutter zu hören) und stellt selbst neue Regeln auf, beispielsweise,
wann und wie der Essenstisch zu verlassen ist.9 In der fallinternen Analyse wird
deutlich, dass das Brechen und Verschieben von Regeln nicht nur in einer, sondern in mehreren Passagen und in verschiedenen Kontexten die Erzählungen von
Herrn Christophsen strukturieren. In der fallübergreifenden komparativen Analyse dokumentieren die biografischen Interviews von Herrn Walters und Herrn
Behrend eine homologe Struktur. Bei ihnen wiederholt sich in den Erzählungen
ein modus operandi, indem das Brechen und Verschieben von Regeln im Vordergrund steht (vgl. Rosenberg 2011a: 117 ff.).
Im Zuge von berufsbiografischen Suchprozessen kommt es innerhalb der Biografien in Bezug auf den Habitus der Nonkonformität zu Bildungsprozessen im
Sinne der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen.10 Analysiert man
fallübergreifend die Struktur der Transformationen von Welt- und Selbstverhältnissen, zeigen sich in den Vorgeschichten der Bildungsprozesse milieuspezifische
Desintegrationserfahrungen. Zwischen den Habitusdispositionen und den für sie
relevanten sozialen Räumen entstehen Passungsschwierigkeiten. Die hier auftretenden Störungen bieten Anlass dafür, dass die Habitusdispositionen überhaupt
fraglich werden und dass Veränderungsprozesse eingeleitet werden. In der sich
anschließenden Phase des Bildungsprozesses suchen die Akteure – teilweise über
Jahre hinweg – nach Anschlüssen an neue soziale Räume. Entsprechend ihrem
modus operandi des nonkonformen Habitus spielen dabei immer wieder Prozesse
der Brechung, Umwidmung und Verschiebung von gegebenen sozialen Räumen
eine Rolle. Beispielsweise versucht Herr Christophsen, sich entgegen der Ausbildungspflicht in der DDR seiner Lehre als Schlosser zu entziehen und siedelt sich
im Punkermilieu an. Herr Behrend findet Anschluss in der Technoszene und reist
„von Stadt zu Stadt, um Party zu machen“ und Drogen zu konsumieren. Herr Walters entschließt sich nach seinem Zivildienst zunächst Sozialhilfeleistungen zu
9
Vor dem Hintergrund des biografischen Dokumentes kann die Einklammerung des Geltungscharakters und der damit verbundene Wechsel von den Was- zu den Wie-Fragen nochmals verdeutlicht werden. Es geht nicht darum, ob Herr Christophsens Erzählungen über seine Kindheit
wahr oder falsch sind oder ob sein Handeln oder das der Mutter moralisch richtig oder falsch ist,
vielmehr wird die Analyse auf den modus operandi gelenkt, auf die Art und Weise wie Handlung
hier hergestellt wird.
10 Für die Ausarbeitung eines Bildungsbegriffes, der sich in unterschiedlicher Art und Weise an
der Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen orientiert vgl. Marotzki 1990; Koller 1999;
Nohl 2006b; Rosenberg 2011a. Konstitutiv für diese Ansätze ist eine Unterscheidung von Lernund Bildungsprozessen. Während sich Lernprozesse auf einen Wissens- und Könnenszuwachs
innerhalb einer Habitusorientierung beziehen, zielt Bildung immer auf die Transformation derselben ab.
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
371
beziehen, um Zeit zu haben sich seinen eigenen Interessen widmen zu können.
Entsprechend einer für antagonistische und nonkonformen Habitusformen nicht
ungewöhnlichen Handlungsweise, die auch schon bei den Jugendlichen der oben
genannten Studien rekonstruiert werden konnte, werden hier biografische Zukunftsentwürfe zugunsten einer aktionistisch gestalteten Gegenwart negiert. In
den biografischen Erzählungen der Fälle zeigen sich dahingehend Gemeinsamkeiten, dass alle Akteure immer wieder mit den an sie gestellten Erwartungen
brechen, um teilweise offen teilweise verdeckt neue Regeln zu produzieren und zu
installieren. Für die Erzählungen aus der Jugend und des frühen Erwachsenenalters ist in diesen Fällen typisch, dass sich die Verschiebung und Umwidmung
insbesondere der familiären und institutionellen Erwartungshorizonte weitestgehend spontan und ungeplant vollziehen.11 Für die Akteure geht es in diesen
Kontexten vornehmlich um ein experimentelles Generieren von neuen Erfahrungshorizonten, jenseits von Familie und Bildungsinstitution. Dabei zeigt sich
im Zusammenhang mit der Nonkonformität bei den Akteuren in der Partizipation an der Techno- oder Punkerszene oder auch im selbst gewählten Moratorium
eine Orientierung, welche die Vergangenheit und Zukunft zugunsten einer gegenwartsbezogenen Erfahrungssuche einzuklammern versucht.
Aus unterschiedlichen Gründen kommt es in allen drei Biografien im weiteren
Verlauf zu einem Bruch mit einer an der Gegenwart orientierten Nonkonformität,
wodurch bei den Akteuren neue berufsbiografische Suchprozesse initiiert werden.
Herr Behrend wird von der Polizei wegen Drogenbesitzes verhaftet, was bei ihm
eine familiäre Krise und eine Distanzierung gegenüber der Technoszene auslöst,
Herr Walters scheitert an seinem Ausbildungswunsch, Fotograf zu werden, was
ihn nach anderen Ausbildungsmöglichkeiten suchen lässt, und Herr Christophsen bekommt mit seiner Freundin ein Kind, wodurch er sich verpflichtet fühlt, für
seine Familie Verantwortung zu übernehmen.
Alle drei Akteure beginnen nun in und abseits von Arbeitskontexten, eine
Orientierung an Zukünftigkeit auszubilden. Wie in den Erzählungen über ihr frühes Erwachsenenalter deutlich wird, versuchen sie nicht nur in den Räumen ihrer
Szene kulturelles, symbolisches und soziales Kapital zu akkumulieren, sondern sie
suchen jetzt auch intensiv nach Strategien, ihre Kapitalakkumulation in andere
soziale Räume und vor allem in ökonomisches Kapital zu transferieren. In diesem
Zusammenhang setzen sich die Akteure mit den Praktiken der Netzkunst auseinander, wodurch in der Folge die nonkonforme Orientierung eine neue, ästhetisch-ökonomische Einbindung erfährt. Die Akteure sehen in der Netzkunst eine
11 Vgl. zu aktionistischen Handlungen von Jugendlichen auch Bohnsack / Nohl 2001.
372
Florian von Rosenberg
Auseinandersetzung mit ästhetischen Praktiken, durch die sie sich in einen experimentellen Selbstbezug setzen können. Gleichzeitig verlaufen die nonkonformen
Distanzierungs- und Neuerfindungsprozesse innerhalb der Szene der Netzkunst
jetzt nicht mehr, wie in der Jugend, aktionistisch und ungeplant mit einer Orientierung an der Gegenwärtigkeit, sondern sie beziehen sich nun vornehmlich auf
eine an Zukünftigkeit orientierte Kapitalakkumulation, wodurch auch eine ökonomische Einbindung hinzukommt. In einer Amalgamierung von Berufs-, Privatund Freizeitinteressen durch eine Netzkunst-Firmengründung verdichten sich die
beiden Orientierungen einer experimentellen Generierung von neuen Erfahrungen und einer auf Zukunft gerichteten Nutzenabwägung in Prozessen der ökonomischen Selbstmobilisierung.
5.2
Rekonstruktion von gesellschaftlichen Eigenlogiken:
Entstehungshintergründe postbürokratischer Arbeitstechniken
Wechselt man nun auf die Ebene der Feldrekonstruktion, dokumentiert sich in
unterschiedlichen diskursanalytischen Arbeiten, dass die Anschlussmöglichkeit
für die nonkonform orientierten Akteuren an das berufsbiografische Feld des Internets und der Netzkunst durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse begünstigt
wird, die in ihrer Entstehungsgeschichte weit über die biografischen Verhältnisse
der Akteure hinausreichen.
Vor dem Hintergrund von Organisationspraktiken der Koordinierung und
Disziplinierung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (vgl. Fraser 2003), die
ihren Ausgang im 18. Jahrhundert nehmen (vgl. Foucault 1977), zeigen sich in der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert soziale Wandlungsprozesse, die einen Gegenhorizont zu unterschiedlichen Formen von Autorität markieren (vgl. Sennett
2008). Auch vor dem Hintergrund von nonkonformen Kritikprozessen unterschiedlicher sozialer Bewegungen (vgl. Sennett 2008) kommt es Ende der 1960erJahre in den westeuropäischen und nordamerikanischen Nationen zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen, welche oft unter dem Signum der Postmoderne
diskutiert werden (vgl. Reckwitz 2006).
Bezogen auf die auch für die Netzkunstbiografien wichtigen Praktiken der Arbeit entstehen hier zunächst in den Führungsetagen global agierender Industriekonzerne postbürokratische Arbeitstechniken (vgl. Boltanski / Chiapello 2006).
Die Stichwörter der hier entstehenden Organisationskulturen heißen „Projektarbeit“, „Selbstorganisation“, „Kreativität“, „Mobilität“ und „Flexibilität“. Hiermit vollzieht sich ein Wandel von einem „Angestelltensubjekt zum kreativ-unter-
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
373
nehmerischen Subjekt“ (vgl. Reckwitz 2006: 501 ff.). Es kommt unter anderem zu
einer „Ästhetisierung (…) gegen die Normalisierung“ (Reckwitz 2006: 556).
In der hier angezeigten „ästhetisch-ökonomischen Dublette“ (Reckwitz 2006:
460), welche dadurch gekennzeichnet ist, dass die Akteure in ihrer Arbeit einerseits Möglichkeiten der persönlichen Selbstverwirklichung finden und die andererseits für die Akteure auch ein größeres Maß von Risikobewältigung verlangt,
lässt sich auch die Netzkunst verorten. Durch Prozesse der Selbstmobilisierung,
beispielsweise in der Gründung einer eigenen Netzkunst GmbH, versuchen die
Akteure eine berufsbiografische Zukunft zu entwickeln. In Strukturen von flachen
Hierarchisierungen und einer Orientierung an selbstverwalteten Arbeiten produzieren die Netzkünstler Arbeitskontexte, in denen Freundschafts- und Berufsbeziehungen ebenso zusammenfließen wie Arbeit und Freizeit. In diesem Sinne
schreiben Holm Friebe und Sascha Lobo (2006) in ihrem Buch „Wir nennen es
Arbeit. Die digitale Bohème oder intelligentes Leben jenseits der Festanstellung“
über ihre Arbeitsbedingungen, bei denen Prozesse der Synthetisierung von Arbeit und Freizeit im Vordergrund stehen. In postbürokratisch organisierten Projektarbeiten, die sie als „Produzentennetzwerke zwischen Kommerz und Kunst,
Wirtschaft und Leidenschaft“ (Friebe / Lobo 2006: 19) beschreiben, finden sie
Möglichkeiten, das für sie positiv besetzte „Prinzip des Unsteten, Spontanen und
Ungewissen“ (Friebe / Lobo 2006: 28) sozial zu verankern. Die digitale Bohème,
in deren Umkreis sich auch viele Arbeits- und Organisationspraktiken der Netzkunst wiederfinden lassen, setzt auf Attribute wie Flexibilität, Mobilität und
Kreativität; dabei legt sie nach eigenen Angaben „Wert auf Selbstprogrammierung“ (Friebe / Lobo 2006: 28 f.), die mit Formen der individuellen Selbstbestimmung in Bezug gesetzt wird. Gouvernementale Selbstformierungen (vgl. Bröckling / Lemke / Krasmann 2007) werden hier zu leitenden Attraktoren.12
Die digitale Bohème und auch die im Zusammenhang mit der Netzkunst rekonstruierten Biografien des nonkonformen Habitus präsentieren sich als Ausdruck von postbürokratischen Arbeits- und Organisationsformen. Dabei zeigt
sich ein modus operandi, der an einem binären Code von Flexibilität und Rigidität orientiert ist und der sich beispielsweise bis in den „kreativen Umgang“
(Friebe / Lobo 2006: 34) mit den (auch immer wieder in den Interviews meiner
Untersuchung angesprochenen) prekären ökonomischen und berufsbiografischen
12 Mit dem Begriff der Gouvernementalität wird im Anschluss an Michel Foucault eine Machttechnologie beschrieben, deren Aufkommen im 17. Jahrhundert verortet wird. Die Gouvernementalität stellt eine Kunst des Regierens dar, welche Voraussetzungen zu schaffen sucht, Individuen
Anreize zu geben, sich selbst zu führen.
374
Florian von Rosenberg
Verhältnissen hinzieht. Die Projektarbeiten der digitalen Bohème und der Netzkunst folgen damit Subjektivierungsformen, die Ulrich Bröckling (2007) als ein
„unternehmerisches Selbst“ bezeichnet. Dabei können sich die Praktiken einer
kritischen und an Ästhetik orientierten Nonkonformität in ein Passungsverhältnis zu den Praktiken postbürokratischer Arbeits- und Organisationsformen
stellen, auf deren Programmatik bezogen Bröckling (2007: 285) ausführt: „Die
Programme fordern Distinktion statt Konformität, Überschreitung statt Regelbefolgung, kurzum: sie fordern anders zu sein.“ Die Netzkunst erscheint hier
als ein Ausdruck eines postbürokratisch organisierten Berufslebens, in dem die
Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeitbeziehungen verschwimmen. Herr Christophsen, Herr Walters und Herr Behrend finden in diesen Subjektivierungsprogrammen eine Form, von den in der Jugend ausgebildeten aktionistischen Praktiken der Nonkonformität Abstand zu nehmen, um einen nonkonform-flexiblen
Habitus zu entwickeln, der sich für das berufsbiografisches Feld der Netzkunst als
anschlussfähig erweist.13 Bildungsprozesse über die Lebensspanne korrespondieren in diesen Fällen mit berufsbiografischen Einfindungsprozessen und sozialen
Wandlungsprozessen innerhalb der Felder von Arbeit.
