Jesper Juul, der Ungehorsame

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Jesper Juul, der Ungehorsame
Herbert Vogt
Jesper Juul, der Ungehorsame
Der bekannte Familientherapeut
tritt unermüdlich für eine neue Erziehungskultur ein
D
er Mann will keinen Kult um sich. Wenn die Leute
anfangen, über ihn zu reden statt über seine Ideen,
meint er, dann sei er nicht wirksam. Nicht als Person
will er interessant sein – über seine Botschaft soll man
nachdenken. In Berlin wollten sie ein Institut nach ihm
benennen; das hat er abgelehnt. Dass der SPIEGEL ihn
zur „Lichtgestalt der modernen Pädagogik“ erhoben hat,
ehrt ihn nach eigenem Bekunden gleichwohl.
Es ist in der Tat schwer, von seiner Person zu abstrahieren. Er füllt Säle, reüssiert in Talkshows, glänzt als Bestseller-Autor. Wenn man ihn als Vortragsreisenden erlebt, verblüfft er damit, wie er sein Publikum zu fesseln vermag:
unaufgeregt, ohne jeden appellativen Ton, witzig und locker auch bei Themen mit Tiefgang. Persönliche Beispiele
aus seiner Familie und Biografie würzen glaubhaft, was er
an Bedenklichem anrührt. Zweieinhalb Stunden spricht
er; die drei Folien, die er dazu zeigt, wären gar nicht nötig
gewesen. Dabei ist er gar nicht das, was man sich unter
einem begnadeten Redner vorstellt – manch anderem
hätte man die vielen Räusperer und Sprechpausen weniger großzügig verziehen. Nein, er fesselt damit, dass er
das Publikum direkt an seinen eigenen Erfahrungen packt.
Denn jeder hat Familie (gehabt) und kennt die Dynamik,
die sich unweigerlich in solch engen Beziehungssystemen entwickelt. Vom Nicht-Zähne-putzen-Wollen des
Zweijährigen bis zu den fundamentalen Umwälzungen
in den Elternrollen der letzten Jahrzehnte: Andockstellen
für emotional aufgeladene Erfahrungen gibt es genug.
Jeder weiß zumindest von familiären Erziehungsmustern
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und Kommunikationsstrukturen und der mehr oder weniger großen Wirksamkeit erzieherischer Einflussnahme auf
Kinder. Jeder kennt die Sackgassen, die Verstrickungen,
die Dauerkämpfe und ungelösten Konflikte, die Familienleben und Kindererziehung bereithalten. Wer aktuell
drinsteckt, sucht nach Linderung des Leidensdrucks oder
zumindest nach Erklärungen. Was Jesper Juul hier bietet,
sind keine Rezepte, sondern neue Sichtweisen. Obwohl es
tief hineingeht ins Eingemachte der eigenen Familienbiografie, wird es nicht schwermütig im Saal. Man verlässt
die Veranstaltung optimistisch, nachhaltig angeregt.
Vom Gehorsam zur Verantwortung
Warum sind gestresste Eltern, die in den Ratgebern, die
der Buch- und Zeitschriftenmarkt bereithält, nach Lösun-
„Egal, wie problematisch wir das Ver
h
wir sollten nie aufhören, sie als Men
s
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SPEKTRUM
Foto: Vanja Voukovic
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gen suchen, nach der Lektüre so ratlos wie vorher? Hier
setzt Jesper Juul an: Was erzieht denn?, fragt er, und liefert
die Antwort gleich mit: Direkte Einwirkung auf das Kind ist
es nicht, auch nicht noch so ausgeklügelte pädagogische
Strategien, schon gar nicht Appelle und „Sanktionen“,
die nichts anderes seien als Strafen. Dagegen wird das pädagogisch wirksame Feld „zwischen den Zeilen“ bestellt,
indem Beziehungsbotschaften in der Kommunikation mit
dem Kind quasi nebenbei mittransportiert werden. Kinder
bemerken es sehr genau, wenn etwas mit ihnen gemacht
werden soll. Goethes „Man spürt die Absicht und ist verstimmt“ gilt auch für sie. Oder modern ausgedrückt: Das
Kind erfährt sich als Objekt erwachsener Bemühungen.
