Sepsis – die unterschätzte Gefahr
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Sepsis – die unterschätzte Gefahr
18 Medizin Wenn das Immunsystem entgleist Sepsis – die unterschätzte Gefahr W as verbinden Sie mit dem Begriff »Blutvergiftung« oder Sepsis? Sicherlich ist Ihnen bekannt, dass eine Blutvergiftung lebensgefährlich ist. Aber wissen Sie auch, wie sich eine Blutvergiftung äußert? Der rote Strich, der von einer Wunde in Richtung Herz führt, ist jedenfalls kein sicheres Anzeichen für eine Blutvergiftung, sondern zeigt erst einmal nur eine Entzündung der Lymphbahnen an (die dann allerdings in eine Blutvergiftung münden kann). Könnten Sie sagen, wer besonders gefährdet ist? Gut möglich, dass Sie bei diesen Fragen passen müssen. So geht es hierzulande vielen – und das, obwohl in Deutschland jährlich 154 000 Menschen daran erkranken. Das sind 142 Patienten pro Tag. Fast jeder zweite Betroffene überlebt eine Blutvergiftung nicht, trotz intensiver medizinischer Betreuung. Eine Sepsis ist damit die dritthäufigste Todesursache in Deutschland und die häufigste auf Intensivstationen. Zum Vergleich: An Brustkrebs sterben in Deutschland täglich 49 Frauen, an AIDS jeden Tag zwei Menschen. Warum wurde diese so häufige und so gefährliche Infektionskrankheit in der Öffentlichkeit so Von den Ärzten gefürchtet, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen: Wenn eine Infektion außer Kontrolle gerät und eine Sepsis (Blutvergiftung) verursacht, ist das Leben des Betroffenen in höchster Gefahr. Tatsäch lich ist die Sepsis die häufigste Todesursache auf Intensivstationen — und bislang gibt es keine Therapie, die direkt an der Ursache ansetzt und so eine sichere Heilung garantiert. Von Dr. Nicole Schaenzler lange nicht richtig wahrgenommen? Selbst vielen Ärzten war jahrelang nicht klar, dass eine Sepsis überdurchschnittlich oft für den Tod eines Patienten verantwortlich war und immer noch ist. Das hatte u. a. ganz banale bürokratische Gründe: Wenn eine Sepsis tödlich verlief, wurde im ärztlichen Bericht entweder die unmittelbare Wer ist besonders gefährdet, eine Sepsis zu erleiden? Zwar kann bereits ein rostiger Nagel im Fuß oder ein Abszess eine Blutvergiftung auslösen, viele Fälle von Sepsis treten jedoch nach Operationen auf. Zudem gibt es Risikogruppen: u Menschen mit einem geschwächten Immunsystem: Das Immunsystem von AIDS- oder Krebskranken ist oft nicht mehr schlagkräftig genug, um mit einer Infektion an ihrem Ursprungsort fertig zu werden und sich so erfolgreich gegen eine Erregerinvasion zu stemmen. Das gilt auch, wenn eine schwere Autoimmun erkrankung besteht. Diabetiker und Menschen mit einem metabolischen Syndrom (= bauchbetontes Übergewicht in Kombination mit erhöhten Blutfettwerten, Bluthochdruck und/oder einem erhöhten Blutzuckerspiegel). u Gerade machten Forscher eine weitere Risikogruppe aus: Studien zeigen, dass schon Übergewichtige ohne weiteren Anzeichen eines metabolischen Syndroms ein siebenmal höheres Risiko für eine tödlich verlaufende Sepsis haben als Normalgewichtige. u Topfit 2 / 2012 Todesursache – in der Regel das Versagen von Organen – oder die zugrunde liegende Infektion aufgeführt; die Sepsis selbst blieb dagegen häufig unerwähnt. Auf diese Weise fand nur ein Bruchteil der tatsächlichen Fälle den Weg in die Todesursachenstatistiken. Das hatte zur Folge, dass diese schlimmstmögliche Form der akuten Infektion jahrzehntelang unterschätzt und damit auch die Sepsis-Forschung lange Zeit vernachlässigt wurde. Bündelung der Kräfte Inzwischen hat ein Umdenken stattgefunden: Spezialisten in ganz Deutschland haben sich zusammengeschlossen, um herauszufinden, unter welchen Umständen eine Infektion in eine Sepsis mündet, wie die Erkrankung möglichst früh erkannt und wie sie vor allem erfolgreich behandelt werden kann. Zugleich geht es darum, Standards zu entwickeln, nach denen sich die Ärzte künftig richten können – all das mit dem Ziel, die Sterblichkeitsrate bei Blutvergiftung auf ein absolutes Minimum zu senken. Ausgangspunkt: Lokale Infektion Wenn sich eine Blutvergiftung