6
Schlussbemerkungen
Zusammenfassend zeigt sich, dass die Kombination von Habitus- und Feldrekonstruktion Forschungsperspektiven eröffnet, in denen sich die Rekonstruktionen
von Akteursperspektiven mit den Rekonstruktionen von gesellschaftlichen Eigenlogiken spiegeln können. Über die methodologischen Instrumente der komparativen Analyse, der Einklammerung des Geltungscharakters und der Generierung von Typen konnte aus der Perspektive der dokumentarischen Methode ein
Weg aufgezeigt werden, der sowohl für die Rekonstruktion von Habitus- als auch
von Diskurs- und Feldstrukturen genutzt werden kann. Soziale Praktiken können
damit aus zwei Perspektiven beleuchtet werden: Einerseits aus der Perspektive
von Akteuren und Akteursgruppen und andererseits aus der Perspektive von gesellschaftlichen Eigenlogiken, die sich jenseits von Akteursintentionen tradieren
und transformieren. Untersucht wird in diesem Sinne eine doppelte Geschichte
13 Dass die Aufhebung der Trennlinien zwischen beruflichen und privaten Handlungspraktiken
und die sich dadurch ergebenden neuen Ökonomisierungsprozesse moderner Subjektivität auch
kritisch betrachtet werden kann, soll an dieser Stelle angemerkt, jedoch nicht weiter diskutiert
werden (vgl. Masschelein / Ricken 2003; Bröckling 2007; Rosenberg 2011a: 218 ff.).
Zur Rekonstruktion von Gesellschaft
375
von sozialen Praktiken, in der es zu einem Changieren zwischen einer akteursgebundenen und einer akteursgelösten Perspektive kommt. Methodisch beruht
die aufgezeigte Methoden- und Perspektivenkombination auf einer Verbindung
von Biografie- und Diskursanalyse, wodurch sich Möglichkeiten ergeben, biografische Rekonstruktionen an eine empirisch gehaltvolle Gesellschaftsanalyse anzuschließen.
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Strategien einer integrativen Sozialforschung
am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Die Entscheidung für einen Beruf bzw. ein Studienfach zählt neben der Ablösung vom Elternhaus oder dem Aufbau geschlechtlicher Beziehungen und von
Partnerschaften zu den wichtigsten Entwicklungsaufgaben am Ende der Jugendphase – und kennzeichnet damit einen wesentlichen Schritt innerhalb des globalen Übergangs in das Erwachsenenleben (vgl. Göppel 2005). Die Heranwachsenden werden mit Blick auf die Berufswahl spätestens zum Ende ihrer Schulzeit mit
biografisch weit reichenden Fragen konfrontiert: Was kann ich oder traue ich mir
zu ? Wo liegen meine Stärken und Interessen ? Wie will ich später einmal leben ?
Welcher Beruf oder welches Studium passt zu mir ?
Die Entscheidungsfindung, als Teil dieses Übergangs, ist dabei zunehmenden Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten ausgesetzt. Wie Zinn (2000)
ausführt, ist der Glaube von Jugendlichen und jungen Erwachsenen an „Normalitäten […] des Lebenslaufs“ (ebd.: 31) brüchig geworden, den Übergängen im
Lebensverlauf ist ihre „institutionell verbürgte Kontinuität“ (Heinz 2000: 5) entzogen. Nach Stauber (2007: 131) werden mit der Verlängerung von Bildungs- und
Ausbildungswegen nicht nur die Übergänge länger, sie verlieren auch ihren „linearen Charakter“ und werden „komplizierter“. Dies verdeutlicht, wie schwierig es für den Einzelnen sein kann, eine eindeutige (und biografisch folgenreiche) berufliche Entscheidung zu treffen. Als Hintergrund für den zunehmenden
Verlust der Linearität führen Hillebrandt, Kneer und Kraemer (1998) an, dass in
modernen Gesellschaften in allen Bereichen verstärkt neue Optionen für individuelle Wahlentscheidungen entstehen. Der dadurch sich vergrößernde Entscheidungsspielraum zwingt den Einzelnen zugleich zur reflexiven Auseinandersetzung mit seinen Übergangsentscheidungen, zur Eigeninitiative und schließlich
auch zur Verantwortungsübernahme für ein mögliches Scheitern. Übergänge und
Entscheidungen sind damit nicht nur als optionaler Wahlprozess zu fassen, sondern sie implizieren gleichzeitig einen sozialen Handlungszwang (vgl. Schittenhelm 2005).
380
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Dies bedeutet in methodisch-methodologischer Konsequenz, dass sich mit
zunehmender Individualisierung auch die Entscheidungsstrategien1 individualisieren; bei quantitativ orientierten Forschungsvorhaben führt dies, so Kelle und
Kluge, zunehmend zu einer „sinkenden Erklärungskraft statistischer Modelle“
(2001: 20).
Die Optionen-Offenheit und die De-Institutionalisierung biografischer Berufsübergänge haben insgesamt zugenommen. Trotzdem hängt die Einmündung
in einen bestimmten Beruf nicht nur von den Überlegungen, Wünschen und der
individuellen Entscheidungsarbeit der Heranwachsenden ab. Vielmehr ist die
Einmündung nach wie vor eng an die objektiven und strukturellen Gegebenheiten gebunden, wie sie durch den Arbeitsmarkt (der, wie die jüngste Wirtschaftskrise gezeigt hat, teils gravierenden Veränderungen unterliegt), den schulischen
Erfolg bzw. die gesellschaftlichen Bildungszugangschancen oder durch die sozialen, kulturellen und ökonomischen Ressourcen, über die der Einzelne verfügen
kann, definiert werden (vgl. Herzog / Neuenschwander / Wannack 2006: 184 ff.). Zu
diesen objektiven Rahmenbedingungen gehören mit zunehmendem Lebensalter
auch die zeitlich vorgängig getroffenen Entscheidungen. Diese früheren Entscheidungen selbst strukturieren – im Sinne eines „kausalen Einflusses“ (Kelle / Kluge
2001: 13) – den objektiven Rahmen des Möglichen als zunehmende biografische
Einengung bzw. Festlegung (vgl. Mayer 1990b: 11).
In der Berufswahlforschung wurden verschiedene Modelle zur Erklärung
beruflicher Entscheidungen entwickelt, die die beiden skizzierten Perspektiven
dabei je unterschiedlich gewichten. So unterscheidet Dimbath (2003: 126) einerseits Erklärungsmodelle, die sich auf die strukturellen, objektiven Rahmenbedingungen und Beschränkungen der Entscheidungsfindung beziehen. Hierzu zählt er
ökonomisch-allokationstheoretische und sozialstrukturell orientierte Modelle.
Demgegenüber erklären subjektorientierte Modelle die Berufswahl vornehmlich
aus der Perspektive des Individuums. Hierzu gehören nach Dimbath entscheidungstheoretische, soziologisch-entwicklungstheoretische und psychologische
1
Strategien sind in diesem Kontext als ‚Strategien des Habitus‘ zu verstehen, als das Produkt
grundlegender Dispositionen, die das Handeln des Einzelnen anleiten, „in Bewegung bringen
und steuern“ (Ecarius / Köbel / Wahl 2011: 89). Dabei impliziert der Begriff Strategie „nicht die
Vorstellung eines bewußten rationalen Kalküls“ (Raphael 1991: 241); vielmehr handelt es sich um
eine Art „Paradoxon vom objektiven Sinn ohne subjektive Absicht“ (Bourdieu 1981, zit. n. Wagner 2003: 207). Strategien sind eingewoben „in ein Geflecht von Vorstellungen, Einsichten, Erfahrungen, Erinnerungen, Zielen und Erwartungen und daher […] nur schwer zu identifizieren,
geschweige denn direkt […] zu erfragen“ (Brake / Büchner 2006: 71).
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
381
sowie biografieanalytisch orientierte Ansätze (vgl. hierzu auch Müller 1986: 68 ff.;
Bäumer 2005).
Die Unterscheidung zwischen struktur- und subjektorientierten Perspektiven
gründet letztlich im Einbezug handlungsbezogener Theorieelemente. Während
dieser Bezug in den strukturorientierten Ansätzen weitgehend ausgeblendet wird,
zielen die subjektorientierten Ansätze gerade auf die Frage, warum ein Subjekt in
welcher gegebenen Situation sich wie verhält. Letztlich spiegelt sich in beiden Forschungsansätzen damit, folgen wir Mayer (1990b: 7), die Dichotomie zwischen der
„Makroebene gesellschaftlicher Entwicklung“ und der „Mikroebene individuellen
Handelns“ wider bzw. das grundlegende paradigmatische Problem des MakroMikro-Makro-Übergangs (vgl. Coleman 1995).
Neben der Einteilung in struktur- und subjektorientierte Modelle lassen sich
die Ansätze in der Berufswahlforschung auch mit Blick auf ihr methodologischmethodisches Vorgehen unterscheiden. Einerseits finden sich Ansätze, die vornehmlich quantitative Methoden einsetzen, andererseits solche, die einen qualitativen Zugang in den Forschungsmittelpunkt rücken. Dabei zeigen sich Affinitäten
zwischen grundlegendem Theoriemodell und dem jeweiligen methodologischen
Forschungszugang. Diese sind exemplarisch in Tabelle 1 zusammengestellt.
Die Konzepte und auch die Notwendigkeiten integrativen Forschungshandelns und integrativer Forschungsstrategien, die sich um die Kombination und
Vereinbarkeit quantitativer und qualitativer Methoden und -ergebnisse bemühen,
werden zunehmend in der Forschung betont (vgl. u. a. Erzberger 1998; Kelle / Erzberger 1999; Kluge / Kelle 2001; Seipel / Rieker 2003; Kelle 2007; Brake 2011). Zu
Beginn des Jahrzehnts sind im deutschsprachigen Raum unterschiedliche Arbeiten entstanden, die die Integration qualitativer und quantitativer Verfahren im
Rahmen der Lebenslauf- und Biografieforschung in den Blick nehmen: Zu nennen ist hier insbesondere der DFG-Sonderforschungbereich 186 in Bremen zum
Forschungsfeld „Statuspassagen und Risikolagen im Lebensverlauf “ (Sackmann /
Wingens 2001; Leisering / Müller / Schumann 2001; Born / Krüger 2001; Kluge / Kelle
2001), außerdem in jüngerer Zeit u. a. die Studie von v. Felden und Schiener (2010).
Allerdings ist der Umsetzungsprozess integrativer Vorgehensweisen in der
Forschungspraxis als recht zäh zu bezeichnen. Wie beispielsweise Kelle und
Kluge (2001: 12) betonen, wird die methodologische Debatte nach wie vor von
zwei „Lager[n]“ geprägt, „zwischen denen oft nur wenig ernsthafter Austausch
von Argumenten und Positionen stattfindet.“ So haben die quantitativ und qualitativ Forschenden ihre je spezifischen Strukturen geschaffen, beispielsweise in
Form von Sektionen, eigenen Tagungen und Publikationen, die stärker auf eine
spezifische Profilierung zielen als auf Durchlässigkeit (vgl. ebd.).
382
Tabelle 1
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Konzeptionelle und methodologische Ansätze
in der Berufswahlforschung
Konzeptioneller Ansatz / Modelle
Methodologischer Ansatz
Quantitativ
Qualitativ
Strukturorientiert
Theoriemodelle
Subjektorientiert
z. B. sozialstrukturelle Modelle z. B. entscheidungstheoretische Modelle; lerntheoretische oder motivationspsychologische Modelle
Forschungsansätze z. B. Lebenslaufforschung;
Lebensverlaufsforschung
z. B. Rational-Choice-Ansatz;
SEU-Modelle, spieltheoretische Ansätze
Analyseverfahren
z. B. Verlaufsanalyse bzw.
Ereignisdatenanalyse;
Sequenzanalyse;
Kohortenanalyse
z. B. probabilistische Modelle,
logistische Regression
Theoriemodelle
z. B. Modelle zu kollektiven
Chancen und Rahmenbedingungen
z. B. individualbiografische
Modelle
Forschungsansätze z. B. Kollektive
(Bewältigungs-)Strategien
z. B. Biografieforschung
Analyseverfahren
z. B. Narratives Interview,
Narrationsanalyse
z. B. dokumentarische Methode (Gruppendiskussion)
Quelle: Erweitert und ergänzt in Anlehnung an Dimbath 2003.
Im Folgenden werden die verschiedenen konzeptionellen und methodologischen
Ansätze aus quantitativer und qualitativer Perspektive vorgestellt (Kapitel 1). Möglichkeiten einer kombinierten Perspektive bzw. integrativer Forschungsstrategien
werden im Rahmen von Triangulation und Mixed Methods sowie im Kontext
eines Studienbeispiels diskutiert (Kapitel 2).
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
1
383
Konzeptionelle und methodologische Ansätze
in der Berufswahlforschung
Die folgende Skizzierung der unterschiedlichen konzeptuellen und methodologischen Ansätze erhebt nicht den Anspruch, diese umfassend und in ihrer Komplexität detailliert wiederzugeben. Die Darstellung dient der Grundlegung unserer Argumentation für ein integratives Forschungsdesign (siehe Kapitel 2). Dabei
werden neben der Beschreibung der grundlegenden Perspektive der jeweiligen
Modelle auch deren forschungsmethodische Grenzen thematisiert.
1.1
Die quantitativ-strukturelle Perspektive
Zu dieser Perspektive zählen etwa die Lebenslauf- bzw. die Lebensverlaufsforschung.2 Die Lebenslaufforschung konzeptualisiert den Lebenslauf als eine gesellschaftliche Institution „im Sinn eines Regelsystems, das einen zentralen Bereich
oder eine zentrale Dimension des Lebens ordnet“; diese zentrale Dimension ist
die Zeit bzw. die zeitliche Abfolge von lebensrelevanten Ereignissen und Aktivitäten (Kohli 1985: 1). Die grundsätzliche Analyseperspektive der Lebenslaufforschung konzentriert sich dabei „auf den Durchstrom von Gesamt- oder Teilbevölkerungen durch institutionell definierte Ereignisse (wie etwa Ausbildungsabschluß,
Heirat, Geburt der Kinder, Beginn und Ende von Erwerbstätigkeiten) beziehungsweise auf die relative Verweildauer in bestimmten Aktivitäten und kollektiven
Mitgliedschaften (Partnerschaften, Haushalte, Familien, Firmen, regionale Zugehörigkeiten und Kontexte).“ (Mayer 1990b: 9 f.; Hervorhebung, d. V.)