Und es hat zwei Möglichkeiten, damit umzugehen: sich
zu verweigern oder sich anzupassen. Letzteres sehen die
Erwachsenen dann recht gern und übersehen dabei, dass
sie in einem Gehorsamsmuster gefangen sind. Für Jesper
r
halten von Kindern empfinden,
n
schen gleicher Würde zu behandeln.“
Jesper Juul
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Juul ist das einer seiner zentralen Begriffe: Gehorsam. Und
er macht unmissverständlich klar, dass es höchste Zeit ist,
sich von der Unkultur der Gehorsamserziehung zu verabschieden, sei sie in noch so schöne Vokabeln gekleidet
und mit noch so freundlichem Lächeln geschminkt. Gehorsame Kinder – wohl sie seien möglich, mit dem Arsenal der Erziehungsmaßnahmen, die eine Jahrhunderte
alte pädagogische „Kultur“ entwickelt hat. Die Probleme
mit „schwierigen“, unangepassten und unerreichbaren
Kindern schafft sie sich damit aber selbst. Er spitzt es zu:
Wollen wir gehorsame oder gesunde Kinder?
Jesper Juul hat eine eigene, biografische Geschichte mit
dem Ungehorsam. Geboren 1948 im dänischen Vordingborg, aufgewachsen in einer Zeit, in der Kinder schlicht zu
folgen hatten, nennt er sich den einzigen ungehorsamen
Jungen in seiner Stadt. Das bescheinigt er auch seinem
1973 geborenen Sohn Nicolai – dem er in jungen Jahren
ein „lausig schlechter Vater“ gewesen sei – und seinem
knapp vierjährigen Enkel – der ihn heute mit seinem Eigensinn glücklich macht. In den ersten Jahren mit seinem
Sohn hat er viel über Eltern-Kind-Beziehungen gelernt.
Jesper Juul will Mut machen zu einer Kehrtwende. Er
will, dass wir Kinder (und Partner) in der Familie Gleichwürdigkeit zuerkennen, ein weiterer seiner zentralen
Begriffe. Gleiche Würde für alle, was nicht unbedingt
gleiche Rechte bedeutet. „Demokratie kann es zwischen
Erwachsenen und Kindern nicht geben“, sagt er, aber alle
könnten sich in gleicher Würde begegnen. Und das heißt
ihnen zuzutrauen, dass sie Verantwortung für sich über-
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nehmen können. Genau das, was Erwachsenen so schwer
fällt. Sie misstrauen Kindern: Wenn diese einmal den kleinen Finger gereicht bekämen, wollten sie die ganze Hand
nehmen. Dieses Misstrauen sitzt tief.
Outsider mit Innenkenntnis
Jesper Juul trennt scharf zwischen der Erziehungswissenschaft und der Erziehungspraxis, insbesondere der der
Familie. Seine zahlreichen Kontakte zu Erziehungswissenschaftlern führen ihn zu der pointierten Aussage, dass
diese wenig über Kinder wüssten und keine Ahnung von
Familien hätten. Gerade in Deutschland habe eine übertheoretisierte Erziehungswissenschaft keinen Zusammenhang mit der Praxis mehr. Was ihn richtig aufregt, ist die
„theoretische Arroganz“ mancher Wissenschaftler, die angesichts des gründlichen Misserfolgs der Sozialarbeit mit
Jugendlichen so wenig Kontakt zu denen suchen, für die
sie verantwortlich sind. Er kann ein Lied davon singen,
wie verzweifelt die Sozialpädagogen und Familienberater
sind, die sich in Jugendämtern aufreiben. Deshalb setzt
er sich für eine grundlegend andere Perspektive ein, deren Schlüsselbegriff Eigenverantwortung, der dritte seiner
zentralen Begriffe, ist. Damit könne man fast Wunder voll-
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bringen. Nur müsse sie ernsthaft, nicht mit Kalkül, übertragen werden.
Er selbst hat immer in interdisziplinären Teams mit
Kinder- und Jugendpsychiatern, Kinderpsychologen, Sozialarbeitern, Soziologen sehr eng zusammen gearbeitet
und Gelegenheit gehabt, Kitas und Schulen auch von
innen kennen zu lernen. Das hat den Erfahrungssockel
für seine therapeutische Arbeit gebildet. „Ich bin ein Outsider“, meint er, und sieht es als Glücksfall an, weil sein
beruflicher Hintergrund so breit ist.
