6 -GS-Theo Mayer-Maly-BENOEHR HansPeter

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6 -GS-Theo Mayer-Maly-BENOEHR HansPeter
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem
Ausbeuter? –
Für eine Korrektur des § 138 Abs 1 BGB de lege
lata und des § 138 Abs 2 BGB de lege ferenda
Hans-Peter Benöhr, Berlin
I. Gegenstand1
Als Christ und Philosoph, Historiker und Zivilrechtslehrer hat Theo MayerMaly die „guten Sitten“ fortwährend im Auge gehabt2. Wir hoffen, in seinem
Sinne zu argumentieren, wenn wir die subjektive Komponente sowohl bei wucherähnlichen Geschäften (§ 138 Abs 1) als auch bei eigentlichen Wuchergeschäften (§ 138 Abs 2) in Frage stellen3. Wir wollen für Schutz und Hilfe für
1 Im Andenken an den verständnisvollen Rezensenten der Dissertation des Anfängers und
den liebenswürdigen Kollegen des zeitweiligen Wiener Professors.
2 Th. Mayer-Maly und C. Armbrüster, Münchener Kommentar BGB, Allgemeiner Teil4
(2001) § 138 pass (die letzte mit Mayer-Malys Namen gezeichnete Bearbeitung, zitiert:
Mayer-Maly, MünchKomm § 138). – Th. Mayer-Maly, Das Bewusstsein der Sittenwidrigkeit (1971); ders, Der gerechte Preis, in FS Demelius (1973), 139 ff; ders, Renaissance der
laesio enormis?, in FS Larenz (1983), 395 ff (zitiert: Mayer-Maly, in FS Larenz); ders, Die
guten Sitten als Maßstab des Rechts, Juristische Schulung (1986), 596; ders, Bewegliches
System und Konkretisierung der guten Sitten, in FS Wilburg (1986), 117 ff; ders, Was leisten die guten Sitten?, AcP 194, 1994, 105 ff; Die guten Sitten des Bundesgerichtshofs, in
50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd 1 (2000), 69 ff – alle zitiert nach: Staudinger-Sack, 2003,
Schrifttum vor § 138.
3 § 138. Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher. (1) Ein Rechtsgeschäft, das gegen die guten
Sitten verstößt, ist nichtig. – (2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche eines anderen sich oder einem Dritten für
eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, die in einem auffälligen
Missverhältnis zu der Leistung stehen. – Diese ist die Formulierung des Abs 2 seit dem
1. September 1976. Von 1896/1900 bis 1976 lautete Abs 2 des § 138 ein wenig anders, nämlich: (2) Nichtig ist insbesondere ein Rechtsgeschäft, durch das jemand unter Ausbeutung
der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines anderen sich oder einem Drit-
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den Benachteiligten plädieren, wenn (1.) zwischen seiner Vertragsleistung und
der des Profiteurs ein auffälliges Missverhältnis besteht und wenn (2.) sich außerdem der Benachteiligte auf diesen Vertrag nur aus einer Situation der Unterlegenheit4 heraus eingelassen hat, ohne dass er (3.) die „Ausbeutung“ oder
eine verwerfliche Gesinnung des Profiteurs behaupten und beweisen muss.
Einer weiteren Erörterung bedürften5 die Arten der Leistungen (Waren,
Dienstleistungen oder Kredite), das Ausmaß der Übervorteilung und die Art
der Unterlegenheit6. Später müsste unsere historisch orientierte Argumentation7 durch eine genauere8 rechtsvergleichende9 ergänzt werden10.
Nach der heutigen Gesetzeslage kann ein Rechtsgeschäft nicht als Wucher
(§ 138 Abs 2) qualifiziert und nicht als nichtig erklärt werden, wenn zwar ein
auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung besteht,
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ten für eine Leistung Vermögensvorteile versprechen oder gewähren lässt, welche den
Wert der Leistung dergestalt übersteigen, dass den Umständen nach die Vermögensvorteile in auffälligem Missverhältnisse zu der Leistung stehen.
BGH NJW 95, 1019, 1023, und frühere Entscheidungen sprechen etwa von der „wirtschaftlich schwächeren Lage, Rechtsunkundigkeit oder mangelnden Geschäftsgewandtheit“ der benachteiligten Partei.
Eher eine Formalie ist es, ob man die jetzt abschließende Aufzählung der Unterlegenheitsfälle in § 138 Abs 2 durch eine Generalklausel mit Regelfällen ersetzen sollte.
Hingegen differenzierend mit ausformuliertem Gesetzesvorschlag: R. Bender, Probleme
des Konsumentenkredits, NJW 1980, 1129 ff.
Die Geschichte des Wuchers ist so oft erzählt worden, zuletzt in zwei aufschlussreichen
Dissertationen, dass wir sie heute nicht zu wiederholen brauchen: M. Pohlkamp, Die
Entstehung des modernen Wucherrechts und die Wucherrechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1880 und 1933 (2009); K. Liebner, Wucher und Staat. Die Theorie des
Zinswuchers im Deutschland des 18. und 19. Jahrhunderts (2010), beide mit langen Literaturlisten. Immer noch lesenswert: Th. Sommerlad, Artikel Zinsfuß im Mittelalter, in
Handwörterbuch der Staatswissenschaften3, Bd 8 (1911), 1023 ff; Eisenstadt, Art Zins 1.,
in Jüdisches Lexikon, Bd 4/2 (1930), Sp 1573–1575; G. K. Schmelzeisen, Polizeiordnungen und Privatrecht (1955). Kürzlich: M. Toch (Hrsg), Wirtschaftsgeschichte der mittelalterlichen Juden (2008) pass.
Einige vorläufige Bemerkungen gegen Ende dieses Beitrages.