„Durchstrom“ bzw. „Verweildauer“ werden dabei in der Regel mittels quantitativer Forschungsmethoden erhoben (vgl. Mayer 1990a). Zu den angewandten Methoden zählen dabei etwa die Ereignisdatenanalyse (Verlaufsdatenanalyse,
Survivalanalyse) oder die Sequenzmusteranalyse (siehe Sackmann 2007). Zu den
typischen Fragestellungen der Ereignisdatenanalyse gehört, wie lange etwa Personen in einem bestimmten Zustand verweilen bzw. zu welchem Zeitpunkt im Lebensverlauf eine Zustandsveränderung eintritt – bezogen auf unser Beispiel also
etwa die Frage, mit welchem Alter Jugendliche bzw. junge Erwachsene die erste
Erwerbstätigkeit aufnehmen und wie lange diese ohne Arbeitsplatzwechsel andauert. Die Ereignisdatenanalyse ermöglicht nicht nur, die Unterschiede in den
2
Wir verwenden im Folgenden beide Begriffe synonym (zu einer möglichen Unterscheidung beider Begriffe siehe Mayer 1990b: 8, Fußnote 4).
384
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
jeweiligen Zeitpunkten bzw. deren unterschiedliche Dauer zu erfassen und diese
auf statische, das heißt zeitunveränderliche, Hintergrundmerkmale wie etwa Geschlecht oder Schulabschluss zurückzuführen, sondern es lassen sich ebenso zeitveränderliche Kovariaten mit einbeziehen, die die Berufswahl beeinflussen wie
z. B. familienzyklische Merkmale. Klassische Auswertungsverfahren wie Lineare
oder Logistische Regression sind hier nur bedingt einsetzbar (vgl. Ludwig-Mayerhofer 1994: 117 f.). Die Sequenzmusteranalyse erweitert die Ereignisdatenanalyse
von der Betrachtung eines einzelnen Übergangs hin zur Analyse multipler zeitbezogener Zustandsveränderungen (vgl. Böpple 2010).
Kritisiert wird an der Lebenslaufforschung, dass sie zwar modale Verlaufsmuster spezifischer Lebensphasen und -ereignisse für unterschiedliche Gruppen von
Personen – beispielsweise Frauen vs. Männer, jüngere vs. ältere Geburtskohorten – nachzuzeichnen in der Lage ist, jedoch jenseits mehr oder weniger plausibler
Zusatzannahmen über das typische Handeln der Akteure keine Antwort auf die
Frage hat, aus welchen Gründen die Mitglieder der jeweils miteinander verglichenen Gruppen so oder so gehandelt haben und wie sich damit die gefundenen Unterschiede erklären lassen (Kelle / Kluge 2001: 18). Im Sinne unserer einleitenden
Gedanken mangelt es der Lebenslaufforschung an einer handlungstheoretischen
Grundlegung, das heißt sie vernachlässigt die Perspektive der Subjekte, ihre Situationsdeutungen sowie die Bestimmungsgründe für ihr Handeln. Sie vereinseitigt
das Makro-Mikro-Problem zugunsten der Makroperspektive.
1.2
Die quantitativ-subjektive Perspektive
In der quantitativen Forschung lässt sich eine Theorietradition ausmachen, die
das Makro-Mikro-Problem durch Einbeziehung individueller Handlungsprämissen lösen will. Hierzu zählen Ansätze, die sich auf das Paradigma der rationalen
Wahlhandlung bzw. die Rational-Choice-Theorie beziehen.
Wenngleich es unterschiedliche Ansätze innerhalb des Paradigmas der rationalen Wahl gibt, lässt sich die gemeinsame Sichtweise dieser Ansätze mittels dreier
Komponenten beschreiben: sie fokussieren auf den Ausführenden einer Handlung, den Akteur; sie konzeptualisieren den Akteur als mit spezifischen Ressourcen ausgestattet bzw. spezifischen Restriktionen unterliegend und sie formulieren
eine modale Entscheidungsregel, nach der sich das (Wahl-)Verhalten des Akteurs
prognostizieren bzw. simulieren lässt (vgl. Coleman 1995). Die verschiedenen Ansätze innerhalb des Rational-Choice-Paradigmas unterscheiden sich zum einen
darin, inwieweit sie den Fokus auf die Ressourcen oder die Restriktionen des
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
385
Akteurs legen und vor allem darin, wie sie die handlungstheoretische Entscheidungsregel formulieren. Während, wie Diekmann und Voss dies beschreiben (vgl.
2004: 19 f.), so genannte ‚harte‘ Rational-Choice-Ansätze auf der Nutzenmaximierung als zentrale Entscheidungsregel aufbauen, erweitern ‚weiche‘ Ansätze diese
Regel um weitere Argumente für individuelles Handeln wie soziale Normen oder
altruistische Handlungsmotive.
Das Rational-Choice-Paradigma zielt unabhängig der konkreten Ausformulierung der Entscheidungsregel auf die mikrotheoretische Frage, welche Motive
jeweils den den Lebenslauf strukturienden Entscheidungen zu Grunde liegen. In
diesem Sinne wird der Lebenslauf zu einer Kette unterschiedlicher mehr oder weniger miteinander zusammenhängender Einzelentscheidungen, die alle zusammen und jede für sich einer bestimmten Handlungsmaxime folgen. Damit ist
die Rational-Choice-Theorie in der Lage, „kollektive Effekte aus Annahmen über
individuelles Handeln“ abzuleiten (Diekmann / Voss 2004: 14), also das MikroMakro-Aggregationsproblem, das von den strukturellen Ansätzen (aber auch von
den qualitativ arbeitenden Ansätzen, siehe unten) weitgehend ausgeblendet wird,
zu bearbeiten.
Zu den Axiomen der Rational-Choice-Theorie gehört die Ordnungsfunktion
der Präferenzen des Akteurs (Diekmann / Voss 2004: 17). Das heißt, die Alternativen, aus denen der Akteur auswählen kann, müssen sich entsprechend der verwendeten Entscheidungsregel hinsichtlich ihrer Erwünschtheit durch den Akteur
unterscheiden und in eine ordinale Reihe bringen lassen. Und darüber hinaus
muss die Entscheidungsregel zeitliche Kohärenz und inhaltliche Konsistenz aufweisen. Wie die Arbeit von Maschke (2012) zur Berufs- bzw. Studien(fach)wahl
von Lehramtsstudierenden zeigt, können aus der Sicht der Akteure mit Blick auf
die Berufswahl jedoch zum einen gleichwertige Alternativen auftreten, andererseits sich Entscheidungsregeln im Laufe des Entscheidungsprozesses verändern, das
heißt Entscheidungsinkohärenzen und -inkonsistenzen auftreten.
Ein weiterer Kritikpunkt, der sich an viele entscheidungsorientierte Konzepte
der Berufswahl richten lässt, berührt die grundlegende Frage, inwieweit bei Berufsentscheidungen tatsächlich von Entscheidungen im eigentlichen Wortsinn gesprochen werden kann. Dies betrifft zunächst einmal die Tatsache, dass von einer
Entscheidung nur dort die Rede sein kann, wo zwischen mehreren real vorhandenen Handlungsalternativen gewählt werden kann bzw. wo von einem Individuum
unterschiedliche Handlungsalternativen wahrgenommen werden (vgl. Dimbath
2003: 71). Ries bezeichnet dies als „Multivalenz“ realer Entscheidungssituationen
(1970: 122 f.). Entscheidungen beruhen aber nicht nur auf (der Wahrnehmung
von) Handlungsalternativen, sondern setzen in der Regel darüber hinaus, so die
386
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Annahme in der Rational-Choice-Theorie, einen mehr oder weniger bewussten
reflexiven Prozess des Abwägens dieser Alternativen voraus. Dabei werden die individuellen Entscheidungsmöglichkeiten und -fähigkeiten betont.3 Dem steht die
Einschätzung gegenüber, die zugespitzt von Bourdieu zum Ausdruck gebracht
wird, es gebe keine Entscheidung, zum Beispiel für einen Beruf oder Studiengang,
die einen ‚freiwilligen Entschluss‘ darstellt, keine „theoretische Wahl zwischen als
solchen konstituierten theoretischen Möglichkeiten“ (Bourdieu 2001: 176; siehe
ähnlich von Isenberg / Santos-Dodt 2000; Knauf / Oechsle 2007: 146). Einer solchen Wahl müssten „zwei Denkoperationen“ vorangehen: „erstens das Aufstellen
der vollständigen Liste der Wahlmöglichkeiten; zweitens das Feststellen und vergleichende Bewerten der unterschiedlichen Strategien im Hinblick auf ihre Folgen.“ Dies bezeichnet Bourdieu als eine „völlig unrealistische Vorstellung vom
gewöhnlichen Handeln“ (2001: 177). Bourdieu beantwortet die Frage nach der
subjektiven Entscheidungsmöglichkeit bzw. -fähigkeit dahingehend, dass zwar einerseits das Subjekt seine Handlungspraxis auf der Basis seiner habituellen Dispositionen frei und kreativ gestaltet, gleichzeitig dem Habitus im Prozess der Sozialisation aber bestimmte Grenzen auferlegt werden, die kaum oder nur schwer
zu überschreiten sind. Entscheidungen unterliegen damit habituellen Beschränkungen.
Der Rational-Choice-Theorie fehlt eine solche sozialisationstheoretische Perspektive (vgl. Dimbath 2003: 71) oder, wie es Burkart (1995: 67) formuliert, der
„Vergangenheitsaspekt“. Bourdieus Theorie der Praxis genügt es nicht, Handlungsentscheidungen über den Einbezug spezifischer (modaler) Motive und Entscheidungsregeln zu beschreiben, sondern angeschlossen werden muss ebenso die
Frage, wie diese Motive und Regeln im Subjekt entstehen und sich entwickeln.
Dies ist eine der zentralen Fragen mit der sich die qualitative (biografische) Forschung beschäftigt.
1.3
Die qualitativ-subjektive Perspektive
Anders als die quantitativ orientierten Forschungsansätze bemüht sich die qualitative Biografieforschung um die Rekonstruktion der individuellen Biografie4 aus
3
4
Die Studie von Maschke (2012) verweist darauf, dass Berufswahlentscheidungen häufig nicht im
Sinne einer Positivauswahl aus verschiedenen Alternativen, sondern eher im Gegenteil im Sinne
eines Ausschlussverfahrens getroffen werden.
Für Biografien gilt, dass, wie in der Einleitung angedeutet, institutionelle und gesellschaftliche
Lebenslauf-Marker mehr und mehr wegfallen. Damit ergibt sich zum einen der Zwang, sich
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
387
der Perspektive des Individuums. Auf der Grundlage von biografisch-narrativem
Material können zum einen die Gründe und Motive extrahiert werden, die zu bestimmten Entscheidungen führen und zum anderen die Frage beantwortet werden, wie sich diese im Rahmen sozialisatorischer Aneignungsprozesse entwickeln.
Die qualitative Forschung unterscheidet hierbei zwischen den so genannten
Um-zu- und den Weil-Motiven (vgl. Burkart 1995; Morel et al. 2007).5 ‚Um-zuMotive‘ beziehen sich vor allem auf Zukünftiges und vermitteln einen Eindruck
autonomer vorwärtsgerichteter Entscheidungen. (Diese Motive bilden den Kern
in den Rational-Choice-Ansätzen.) ‚Weil-Motive‘ sind demgegenüber ein „Niederschlag der Vergangenheit, der Lebensgeschichte eines Handelnden, die zur
Herausbildung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale oder Verhaltendispositionen geführt hat, die nun das Handeln (mit-)bestimmen“ (Morel et al. 2007: 76).
‚Weil-Motive‘ werden von biografischen Erfahrungen bestimmt, z. B. familiären
beruflichen ‚Aufträgen‘ über die Generationen etc. Insgesamt, so Burkart (1995),
schränken sie die Autonomie der Entscheidung ein. Hier sind Verdichtungen zu
„biographischen Zwangsläufigkeiten“ (ebd.: 84) denkbar. Oder in Anlehnung an
Schütze (1995) und Nittel (1992) (Anpassungs-)Verlaufskurven, die für ein Getriebenwerden stehen und nicht für freie Entscheidungen.
Diese Motive beschreiben zugleich das Verhältnis und den Übergang vom
Was zum Wie und geben unterschiedliche Analyseebenen vor. Auf der Ebene des
Was steht im Mittelpunkt, „was die gesellschaftliche Realität in der Perspektive
der Akteure ist“ (Common Sense) und auf der Ebene des Wie, „wie diese in der
Praxis hergestellt wird“ (Bohnsack 2003b: 42). In diesem Sinne konstituieren die
‚Weil-Motive‘ das ‚Um-zu-Motiv‘, gehen dem Handlungsentwurf also voraus (vgl.
Bohnsack 2003a: 145).
Im Rahmen der dokumentarischen Typenbildung führt Bohnsack (2003a:
145 f.) hierzu aus: „Es geht also nicht nur darum, das Handeln im Zusammen-
5
entscheiden zu müssen, zum anderen aber auch eine Erweiterung des optionalen Raums. Daraus erwächst die Chance und die Notwendigkeit, neue Kompetenzen zu entwickeln, um diesen
Freiraum biografisch nutzen zu können. Alheit und Dausien (2000: 277) sprechen von „Biographizität“ im Sinne der „prinzipielle[n] Fähigkeit, Anstöße von außen auf eigensinnige Weise
zur Selbstentfaltung zu nutzen, also (in einem ganz und gar ‚unpädagogischen‘ Sinn) zu lernen.“
Das Subjekt wird durch die Vielfalt der Optionen also nicht nur gefordert oder gegebenenfalls
überfordert, als handelndes Subjekt wird es zu individuellen Gestaltungen auch herausgefordert.
Schittenhelm (2005: 256) beispielsweise spricht von der Erschließung „neue[r] Kompetenzen
und Handlungsmöglichkeiten“ während der Berufsfindung, von „optionenerweiternden Strategien“, die den „Gestaltungsspielraum“ zu erweitern suchen.
Siehe zu dieser Unterscheidung und ihren theoretischen Grundlagen in den Arbeiten von Alfred
Schütz den Beitrag von Ralf Bohnsack in diesem Band.
388
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
hang von Um-zu-Motiven (z. B. biographischen Entwürfen) als dem intentionalen Prinzip des Handelns zu erfassen, sondern die Um-zu-Motive wiederum im
Zusammenhang ihrer Konstitutionsbedingungen, d. h. jener Erlebniszusammenhänge, aus denen sie entstanden sind, also den Weil-Motiven zu erfassen.“ Im Zusammenspiel beider Motive können die Prozesse der Genese von Orientierungen
nachvollzogen werden; in den Fokus rückt die Interdependenz von Subjekt und
Struktur, und zwar in doppelter Weise: Gefragt wird nicht nur, welchen strukturellen Restriktionen der Einzelne ausgesetzt ist und wie er mit ihnen umgeht, sondern auch danach, wie die Strukturen6 den Einzelnen prägen.