Wie kam er zu seinen Überzeugungen? Als junger Sozialpädagoge hat er in einem Jungendzentrum gearbeitet
und „schwierige“ Kinder und Jugendliche von der Sozialverwaltung zugewiesen bekommen, um sie fit für die Gesellschaft zu machen. Gleichzeitig studierte er europäische
Ideengeschichte. Er bekam so ein philosophisches Training, das ihn verwirrte: Wie kann man verantwortungsvolle Menschen erziehen, wenn man Verantwortung von
ihnen wegnimmt? In dieser Phase – Anfang der 1970erJahre auch in Dänemark eine Zeit des pädagogischen Aufbruchs – durfte er experimentell arbeiten. Als er merkte,
dass den Kindern und Jugendlichen die Unterbringung in
Institutionen schadete, suchte nach Schulen für sie in der
Umgebung und eröffnete mit ihnen sehr erfolgreich eine
Textil- und Lederwerkstatt, die für eine echte Kundschaft
Pullover und Gürtel produzierte. Dabei entdeckte er, dass
erfolgreiche Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht
ohne die Familien geht. Er hat darauf bestanden, vor der
Aufnahme eines Jungen oder Mädchens deren Familie zu
besuchen, um zu verstehen, wie die Beziehung zu den
Eltern aussieht. Vor diesem Erfahrungshintergrund studierte er Familientherapie und begann, freiberuflich als
Gruppentherapeut und Personaltrainer zu arbeiten, um
sich danach zehn Jahre allein erziehenden Müttern aus
unteren sozialen Schichten zu widmen, die er wiederum
sehr erfolgreich für den Arbeitsmarkt und ein gelingendes
Familienleben qualifizierte.
Auch ehrenamtlich unterwegs
1979 gründete er mit Kollegen das Kempler Institute of
Scandinavia, benannt nach seinem amerikanischen Lehrer
Walter Kempler, das er bis 2004 leitete. Er ist dort weiterhin als Lehrer und Berater tätig. 2004 gründete Jesper Juul
das Elternberatungsprojekt FamilyLab International, das
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nationale Agenturen in mehren europäischen Ländern
und, ganz neu, auch in Kalifornien hat.
Seit 1991 ist er in zweiter Ehe mit seiner Frau Suzana
verheiratet, die ihre Wurzeln in Kroatien hat. Neben vielem anderen Guten hat das, wie er sagt, dazu geführt,
dass er jedes Jahr drei Monate ehrenamtlich für Flüchtlingsfamilien und Kriegsveteranen in der Region und in
der Weiterbildung von kroatischen und bosnischen Fachkräften arbeitet. Außerdem berät er dort lokale Nicht-Regierungs-Organisationen (NGOs).
Neben der Ausbildungs- und Supervisionstätigkeit ist
er viel auf Vortragsreisen durch zahlreiche europäische
Länder. Überall trifft er auf ein Rieseninteresse bei Eltern
und professionellen Pädagogen. Während früher in jeder
Elterngeneration sich die Gedanken über Erziehung allmählich entwickelt haben und mehr oder weniger stabil
gewesen seien, kommt heute nach seiner Einschätzung
jedes zweite Jahr ein neuer Erziehungstrend unter Eltern
auf. Mit seinen Prognosen, was der nächste Trend sein
würde, lag er bisher immer falsch. Aber das freut ihn
auch: Hält das öffentliche Interesse an Erziehungsfragen
an, kann er gewiss sein, immer genügend Stoff zur Auseinandersetzung zu haben.
❚
▶ Zum Weiterlesen:
Jesper Juul: Was Familien trägt. Werte in Erziehung
und Partnerschaft. Beltz-Verlag, Weinheim 2008
Jesper Juul/Helle Jensen: Vom Gehorsam zur Verantwortung. Für eine neue Erziehungskultur. BeltzVerlag, Weinheim 2009
▶ Internet:
www.jesperjuul.com
www.familylab.de
www.kempler.dk
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Herbert Vogt ist leitender Redakteur bei TPS. Er traf Jesper Juul
Mehr Info im Internet: http:///www.juventa.de
vor einem seiner Vorträge im Mai 2010 in Darmstadt.
Juventa Verlag, Ehretstraße 3, D-69469 Weinheim
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