Im 19. Jahrhundert intensive Hinweise auf die österreichische Gesetzgebung, s u – OLG
Stuttgart NJW 1979, 2409 f, hatte seine Entscheidung über das Maß eines „besonders
groben Missverhältnisses“ – wie es in der Entscheidung heißt – „angelehnt an § 934 des
Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuchs“ Denn „diese Anlehnung an das österreichische
Recht erschien dem Senat besonders adäquat, weil dieser Rechtskreis – da aus denselben
Quellen gewachsen und im selben Kulturkreis geformt – dem deutschen Rechtskreis am
nächsten verwandt ist. (Es folgen rechtshistorische Darlegungen)“ (leider nicht abgedruckt!). – BGHZ 80, 153, 156, Urteil vom 12.3.1981, hält diese „Anlehnung“ für „verfehlt“. – Daraufhin die lesenswerten Ausführungen Mayer-Malys über das Verhältnis des
österreichischen Rechts zum deutschen, in FS Larenz, 401 f.
Der Leser sei zum eigenen Studium auf weitere gewichtige Argumente Mayer-Malys
verwiesen – etwa zur Anwendung des beweglichen Systems im Recht –, die aber wir im
Folgenden nicht weiterentwickeln werden können.
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
wenn aber die „Ausbeutung“ durch den Profiteur entweder nicht erfolgt oder
nicht beweisbar ist. Bereits das Wuchergesetz von 1880, das erste moderne11,
wurde von dem Staatssekretär im Reichsjustizamt mit der Bemerkung begleitet: „Der Beweis des Wuchers vor dem Zivilrichter wird allerdings seine großen Schwierigkeiten haben“12. Weil „die Voraussetzungen des Wuchers meist
schwer zu erweisen seien“, hatte Gröber (Zentrum) in der Reichstagskommission zur Beratung des BGB noch einmal die Einführung eines Zinsmaximum
(8% pa) vorgeschlagen13.
Bei Versagen des § 138 Abs 2 ist die Rechtsprechung rasch auf Abs 1 ausgewichen14. Mayer-Maly hält diesen Ausweg grundsätzlich für richtig. Wir folgen ihm, solange der Text des Abs 2 nicht – wie wir es vorschlagen wollen –
geändert worden ist. Aber „ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung
und Gegenleistung macht grundsätzlich für sich allein das Geschäft nicht zu
einem unsittlichen“, erklärte das Reichsgericht 191315 und schon vorher, und
ihm ist der Bundesgerichtshof gefolgt. „Das selbst ungeheuerlichste Missverhältnis“ der Leistungen für sich allein gebe keine Handhabe, das Geschäft als
wider die guten Sitten verstoßend für nichtig zu erklären16. Dazu müsse als
subjektive Komponente noch „eine verwerfliche Gesinnung“ des Profiteurs
hinzutreten, wie der Bundesgerichtshof noch 1995 betont hat17. Dieses weitere
Element, das nach Abs 1 zur Sittenwidrigkeit führen würde, ist eigentlich fast
ebenso schwer wie die „Ausbeutung“ nach Abs 2 nachzuweisen. Fehlt es an
diesem Element, so müsste die Rechtsprechung den Benachteiligten ohne
Schutz und Hilfe lassen.
Der Bundesgerichtshof kommt trotz dem angeblichen Erfordernis der
Vorwerfbarkeit zum gewünschten Ergebnis der Nichtigkeit nach § 138 Abs 1,
indem er aus der Höhe der Zinsen unwiderleglich – oder, wie zu ergänzen: widerlegbar18 – auf die Bewusstheit des Ausnutzens, zumindest auf die Leichtfer11 Die Geschichte der Gesetzgebung gegen Wucher zwischen 1880 und 1896 bei Pohlkamp,
Die Entstehung des modernen Wucherrechts, 43 ff, und Liebner, Wucher und Staat, 296 ff.
12 Von Schelling, Staatssekretär im Reichsjustizamt, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 563
(25. Sitzung, 25.4.1880).
13 Kommissionsbericht BGB, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, Anlagen,
Nr 440, 1963.
14 Zur „Abgrenzung von Allgemeiner Sittenwidrigkeit und Wucherverbot“ in Rechtsprechung und Lehre bis 1933: Pohlkamp, Die Entstehung des modernen Wucherrechts,
204 ff.
15 RGZ 83, 109. 112, Urteil vom 24.9.1913. Reichsgericht (am angeführten Ort) und Bundesgerichtshof halten „noch einen weiteren Umstand“ für erforderlich, der in Verbindung mit dem auffälligen Missverhältnis „den Vertrag nach seinem Gesamtcharakter als
sittenwidrig erscheinen lässt“.
16 RGZ 93, 27, 29, Urteil vom 6.5.1918.
17 BGH NJW 1995, 1019 ff.
18 BGHZ 98, 174, 178, Urteil vom 10.7.1986; BGH NJW 95, 1019, 1023.
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tigkeit der Uneinsichtigkeit, schließt19 oder indem er im einzelnen Fall die subjektive Komponente der Sittenwidrigkeit behauptet ohne sie zu konkretisieren20.
Mayer-Maly warnt vor der Gefahr von Verschuldensfiktionen21 und ruft
auf zur Methodenehrlichkeit22. Beim Sittenwidrigkeitskalkül23 nach § 138
Abs 1 BGB sollte eine besonders massive Äquivalenzstörung zur Nichtigkeit
führen können, ohne dass Verschuldensfiktionen entwickelt werden müssen24.
II. Sittenwidrigkeit
Der Entwicklung bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts liegt die Verbindung von
Übervorteilung und Sittenwidrigkeit ziemlich fern. Die Standardwerke des gemeinen und des preußischen Rechts, Windscheid, Dernburg und Förster-Eccius,
erfassen den Wucher nicht mit der actio oder exceptio doli. Das Reichsgericht
hat anscheinend in den Jahren zwischen der Freigabe der Zinsvereinbarung
durch den Norddeutschen Bund (1867) und dem ersten Wuchergesetz des
Deutschen Reichs (1880) Wuchergeschäfte nicht als sittenwidrig angesehen25.
19 Mayer-Maly, in FS Larenz, 404 mit Anm 44. – So schon RG JW 1900, 262, zitiert bei
Pohlkamp, Die Entstehung des modernen Wucherrechts, 222.