entwickelt, hat die Immunabwehr eine schwere Niederlage erlitten. Weder hat die Entzündungsreaktion eine komplette Eliminierung der Erreger am Infektionsort (oder in einem Organ) bewirkt, noch haben es die Akteure des Immunsystems geschafft, den Infektionsherd auf den Ursprungsort zu begrenzen und die Keime (und deren Giftstoffe) daran zu hindern, sich im ganzen Körper auszubreiten. Theoretisch kann jede lokale Infektion mit Bakterien (manchmal auch mit Viren oder Pilzen) eine Blutvergiftung auslösen: die verschmutzte Schürfwunde, der entzündete Insektenstich, eine Harnwegsinfektion oder – sehr häufig – eine Lungenentzündung. Besonders gefährdet, eine Sepsis zu erleiden, sind zudem Menschen, die frisch operiert wurden, die eine schwere Verbrennung oder Unfallverletzung erlitten haben. In diesem Fall haben Keime leichtes Spiel, weil sie praktisch nur noch durch das weit geöffnete Tor des Hautdefekts ins Körperinnere hineinschlüpfen müssen. Oft kommt es vor, dass sich die schwerkranken Patienten praktisch selbst infizieren. Ist z. B. eine künstliche Beatmung erforderlich, können Welt-Sepsis-Tag Am 13. September 2012 wird erstmals der Welt-Sepsis-Tag stattfinden. Weltweit werden an diesem Tag verschiedene Aktivitäten organisiert, um auf die Missstände in den verschieden Bereichen der Sepsis-Prävention, -Diagnostik, -Therapie und -Rehabilitation aufmerksam zu machen. Keime in den Körper gelangen, die normalerweise nur im Hals-Rachen-Raum sitzen: Es kommt zu einer endogenen Infektion. Manchmal lassen sich auch gar keine Erreger nachweisen – dann spricht der Arzt von einer sterilen Entzündung. Hierbei geht die Initialzündung für ein überstimuliertes Immunsystem vor allem von den zerstörten Zellen des Gewebeschadens aus, die mithilfe von spe- Medizin 19 ziellen Eiweißstoffen (Alarminen) die Immunzellen auf den Plan rufen, damit der Schaden repariert und abgestorbene Zelltrümmer abtransportiert werden. Leider kann dieser eigentlich sinnvolle Schutzeffekt die gleichen schweren Folgen haben wie eine infektiös bedingte Blutvergiftung: Die Entzündungsreaktion entgleist und mündet in eine Sepsis. Entzündung außer Kontrolle Was passiert, wenn der Körper erkennt, dass feindliche Mikroorganismen gerade dabei sind, seine Festung einzunehmen? Er reagiert, wie er immer auf eine Bedrohung von außen reagiert: mit einer Entzündung. Die Vorhut der Körperabwehr (= angeborene Immunantwort) rückt an und aktiviert mithilfe der Entzündungsstoffe die zweite Verteidigungslinie (= erworbene Immun antwort). Nur: Jetzt bleibt der A bwehrkampf nicht mehr auf eine kleine Region beschränkt, sondern tobt im ganzen Körper. Hierfür jagen Immunzellen unermüdlich durch die Adern, um überall mobil zu machen. Wie in einer Kettenreaktion sind innerhalb weniger Stunden alle lebensnotwendigen Funktionseinheiten hochgradig entzündet – und weisen mehr oder weniger die typischen Entzündungszeichen auf. Der schlimmste Fall: septischer Schock Zunächst sind die Organe noch in der Lage, die an sie gesetzten Anforderungen zu erfüllen. Irgendwann geht dann aber nichts mehr: Es kommt zum septischen Schock. Damit hat die Sepsis die denkbar ungünstigste Entwicklung genommen: Mehr als 70 Prozent der Sepsispatienten überleben einen septischen Schock nicht. Selbst wenn der völlige Kollaps vermieden werden kann, kann die Situation jederzeit eskalieren – insbesondere, wenn bereits ein oder mehrere Organe auszufallen drohen. Zytokine spielen eine Schlüsselrolle Bis heute ist es den Forschern ein Rätsel, warum der Körper es soweit kommen lässt und nicht die Notbremse zieht, um zu verhindern, dass seine Verteidigungsstrategie in der Selbstvernichtung endet. Fest steht: Entgleist eine Entzündung, stimmt die Balance zwischen den entzündungsfördernden und den entzündungshemmenden Botenstoffen (Zytokinen) nicht mehr. Zytokine wie Tumor-Nekrose-Faktoren (vor allem TNFalpha) oder bestimmte Interleukine (z. B. IL-1, IL-6 oder IL-8) dominieren das Geschehen und lassen sich von ihren Gegenspielern, den antientzündlichen Zytokinen, nicht mehr bändigen. Erst gegen