Insgesamt bedarf die Analyse einer solchen Prozessstruktur, „mit der zugleich die Bedingungen der Konstitution, Reproduktion und Veränderung von
biographischen Entwürfen als interaktive Prozesse erfasst [werden können; d. V.]“
(Bohnsack 2003a: 146), einer methodischen Kombination, die die Zirkularität von
Um-zu- und Weil-Motiven, von Was und Wie in unterschiedlichen Erhebungsund Analyseebenen ‚über die Zeit‘ dynamisch zu erfassen vermag.
Die Grenzen der qualitativ-biografischen Forschung liegen darin, dass sie den
Übergang von der Mikro- auf die Makro-Ebene (die Aggregationsebene) nicht
hinreichend erfassen kann. Es lassen sich auf der Basis der in der Regel – notwendigerweise – kleinen Stichproben kaum belastbare Aussagen auf der Makroebene
der sozialen Handlungskonsequenzen ableiten. Dies hatten wir als einen der wesentlichen Vorteile der quantitativ-subjektiven Modelle betrachtet.
1.4
Die qualitativ-strukturelle Perspektive
Die subjektive Perspektive erkennt dem Individuum einen Handlungsspielraum
für seine Entscheidungen zu. Allerdings haben wir bereits betont, dass dem unterschiedlichen Grad an Nutzung dieses Spielraums subjektive Einstellungen und
Dispositionen hinsichtlich der Gestaltbarkeit vorausgehen, die ihren Ursprung in
den sozialisatorisch-biografischen Erfahrungen des Individuums haben und internalisiert wurden. In dem Maße, in dem sich in diesen sozialisatorischen Erfahrungen jedoch nicht nur individuelle Lebenswege, sondern auch für bestimmte
soziale Gruppen gemeinsame Lebensbedingungen widerspiegeln (Bourdieu 1993),
geraten über die individuelle biografische Perspektive hinausgehend „kollektive
6
Für Bourdieu (vgl. 1974) sind die grundlegenden unsere Handlungen leitenden Prinzipien dementsprechend nicht nur strukturierende Struktur, sondern selbst das Ergebnis gesellschaftlicher
Praxis, das heißt ‚strukturierte Struktur‘.
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
389
Erfahrungskontexte und soziale Bezugsgruppen“ (Schittenhelm 2005: 12) hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Berufswahl in den Blick. Methodisch ist dem
Rechnung zu tragen, indem beispielsweise gefragt wird, wie sich Strategien der
Bewältigung innerhalb der sozialen Bezugsgruppen wie Eltern und Peers „interaktiv“ und mehr oder weniger homogen entwickeln (vgl. ebd.: 42). Eine Möglichkeit, dies zu erfassen, liegt in der Anwendung der Gruppendiskussion im Kontext
der dokumentarischen Methode. Die dokumentarische Methode bietet innerhalb
des qualitativen Forschungsparadigmas ein verbindendes Glied zwischen subjektivistischen und objektivistischen Vorgehensweisen, zwischen Handeln und
Struktur, da sie „Ursprung und Wirkung sozialer Struktur in das Handeln selbst
[verlagert d. V.]“ (Przyborski / Wohlrab-Sahr 2010: 275). Das Verfahren der Gruppendiskussion als rekonstruktives Verfahren setzt einen Rahmen, der besonders
geeignet ist, „kollektive Phänomene“ (vgl. Loos / Schäffer 2001) zu erfassen.7
Ein direkter und valider Zugang zu milieuspezifischen Bedeutungsmustern wird über die Rekonstruktion der Diskurse möglich, in denen die Beteiligten wechselseitig milieuspezifische „signifikante andere“ füreinander darstellen
(Bohnsack 2003a: 115). Das Verfahren der Gruppendiskussion stellt dabei, so
Schittenhelm (2005: 289 f.), „in gewisser Weise eine öffentliche Situation her. Es
begünstigt Themen, die von kollektiver Bedeutung sind, und schließt andere eher
aus. Dabei bietet die Gruppe jedoch die besondere Gelegenheit, die interaktive
Aushandlung von Themen zu beobachten und darüber Einblicke in die soziale
Wirklichkeit der Befragten zu gewinnen“.
Vor dem Hintergrund der in der Einleitung beschriebenen gesellschaftlichen
Veränderungen von Übergangsbedingungen ist jedoch zu bedenken, dass trotz
der Kombination von Subjekt- und Strukturperspektive in der qualitativ-kollektiven Vorgehensweise durch die Begrenzung der Fallzahlen verallgemeinerbare
Aussagen beispielsweise über eine damit verbundene wachsende „Kontingenz von
biografischen Handlungsmustern“ (Kelle / Kluge 2001: 22) kaum möglich ist. Dies
auch deshalb, weil gerade das qualitative Sampling auf stark kontrastierende bzw.
7
Die Basis dieser Sichtweise liefert der „konjunktive Erfahrungsraum“, der bei Karl Mannheim
ein grundlagentheoretisches Konzept von Kollektivität darstellt. „Dieser Erfahrungsraum verbindet diejenigen, die an den in ihm gegebenen Wissens- und Bedeutungsstrukturen teilhaben“
(Przyborski / Wohlrab-Sahr 2010: 58). In der Forschungspraxis werden oftmals auch dann, wenn
kollektive Sachverhalte empirisch erfasst werden sollen, „individualisierende Zugriffsweisen“
(Loos / Schäffer 2001: 9), beispielsweise Einzelinterviews, favorisiert. Kollektives kann natürlich
auch über qualitative Interviews fokussiert werden, allerdings bedarf es dazu eines Zwischenschrittes, um vom „primären Erfahrungsrahmen“ oder der biografischen Gesamtformung hin
zur Analyse kollektiver Erfahrungsräume zu gelangen (vgl. Bohnsack 2003a: 120). Der primäre
Erfahrungsrahmen in Gruppendiskussionen ist demgegenüber bereits ein kollektiver.
390
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
heterogene (Einzel-)Fälle abzielt und nicht auf repräsentative Muster. Wie auch
in der qualitativ-subjektorientierten Perspektive bleibt das Mikro-Makro-Übergangsproblem bestehen.
2
Die kombinierte Perspektive
Wie wir in den Abschnitten 1.1 bis 1.4 zeigen konnten, besitzt jede der dargestellten Perspektiven gewisse Forschungs- und Analyseschwerpunkte und damit aber
auch spezifische ‚blinde Flecken‘ bzw. Grenzen.
Ein Schwerpunkt der quantitativ-strukturellen Forschungsmodelle liegt darin,
die Variabilität der Übergänge, der Entscheidungswege und ihrer Erfolge, aufzuzeigen und einige sozialstatistische Hintergründe aufzuklären. Allerdings ist sie
kaum in der Lage zu erklären, wie die Entscheidungen zu Stande kommen. Dies
deshalb, da der quantitativen Lebenslaufforschung eine handlungstheoretische
Perspektive auf die reale Entscheidungsfindung des Akteurs fehlt.
Die quantitativ-subjektorientierten Modelle ermöglichen diesen handlungstheoretischen Blick, indem sie den subjektiven Entscheidungsprozess als Ausgangspunkt der Analyse setzen, opfern aber die Selbstreferenzialität und biografische Bedingtheit dieser Entscheidungsfindung zugunsten eines modalen,
ahistorischen, rationalen Akteurs.
Diese Perspektive nimmt die qualitative Forschung – sei sie auf das Subjekt
gerichtet oder auf kollektive Erfahrungsräume und Strukturen – auf. Allerdings
wirft in Handlungsfeldern, „die empirisch durch eine starke Pluralisierung gekennzeichnet sind, […] die Ziehung kleiner qualitativer Stichproben stets die
Frage auf, ob die bei den Befragten gefundenen Situationswahrnehmungen und
Handlungsorientierungen relevant für die betrachtete Untersuchungspopulation
oder aber ideosynkratisch sind“ (Kelle / Kluge 2001: 20). Die qualitative Forschung
stößt somit hinsichtlich der Aggregation der Befunde an ihre Grenzen; sie läuft
Gefahr, im Lichte vielfältiger Einzelbefunde die Gesamtstruktur aus den Augen zu
verlieren (‚Strukturblindheit‘) (vgl. ebd.: 22).
Festzuhalten ist, dass die berufliche Entscheidungsfindung im Rahmen des
Übergangs als Teil eines langfristig angelegten Projektes verstanden werden muss,
das sowohl durch soziale Strukturen als auch durch die Aneignung und individuelle Ausgestaltung des Subjekts seine Form erhält. Struktur und Subjekt gilt es
gleichermaßen zu berücksichtigen. Nötig ist dafür eine, so Stauber und Walther
(2007: 42), „pendelnde Forschungsaufmerksamkeit“, der ständige „Blickwechsel“,
zwischen handelndem Subjekt und Struktur sowie zwischen Intention und Kon-
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
391
stitution des Handelns (Was und Wie). Und zwar sowohl innerhalb der Biografieund Lebenslaufforschung als auch zwischen beiden. Methodologisch umsetzen
lässt sich dies nur durch den Einsatz sowohl quantitativer als auch qualitativer
Forschungsstrategien.
Das Verhältnis von Biografie und Lebenslauf ist eines „relationaler Art“ (Hof /
Kade / Fischer 2010: 332). Unsere Überlegungen zu integrativen Forschungsstrategien richten deshalb den Fokus gerade auf die Gelenkstellen zwischen gesellschaftlichen bzw. institutionalisierten Kontexten und biografischer Individualität, indem sie auf die übergangsbezogenen „Aushandlungsprozesse“ (Friebel et al.
1996: 76) zwischen Erfahrungen, Zielsetzungen und Motivationen des Einzelnen
einerseits und den gesellschaftlichen Bedingungen bzw. objektiven Gegebenheiten und Handlungsspielräumen andererseits rekurrieren. In diesem Sinne gehen
wir mit Kelle und Kluge davon aus, dass Lebenslaufforschung und Biografieforschung mit ihren jeweiligen quantitativen wie qualitativen Ansätzen verschiedene
Versuche sind, „ein bestimmtes Grundlagenproblem des Gegenstandsbereichs
– nämlich die soziokulturelle Kontingenz der Strukturen des Lebenslaufs – methodologisch in den Griff zu bekommen“ (2001: 14).
2.1
Triangulation und Mixed Methods
Eine methodologische Brücke hin zu einem integrativen Forschungshandeln
schlägt die Triangulation. Der Begriff der Triangulation bedeutet, dass „ein Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus betrachtet – oder konstruktivistisch formuliert: konstituiert – wird“ (Flick 2004: 11). Die Lesarten des
Begriffs und Konzepts der Triangulation in den Sozialwissenschaften sind vielfältig: Triangulation kann sich auf verschiedene Zugänge innerhalb der qualitativen
Forschung beziehen wie auch auf solche, die innerhalb der quantitativen sowie
zwischen beiden, also in der Kombination von qualitativer und quantitativer Forschung liegen (vgl. Flick 2009: 226 f.). Interessant mit Blick auf den integrativen
Forschungsgedanken ist dabei die „Across-methods-Variante“ (Denzin), in der
die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Logiken und Methoden in
einer Studie gemeinsam zum Einsatz kommen. Ziel dabei ist ein „Erkenntniszuwachs“, der weiter reicht als wenn nur ein Forschungszugang gewählt würde
(Flick 2009: 226).
Die Across-methods-Variante führte jedoch nicht zur gewünschten „Entparadigmatisierung der Methodendebatte“; laut Brake (2011: 43) wurde das Konzept
insbesondere von qualitativ orientierten Sozialforschern scharf kritisiert. Viel
392
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
versprechender scheint demgegenüber „das Projekt einer ‚third methodological
movement‘“ (ebd.: 45), das die unfruchtbaren Streitigkeiten zwischen qualitativer
und quantitativer Methodologie hinter sich lassen will. Auf den Begriff der Triangulation wird darin, auch aus strategischen Überlegungen, verzichtet. Prominente
Vertreter der „Mixed Methods“ (MM), die überwiegend aus dem angloamerikanischen Raum stammen, sind u. a. Bergman (2008), Greene (2008), Creswell (2009),
Teddlie und Tashakkori (2009) sowie Creswell und Plano Clark (2011). Im Vordergrund steht die pragmatische Verknüpfung von qualitativer und quantitativer
Forschung; die VertreterInnen des MM-Ansatzes grenzen sich, so Brake (2011: 45),
„dezidiert von der Vorstellung ab, dass qualitative und quantitative Zugänge unvereinbar seien und betonen im Gegensatz dazu die vielfältigen Möglichkeiten
der Kombination […] und ihrer zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten.“ Vor einigen Jahren noch standen insbesondere Design- und Anwendungsfragen von Forschungszusammenhängen im Vordergrund. Ausgeführt wurde in diesem Zusammenhang von einigen Autoren, dass Mixed Methods von einer „Pragmatischen
Hemdsärmeligkeit“ (Brake 2011: 46) bestimmt wurden. Teddlie und Tashakkori
(2009: 7) führen hierzu aus: „The philosophical orientation most often associated
with MM is pragmatism“. Wobei sie ,pragmatism‘ definieren „as a deconstructive
paradigm that debunks concepts such as ,truth‘ and ,reality‘ and focuses instead
on ,what works‘ as the truth regarding the research questions under investigation“
(ebd.). Zu konstatieren ist mit Brake (2011: 46), dass mittlerweile eine Vielzahl an
veröffentlichten Arbeiten über Fragen zur praktischen Umsetzung hinausweisen.
Das bedeutet auch, dass die Debatte um die Integration qualitativer und quantitativer Methoden derzeit erheblich von der Weiterentwicklung des Mixed-Methods-Ansatzes lernen kann.
Ob nun das Mixed-Methods-Vorgehen, oder der Anspruch der integrativen
Forschung zur „Überwindung der spezifischen Grenzen einer Methode (oder
einer Richtung)“ (Flick 2009: 236) verhelfen kann, ist im Rahmen dieses Beitrags
nicht abschließend zu beantworten. Zu bedenken ist jedoch, wie beispielsweise
Erzberger ausführt, dass die methodologische Diskussion über die Ziele der Methodenintegration einerseits „oft an einer Überfrachtung durch abstrakte methodologische und empirische Argumente [krankt]“ (2001: 103) und andererseits im
MM-Ansatz Modelle vorgeschlagen werden, die durchaus den Ansprüchen integrativer Forschung genügen (siehe Abbildung 1).