20 Mayer-Maly, in FS Larenz, 404 mit Hinweis auf BGHZ 80, 153, 160 f.
21 Mayer-Maly, in FS Larenz, insbes 403 ff.
22 Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 116.
23 Mayer-Maly, in FS Larenz, insbes 404, will die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit nicht
für alle Fälle eliminieren, Mayer-Maly sieht sie aber als „nicht unerlässlich“ an. „Es geht
– wohlgemerkt – nicht darum, die guten Sitten zu entmoralisieren . . . Vielmehr ist es
mein Anliegen, die subjektive Seite der Sittenwidrigkeit als eine zwar mögliche und häufige, aber nicht unerlässliche Voraussetzung der Beurteilung eines Rechtsgeschäfts als sittenwidrig zu erweisen“. – Hingegen 400, Anm 27, Nachweise früherer Versuche, „sich
von der Pflichtübung, die subjektiven Voraussetzungen der Sittenwidrigkeit nachzuweisen, zu emanzipieren“.
24 Mayer-Maly, in FS Larenz, 408. – Bei Anwendung des § 138 Abs 1 im Bereich der Verbraucherverträge würde Mayer-Maly auf die subjektive Komponente weitgehend verzichten. In seinem praxisorientierten Kommentar (Mayer-Maly, MünchKomm § 138,
Rn 116) beschränkt er seinen Vorschlag auf die Geschäfte zwischen Gewerbetreibenden
und Nichtgewerbetreibenden. Fehle „es hingegen bei typisierender Betrachtung an einer
solchen Unterlegenheit, wie ins besondere bei Geschäften unter Gewerbetreibenden
oder bei Gelegenheitsgeschäften unter Nichtgewerbetreibenden, bedarf es hingegen der
separaten, vom auffälligen Leistungsmissverhältnis losgelösten, Feststellung der verwerflichen Gesinnung“.
25 P. F. Reichensperger (Zentrum), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 740 (30.
Sitzung, 31.3.1879); Stadthagen (SPD), Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess,
2758 und 2769 (110. Sitzung, 20.6.1896); Gröber (Zentrum), Landgerichtsdirektor in
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Nur vereinzelt berichtet ein Abgeordneter 26, er selbst habe als Richter
„unter der bestehenden Gesetzgebung . . . verschiedene maßlose wucherische
Geschäfte als den guten Sitten zuwiderlaufend, als die Ehrbarkeit beleidigend
auf Grund der bestehenden landrechtlichen Vorschriften für unverbindlich erklärt und die Kläger abgewiesen“27.
Bei der Beratung des ersten Wuchergesetzes erklärten die Konservativen28
den Wucher als „zunächst unsittlich, und zwar in höherem Maße, wie (!) es
der Diebstahl ist“29. „Vom sittlichen Standpunkt“ aus30 hatte man sich über
die „sittliche Verwerflichkeit“31 und die schlimmen Folgen des Wuchers entrüstet. Es handele sich um „Ausschreitungen, die gegen das sittliche Bewusstsein des Volkes verstoßen, die allgemein als verwerflich erachtet werden“32.
Grund für die Bestrafung des Wuchers sei „die tief unsittliche Gesinnung, die
darin liegt, dass man den Not leidenden Nachbarn ausbeutet, um selbst reich
zu werden“33. Man wollte diese „unsittlichen und als verwerflich erkannten
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Heilbronn, in derselben Sitzung, 2765 und 2770. – Kommissionsbericht (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, Anlagen, Nr 265, 1600. –
M. Pohlkamp, Die Entstehung des modernen Wucherrechts und die Wucherrechtsprechung des Reichsgerichts zwischen 1880 und 1933, 2009, pass.
Parteizugehörigkeit im Folgenden nach M. Schwarz, MdR, Biographisches Handbuch
der Reichstage, 1965, pass.
Witte/Schweidnitz (Nationalliberal), Landgerichtsdirektor in Breslau, Sten Berichte,
Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 1220 (47. Sitzung, 7.5.1880). – Ebenfalls einige Gewerbegerichte zur Bekämpfung von Lohnwucher, nach: Stadthagen (SPD), Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2769 (110. Sitzung, 20.6.1896). – Sowie einige
Gerichte auf Grund rheinischen (dh französischen) Rechts, nach Stadthagen in derselben
Sitzung, 2770.
Unter Berufung auf die „Sittenlehre von Professor Wuttke“. – Meyers Großes Konversations-Lexikon6, Bd 20 (1908), 802, nennt: „Wuttke, Adolf, Theolog und Kunsthistoriker, geb. 18. Nov. 1819 in Breslau, gest. 12. April 1870 in Halle“, schrieb ua „Handbuch
der christlichen Sittenlehre“, Berlin 1862. – Die katholische Moraltheologie verstand erst
im 19. Jahrhundert unter Wucher die „Bereicherung durch Missbrauch der Not des
Nächsten“; Liebner, Wucher, 278 ff.
Von Kleist-Retzow (Konservativ), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 750
(30. Sitzung, 31.3.1879).
Von Schorlemer-Alst (Zentrum), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 759
(30. Sitzung, 31.3.1879).
Begründung, Bundesratsentwurf (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4.
Leg-Periode, 3. Sess, Anlagen, Nr 58, 375.
Freund (Fortschritt), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 755 (30. Sitzung,
31.3.1879).
Von Kleist-Retzow (Konservativ), Sten Berichte, Verh d RT,, 4. Leg-Periode, 3. Session,
571 (30. Sitzung, 31.3.1879).
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Handlungen“ treffen34. „In der Handlungsweise des Wucherers zeigt sich allgemein die niedrigste, sittlich verderblichste, der allgemeinen Verachtung
preisgegebene Gesinnung“35. Der Gesetzgeber bezeichne durch die Strafbarkeit „den Wucher als einen strafbaren, einen verwerflichen Akt, die Menschen,
die einen solchen vornehmen, als sittlich verworfene Menschen“36.
