Artikel Sonntagszeitung

Transcrição

Artikel Sonntagszeitung
Kulinarik
52
5. Oktober 2014 | sonntagszeitung.ch
Sie hat alle Fäden in der Hand
Silvia Bossard begann nach einem Flugzeugabsturz ein neues Leben:
Seither baut sie Safran im Kanton Aargau an – mit Erfolg
zukehren. «Das Gewürz braucht
wie ich viel Ruhe und gibt nur
­einmal pro Jahr zu tun.» Dass sie
den Rest des Jahres mit Nichtstun
verbringt, ist natürlich ein Trugschluss.
Denn Bossard, die, wenn sie
dann mal wach ist, pausenlos
spricht und herumwuselt, ist in jeder Hinsicht dem Safran verfallen.
Neben dem Verkauf an Märkten
oder über das Internet hält sie regelmässig Vorträge über die Delikatesse, die in der Heilkunde einen
wichtigen Platz einnimmt: Safran
hellt unter anderem die Stimmung
auf, sorgt für «beseelende Gelassenheit» und besitzt eine aphrodisierende Wirkung. Kein Wunder,
hat Göttervater Zeus «in einem
Bett aus Safran» geschlafen.
Besonders am Herzen liegt
Bossard die Aufklärung der Konsumenten. «Viele Sorten, die man
in Supermärkten oder auf Märkten findet, sind gefälscht oder gestreckt.» Richtiger Safran rieche intensiv, färbe sofort an den Händen
ab und verblasse mit der Zeit. Auf
ihrem Stubentisch sieht es ein wenig aus wie bei der Drogenpolizei:
Zwecks Demonstration hat sie verschiedene Plastiksäcklein ausgelegt. Sie enthalten Fälschungen,
wie rot etwa eingefärbte Ringelblumen.
Claudia Schmid (Text)
und Esther Michel (Foto)
Wenn die ersten Herbstkrokusse
aus dem Boden spriessen, müssen
sie alle bereit sein: die Pflückerinnen, die die violetten Pflänzchen
täglich während mehrerer Wochen ernten. Jeden Tag nämlich
stecken neue Krokusse ihr Köpfchen im aargauischen Hendschiken aus der Erde. «Wenn man sie
nicht ­sofort ausrupft, verfaulen sie
schnell», sagt Safran-Unternehmerin Silvia Bossard, 54, ein
Schneewittchentyp mit gletscherblauen Augen, roten Bäckchen
und schwarzen Haaren.
Auch bereit stehen die «Fädlerinnen», welche die kostbaren
Stempelfäden bis spät in die Nacht
aus den Pflanzen ziehen. Sorgsam
getrocknet, wird aus den Safran­
fäden des Crocus sativus ein
­Luxusgewürz: Ein halbes Gramm
kostet um die 25 Franken; um ein
Kilo zu gewinnen, braucht es etwa
200 000 Blüten.
Bei der Swiss wird Glace mit
Safran aus dem Aargau serviert
Die Ernte, die normalerweise im
Oktober startet und dieses Jahr
wegen des warmen Spätsommers
schon am 17. September begonnen hat, ist mühsam: Alle Blüten
müssen von Hand gepflückt werden. Bereits nach einer Viertelstunde, zeigt ein Selbstversuch,
melden sich Rückenschmerzen.
Die Sonne brennt gnadenlos vom
Himmel. «Am besten, Sie halten
den Kopf unten und schauen
nicht, was vor Ihnen liegt», rät
Rita Wicki. Sie ist die engste Mitarbeiterin von Bossard und gehört
zu einem Netz von Hausfrauen
aus der Nachbarschaft, die während der Ernte auf Abruf zur Verfügung stehen. «Billige Gastarbeiter aus Rumänien finden Sie bei
mir nicht, nur fair bezahlte
­Frauen. Ohne sie könnte ich das
alles nicht bewältigen», sagt
Bossard.
Es ist ihr achter Herbst auf dem
Feld: 2007 hat sie 15 000 Safran­
knollen gesetzt. «Die Leute dachten, ich sei verrückt.» Schliesslich
ist der Aargau so bekannt für
­Safran wie Kasachstan für Foie
gras. Doch weil sie schon immer
an das Unmögliche geglaubt hat,
«solange nicht das G
­ egenteil bewiesen ist», blieb sie dran. Auch
anfängliche Rückschläge – zer­
störerische Raupen, gefrässige
Ameisen – hielten sie nicht auf.
Mittlerweile bewirtschaftet der
­Safranbetrieb 300 000 Knollen,
und das «Gold aus dem Bünztal»
der höchsten Qualitätsstufe wird
Helferinnen «fädelen»
auf Bossards Terrasse
25 Franken für 0,5 Gramm Aargauer Safran: Silvia Bossard auf dem Feld in Hendschiken
auch in der Gastronomie verwendet. Etwa in der Chesa Rosatsch in
Celerina GR, im Landhotel
Hirschen in Obererlinsbach oder
bei der Swiss: So kamen die FirstClass-Passagiere schon in den Genuss einer Glace mit Aargauer Safran. Dieser ist Teil von Bossards
Firma Tagora, bei der «Mensch,
Natur und Tier im Einklang miteinander stehen» und die sich auch
im Tierschutz engagiert.
Dass sich Bossard auf Safran
spezialisierte, hat einen tragischen
Safran-Glace
Zutaten 3 dl Schlagrahm, 1,5 dl
Vollmilch, 100 g Zucker, 1 EL Glukose, 0,12 g Qualitätssafran, 4 Eigelb.