Während an den äußeren Polen (Bereich A und E) des Kontinuums jeweils
Studien mit ausschließlich qualitativer bzw. ausschließlich quantitativer Forschungsstrategie einzuordnen sind („purist“ QUAL oder QUANT), finden wir, je
näher wir dem Zentrum in Abbildung 1, das heißt Bereich C kommen, Studien,
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
Abbildung 1
393
Das Kontinuum zwischen Qualitativen und Quantitativen
Forschungsstrategien (Teddlie / Tashakkori 2009: 28)
B
A
QUAL
C
MIXED
D
E
QUANT
die qualitative und quantitative Strategien einsetzen. Die Bereiche B, C und D
kennzeichnen den Forschungsbereich der Mixed Methods (siehe Teddlie / Tashakkori 2009: Kap. 7). Studien im Bereich B (QUAL-QUANT) arbeiten schwerpunktmäßig mit qualitativen Forschungsmethoden und zusätzlich mit quantitativen Elementen. Denkbar ist hier der Einbezug repräsentativer Daten, wie
beispielsweise des Mikro-Zensus, des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) oder
der National Educational Panel Study (NEPS), die als zusätzliche Dateninformation zum besseren Verstehen des Forschungsgegenstandes oder der „thematic
analysis“ (ebd.: 95) beitragen, etwa im Sinne von Hammersley (1992, zit. n. Teddlie / Tashakkori 2009: 79): „in all research we move from ideas to data as well as
from data to ideas“. Zu Bereich D (QUANT-QUAL) gehören umgekehrt Studien,
die vornehmlich quantitativ arbeiten, aber qualitative Elemente mit einbeziehen.
Hier kann als Beispiel die Shell-Jugendstudie angeführt werden, die vornehmlich
quantitativ orientiert ist, jedoch auch qualitativ-biografische Porträts (s. etwa in
der 12. Shell-Jugendstudie) erstellt, die „skizzieren, warum der Jugendliche das tut,
was er tut“ (Jugendwerk der Deutschen Shell 1997: 81). Im Mittelpunkt stehen vertiefende Einblicke über den Einzelfall. Die Bereiche B und D folgen dabei unterschiedlichen ‚Mischungskonzentrationen‘, legen jedoch jeweils eine Basis, QUAL
oder QUANT, schwerpunktmäßig zu Grunde. In den Bereich C fallen Studien, die
z. B. quantitative und qualitative methodologische Konzepte, Numerisches und
Normatives, Deduktion und Induktion sowie konkrete Erhebungs- und Auswertungsmethoden verbinden und in etwa gleichberechtigt gewichten. Der Bereich C
kommt damit dem Anspruch des integrativen Forschungshandelns am nächsten.
394
2.2
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Integrative Forschungsstrategien
Udo Kelle (2007: 262) stellt ein integratives methodologisches Programm vor, das
„die Stärken und Schwächen qualitativer und quantitativer Verfahren klar benennt
und zeigt, in welchen Gegenstandsbereichen und zur Beantwortung welcher
Fragestellungen welche Methoden am besten geeignet sind.“ Seipel und Rieker
(2003: 79) erarbeiten Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den quantitativen und qualitativen Vorgehensweisen und Logiken, z. B. zwischen dem kritischen Rationalismus und der hermeneutischen Position, in dem Bemühen um
einen intermethodologischen Diskurs.8 Favorisiert wird als integratives Vorgehen
insbesondere „die Kombination verschiedener Forschungsmethoden zu einander
ergänzenden Erkenntnissen und zu neuen, weiterführenden Fragen“ (ebd.: 252).
Eine wichtige Rolle im Zusammenhang mit der Frage, ob es sich um eine ‚echte‘
Integration oder eine Quasi-Integration handelt, spielen verschiedene Gütekriterien, die sich beispielsweise auf die ‚Gleichrangigkeit der Forschungszugänge‘ beziehen oder danach fragen, inwieweit die verschiedenen Forschungszugänge über
den gesamten Forschungsprozess hindurch wechselseitig aufeinander bezogen
werden können (vgl. Brake 2011: 53). Kelle und Erzberger (2000: 304) diskutieren
vor allem die Art der Ergebnisse, die in der Kombination von quantitativen und
qualitativen Zugängen und Verfahren entstehen, und unterscheiden dabei zwischen drei möglichen Ausgängen qualitativer und quantitativer Forschungsergebnisse: Sie können konvergieren, also übereinstimmen, sie können sich komplementär zueinander verhalten, sich also gegenseitig ergänzen und sie können divergent
sein, sich also widersprechen. Der letztgenannte ‚Ausgang‘ zieht eine theoretische
und / oder empirische Klärung der Gründe für die sich ergebenden Divergenzen
nach sich. Dies ist, Kelle und Erzberger (2000: 307) folgend, kein seltenes Ergebnis: So deuten in qualitativen Interviews Befragte ihre eigene Biografie bzw. ihren
eigenen Lebensverlauf anders, als sie auf der Ebene der „statistischen Aggregatbetrachtung“ (ebd.) erscheinen. Solche Divergenzen bedeuten zum einen, dass
methodisch Fehler unterlaufen sein können oder dass die theoretischen Konzepte
unzulänglich sind und diese überarbeitet und erweitert werden müssen. Solche
Widersprüche können, positiv gedeutet, „Anlass geben zur Revision und Modi-
8
Die Forschungslogik der „Mixed methodologists“ (Teddlie / Tashakkori 2009: 79) besagt „that
much if not most research is inherently mixed.“ Ein Beispiel: „Glaser and Strauss believe that
each form of data (QUANT, QUAL) is useful for both the generation and verification of grounded theory. In many instances, they felt that both forms of data are necessary.“ (Ebd.)
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
395
fikation theoretischer Vorannahmen oder sogar die Entwicklung neuer theoretischer Konzepte anregen“ (ebd.).
Nachfolgend einige Basis-Vorgehensweisen integrativer Sozialforschung (Miles / Huberman zit. n. Flick 2009: 233; vergleichbare Vorgehensweisen beschreiben
auch Teddlie / Tashakkori 2009: Kap. 7):
Abbildung 2
1.
Integrierte Forschungsdesigns (nach Miles / Huberman,
zit. n. Flick 2009: 233)
QUAL
(kontinuierliche Sammlung
beider Datensorten)
QUANT
2.
QUANT
Welle1
Welle2
Welle3
QUAL
kontinuierliche Feldforschung
3.
4.
QUAL
QUANT
QUAL
(Exploration)
(Feldstudie)
(Vertiefung u. Überprüfung von Ergebnissen)
QUANT
QUAL
QUANT
(Umfrage)
(Feldstudie)
(Experiment)
Bei der ersten Vorgehensweise werden die qualitativen und quantitativen Datenerhebungen parallel verfolgt (Teddlie und Tashakkori (2009: 151) sprechen hier
von „parallel mixed design“). Im zweiten Design legt die durchgängige Feldbeobachtung die Basis für verschiedene standardisierte Befragungswellen. Das dritte
Design beginnt mit einer explorativen qualitativen Erhebung, gefolgt von einer
Fragebogenstudie als Zwischenschritt; in einer zweiten qualitativen Phase werden
die Ergebnisse aus beiden vorgängigen Schritten vertieft und überprüft (Teddlie
und Tashakkori (2009: 151) bezeichnen dies als „sequential mixed design“). Die
vierte Vorgehensweise basiert auf einer standardisierten Umfrage, die von einer
qualitativen Feldstudie ergänzt und vertieft wird; eine „experimentelle Intervention in das Feld“ überprüft die Ergebnisse aus den beiden vorangegangenen
Schritten (vgl. Flick 2009: 233). Mit all diesen Vorgehensweisen verknüpfen sich
396
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
unterschiedliche zeitliche Perspektiven. Deutlich wird, dass in diesen integrierten
Verfahren grundsätzlich weniger ‚Momentaufnahmen‘ zum Ausdruck kommen,
wie sie sich beispielsweise mit einer Einstellungsmessung zu einem einzigen Zeitpunkt verbinden. Vielmehr beinhaltet die Anlage eines kombinierten und integrativen Designs, sofern Prozessverläufe im Mittelpunkt stehen, oftmals mehrere
zeitliche Ebenen. Gemeint sind damit nicht nur mehrere Messzeitpunkte (Längsschnitt vs. Querschnitt), sondern verstärkt auch die Kombination von retrospektiven und prospektiven Fragestellungen.
Hof, Kade und Fischer (2010: 328) sprechen in diesem Zusammenhang von
„Temporalität“, die sowohl „individuell-biographische Zeitverläufe“ als auch beispielsweise die „zeittypische Ausprägung des soziokulturellen Umfeldes“ betrifft.
Daraus ergibt sich die Aufgabe, „stärker als bisher die Prozessualität und Zeitlichkeit […] zu fokussieren“ (ebd.). Über eine solche Prozessualität können z. B. Bildungsprozesse in den Blick genommen werden, deren diskontinuierliche Verläufe
u. a. über Veränderungen in den Strategien des Habitus oder über Entscheidungsfindungen sichtbar werden. Einem kritischen Blick zu unterziehen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Annahmen von Entscheidungskohärenz und
-konsistenz in der Rational-Choice-Theorie (siehe Abschnitt 1.2). Verstärkt richtet sich der Forschungsfokus auf Wandlungs- und Veränderungsmöglichkeiten in
Bildungsbiografien, die sich in besonderer Weise in der Verbindung von qualitativen und quantitativen Längsschnitt- bzw. Panelverfahren analysieren lassen. In
integrativer Forschungsabsicht wird eine dynamische Forschungsperspektive angeregt, die „den Zusammenhang von mikrosozialen Prozessen und makrostrukturellen Gesellschaftsveränderungen untersucht“ (Sackmann / Wingens 2001: 17).
Um eine solche Forschungsperspektive umzusetzen, bedarf es eines integrativen
längsschnittlichen Designs.
2.3
Das Beispiel HauptschülerInnen-Studie
Das integrative Forschungshandeln möchten wir an einem Forschungsbeispiel9,
einer Panel-Untersuchung mit zwei (zeitlich lang gestreckten) Erhebungsphasen
9
Von 1973 bis 1978 führte ein Forschungsteam um Imbke Behnken und Jürgen Zinnecker als Teil
der Projektgruppe Jugendbüro und Hauptschülerarbeit die Studie zur Lebenswelt von HauptschülerInnen durch (Projektgruppe Jugendbüro 1977). Bei dieser Studie wurden 130 HauptschülerInnen einer städtischen Hauptschule über fünf Jahre auf der Basis von qualitativen und quantitativen Datenerhebungen wissenschaftlich begleitet; anfangs vier 8. Klassen, später wurde dann
(ermöglicht durch weitere finanzielle Förderungen der DFG) der Untersuchungszeitraum über
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
397
(1. Phase Mitte / Ende der 1970er-Jahre, 2. Phase 2010 / 11), erläutern. Diese Studie
war von ihrem Design her ursprünglich (das heißt in den 1970er-Jahren) nicht auf
mehrere Erhebungsphasen angelegt, sondern als kurzschrittige Panelstudie mit
5 Erhebungszeitpunkten. Die Fortsetzung der Studie 2010 / 11 bietet den Anlass
bzw. die Möglichkeit, die Konstruktion eines zweiten Messzeitpunktes und die Integration verschiedener qualitativer und quantitativer Verfahren und Ergebnisse
zu diskutieren. Hierzu sollen zunächst beide Studienphasen mit ihren einzelnen
Qual- / Quant-Forschungsschritten dargestellt werden.
Die erste Studien-Phase in den 70er-Jahren (Forschungsschritte):
1. QUAL: Die Wohnregion wurde erkundet und (offen strukturierte) Gespräche
mit ExpertInnen aus der Jugendarbeit geführt.
2. QUAL: Es folgte eine „beteiligte Beobachtung“ in Form eines reflektierten Mithandelns (Feldtagebücher wurden geführt) im Rahmen einer zehntägigen Klassenreise. Angeboten wurde im Rahmen der Klassenreise eine Beschäftigung mit
Fragen der Berufswahl.
3. QUAL: Zudem wurde eine teilnehmende Beobachtung von Schülertreffpunkten
(Freizeitorte) durchgeführt.
4. QUAL: Außerdem fanden Elternbesuche und Stammtischgespräche mit den Eltern statt; auch hier standen Themen der Berufsfindung im Vordergrund.
5. QUANT : Daran schloss sich eine auf der Basis der qualitativen Erhebungsschritte konzipierte schriftliche Befragung in den Schulklassen an (136 SchülerInnen; Vollerhebung eines Schülerjahrgangs).
die Schulzeit hinaus auf den Abschluss der Lehre und den Berufseintritt erweitert. Befragt wurden auch die Eltern der SchülerInnen, das pädagogische Fachpersonal sowie die LehrerInnen.
(Eine spätere Weiterführung war nicht geplant.) Daran schließt sich 35 Jahre später, beginnend
im Jahr 2010, die zweite Forschungsphase an. Durch eine intensive Adress-Recherche konnten die
Adressen von etwa 60 Prozent der ehemals befragten Personen ermittelt werden. Die ‚Ehemaligen‘ sind nun um die 50 Jahre alt, und die Studie trägt den Titel „In der Lebensmitte – Bildungsbiografische Wege ehemaliger HauptschülerInnen“ (Maschke et al. 2012). Das Forschungsteam
(Imbke Behnken, Fritz Gürge, Peter Held, Sabine Maschke (Leitung), Ludwig Stecher, Kerstin
Theilen) initiierte Ehemaligen-Treffen, führte narrative Interviews, standardisierte schriftliche
Befragungen und Gruppendiskussionen durch (siehe ausführlich Maschke et al. 2012).
398
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Aus der Analyse dieser Schritte ergab sich eine Grundtypologie: Herausgearbeitet wurden u. a. zwei jugendliche Orientierungstypen, der jugend- und der familienzentrierte Typus (siehe unten).
6. QUAL: Auf der Grundlage dieser Kontrastgruppen wurden Diskussionsgruppen zusammengestellt; die Auswertung der Gruppendiskussionen diente der (erklärenden) Vertiefung.
Unabhängig von der theoretischen Begründung dieser Typologie (die es aktuell unter erweiterten theoretischen Gesichtspunkten und den Verfahren der Typenbildung, insbesondere der Soziogenese nach Bohnsack (2003a), zu reanalysieren gilt), zeigte sich beispielsweise:
■
dass mit der Einnahme einer der beiden Orientierungen eine „bestimmte
Identitätsmodellierung der Jugendlichen eng verknüpft“ (Projektgruppe Jugendbüro 1977: 57) ist. Unterstellt wird, dass die ausgeprägt Jugendzentrierten
eine vergleichsweise offene und suchende Identität zeigen, während die Familienzentrierten sich durch Stabilität und eine gewisse Entscheidungs-‚Enge‘
auszeichnen.