Als 1896 der Zentrumsabgeordnete Gröber37 einen spezielle Bereicherungsanspruch des Bewucherten gegen den Wucherer gefordert hatte, erklärte
der Vertreter der Reichsjustizamts, Struckmann, diesen als entbehrlich, insbesondere unter der Annahme, dass ein Wuchergeschäft „gegen die guten Sitten
verstößt“. Daraufhin beantragte Gröber, das Wuchergeschäft im BGB „als
gegen die guten Sitten verstoßend“ zu erklären. Dem folgte die Reichstagskommission38. Wie schon die Regierungsvertreter in der Reichstagskommission39, so erklärten dann im Plenum Konservative40, Freisinnige41 und Abgeordnete der Deutschen Volkspartei42 die Bestimmung des (heutigen) § 138
34 Freund (Fortschritt), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 755 (30. Sitzung,
31.3.1879).
35 Von Kleist-Retzow (Konservativ), Sten Berichte, Verh d RT,, 4. Leg-Periode, 3. Session,
571 (30. Sitzung, 31.3.1879).
36 Schulze-Delitzsch (Fortschritt), Sten Berichte, Verh d RT,, 4. Leg-Periode, 3. Session, 570
(30. Sitzung, 31.3.1879).
37 Die Initiative zur Regelung des Wuchers im BGB wird überhaupt von Gröber ausgegangen sein. Er hat in der Reichstagskommission mehrere Anträge zur Zinshöhe, zur Erleichterung der Kündigung wegen zu hoher Zinsen, zur Wiedereinführung der laesio
enormis, zum Schadensersatz und zum Bereicherungsausgleich bei Wucher gestellt. – H.
H. Jakobs/W. Schubert (Hrsg), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Allgemeiner Teil, 1. TB
(1985), 737; dies, Recht der Schuldverhältnisse I (1978), 79 f; dies, Recht der Schuldverhältnisse III (1983), 857. – Im Plenum griff er mit zwei längeren Stellungnahmen zum
Wucher ein. A. Gröber, 1854 bis 1919, zuerst Staatsanwalt in Rottweil, schließlich Landgerichtsdirektor in Heilbronn, seit 1887 MdR, 1919 Mitglied der Nationalversammlung,
führender Zentrumspolitiker in Württemberg und im Reich (E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd 42 (1969), 55 Anm 47).
38 Kommissionsbericht BGB, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, Anlagen,
Nr 440, 1957; H. H. Jakobs/W. Schubert (Hrsg), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Recht der
Schuldverhältnisse III (1983), 857 f.
39 Kommissionsbericht BGB, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, Anlagen,
Nr 440, 1957; ähnlich auch Gebhard, Kommissar des Bundesrats, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2767 (110. Sitzung, 20.6.1896).
40 Von Buchka (Konservativ), Oberlandesgerichtsrat, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess,
2765 f und 2771 (110. Sitzung, 20.6.1896).
41 Lenzmann (Deutsche Freisinnige Volkspartei), Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2766
(110. Sitzung, 20.6.1896).
42 Haußmann (Deutsche Volkspartei), Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2762 (110. Sitzung, 20.6.1896).
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Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
Abs 2 BGB für überflüssig, weil Wuchergeschäfte ohnedies sittenwidrig bzw.
gesetzwidrig und deswegen nichtig seien43.
Gewiss wäre dem Benachteiligten gedient, wenn mit der Qualifizierung
eines Rechtsgeschäfts als „sittenwidrig“ dem Profiteur nicht ein „schwerer –
und, wie zu ergänzen: persönlicher – Vorwurf gemacht“ werden würde44.
Wenn der Sittenverstoß bereits aus dem objektiven Inhalt eines Rechtsgeschäfts folgt – so wie hier aus dem auffälligen Missverhältnis der Vertragsleistungen verbunden mit der Unterlegenheit des Benachteiligten –, so ist nicht
einzusehen, warum auch noch die subjektive Seite des Geschäfts geprüft werden muss45. Das ist für eine Reihe anderer Wirtschaftsvorgänge anerkannt46.
Auch die von Mayer-Maly dem Sittenwidrigkeitsverdikt zugeschriebenen
Funktionen47 können weiterverfolgt werden48, wenn das Sittenwidrigkeitscharakteristikum hier von der subjektiven Komponente entlastet wird.
43 Dennoch erklärte Gröber im Reichstag, er hätte die Unterbringung der Wucherbestimmung bei dem heutigen § 134 BGB (Gesetzwidrigkeit) vorgezogen: Verh d RT, 9. LegPeriode, 4. Sess, 2765 (110. Sitzung, 20.6.1896). Die Zuordnung der Wucherbestimmung
zur Gesetzwidrigkeit wäre heikel gewesen, weil die zivilrechtliche Bestimmung umfassender war als die strafrechtliche; denn der Sachwucher sollte stets nichtig, war aber nur
im Fall gewohnheitsmäßiger Ausübung strafbar.
44 Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 2. – Dieser Vorwurf erschwert indessen „jeden
von praktischer Vernunft getragenen Ansatz zur Problemlösung“, weil weder ein einzelner noch eine Bank ein „moralisches Unwerturteil“ hinzunehmen bereit sei; MayerMaly, in FS Larenz, 404 f. – Th. Mayer-Maly, Was leisten die guten Sitten?, AcP 194,
1994, 105, 172: Nicht in jedem Fall, der als sittenwidrig qualifiziert wird, sei ein sittlicher
Vorwurf erforderlich, wenn auch das subjektive Element ein Indiz für Sittenwidrigkeit
oder, umgekehrt, für fehlende Sittenwidrigkeit sei.
45 Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 124: Wenn ein Rechtsgeschäft einen Zustand herbeiführt, „den die Rechtsordnung nicht zulassen kann“, so sei das Rechtsgeschäft als sittenwidrig anzusehen, auch wenn den Beteiligten eine verwerfliche Gesinnung fehlt. –
Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 129: Folgt der Sittenverstoß bereits aus dem objektiven Inhalt eines Rechtsgeschäfts, so sei dieses ohne weiteres nichtig, ein subjektiver
Tatbestand muss nicht verwirklicht werden.
