Drucken - The Spirit Fanzine Berlin
Transcrição
Drucken - The Spirit Fanzine Berlin
Die ganz großen Fragen Fast wie ein Kubrick-Film mit Glaubensbekenntnis: To the Wonder" von Terrence Malick von Marc Hairapetian Filmplakat "To the Wonder" mit Ben Affleck and OIlga Kurylenko Um es mit Pathos auszudrücken, wäre man geneigt zu sagen: Terrence Malick ist Stanley Kubricks Stellvertreter auf Erden. In der Tat haben beide US-Meisterregisseure viel gemeinsam - vor allem eine unverkennbare visuelle Handschrift, die das akustische Design ihrer Filme nicht ausklammert. Wie der 1999 kurz nach der Fertigstellung seines finalen Epos "Eyes Wide Shut" verstorbene Kubrick hat der in Ottawa (Illinois) geborene Malick, der am 30. November diesen Jahres seinen 70. Geburtstag feiert, nur relativ wenige Filme gedreht, aber dafür in den unterschiedlichsten Genres Maßstäbe gesetzt. Beide sind Perfektionisten - und auch Moralisten. Man kann sie getrost als sowohl künstlerisch wie auch kommerziell immens erfolgreiche Außenseiter im ansonsten wenig innovativen Hollywood-Kino bezeichnen, die, äußerst öffentlichkeitsscheu, (fast nie) Interviews gaben beziehungsweise geben. Dafür schwärmen all ihre Mitarbeiter von ihnen. Und beide arbeite(te)n im Herbst ihres Lebens immer schneller an ihren zahlreichen Projekten. Kubrick wollte direkt nach "Eyes Wide Shut" noch "A. I. - Künstliche Eine seltene Aufnahme: Terrence Malick zusammen mit Intelligenz" (vollendet 2001 von seinem Freund Steven Spielberg) auf Christian Bale am Set von "The New World" die Leinwand bringen. Nachdem Malick von 1969 bis 1978 drei Filme realisierte ("Lanton Mills", "Badlands - Zerschossene Träume", "In der Glut des Südens"), folgte eine rekordverdächtige 20jährige Regiepause. Doch unerwartet stieg er zum Ende des alten Jahrtausends wie Phoenix aus der Asche! Mit "Der schmale Grat" (1998) gelang ihm in Starbesetzung der vielleicht erste esoterische Antikriegsfilm, der sich lieber der Betrachtung und Zerstörung der Natur widmete, denn den üblichen Kampfhandlungen. Nachdem Malick als Produzent fungiert hatte (u.a. 2000 "Verschollen im Packeis - Das Antarktis-Abenteuer des Sir Ernest Shackleton", 2001 Zhang Yimous chinesischeTragikomödie "Happy Times" und 2006 Michael Apteds AbolitionistenEpos "Amazing Grace"), zog er sich 2005 vom Biopic "Che" (Steven Soderbergh übernahm später) zurück - und schuf mit "The New World" (2006) den bis dato besten Film des neuen Jahrtausends. In der wahren Liebesgeschichte der indianischen Prinzessin Pocahontas (verkörpert von der damals 14jährigen Neuentdeckung Q'orianka Kilcher), die sich in den britischen Entdecker John Smith (Colin Farrell) verliebt, drehte er wie einst Kubrick bei "Barry Lyndon" (1973-75) mit hoch empfindlichen Linsen, ohne Verwendung künstlichen Lichts in den Morgen- und Abendstunden. Wer dachte, dass sein philosophischer Gegenentwurf zu "Lolita", der die Unterschiede zwischen Frau und Mann, Naturvolk und scheinbar zivilisierter Nation überwinden wollte, in Sachen künstlerischer Vollendung nicht zu wiederholen sei, sah sich getäuscht. 2011 folgte mit dem bereits 2008 gedrehten "The Tree of Life" ein Familiendrama, das wie zuvor kein zweites war: Von der Geschichte eines strengen Vaters (Brad Pitt), der seine sensiblen Söhne widerstandsfähiger machen möchte, ging der Film in atemberaubenden Bildern, die wie Stanley Kubricks "2001: Odyssee im Weltraum" (1965-68) weitgehend auf chemischen Experimenten und exakter Fotografie und eben nicht digitalen Effekten basierten, zurück zur Entstehung des Universums und von da bis in die Zukunft. Vollkommen zu Recht gab es dafür die Goldene Palme von Cannes. Und nun "To the Wonder"! Nochmals ein Malick-Liebesfilm, der