■ Bezogen auf die berufliche Entscheidungssituation wurde deutlich, dass der
Problemgehalt der Laufbahnentscheidung für SchülerInnen mit jugendzentrierter Orientierung größer ist als für Familienzentrierte. Die Jugendzentrierten erfahren eine stärkere Verunsicherung des Berufswunsches (sie ändern
diesen zu einem großen Anteil innerhalb des letzten halben Schuljahres); gedeutet wurde dies als ausgeprägte „Identitätssuche“ (ebd.: 77).
■ Zudem definieren die jugendzentriert orientierten SchülerInnen die Berufswahlsituation stärker als Problem, die Familienzentrierten sehen hierin „allenfalls durchschnittliche Probleme“ (ebd.: 78).
Eine zentrale Forschungsfrage, die sich daraus für die zweite Studienphase ergibt,
ist die Frage inwieweit Jugendorientierung und Familienorientierung aussagekräftige Prädiktoren für den weiteren Lebensweg, z. B. bezogen auf nachfolgende
(berufliche) Übergänge und Entscheidungen sind.
Die zweite Studien-Phase ab 2010 (Forschungsschritte):
1. QUAL: Auf der Grundlage der recherchierten Adressen der TeilnehmerInnen
der ersten Studienphase wurde ein Jahrgangstreffen an der alten Schule initiiert
(teilnehmende Beobachtung, Fotos / Selbstinszenierungen).
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
399
2. QUANT / in Ansätzen QUAL (offene Fragen): Teilstandarisierte Fragebögen
wurden im Anschluss an das Jahrgangstreffen verschickt. Die Bögen schließen
teils an einzelne Fragen aus dem Fragebogen der ersten Studienphase an, umfassen aber auch Fragen, die sich aus den veränderten Lebensbedingungen und
-phasen ergeben (Familiengründung etc.). Variiert wurden voll standardisierte
Frageinstrumente mit offenen Antwortmöglichkeiten. In einem ersten Analyseschritt konnten Fälle identifiziert werden, die mit Blick auf die Prognosen aus den
1970er-Jahren abweichend bzw. sichtlich unerwartet erscheinen.
3. QUAL: Die abweichenden Fällen werden in narrativen Interviews näher untersucht. Diese Erhebungsphase ist, ebenso wie die Erhebung mittels Gruppendiskussion, derzeit noch nicht abgeschlossen.
Abbildung 3 zeigt die unterschiedlichen qualitativen und quantitativen Designelemente der HauptschülerInnen-Studie. Entsprechend des in Abschnitt 2.1 vorgestellten QUAL -QUANT -Kontinuums lässt sich die Studie entsprechend der
Einteilung von Teddlie und Tashakkori (2009) den Bereichen B und C zuordnen
(teils qualitativer Schwerpunkt mit quantitativen Anteilen, teils Gleichgewicht von
QUANT- und QUAL-Anteilen) und ist weitgehend als integrativ zu bezeichnen.
Abbildung 3
Mixed-Method-Design der HauptschülerInnen-Studie
1. Phase
Konzeption Fragebogen
Kontrastgruppen
QUAL
QUANT
QUAL
(Beobachtungen;
Gespräche)
(stand. Befragung)
(Gruppendiskussionen;
Vertiefung)
2. Phase
QUANT/QUAL
(Ergebnisse 1. Phase)
Konzeption Fragebogen
QUAL
Kontrastfälle
QUANT/QUAL
QUAL
(teilstand. Befragung)
(narr. Interviews;
Gruppendiskuss.)
(Beobachtung; Gespräche)
Phasen 1 u. 2.: Zusammenführung der
Ergebnisse, Reanalyse der ersten Phase
400
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Die Fragen in der aktuellen Forschungsphase konzentrieren sich darauf, welche
biografischen (Bewältigungs-)Strategien zur Anwendung kommen, z. B. wie die
ehemaligen HauptschülerInnen den Übergang in das berufliche Leben bewältigt
haben, und ob die dabei gezeigten habituellen Strategien vergleichbare oder veränderte Strukturen zu den früheren während der Schulzeit / Lehrzeit aufweisen.
Identifiziert wurden auf der Basis der Daten der zweiten Studienphase zwei allgemeine Strategien, die sich in defensive und offensive (Entscheidungs-)Strategien unterscheiden lassen (s. Ziehe 2005a, b; Maschke 2012). Inwieweit, so eine
Anschlussfrage, lassen sich diese strategischen Merkmale (z. B. Offenheit vs. Geschlossenheit, Suche vs. Vermeidung von neuen Erfahrungen) noch auf den familien- und jugendzentrierten Typus beziehen ?
In den Blick geraten Prozesse und Ereignisse, die eine (Bildungs-)Biografie
prägen und verändern – sichtbar über Veränderungen der Strategien. Nach Hof,
Kade und Fischer (2010: 336) verlaufen Bildungsbiografien nicht linear, sondern
diskontinuierlich.
Nachfolgend ein Beispiel für eine solche Veränderung ‚über die Zeit‘. Theo
konnte in der ersten Untersuchungsphase im Rahmen der quantitativen Erhebung (Faktorenanalyse) keinem Orientierungstyp eindeutig zugeordnet werden.
Mit Blick auf die damaligen Daten und sonstigen Aufzeichnungen wird jedoch
die (negative) Distanzierung zur Ursprungsfamilie deutlich und ist eine (den damaligen Kriterien entsprechende) ‚jugendzentrierte‘ Orientierung naheliegend. Er
blickt auf das Ende seiner Hauptschulzeit in den 70er-Jahren und den Übergang
in die Berufswelt zurück:
„[…] ich hab mir nie Gedanken gemacht warum geh ich in die Schule, warum mach
ich das […], ich hab einfach irgendwie aus dem Bauch heraus irgendwas gemacht. Ich
weiß noch ganz genau, dass meine Fehltage in der Schule enorm waren. Also wirklich,
ich glaub ich hab manchmal mehr gefehlt als dass ich anwesend war. […] Irgendwie
(.) es kommt so ne ,Iss-doch-egal-Stimmung‘. (hustet) Trotzdem hab ich die Hauptschule irgendwie geschafft […] Ähm, und wusste dann eigentlich immer noch nicht
was mach ich jetzt nach der Schule. So dass ich erst mal nix gemacht hab. Rumgehangen […].“
In Anlehnung an die Charakteristika des Typus „Jugendzentriert“ zeigen sich bei
Theo starke Verunsicherungen hinsichtlich des Berufswunsches; es erfolgt keine
Entscheidung für eine Ausbildung oder einen Beruf – vielmehr wird der Übergang in die Ausbildung hinausgezögert. Auch die semantischen Differenziale
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
401
(zum Betriebspraktikum und zur schulischen Situation) aus dieser Zeit zeugen
von Vermeidung und Zurückhaltung in neuen Situationen.
Diese Haltung ändert sich jedoch und führt zu einem eher unerwarteten Verlauf. Theo berichtet im Alter von 50 Jahren rückblickend über seine Tätigkeit in
einem Fast-Food-Unternehmen:
„Irgendjemandem muss ich da wohl auch positiv aufgefallen sein, der hat dann gemeint, er hat vor in [Großstadt] das erste Restaurant auf zu machen, ob ich nicht Lust
hätte da mit hoch zu gehen und ihm die Schulung zu übernehmen und da halt mithelfen. Klar, sofort ja gesagt, […] ich glaub das war so der erste Weg wo es so drum
ging wo ich selber entscheide, selber sage „ja das mach ich“. […] Aber die ersten bewussten Entscheidungen, „ja, ich gehe nach [Großstadt] […]“, das iss so was mir, ja,
als richtig erste bewusste Entscheidung was in meinem Leben noch passieren soll bewusst iss, klar iss.“
Die Veränderung beginnt nach der Schulzeit und hat mit von außen an ihn herangetragenen Herausforderungen im Übergang zu tun, die ihm weit reichende
Entscheidungen (neuer Job und Ortswechsel) abverlangen. Handlungsleitend
wird ‚über die Zeit‘ das herausfordernd Neue; Theo selbst konstatiert eine bedeutsame biografische Veränderung, die von einer defensiv-vermeidenden Haltung
und Strategie zu einer mehr und mehr offensiven und selbstbestimmten Strategie
hinführt.
Dieser Befund weist auf die Notwendigkeit hin, die Daten der ersten Studienphase (QUAL und QUANT) im Lichte der Befunde der zweiten Studienphase zu
reanalysieren (s. Abb. 4). Das Ziel liegt in einer Neumodellierung unter veränderten theoretischen und / oder statistischen Bedingungen; notwendig ist der Einbezug der Daten aus beiden Studienphasen.
Die rekursive Analyse erfasst Wandlungs- und Veränderungsmöglichkeiten in
Bildungsbiografien ‚über die Zeit‘, insbesondere in der Verbindung von qualitativen und quantitativen Längsschnitt- bzw. Panelverfahren. Eine Neumodellierung
berücksichtigt alle qualitativen und quantitativen Daten, die zu den verschiedenen Messzeitpunkten erhoben wurden. Auf der Grundlage der Merkmale der damaligen Typologie werden die neu analysierten Dimensionen, Übereinstimmungen, Abweichungen und Veränderungen in ein Gesamtbild integriert. In unserem
Beispiel, das in der ersten Untersuchungsphase von der Unterscheidung in einen
familien- und einen jugendzentriertem Typus getragen wurde, wird das Gesamtbild nun bestimmt durch eine mehrdimensionale Typologie unterschiedlicher
Strategien und damit Bildungsbiografien.
402
Sabine Maschke und Ludwig Stecher
Abbildung 4
Rekursive Analysestrategien
1. Phase
3
2. Phase
xy Phase
Schluss
Im ersten Teil des Beitrags haben wir eine Einteilung verschiedener Modelle zur
Erklärung von Berufswahlentscheidungen vorgenommen, die wir einmal, entsprechend der vorwiegenden Schwerpunktsetzung, auf die strukturelle bzw. subjektorientierte Perspektive und zum anderen auf deren vorwiegenden Methodeneinsatz – quantitativ vs. qualitativ – aufteilten. Die Diskussion der verschiedenen
Ansätze und ihrer Forschungsperspektiven verweisen auf spezifische Schwerpunkte und Begrenzungen. Bei vielschichtigen und komplexen Forschungsfragen
zur Übergangs- und Berufswahlentscheidung sind deshalb auf forschungsmethodologischer Ebene eine Koppelung der theoretischen Ansätze sowie der wechselseitige Einsatz qualitativer und quantitativer Forschungsmethoden anzustreben.
Hervorgehoben wurde, dass sowohl die Triangulation als auch die ‚Mixed Methods‘ gute Ansatzpunkte für ein integratives Forschungshandeln bieten. Allerdings stellt keiner dieser Ansätze ein Standard-Rezept oder ein universales Design
zur Verfügung. Der Anspruch des integrativen Vorgehens liegt gerade darin, das
Verhältnis von Subjekt und Struktur, von Mikro- und Makroebene dynamisch auf
die Forschungsfrage und den Gegenstand der Untersuchung auszurichten. In Anbetracht komplexer Designs und sich daraus ergebender hoher Ansprüche an die
finanzielle wie personelle Ausstattung ist die Frage nach den zur Verfügung stehenden Ressourcen einer Untersuchung allerdings mit zu berücksichtigen.
Strategien einer integrativen Sozialforschung am Beispiel der beruflichen Entscheidungsfindung
403
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30 – 49
Sampling und die Suche
nach fallübergreifender Gültigkeit
Vergleichende Analysen von Statusübergängen
zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt1
Karin Schittenhelm
1
Einleitung
Wie wird in Untersuchungen der qualitativen Sozialforschung eine fallübergreifende Gültigkeit von Ergebnissen ermittelt und begründet ? Gilt eine solche Übertragbarkeit für andere (Einzel-)Fälle oder für ganze Fallgruppen ? Inwiefern kann
auch von einer ‚Generalisierung‘ gesprochen werden, die mehr beansprucht als
eine bloße Übertragbarkeit auf weitere Fälle ? Mit Fragen einer Geltungsbegründung der Ergebnisse qualitativer Untersuchungen befasst sich der folgende Beitrag, wobei er seine Aufmerksamkeit auf die Fallauswahl während der Erhebung
und Auswertung richtet. Mit anderen Worten: Er behandelt Kriterien und Strategien eines qualitativen Samplings. Von Interesse ist, welchen Geltungsanspruch
Forschende für ihre Untersuchungsergebnisse erheben, wie sie dies tun und nicht
zuletzt, wie sie dies begründen. Im Weiteren skizziere ich ausgewählte methodologische Debatten zu Kriterien, Strategien und Begründungen qualitativer Samplings (Becker 1998; Gobo 2007; Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 173 f.; Rosenthal
2005: 85 f., Glaser / Strauss 1967: 45 – 77; Strauss / Corbin 1996: 148 – 165; Strübing
2003),2 um anschließend am Beispiel vergleichender Untersuchungen von Statuspassagen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt mögliche Strategien
einer Fallauswahl infolge einer theoretischen Fokussierung darzustellen.3
1
2
3
Für Anregungen und Kritik zum vorliegenden Beitrag danke ich Julia Küchel, Arnd-Michael
Nohl und Anna Mayer zu Schwabedissen.
Zu einer ausführlicheren Darstellung verschiedener Strategien eines qualitativen Samplings siehe
Schittenhelm (2009).
Dabei beziehe ich mich auf zwei Untersuchungen: „Soziale Lagen, Lebensstile und Orientierungen junger Frauen zwischen Schule und Beruf in interkulturell vergleichender Forschungsperspektive“ (Schittenhelm 2005a) und „Kulturelles Kapital in der Migration“ (Nohl / Schittenhelm /
408
Karin Schittenhelm
Die Auseinandersetzung mit den eingangs genannten Fragen auf der Grundlage konkreter Forschungsbeispiele ist nicht allein den notwendigen Vorgaben
eines Buchbeitrags in einem Band zu qualitativer Bildungs- und Arbeitsmarktforschung geschuldet. Strategien und Geltungsansprüche der Befunde einer qualitativen Untersuchung sind auch im Verhältnis zu einem Untersuchungsfeld bzw.
zu den jeweiligen Voraussetzungen eines Feldzugangs zu sehen. Zwar gibt es sehr
wohl prinzipielle Fragen qualitativer Samplings (vgl. Schittenhelm 2009: 4 f.),
doch sind je nach Beschaffenheit eines Untersuchungsfeldes auch spezielle Herausforderungen und Möglichkeiten einer Fallauswahl zu bedenken. Um beim o. g.