46 Mayer-Maly, Was leisten die guten Sitten?, AcP 194, 1994, 105, 172, nennt die für andere
Sicherungsnehmer nachteilige Globalzession. Zu nennen sind weiter: die sittenwidrige
Ausnutzung einer Macht- oder Monopolstellung, Knebelungsverträge oder die anfängliche Übersicherung für einen Kredit.
47 Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 1: nämlich unerwünschten Rechtsgeschäften die
Geltung zu versagen (Eliminationsfunktion) und Interessenten von dem Abschluss derartiger Geschäfte abzuhalten (Abschreckungszweck).
48 Mayer-Maly, MünchKomm § 138, Rn 34, 35, 37, 38: Mayer-Maly zählt zu den Zielen des
Verbots sittenwidriger Geschäfte: die Abwehr von Freiheitsbeschränkungen, der Ausnutzung von Machtpositionen, von schweren Äquivalenzstörungen, aber auch die
Durchkreuzung verwerflicher Gesinnung.
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III. Ausbeutung
Wenden wir uns der Korrektur des § 138 Abs 2 de lege ferenda zu, so spricht
für die Eliminierung des Tatbestandsmerkmals der „Ausbeutung“ auch der
Umstand, dass dieses Tatbestandsmerkmal aus dem Strafrecht stammt. Es ist
offensichtlich, dass man den Wucherer nur dann strafrechtlich verfolgen
kann, wenn ihm einen Schuldvorwurf zu machen ist. Dementsprechend setzt
noch heute § 291 StGB voraus, dass der Täter die Unterlegenheit des Opfers
„ausbeutet“, indem er sich unangemessene Vermögensvorteile versprechen
oder gewähren lässt. § 291 StGB in der geltenden Fassung geht auf das Gesetz
betreffend den Wucher von 1880 zurück.
1880 wurde der Wucher unter Strafe gestellt, denn bald nachdem 1867 das Gesetz des Norddeutschen Bundes die Zinsvereinbarungen fast einschränkungslos
freigegeben hatte, waren die Missbräuche bei Darlehen und anderen Geschäften
unerträglich geworden. Das Wuchergesetz von 1880 setzte an die erste Stelle die
„Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit“.
1783 hatte es wahrscheinlich als erster Julius von Soden49 als das wesentliche, als das zu bestrafende50 Element gefunden, dass der Gläubiger bei der
Kreditvergabe die „Not des Armen oder den Leichtsinn und die Unerfahrenheit der Jugend missbraucht“51. 1845 bedrohte das badische Strafgesetzbuch,
in Kraft getreten 1850, den Wucherer mit Strafe, der „bei Darlehen und anderen belastenden Verträgen für sich übermäßige Vorteile bedingt, 1. wenn er die
ihm bekannte Not oder den ihm bekannten Leichtsinn des anderen benutzt“52.
49 F. J. H. Reichsgraf von Soden, 1754–1831, „der bekannte Nationalökonom“ nach: Stintzing-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Ab 3, 1. HB (1898), 412;
P. Schmidt, Artikel von Soden, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften3, Bd 7
(1911), 550 f.
50 Die Strafgesetzbücher der deutschen Staaten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestraften in verschiedener Weise „betrüglichen“, wiederholten, gewerbs- oder gewohnheitsmäßigen Wucher, gewissermaßen einen qualifizierten Wucher.
51 Liebner, Wucher und Staat, 225. Weitere Wucherbestimmungen lehnte von Soden ab.
52 K. Peschke, Artikel Wucher, in Handwörterbuch der Staatswissenschaften4, Bd 8 (1928),
1092. Als einschränkendes Tatbestandsmerkmal kam damals noch hinzu, dass der Wucherer „sich die bedungenen wucherischen Vorteile in der Vertragsurkunde verschleiert
zusichern lässt“. Die 2. Begehensweise war die Anwendung täuschender Vertragsabkommen, die 3. die Ausbeutung von Minderjährigen, Entmündigten usw.
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Diesem Muster53 folgten dann weitere Gesetzbücher und strafrechtliche Einzelgesetze54, vor allem Österreich 186655 und das Deutsche Reich 188056.
Die konservativen Verfasser des ersten Entwurfs eines im Strafrecht angesiedelten Wuchergesetzes hatten „eine besondere Sorgfalt auf die subjektive
Seite, das recht eigentlich Charakteristische der Gesinnung des Wucherers gelegt“57. Die Abgeordneten wollten mit der Formulierung der „Ausbeutung“
hauptsächlich den Gläubiger treffen58, welcher das Kapital zu übermäßigen
Vorteilen missbraucht, weniger den Schuldner gegen die nachteiligen Folgen
des Vertrages schützen59. „Der eigentliche Strafgrund“ war die „den Charakter
der Ausbeutung an sich tragende Handlungsweise“60.
Nur kurz sei darauf hingewiesen, dass früher das öffentliche Interesse ein
wesentliches Motiv zur Bekämpfung des Wuchers war61. Das Volk erblicke im
Wucher den schimpflichen Charakter, das gemeinschädliche, die Wohlfahrt
vieler schädigende Element62. Nach Ansicht der Abgeordneten (1879) „handelt es sich um ein gemeingefährliches Gebaren der Wucherer, durch welches
der Wohlstand vieler Personen und selbst einzelner Berufsklassen untergraben
wird. Der Strafschutz des Staates soll hier nicht dem einzelnen geleistet werden, welcher in Folge eines von ihm mit voller Kenntnis des Sachverhalts abgeschlossenen Geschäfts an seinem Vermögen geschädigt wird“. Es gehe um
„eine schwere Gefährdung des Gemeinwesens selbst und seiner wirtschaft53 Kiefer (Nationalliberal), Landgerichtsdirektor in Freiburg, Abg für Wahlkreis 6 Baden,
Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 832 (34. Sitzung, 20.4.1880), war der
einzige, der später an das badische Strafgesetzbuch von 1845 erinnerte.