Ende gewinnen die entzündungshemmenden Zytokine wieder an Boden. Dann zeigen sie allerdings meist auch das Ende an: Von der Abwehrschlacht total erschöpft, hat das Immunsystem nun keine Kapazitäten mehr – und der Körper ist den Eindringlingen schutzlos ausgeliefert. Schwierige Diagnostik Fieber (über 38 Grad) oder Untertemperatur (unter 36 Grad), Schüttelfrost, sich richtig elend fühlen, vielleicht sogar verwirrt sein – das sind typische Begleitsymptome einer Sepsis (und leider auch vieler anderer Krankheiten). Selbst Ärzten fällt es nicht leicht, anhand der akuten Beschwerden eine Sepsis zu diagnostizieren. Da die Diagnose »Sepsis« immer auch ein Wett- Anzeichen einer Sepsis Jede Minute zählt — das gilt nicht nur für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, sondern auch für eine Sepsis. Deshalb: Wenn Sie bei einem Ihrer Familienmitglieder während eines Infekts folgende Anzeichen erkennen (oder ein Familienmitglied bei Ihnen), sollten Sie möglichst schnell einen Notarzt rufen: u Verwirrtheit u Hohes Fieber oder Untertemperatur u Beschleunigte Atmung (mehr als 25 Atemzüge pro Minute) u Beschleunigter Herzschlag (mehr als 100 Schläge pro Minute) u Erniedrigter Blutdruck lauf gegen den Tod bedeutet, wird in der Klinik schon bei bloßem Verdacht das ganze intensivmedizinische Programm abgerufen: Einweisung auf die Intensivstation, Blut-, Urin-, Ultraschallund Röntgenuntersuchungen, manchmal auch eine Untersuchung des Hirnwassers (Liquor). Und dann: Rund-um-die-Uhr-Überprüfung der Vitalfunktionen mithilfe all der modernen medizinischen Hochleistungsgeräte, Flüssigkeitszufuhr per Infusion, Sauerstoffgaben, nicht selten sogar künstliche Beatmung und weitere Maßnahmen bzw. Organersatzverfahren. körperchen zielen darauf ab, die lebensbedrohlichen Veränderungen der Blutbestandteile in den Griff zu bekommen. Wehret den Anfängen! Auch wenn es Risikogruppen (siehe Kasten Seite 18) gibt – letztlich ist niemand vor einer Sepsis gefeit. Umso wichtiger ist es, mögliche Alarmzeichen ernst zu nehmen. Vor allem wenn Sie sich nach einem (ambulanten) chirurgischen Eingriff oder in Zusammenhang mit einer (eiternden) Wunde plötzlich krank fühlen, sollten Sie sofort einen Arzt aufsuchen. Gleiches gilt, wenn Sie gerade eine Infektionskrankheit durchmachen – auch wenn diese eigentlich harmlos scheint. Im Extremfall kommt es auf wenige Stunden an: Je eher die Diagnose gestellt und eine angemessene Therapie eingeleitet wird, desto größer sind die Chancen, eine schwere Sepsis abzuwenden. Auf eine sorgfältige Wund versorgung kommt es an Beste Prophylaxe für eine eskalierende Infektion ist die sorgfältige Versorgung einer frischen Wunde, etwa durch Reinigen der Wunde mit klarem Wasser, Auftragen eines Wunddesinfektionsmittels, dann Abdecken mit einem sterilen Verband. Bei stark blutenden Wunden sowie bei Biss-, Stich- und tiefen Schnitt- oder Platzwunden sollte man sofort einen Arzt aufsuchen! Hat sich an einer Wunde Eiter gebildet, ist es wichtig, dass er abfließen kann, damit er nicht über die Blutbahn in andere Körperregionen gelangen kann. Sinnvoll sind antibiotische Puder, die die Wunde »austrocknen«. Muss die Wunde abgedeckt werden, dann am besten mit einer großporigen Gaze, die täglich gewechselt wird. Therapie mit hochdosierten Antibiotika Eine gezielte Therapie, mit der das entfesselte Immunsystem wieder in normale Bahnen gelenkt wird, gibt es nicht. Man versucht stattdessen, die (mögliche) Ursache zu bekämpfen, vor allem mit hochdosierten Infusionen von Breitband-Antibiotika. Je früher die Therapie einsetzt, desto größer sind die Chancen: Mit jeder Stunde, die ohne Antibiotikum vergeht, nimmt die Sterblichkeit um sieben Prozent zu. Während der Therapie wird der Patient meist in ein künstliches Koma versetzt. Auch die chirurgische Sanierung des Entzündungsherds ist eine Option – sofern er sich ermitteln lässt. Liegt eine sterile Entzündung vor, steht die operative Entfernung von zerstörtem Gewebe im Vordergrund. Medikamente zur Verbesserung der Blutgerinnung oder Infusionen mit roten BlutTopfit 2 / 2012