Thema zu bleiben: Handelt es sich um eine breiter angelegte Untersuchung, wie
z. B. zum Übergang junger Realschulabgängerinnen in eine Berufsausbildung, ist
durch ein Sampling eine verhältnismäßig hohe Varianz der jeweiligen Statusübergänge zu beachten – sofern die Fragestellung nicht auf weitere Besonderheiten,
wie z. B. auf junge Frauen in (geschlechts-)untypischen Berufen, ausgerichtet ist.
Werden andererseits Personen befragt, die für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung schwer erreichbar sind, ist ein eingeschränkter Feldzugang zu bedenken
und die Fallauswahl beruht nicht unbedingt auf bewussten Entscheidungen. Die
Qualität eines Samplings ist insofern nicht ungeachtet der Beschaffenheit eines
Untersuchungsfeldes und der dort vorhandenen Zugangsvoraussetzungen zu
sehen.
Der folgende Beitrag beginnt mit methodologischen Überlegungen zu Prinzipien und Strategien qualitativer Samplings (Abschnitt 2), ehe ich theoretische Perspektiven einer Analyse von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss und
Arbeitsmarkt auf der Grundlage rekonstruktiver Verfahren vorstelle (Abschnitt 3).
Ansprüche qualitativer Samplings und mögliche Schwierigkeiten ihrer Umsetzung
in der Forschungspraxis kommen schließlich anhand von Forschungsbeispielen
zur Sprache (Abschnitt 4). Der Beitrag endet mit Überlegungen zu Anforderungen und möglichen Strategien qualitativer Samplings sowie zu Strategien einer
theoretischen Fokussierung in komplexen Untersuchungsanlagen (Abschnitt 5).
Schmidtke / Weiß 2006, 2010), wobei ich im letzteren Fall das Teilprojekt zu BildungsinländerInnen (Schittenhelm 2011, 2012) berücksichtige.
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit
2
409
Qualitatives Sampling: Strategien einer Suche
nach fallübergreifender Gültigkeit
In seinen methodologischen Überlegungen zu qualitativen Samplings unterscheidet Gobo zum einen die Generalisierung von Ergebnissen mit Blick auf ihre
potenzielle Gültigkeit für eine Population als Ganzes, zum anderen eine Generalisierung von theoretischen Aussagen über die Struktur und Entstehung sozialer Prozesse (Gobo 2007: 405 f.).4 Beide Formen einer möglichen Übertragbarkeit kommen in Debatten zur Geltungsbegründung der Ergebnisse qualitativer
Sozialforschung wiederholt zur Sprache.5 Sie dienen mir im Weiteren als Ausgangspunkt meiner Überlegungen zu möglichen Strategien und Begründungen
qualitativer Samplings, ehe ich Anforderungen und Verfahren einer Fallauswahl
anhand von Forschungsbeispielen zur Diskussion stelle.
2.1
Formen der Übertragbarkeit
Die zunächst genannte Möglichkeit einer Generalisierung im Sinne einer Übertragbarkeit auf soziale Populationen wird in Debatten der qualitativen Sozialforschung immer wieder kritisch betrachtet (Gobo 2007; Williams 2003). Zunächst
wäre zu fragen, was unter einer solchen ‚Übertragbarkeit‘ auf Populationen eigentlich zu verstehen ist. Hoch ausdifferenzierte Gesellschaften gelten als zu heterogen,
als dass beispielsweise Befunde zu Orientierungen und biografischen Verläufen
ohne weiteres auf soziale Populationen als Ganzes übertragbar wären (vgl. Schittenhelm 2005a: 276). Selbst wenn qualitative Untersuchungen spezielle oder auch
„seltene“ Populationen erforschen, wie z. B. Frauen in Ingenieursberufen oder teilzeitarbeitende Väter, ist von einem Spektrum variierender biografischer Verläufe
und beruflicher Orientierungen auszugehen. Nicht der eine oder andere Verlauf
und nicht die eine oder andere der ermittelten Orientierung gelten als verallgemeinerbar für die jeweilige Untersuchungspopulation. Die Frage ist vielmehr, inwiefern sich innerhalb derselben Population ein spezifisches Variantenspektrum
oder ein Möglichkeitsraum von beruflichen Orientierungen und biografischen
Verläufen ermitteln lässt.
4
5
Gobo spricht von ‚generalizability‘, was in wörtlicher Übersetzung ‚Generalisierbarkeit‘ bedeutet. Doch nimmt er Einschränkungen hinsichtlich des Geltungsanspruchs qualitativer Untersuchungsergebnisse vor und spricht auch von ‚transferability‘ oder eingeschränkten Formen einer
Generalisierbarkeit (Gobo 2007: 406 f.).
Siehe auch Przyborski / Wohlrab-Sahr (2008: 320) sowie Willliams (2003).
410
Karin Schittenhelm
Howard Becker spricht von „the full range of variation“ (Becker 1998: 71), d. h.
vom gesamten Spektrum möglicher Varianten, das Forschende in ihrer Feldforschung anstreben, um nicht dem Irrtum zu erliegen, dass sie lediglich Merkmale
einer spezifischen (Unter-)Gruppe als charakteristisch für eine Population insgesamt annehmen.6 Stattdessen soll nach einem solchen Verständnis das Variantenspektrum, das für eine untersuchte Population potenziell möglich ist, in einer
Fallauswahl repräsentiert sein. Eine vergleichbare Position diskutiert Williams in
seinen Überlegungen zu „moderatum generalizations“ (Williams 2003: 131 f.) d. h.
zu einer begrenzten oder ‚gemäßigten Generalisierbarkeit‘:
Yet if it is accepted that generalization from interpretative data is a legitimate goal, then
presumably interpretivists need a sample which will reflect the relevant characteristics
of the wider group to which they wish to generalize (Williams 2003: 132).
In seinen Überlegungen geht er zwar davon aus, dass eine Suche nach Generalisierbarkeit qualitativer Ergebnisse – auch mit Rückschlüssen auf die Untersuchungspopulation – ein legitimes Ziel qualitativer Forschung ist. Doch setzt er
prinzipielle Einschränkungen dieses Anspruchs voraus – was bereits in seiner
Begriff lichkeit ‚moderatum generalization‘ (Williams 2003: 131 f.) zum Ausdruck
kommt. Weiterhin befasst sich auch Williams mit der o. g. Variante einer Übertragbarkeit im Sinne einer Suche nach theoretischen Aussagen über die Beschaffenheit sozialer Phänomene (Williams 2003: 135). In bisherigen Debatten qualitativer Sozialforschung ist in diesem Zusammenhang von einer ‚theoretischen‘
oder ‚analytischen Generalisierung‘ die Rede (vgl. Przyborski / Wohlrab-Sahr
2008: 320). D. h. die anhand vorliegender Befunde beobachtete Regelhaftigkeit
(z. B. eines Verhaltens, eines Prozesses) wird ermittelt, um hypothetisch generalisierbare Aussagen zu den jeweiligen Entstehungsbedingungen und Gesetzmäßigkeiten eines Phänomens zu formulieren. Was sind beispielsweise die sich wiederholenden Muster eines Übergangs zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt
und unter welchen Bedingungen treten sie auf ? Auch hier kommt einem Variantenspektrum im vorliegenden Untersuchungsmaterial eine Bedeutung zu. Das Erkenntnisinteresse ist jedoch nicht vorweg auf eine Gültigkeit für eine Population
als Ganzes gerichtet. Wie sich im Folgenden zeigen wird, beruht der Anspruch,
6
Becker (1998) selbst spricht sich für eine flexible und – je nach Themenstellung – variierende
Umgangsweise mit dieser Frage aus und stellt Vorgehensweisen in den Sozialwissenschaften mit
Blick auf Fallstricke und mögliche Herausforderungen in der Forschungspraxis dar.
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit
411
das Untersuchungsfeld hinsichtlich möglicher Varianten zu erkunden, im Falle
einer ‚theoretischen Generalisierung‘ auf anderen Prämissen.
2.2
Übertragbarkeit theoretischer Aussagen und offene Suchstrategien
Geht es um eine ‚theoretische Generalisierung‘ im o. g. Sinne, ist die Art der Übertragbarkeit vorliegender Befunde nicht vorweg festgelegt, sondern zunächst ungewiss. In der Anfangsphase ihrer Untersuchung wissen Forschende noch nicht,
welche Gesetzmäßigkeit vorliegen könnte, wenn sie nach der Reichweite und Gültigkeit bisheriger Ergebnisse fragen. Eine soziale Regelmäßigkeit und die konstitutiven Bedingungen eines untersuchten Phänomens sind erst noch zu entdecken
und zu verstehen.7 Ihre Suche nach einer fallübergreifenden Gültigkeit qualitativer Untersuchungsergebnisse geht von konkreten Befunden aus, ohne dass die
potenziell mögliche Reichweite bzw. die Art der Übertragbarkeit im Vorfeld bekannt ist.
Wie entsteht beispielsweise ein Rückzugs- und Verweigerungsverhalten von
Jugendlichen während des Übergangs in eine Ausbildung, falls es sich in vorliegenden Fällen beobachten lässt ? Welche Voraussetzungen müssen gegeben sein,
damit sich dieses Phänomen entwickelt ? Ist es typisch für eine spezifische Gruppe
der untersuchten Jugendlichen und deren soziale Lage – z. B. als kollektive Bewältigungsform von besonders nachteiligen Lebensverhältnissen ? Oder resultiert
eine solche Haltung aus einem spezifischen Verlauf der bisherigen Übergangsbiografie, der besonders entmutigend ist, potenziell aber bei Personen mit unterschiedlicher sozialer Lage und Herkunft auftreten kann ? Die Frage nach der Regelhaftigkeit eines Phänomens bzw. danach, wie und unter welchen Umständen es
zustande kommt, wird in der qualitativen Sozialforschung in Debatten über eine
Typenbildung verhandelt (Bohnsack 2007, 2010a, b; Brose / Wohlrab-Sahr / Corsten
1993: 72 f.; Kelle / Kluge 2010; Nentwig-Gesemann 2007; Rosenthal 1995: 211). Um
welche soziale Typik es sich handelt, ist dabei eine Frage der schrittweisen theoretisch-konzeptionellen Erfassung des Gegenstandes. Die Suche nach den Voraussetzungen für eine fallübergreifende Gültigkeit beruht in vielen Verfahren auf
7
Dies schließt nicht aus, dass beobachtungsleitende Annahmen vorliegen (vgl. Kalthoff 2008: 12)
oder dass eine theoretische Auseinandersetzung nicht auch sensibilisierend für bestimmte Phänomene wirken kann.
412
Karin Schittenhelm
systematischen Fallvergleichen (Bohnsack 2007, 2010b; Kelle / Kluge 2010).8 Mit
Hilfe komparativer Fallanalysen wird Schritt für Schritt erkundet, welche Regelmäßigkeiten potenziell vorliegen und unter welchen Kontextbedingungen die Ergebnisse eines Falles gültig sind bzw. unter welchen Bedingungen sie nicht mehr
gelten. Ausgehend von den jeweiligen Befunden, interessiert sich die Analyse für
immer neue Varianten und Kontrastfälle, um die Reichweite der vorliegenden Ergebnisse zu überprüfen und die Entstehungsbedingungen eines Phänomens zu
verstehen. Nicht nur dessen Auftreten, auch der negative Fall, der aufzeigt, unter
welchen Bedingungen es ausgeschlossen ist, wird für den Erkenntnisvorgang interessant. Die homologen und die kontrastierenden Fälle sind also für die Ermittlung der Reichweite und Gültigkeit eines Befundes ausschlaggebend, und die
Suche nach Gegenbeispielen ist durch inhaltliche wie durch methodologische Aspekte der Erkenntnisfindung bestimmt.
Geht es um die Übertragbarkeit qualitativer Forschungsergebnisse, gewinnt
ein Sample nicht einfach durch die Größe der Fallzahl an Qualität. Vielmehr ist
entscheidend, welche Fallvergleiche und Fallkontrastierungen auf der Grundlage
eines Auswahlverfahrens möglich sind (Schittenhelm 2009: 16). Welche Varianz
beinhaltet das gegebene Sample, um bestimmte Faktoren zu kontrollieren und die
fallübergreifende Gültigkeit der empirischen Befunde anhand unterschiedlicher
Kontextbedingungen zu überprüfen ? Die Suche nach dem kontrastierenden Fall
gilt insofern als Auswertungsstrategie, um die gegenstandsbezogene Theorie unter
inhaltlichen Gesichtspunkten weiterzuentwickeln und die Gültigkeit der bisherigen Befunde zu überprüfen. Auch hier ist also das Variantenspektrum eines Untersuchungsfeldes von Interesse. Ist ein Sample entsprechend zusammengestellt,
ermöglichen komparative Fallanalysen begründete Aussagen dazu, unter welchen
Bedingungen die bisher ermittelten Befunde auftreten oder auch nicht (vgl. Schittenhelm 2009: 15). Insofern geht es nicht notwendigerweise darum, Rückschlüsse
auf eine spezifische Untersuchungspopulation zu ziehen, stattdessen ist die Art
der fallübergreifenden Übertragbarkeit zu Beginn eher offen und im Rahmen
einer Hypothesen- und Theoriebildung erst noch zu klären. Mit Blick auf das
Thema der Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt stellt sich
z. B. die Frage nach Mustern und Regelmäßigkeiten der Übergänge sowie nach
deren Entstehungsbedingungen. Die Suche nach einer fallübergreifenden Über-
8
Es gibt auch Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung, die eine Generalisierung durch die
Rekonstruktion der Fallstruktur mit Hilfe gedankenexperimenteller Gegenhorizonte anstreben
(siehe u. a. Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 258).
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit
413
tragbarkeit betrifft hier die Frage, unter welchen Bedingungen ein empirisch beobachteter Verlaufsprozess des Statusübergangs reproduzierbar ist.9
Nun könnte man anmerken, ob dies nicht ebenfalls eine Frage der Übertragbarkeit auf spezielle Populationen ist. Wenn beispielsweise eine Geschlechterzugehörigkeit den Übergang zwischen Schule und Ausbildungsberuf prägt, müsste
dies doch auch für andere Frauen mit dem betreffenden Bildungsabschluss gelten.