54 Ausführliche Rechtsvergleichung in der Begründung, Bundesratsentwurf (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, Anlagen, Nr 58, 371 ff.
55 Wiederholte Hinweise auf Österreich in den Verhandlungen des Reichstags, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 739 ff (30. Sitzung, 31.3.1879).
56 Dass es zu derselben Zeit Wuchervorschriften anderer Art und gelegentlich die Aussetzung oder gänzliche Aufhebung des Wucherverbots gab, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden.
57 Von Marschall-Bieberstein (Konservativ), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 765
(30. Sitzung, 31.3.1879).
58 Wenn man dem Leichtsinn nicht helfen wolle, so müsse man doch den Wucherer bestrafen; von Kleist-Retzow (Konservative), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 750
(30. Sitzung, 31.3.1879).
59 Kommissionsbericht, Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, Anlagen, Nr 265,
1600.
60 Von Schelling, Staatssekretär im Reichsjustizamt, Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 1227 (47. Sitzung, 7.5.1880).
61 Ausführlich zur „Schädlichkeit hoher Zinsen“ nach Ansicht der Kameralisten, der Teilnehmer an der Wucherpreisfrage Josephs II. von 1789 und späterer Ökonomen und Juristen: K. Liebner, Wucher und Staat (2010) pass.
62 Kommissionsbericht (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode,
2. Sess, Anlagen, Nr 265, 1602.
91
Hans-Peter Benöhr
lichen Grundlagen“63. Es gehe nicht um das besondere Interesse des Verletzten, sondern um die Gemeingefährlichkeit der wucherlichen Ausbeutung,
welche über jenes Interesse weit hinausgehe; deswegen wurde der Wuchertatbestand nicht als ein Antragsdelikt ausgestaltet64.
Das Ergebnis ist der 1880 eingefügte § 302a des Reichsstrafgesetzbuchs65.
Gewissermaßen nur im Anhang zu der Strafrechtsbestimmung wurden in
einem weiteren Gesetzesartikel „Verträge, welche gegen die Vorschriften der
§§ 302a, 302b des Strafgesetzbuches verstoßen“, für „ungültig“ erklärt. Der
Entwurf der konservativen Partei aus dem Vorjahr hatte sogar von zivilrechtlichen Sanktionen gänzlich abgesehen66.
Das Strafrecht dominierte also67. Andererseits war klar: es „muss“, sobald
der strafrechtliche Tatbestand des Wuchers feststeht, das Rechtsgeschäft kraft
Gesetzes ungültig sein68.
1879–1880 wurde bei der Besprechung eines Details auf die Bestrafungsfunktion der zivilrechtlichen Nichtigkeit hingewiesen. Der Wucherer soll
nämlich jeglichen Zinsanspruch verlieren, also keinen Anspruch auf Zahlung
der üblichen Zinsen haben69. Denn „der kriminalistische Standpunkt müsse
unsere ganze Materie beherrschen, und von diesem kriminalistischen Standpunkt aus sei es recht, wenn dem Wucherer neben der Geld-, Gefängnis- und
Ehrenstrafe auch noch der Verlust der gesetzlichen Zinsen in Aussicht gestellt
63 Kommissionsbericht (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode,
2. Sess, Anlagen, Nr 265, 1602.
64 Kommissionsbericht (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode,
2. Sess, Anlagen, Nr 265, 1608.
65 „Wer unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfahrenheit eines anderen für ein Darlehen . . . sich oder einem anderen Vermögensvorteile versprechen oder
gewähren lässt, welche den üblichen Zinsfuß dergestalt überschreiten, dass nach den
Umständen des Falles die Vermögensvorteile in auffälligem Missverhältnis zu der Leistung stehen, wird wegen Wuchers mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und zugleich mit
Geldstrafe bis zu dreitausend Mark bestraft. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“
66 Von Kleist-Retzow, von Flottwell, von Marschall-Bieberstein (alle Konservativ), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, Anlagen, Nr 55.
67 Im Strafrecht werde aus der Gewerbsmäßigkeit und Gewohnheitsmäßigkeit zurückgeschlossen auf die Absicht des Wucherers, auszubeuten; Haußmann (Deutsche Volkspartei), Rechtsanwalt und Notar, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2772
(110. Sitzung, 20.6.1896). – Aber dieser Schluss ist nach § 138 Abs 2 BGB schon deshalb
nicht möglich, weil es danach auf Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit nicht ankommt.
68 Begründung, Bundesratsentwurf (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4.
Leg-Periode, 3. Sess, Anlagen, Nr 58, 376.
69 Bundesratsentwurf (zum 1. Wuchergesetz), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3.
Sess, Anlagen, Nr 58, Art 3, Abs 3, Satz 1.
92
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
werde“70. „Es ist allerdings das Streben, gegen den Wucherer möglichst scharf
zu verfahren“71. „Das mag ein Abschreckungsmittel sein“72. „Man wolle die
Strafe des Wucherers dadurch in zweckmäßiger Weise verschärfen“73. „Der
strafrechtliche Charakter“ im Zivilrecht, „dass derjenige, welcher ein solches
Geschäft betrieben hat, nichts bekommen soll von dem, was ihm als Vorteil
vor Augen geschwebt hat . . . Über die Normen des Strafgesetzes hinaus wollen wir ihn die verbrecherischen Folgen seines Vergehens so energisch empfinden lassen, dass wir ihm auch die an sich zulässigen Zinsen entziehen“74. „Weil
wir es im Grund mit einem Strafgesetz zu tun haben, lassen wir auch hier den
Strafcharakter durchdringen“75. Doch wandten sich einzelne dagegen, nach
der strafrechtlichen Sanktion „noch auf dem Gebiete des Zivilrechts mit einer
Privatstrafe vorzugehen, obgleich die neuere Rechtsanschauung überhaupt die
Privatstrafe verwirft76“. Indessen wurde aus der Kommission (1880) auch berichtet, dass die Verweigerung jeglichen Zinsanspruches für den Wucherer
nicht den Zweck habe, der strafrechtlichen Strafe gegen den Wucherer noch
eine weitere Privatstrafe hinzuzufügen77.