sich ebenfalls von allen anderen bisher gedrehten unterscheidet. Eine "Geschichte" im herkömmlichen Sinne braucht der Poet des amerikanischen Films nicht. Es geht eher um Assoziationen und Gefühle über das Aufkeimen und Erlöschen einer Liebe, die in Bilder und Töne gekleidet werden. Der Versuch einer Inhaltsangabe würde sich vielleicht so lesen: Das gerade frisch verliebte Paar Neil (Ben Affleck), ein gescheiterter amerikanischer Autor, und Marina (Olga Kurylenko), eine mittellose Ukrainerin voll tänzerischer Leichtigkeit und Anmut, verbringen zusammen auf der französischen Insel Mont Saint-Michel, die auch als "Wunder der westlichen Welt" bezeichnet wird, eine unbeschwerte Zeit. Zwei Jahre später leben sie mit Marinas aus einer früheren Beziehung stammenden Tochter Tatiana (Tatiana Chiline) in Oklahoma. Doch hier fühlt sich das kleine Mädchen nicht wohl, es vermisst seinen leiblichen Vater und reist wieder zurück nach Frankreich. Neil und Marina Stanley Kubrick entfremden sich immer mehr voneinander. Nachdem er eine Affäre mit seiner früheren Freundin Jane (Rachel McAdams) angefangen hat, "rächt" sie sich, indem sie sich auf einen One-Night-Stand mit einem ihr an sich unsympathischen "Cowboy" einlässt. Wirklichen Halt findet Marina lediglich bei dem katholischen Priester Quintana (Xavier Bardem) der sich in einer schweren Glaubenskrise befindet. In der Schlusseinstellung sieht man Marina, die die USA wieder verlassen hat, mit ihrem Hund auf Mont Saint-Michel spazieren gehen, auf den Spuren ihrer Liebe zu Neil... Hier schliesst sich der Kreis - ob es das Ende oder vielleicht doch ein Neuanfang ist, bleibt offen. Quasi ohne echtes Drehbuch, dafür mit viel Improvisation (die Hauptdarsteller wussten abends oft nicht, was sie am nächsten Tag spielen sollten), den lichtdurchfluteten Kameraeinstellungen Emmanuel Lubezkis und der zauberhaft fragilen Musik von Hanan Townshend, schafft es Malick, die Innenansichten einer, ja, vielleicht der Liebe an sich, auf die Leinwand zu zaubern - mit ihren Höhen und Tiefen, ihrer Ausgelassenheit und Leidenschaft, ihren Depressionen. und ihrem Scheitern. Wie in "The New World" (Q'orianka Kilcher) und "The Tree of Life" (Jessica Chastain) versteht es Malick, schöne Frauen natürlich, warmherzig und erdverbunden zu inszenieren. Die in erster Linie durch Action-Filme bekannte Olga Kurylenko ("James Bond 007: Ein Quantum Trost") dominiert auf sanfte Art "To the Wonder", denn Ben Affleck ist hier eher ein passiver Charakter wie Tom Cruise in "Eyes Wide Shut". Noch eine Parallele zu Kubrick: Malick arbeitet viel mit Off-Kommentar. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass es nicht in ironisch-sarkastischer Manier geschieht. Malick ist ein "prayer" - er legt in jedem (Ich-)Erzähler-Text sein eigenes Glaubensbekenntnis ab - ob mit der Stimme von Q'orianka Kilcher in "The New World", die ein Gebet an "Mutter Sonne" richtet, um sie für ihren Liebsten (Colin Farrell) milde zu stimmen oder mit Olga Kurylenkos Zwiegespräch mit Gott über die Liebe. Bei Malick, dessen Religiosität Kapitalismus-Kritik nicht ausschließt, schwingt stets die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen mit, eine Hinwendung zur Natur mit ihren Tieren und Pflanzen. Es geht dem Ausnahmeregisseur immer nur um die ganz großen Fragen, die jeder für sich selbst beantworten muss. Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was ist Liebe?"To the Wonder" ist für sich betrachtet ein kleines Wunder; zwar nicht so episch wie "The New World" oder "The Tree of Life", aber dafür zumindest der vermutlich schönste Film des Jahres 2013. Marc Hairapetian am 28. Mai 2013 für SPIRIT - EIN LÄCHELN IM STURM www.spirit-fanzine.de