Die Generalisierung der Art, wie sich eine Geschlechterzugehörigkeit bemerkbar macht, ist jedoch nicht zwingend gegeben. Wenn sich beispielsweise für eine
junge Mutter der Übergang in den Beruf zeitlich verlängert, weil sie in ihrer Lebenspartnerschaft den Hauptteil der Verantwortung für die gemeinsamen Kinder
übernimmt, hat diese Art der Elternschaft Folgen für den Berufseinstieg. Allerdings wäre es nur eine unter anderen Möglichkeiten, wie sich ‚Geschlecht‘ bzw. in
diesem Fall eine spezifische Aufteilung der Verantwortung für die Kindererziehung auf den Bildungs- und Berufsverlauf auswirkt. Eine fallübergreifende Gültigkeit könnte zwar durchaus vorliegen, indem die Ergebnisse auf andere Fälle
eines Samplings übertragbar sind. Gleichzeitig könnte eine weitere Auswahl entsprechender Fälle aber auch zeigen, dass geschlechterrelevante Umstände während des Übergangs zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt in ganz unterschiedlicher Weise zu beobachten sind. Die – im Verhältnis zum Vater – höhere
Verantwortlichkeit für die Kindererziehung wäre dann lediglich eine unter anderen Möglichkeiten, wie sich Geschlechterunterschiede auf den Berufseinstieg
auswirken. Dies gilt auch für die naheliegende Frage, inwiefern es sich dann um
eine Variante des Übergangs von Eltern handelt, nämlich um diejenige, die beim
Elternteil mit der Hauptverantwortung für die Kindererziehung auftritt. Es wäre
aber sowohl für Eltern als auch für Frauen eine unter anderen Varianten, warum
eine Generalisierung mit Blick auf eine spezielle Population nur angesichts eines
Möglichkeitsraumes gelten könnte. Insofern wäre für die jeweilige Population,
d. h. für Eltern oder für Frauen mit je vergleichbaren Abschlüssen, ein Spektrum
möglicher Übergangsverläufe zwischen Schule und Beruf zu beachten sowie die
Frage, unter welchen Bedingungen diese auftreten.
Eine Übertragbarkeit theoretischer Aussagen über soziale Regelmäßigkeiten
und Entstehungsbedingungen eines Übergangs in den Arbeitsmarkt setzt voraus,
dass Forschende das Spektrum an Verläufen, das sie ermittelt haben, auf die potenziell möglichen Voraussetzungen hin überprüfen. Um die Geltung der empirischen Befunde zu verstehen, ist weniger die Anzahl der jeweiligen Fälle aus9
Zur Typenbildung als Frage einer Reproduktionsgesetzlichkeit siehe auch Brose / Wohlrab-Sahr /
Corsten 1993: 72 f.
414
Karin Schittenhelm
schlaggebend, sondern die mögliche Varianz, anhand derer sich die Reichweite
und die Art der jeweiligen Gültigkeit ermitteln lässt. Bei einer solchen Suche handelt es sich nicht immer um einen linearen Prozess. Es können Richtungswechsel
erforderlich sein und ein zunächst eingeschlagener Weg kann sich als irrelevant
erweisen. Die Suche nach den Voraussetzungen für eine Übertragbarkeit kann die
Frage nach Konzepten und Bedingungen für eine Verallgemeinerbarkeit nochmals neu aufwerfen. Es sind nicht unbedingt die bereits vorhandenen Kategorien einer möglichen Unterscheidbarkeit von Erforschten, die sich hier als relevant erweisen. Wenn das Ziel, d. h. die Art der Übertragbarkeit zunächst offen ist,
wäre zu fragen, wie sich Forschende auf die Suche nach einer fallübergreifenden
Gültigkeit ihrer Ergebnisse begeben. Dabei interessiert im Weiteren, mit welchen
Strategien sie eine Fallauswahl im Verlauf der Feldforschung und der späteren
Auswertung vornehmen.
2.3
Theoretisch begründete Samplings
Das in Verbindung mit der ‚Grounded Theory‘10 entwickelte ‚theoretical sampling‘
(Glaser / Strauss 1967: 45 – 78; Strübing 2003) gehört heute zum bekanntesten Verfahren einer Fallauswahl in qualitativen Untersuchungen. Es verfolgt das Ziel, die
Varianzbreite eines Feldes zu erkunden. Zugleich handelt es sich um eine Strategie, die eine Ergebnisoffenheit im Auge hat. Die Fallauswahl folgt theoretisch relevanten Gesichtspunkten, wobei die Kriterien dafür nicht im Vorfeld endgültig
feststehen, sondern noch im Verlauf des Forschungsprozesses ausgearbeitet und
modifiziert werden. Ein ‚theoretical sampling‘ gilt als Möglichkeit, die von der
‚Grounded Theory‘ (Glaser / Strauss 1967; Strübing 2008) in die Diskussion eingebrachte ‚empirisch fundierte Theoriebildung‘ zu praktizieren: Indem Forschende
immer neue Vergleichsfälle heranziehen, zeigen sie auf, unter welchen Voraussetzungen die im Forschungsprozess entdeckten Befunde gelten und übertragbar
sind und ob sich die dazu entwickelten Hypothesen bestätigen lassen oder abzuändern sind. Hier geht es insofern um eine Forschungsstrategie, die eine Suche
nach fallübergreifender Gültigkeit fortlaufend praktiziert und durchläuft bis sich
keine neuen Erkenntnisse mehr zeigen bzw. bis eine theoretische Sättigung ein-
10 Siehe zur ‚Grounded Theory‘ den Beitrag von Uta Liebeskind in diesem Band.
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit
415
tritt. 11 Forschende haben dabei nicht eine spezielle Zielvorstellung im Auge – wie
z. B. die Idee einer Übertragbarkeit auf eine soziale Untersuchungspopulation –
sondern praktizieren ein Verfahren, mit dem sie sich schrittweise eine Zielvorstellung erarbeiten, die sie zugleich immer wieder von neuem hinterfragen.12
Auch wenn eine konsequente Umsetzung eines ‚theoretical samplings‘ eher
selten ist, kommen seine Prinzipien auch über ‚Grounded-Theory‘-basierte Untersuchungen hinaus zur Anwendung. Ich verwende den Begriff ‚theoretical
sampling‘ auf Arbeiten der ‚Grounded Theory‘ im engeren Sinne, und spreche
von ‚theoretisch begründeten Samplings‘, wenn ich mich auf Untersuchungen beziehe, die sich an dem von Glaser und Strauss ursprünglich zur Diskussion gestellten Verfahren im weiteren Sinne orientieren.13 Die Fallauswahl eines theoretisch
begründeten Samplings findet während der Datenerhebung und auch noch in der
späteren Phase der Auswertung statt (Strauss / Corbin 1996: 148 f.), wobei in vielen Verfahren qualitativer Sozialforschung Datenerhebung und Auswertung nicht
völlig voneinander zu trennen sind. 14 Beide Arbeitsschritte finden zeitweilig auch
parallel zueinander statt. Anhand erster Auswertungen werden für die weitere
Feldforschung modifizierte Auswahlkriterien festgelegt, die eine Suche nach weiteren Fällen und Zugangsmöglichkeiten bestimmen. Suchstrategien der Fallauswahl erstrecken sich potenziell auch noch nach Abschluss der Feldforschung auf
die Phase der Datenauswertung, indem noch währenddessen ein weiteres Auswahlverfahren stattfinden kann. Auf der Basis eines bereits erhobenen Datenbestandes sind noch spätere Entscheidungen darüber möglich, welche der vorliegenden Fälle in die Intensivanalyse einbezogen werden und welche nicht. In
der bisherigen Literatur ist hier auch von einem ‚ersten‘ und ‚zweiten Sampling‘
(Rosenthal 1995: 215 f.) oder von einem ‚mehrstufigen Auswahlverfahren‘ (Schittenhelm 2009: 22 f.) die Rede.
11 Theoretische Sättigung bzw. ‚theoretical saturation‘ (Glaser / Strauss 1967: 61 f.) bezeichnet in der
‚Grounded Theory‘ den Stand einer Untersuchung, zu dem keine weiteren Fälle gefunden werden,
aus denen Forschende neue Einsichten gewinnen würden.
12 Hans-Georg Soeffner (1991) stellte in Auseinandersetzung mit dem Konzept ‚trajectory‘ von Anselm Strauss die Ergebnisoffenheit sowie die Unabgeschlossenheit und Prozesshaftigkeit eines
sich immer wieder neu anhand empirischer Befunde hinterfragenden Denkens dar.
13 Dabei spreche ich hier von theoretisch begründeten Samplings im Rahmen rekonstruktiver Verfahren, bei denen die Samplingkriterien noch im Verlauf einer Untersuchung modifiziert und
ergänzt werden. Der Vollständigkeit halber sei hier jedoch auf qualitative Samplings auf Basis eines Stichprobenplans hingewiesen; auch diese sind vom Prinzip her theoretisch begründet, doch
beinhalten sie andere Strategien eines Samplings. Siehe Schittenhelm (2009: 9 f.).
14 Dies gilt z. B. in der ‚Grounded Theory‘ oder in Arbeiten der rekonstruktiven Sozialforschung
416
Karin Schittenhelm
Orientiert sich qualitative Sozialforschung an der Strategie einer empirisch
fundierten Theoriebildung, bestimmt der nach und nach ausgewählte Datenbestand auch den ‚Denkraum‘15 oder, im vorliegenden Themengebiet, das Spektrum
der Verlaufsprozesse von Übergängen zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt, die in Betracht gezogen werden. Suchstrategien und Auswahlentscheidungen werden dabei sowohl im Verlauf der Datenerhebung relevant – welche Fälle
werden überhaupt erhoben – als auch im Verlauf der Auswertung – welche Fälle
werden in die Datenanalyse einbezogen ? Meine folgenden Forschungsbeispiele
beruhen auf einem mehrstufigen Sampling und systematischen Fallvergleichen
auf Basis der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2010a) mit dem Ziel einer
Typenbildung. Kontinuierliche Fallvergleiche, die bereits Bestandteil der ‚Grounded Theory‘ (Glaser / Strauss 1967) waren, finden auch in weiteren Verfahren der
Typenbildung statt.16 Entscheidend für Ansätze der rekonstruktiven Sozialforschung ist, dass eine Typenbildung auch die Sinnmuster und Sinnwelten der sozial Handelnden einbezieht (Bohnsack 2010b; Rosenthal 2005: 210). Ein Übergang zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt wird beispielsweise nicht
allein anhand der faktischen Abfolge von Phasen und Stationen typisiert, sondern auch mit Blick auf die Such- und Orientierungsprozesse der betreffenden
Personen (Schittenhelm 2005a, b). D. h. eine Typenbildung, von der hier die Rede
ist, würde bei einer Analyse von Statusübergängen zwischen Bildungsabschluss
und Arbeitsmarkt die Sinnmuster auf Seiten der Erforschten beachten. Die komparative Analyse bedeutet zugleich, dass nicht allein Fälle gesucht werden, die das
jeweilige Phänomen hinsichtlich seiner Beschaffenheit erhellen. Darüber hinaus
geht es auch darum, die Grenzen seiner Reichweite und die sozialen Entstehungsbedingungen zu verstehen.
Die Fälle eines solchen Samplings gelten nicht als eine Abbildung des Untersuchungsgegenstandes und seiner Varianten im Kleinformat. Vielmehr ermöglichen
die aufgrund der Fallauswahl vorliegenden Varianten analytische Perspektiven
auf das Phänomen, indem sie anhand bewusst gewählter Dimensionen und Kriterien Vergleiche ermöglichen. Das bedeutet unter Umständen auch, im Verlauf
einer Untersuchung solche Fälle mit einzubeziehen, die nicht im engeren Sinne
zur Untersuchung gehören, sondern als Vergleichs- oder Kontrollfälle dienen, um
die Reichweite vorliegender Ergebnisse zu erkunden. Eine solche Zusammenstel15 Ich beziehe mich hier auf einen Begriff von Matthes (1992a), wobei dieser vom ‚gemeinsamen
Denkraum‘ im Rahmen eines Vergleichs spricht.
16 Zur Typenbildung im Rahmen der dokumentarischen Methode siehe Bohnsack (2010a, b) sowie im Rahmen sonstiger, auf kontinuierlichen Fallvergleichen beruhenden Verfahren vgl. Kelle /
Kluge (2010).
Sampling und die Suche nach fallübergreifender Gültigkeit
417
lung von Fallvarianten beruht dann auf Suchstrategien und Erkenntnisinteressen
der Forschenden. Die Dimensionen und Kriterien, hinsichtlich derer Varianten
möglich sind, werden erst durch die Vergleiche und die hierfür erforderlichen
Suchstrategien in einem zunächst offenen, dann mehr und mehr festgelegten Verfahren bestimmt.17 Dies bedeutet auch, dass die Qualität eines Samplings daran
zu bemessen ist, welche Vergleichsmöglichkeiten die jeweilige Fallauswahl bietet.
Die komparativen Analysen dienen letztlich der theoretisch-konzeptionellen Erfassung des Untersuchungsgegenstandes. Mögliche Perspektiven qualitativer Sozialforschung auf Übergänge zwischen Bildungsabschluss und Arbeitsmarkt kommen in den folgenden Abschnitten zur Sprache.
3
Statusübergänge als Verlaufsprozesse
Statusübergänge bringen nicht allein neue Orientierungsanforderungen mit sich,
sie sind auch mit einer erneuten Statusverteilung im Lebenslauf verbunden. Ihr
Ausgang ist maßgeblich für die soziale Positionierung einer Person in ihrer weiteren Biografie. Jugendliche besuchen beispielsweise über einen längeren Zeitraum
ein- und dieselbe Schule. Selbst wenn ihnen anschließend die Übergänge in eine
Ausbildung und in eine spätere Berufsausübung gelingen, können sie nach dem
Verlassen der Schule deutlich unterschiedliche Statuspositionen einnehmen. Gelingt nur einer dieser weiteren Übergänge nicht, hat dies weitreichende Folgen für
den zukünftigen biografischen Verlauf. Die Sozialforschung interessiert sich dafür,
wie Jugendliche bzw. junge Erwachsene ihre zuvor erworbenen Bildungstitel auf
dem Arbeitsmarkt umsetzen und welche sozialen Ungleichheiten sich im Verlauf
der jeweiligen Statusübergänge beobachten lassen. Geht eine Untersuchung mit
Hilfe qualitativer Forschungsmethoden vor, betrachtet sie dabei nicht allein den
faktischen Statuswechsel, sondern soziale Prozesse einschließlich der Orientierungen und Deutungen der betreffenden Pe

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