Die Mitglieder der beiden BGB-Kommissionen hatten niemals daran gedacht, dem Wucher freien Lauf zu lassen. Aber sie wollten in der Gesetzgebungstechnik und Gesetzessystematik die bisherige Linie fortschreiben und
den Wucher in der gleichen Weise wie die früheren Gesetzgeber treffen, nämlich als einen der Tatbestände außerhalb des BGB, der von der Nichtigkeit gesetzwidriger Geschäfte (heute § 134 BGB) getroffen wird. Es wäre also so geblieben wie schon 1880 und 1893: das Wuchergeschäft entsprechend der
Definition im Strafgesetzbuch wäre pönalisiert und wäre außerdem hinsichtlich seiner zivilrechtlichen Wirkungen nichtig gewesen.
70 Dagegen Reichensperger (Zentrum), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess,
850 (34. Sitzung, 20.4.1880). Dagegen auch Wolffson (Nationalliberal), aaO 852.
71 Dagegen, und deswegen gegen die Nichtigkeit des Verzinsungsanspruchs des Wucherers: Wolffson (Nationalliberal), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 852
(34. Sitzung, 20.4.1880).
72 Schulze-Delitzsch (Fortschrittspartei), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess,
1213 (47. Sitzung, 7.5.1880).
73 Dagegen: Witte/Schweidnitz (Nationalliberal), Landgerichtsdirektor in Breslau, Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 1221 (47. Sitzung, 7.5.1880).
74 Dafür: Kiefer (Nationalliberal), Landgerichtsdirektor in Freiburg, Sten Berichte, Verh d
RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 1222 (47. Sitzung, 7.5.1880).
75 Kiefer (Nationalliberal), Landgerichtsdirektor in Freiburg, Sten Berichte, Verh d RT, 4.
Leg-Periode, 3. Sess, 1222 (47. Sitzung, 7.5.1880).
76 Wolffson (Nationalliberal), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 852 (34. Sitzung, 20.4.1880).
77 Von Marschall-Bieberstein (Konservativ), Berichterstatter der Kommission, Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 854 (34. Sitzung, 20.4.1880).
93
Hans-Peter Benöhr
Als sich in der Reichstagskommission die Meinung durchsetzte, dass der
Wucher im BGB selbst namentlich erfasst werden sollte, tat man nichts anderes, als den im Strafgesetzbuch vorgefundenen und dort beibehaltenen Wuchertatbestand wörtlich – nur um ein Weniges zu Gunsten des Bewucherten
erweitert – auch in das Zivilgesetzbuch zu übernehmen78. Zu einer Diskussion
über die eigentliche zivilrechtliche Bedeutung des Wuchers ist es nie gekommen.
Der Gedanke, dass die Bestrafung für den „Wucher“ einerseits und der zivilrechtliche Schutz des Benachteiligten andererseits nicht nur nach unterschiedlichen Rechtsfolgen, sondern schon nach unterschiedlichen Voraussetzungen
verlangte, wurde kaum aufgenommen.
Der Gedanke findet sich – abgesehen von der Behandlung der laesio enormis – in denjenigen neueren Entwürfen verwirklicht, welche als Wucher nicht
die Ausbeutung der Unterlegenheit des Benachteiligten bekämpfen, sondern
die Regelungen eines Zinsmaximum wiedereinführen wollten79. Deren strafrechtliche Sanktion sollte Gewohnheitsmäßigkeit oder Verschleierung des
Sachverhältnisses oder Gewinnsucht und Kenntnis der Unterlegenheitssituation voraussetzen, während die zivilrechtliche Voraussetzung sich auf die
Überschreitung des Maximums und die zivilrechtliche Folge sich auf die Rückgewähr der schon gezahlten Übermaßzinsen beschränken würde. In der hessischen Kammer wollte man „wucherische Verträge für ungültig erachten, auch
wenn es an einem der für die Strafbarkeit des Wuchers erforderlichen Requisite, namentlich der schwer festzustellenden Ausbeutung, fehle“. Bei der Beratung des Wuchergesetzes von 1893 wurde diese Frage an die BGB-Verfasser
78 Enneccerus (Nationalliberal), Berichterstatter der Kommission, Sten Berichte, Verh d RT,
9. Leg-Periode, 4. Sess, 2772 (110. Sitzung, 20.6.1896): „muss ich darauf hinweisen, dass
der § 134 Abs 2 (endgültig § 138 Abs 2) verbotenus in jeder Beziehung mit dem Wuchergesetz übereinstimmt mit der einzigen Ausnahme, dass das Erfordernis der Gewohnheits- und Gewerbsmäßigkeit wegfällt.“ – Gröber (Zentrum), in derselben Sitzung,
2770: es sei „ganz wörtlich die Wucherbestimmung des Strafgesetzbuchs hier aufgenommen, mit der einzigen Abweichung, dass kein Unterschied gemacht ist zwischen Kreditwucher und Sachwucher“. – Wegen dieser Abweichung wäre es heikel gewesen, die Wucherbestimmung zur Gesetzwidrigkeit (heute § 134 BGB) zu ziehen, wie Gröber es
bevorzugt hätte; dieselbe Sitzung, 2763.
79 (Gesetzesentwurf, eingebracht von Reichensperger, Zentrum, 4.3.1879) Antrag, Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, Anlagen, Nr 40, 400 f.; Kommissionsbericht
(Gesetzentwurf betreffend den Wucher), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3.
Sess, 1880, Anlagen, Nr 116, 766, Anlage B (16.4.1880); Rintelen (Zentrum), Oberjustizrat, Berlin, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 713 (30. Sitzung, 3.2. 896);
Kommissionsbericht BGB, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, Anlagen,
Nr 440, 1963 (Antrag von Gröber).
94
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
weitergegeben80, wurde jedoch nur von wenigen gehört81. So kam es zu dem
noch heute bestehenden Erfordernis der „Ausbeutung“ in § 138 Abs 2 BGB.