Alles in einer rostfreien Pfanne
­mischen. Unter kräftigem Rühren
aufkochen, bis die Masse dick wird.
Abkühlen lassen, in eine Form giessen.
Mindestens acht Stunden im Tiefkühler ruhen lassen. Servieren.
Hintergrund: Bei einem Flugzeugabsturz vor bald zehn Jahren kam
ihr Mann, der CEO des Zuger
Schraubenunternehmens Bossard,
ums Leben. Sie selbst wurde
schwer verletzt; erlitt ein SchädelHirn-Trauma. Seither braucht sie
sehr viel Schlaf und Ruhe: «Mein
Tag dauert nur ein paar Stunden –
arbeiten kann ich nur am Nachmittag.» Safran erschien der
Bauerntochter und gelernten
­
­Maschinenzeichnerin ein idealer
Weg, um ins ­Arbeitsleben zurück-
Bossard will den Anbau ihres Safrans weiter rationalisieren. Sie ist
auf der Suche nach mehr Land; bis
2018 will sie biozertifiziert sein,
und sie tüftelt an Safran-Kosmetika. «Wenn ich Zeit hätte, wäre es
auch schön, endlich eine Broschüre mit Rezepten herauszugeben.»
Schliesslich kochen sie und ihre
Helferinnen immer wieder Gerichte mit dem Gewürz. Diese
Helferinnen, von der Arbeit auf
dem Feld gebräunt, sitzen jetzt
auf Bossards Terrasse und widmen sich dem «fädele». Bei der
monotonen Tischarbeit könne
man gut tratschen, da gehe es
«cheibe luschtig» zu und her, erzählen sie. Sie dis­kutieren unter
anderem über das Phänomen,
dass die Bienen beim Pflücken in
den Krokussen festkleben. «Die
sind eben verrückt nach der
aphrodisierenden Wirkung», sagt
die eine. «Wir spüren diese Wirkung auch!», sagt die andere. «Wir
können deshalb für nichts garantieren, wenn uns die Männer auf
dem Safranfeld besuchen.»
Safran und Knollen
aus dem Aargau gibt es unter
www.tagora.ch/shop
Bönigers Restaurantkritik
Das Rütli unter den Beizen
Das Bahnhofbuffet Olten ist für
unser Land mindestens so bedeutend wie die Rütliwiese oder
das Bundeshaus: Zwischen Gleis
4 und 7 wurden nicht nur der
Schweizer Alpen-Club und der
Gewerkschaftsbund gegründet,
sondern auch die FDP, der nationale Fussballverband und der
evangelische Kirchenbund. Heute
gehört das Lokal mitsamt Sitzungszimmern und Bankettsälen
dem italienischen Konzern Autogrill. Dass unsere südlichen Nach-
barn das Sagen haben, manifestiert sich vor allem in der Speisekarte: Das Schwergewicht liegt auf
Pizza und Pasta; ergänzt werden
sie mit Insalata Caprese, Brus­
chette und Scaloppine al Limone.
Während ich mir als Erstes den
typischen hiesigen Apéro genehmige, eine Stange hell, blicke
ich durchs Lokal. Das Publikum
ist zweifelsohne helvetisch: Ich
sehe einen Raucher, der nervös
mit seinem Kugelschreiber spielt.
Ein paar Jugendliche, vielleicht
Pfadileiter, die ein Ferienlager planen. Zwei Damen mittleren Alters
mit Kurzhaarfrisuren, von denen
eine beim Parlieren unter dem
Tisch immer wieder aus dem
Schuh schlüpft. «Entschuldiged
Sie», werde ich von einem jungen
Mann in Adidas-Trainerhosen aus
den Gedanken gerissen, «könnten
Sie kurz auf meine Tasche
­schauen?» Das amüsiert mich: Er
­vertraut einem Unbekannten, aber
der Allgemeinheit nicht.
Ich bestelle Pizza Diavolo – und
eine Bratwurst mit Zwiebelsauce
und Pommes frites, die ich neben
all den Italo-Klassikern mit der
­Karte auch noch entdeckt habe.
Wie soll ich sagen – beides
«isch rächt»: Die Pizza ist dünn
wie ein elsässischer Flamm­
kuchen; das Verhältnis von Tomatensauce zum Käse ausgewogen.
Für den nötigen Pfiff ist aber Olio
piccante nötig. Die Bratwurst ist
eher geschmacksneutral, die
­Sauce so harmlos wie in jeder
Kantine. Und die frittierten Kartoffelstäbchen sind, wie eigenwillig
vom Küchenchef, mit Kräutersalz
gewürzt. Im Raum herrscht ein
permanenter Geräuschpegel, man
versteht zwar kein einzelnes Wort,
aber es hört sich an wie ein
­unaufhörliches Raunen.
Bezahlen muss man an der Kasse. Bevor ich mich über diese
doch eher südländische Gepflogenheit zu ärgern beginne, ent­
decke ich an der Wand gleich
­neben dem Ausgang ein Schild,
auf dem steht, wer hier heute
­alles Sitzungen gehabt hat: die
Swissgas, der Rotary Club und
die technische Kommission
­Gewehr 30. Trotz aller Italianità –
schweizerischer gehts nicht.
Daniel Böniger
Bahnhofbuffet Olten Bahnhof,
4600 Olten, Tel 062 286 88 44,
www.buffet-olten.ch. Mo bis
Fr 6.15–22 Uhr, Sa/So 7–22 Uhr.
Vorspeisen ab 4.90, Hauptgänge
ab 16.90 Franken.
Fragen, Anregungen, Wünsche?
[email protected]