Der Gesetzgeber hatte „die Hereinziehung moralisierender oder strafrechtlicher Gesichtspunkte“ in das BGB und deswegen – als ein Beispiel aus einem
anderen Bereich – die Abstufung des Schadenersatzes je nach der Art oder dem
Grad des Verschuldens abgelehnt82. Der Strafgedanke im Zivilrecht ist auch
heute mit den wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts nicht vereinbar83. Nach der Formulierung des § 138 Abs 2 wird man aber in der Nichtigkeitsfolge schon eine strafende Reaktion auf das als „Ausbeutung“ missbilligte
Verhalten des Profiteurs sehen können84.
Die von uns befürwortete Stärkung des Schutzes des Benachteiligten dürfte
auch der Stärkung der dem Benachteiligten zu gewährenden Privatautonomie85 und der Verwirklichung sozialer Menschenrechte im Privatrecht86
dienen.
80 Bericht der X. Kommission, Gesetzentwurf betreffend Ergänzung der Bestimmungen
über Wucher, Sten Berichte, Verh d RT, 8. Leg-Periode, 2. Sess, 1892/93, Anlagen,
Nr 141, 768 (4.3.1893).
81 In der Reichstagskommission und im Plenum von Gröber. Im Plenum erinnerte noch
von Dziembowski-Pomian (Pole), an die frühere Forderung, die Nichtigkeit auszusprechen, „wenn der Tatbestand des Wuchers ohne das Requisit der ‚Ausbeutung der Notlage‘ vorliege“, Sten Berichte, Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2768 (110. Sitzung,
20.6.1896).
82 I. Ebert, Pönale Elemente im deutschen Privatrecht (2004), 248: Mot II, 17 f = Mugdan
II, 10.
83 BGHZ 118, 312, 338 ff, vom 4.6.1992, zur Unvereinbarkeit von punitive damages mit
dem deutschen ordre public.
84 C. Horter, Der Strafgedanke im Bürgerlichen Recht (2003), 4 ff, meint, „Strafe“ setze ein
„begangenes Unrecht“, und zwar „einen schuldhaften Verstoß“ voraus. Wegen dessen
werde dem Täter ein „Übel zugefügt“, welches „für das Opfer zu einem unmittelbaren
Vorteil werde“. Dabei werde „gegen den Täter eine Übermaßsanktion verhängt“, es
werde auf ihn und nicht „auf das Opfer geschaut“. Strafzweck sei die Prävention, nämlich die „Vorbeugung gegen zukünftige unerwünschte Ereignisse“. Horter kann daher in
der Nichtigkeitssanktion allein eine Strafe nicht sehen.
85 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 89, 214 ff) forderte eine Vertragskorrektur bislang nur, wenn „eine typisierbare Fallgestaltung, die eine strukturelle Unterlegenheit des
einen Vertragsteils erkennen lässt“, vorliegt und wenn „die Folgen des Vertrages für den
unterlegenen Vertragsteil ungewöhnlich belastend“ sind.
86 J. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat (1999), 119, hat die Verwirklichung sozialer Menschenrechte auch im Privatrecht beobachtet, nämlich „überpositive Rechte, die materiellen, informationellen, ideellen oder gruppenspezifischen Schutz gewährleisten, mit dem
gemeinsamen Telos, ergänzend zu den liberalen Menschenrechten vor allem die faktischen Voraussetzungen für Freiheit und Demokratie zu schaffen, materielle Gleichheit
und Rechtsfrieden herzustellen und umfassend die Menschenwürde zu wahren“. Neuner, Privatrecht und Sozialstaat, 107 f, 270, meint, soziale Menschenrechte sollten auch
dem Schutz bei fehlender Verantwortlichkeit dienen, und zwar als soziales Paradigma
95
Hans-Peter Benöhr
IV. Schutz und Hilfe ohne Schuld
1880, bei den Beratungen des ersten Wuchergesetzes, war nur kurz davon die
Rede, dass „der Mensch, der hilflos den Geldmenschen preisgegeben ist, durch
die Gesetzgebung irgendeinen Schutz erfahren muss“87, „dass man dem, dessen Notlage missbraucht worden ist, dessen Unerfahrenheit ausgebeutet
wurde, dass man diesem ausnahmsweise Hilfe gewähren muss“88. Der Initiator
des heutigen § 138 Abs 2 bekräftigte im Plenum, dass die Bestimmung „insbesondere auch die wucherische Ausbeutung von Lohn- und Mietverträgen wenigstens zivilrechtlich allgemein“ treffen und damit „nicht bloß dem Arbeiterstand, sondern den Kleinen und Schwachen überhaupt zu Gute“ kommen
sollte89. Selbst ein Gegner der Einführung hob „den humanitären Grundgedanken . . ., Bewucherte dadurch schützen zu wollen, dass die Rechtsgeschäfte
zivilrechtlich für ungültig erklärt werden“, hervor90.
Der Einwand legt nahe, dass der Schutz des Schwächeren nicht auf Kosten
des in diesem Sinne „Stärkeren“ gehen darf, wenn den „Stärkeren“ keinerlei
Schuld an dem anfänglichen Kräfteungleichgewicht und an dem Ergebnis des
„auffälligen Missverhältnisses“ zwischen den Leistungen trifft. Dieser Einwand ist zum einen grundlos, denn das Verschuldenserfordernis ist nur für
den Schadenersatz, nicht für die Ungültigkeit eines Rechtsgeschäfts nachgewiesen.
Zum anderen haben wir in der antiken Regelung der laesio enormis das Beispiel für die Aufhebung und Änderung von Rechtsgeschäften wegen Ungleichheit der Vertragsleistungen ohne Rücksicht auf eine Ausbeutung durch
den Profiteur91. Die „erhebliche Übervorteilung“ führte nach Codex 4, 40, 2
und 4, 40, 8, zur Vertragsaufhebung oder -änderung, wenn der Verkäufer als
Preis noch nicht einmal die Hälfte des üblichen Wertes des verkauften Gutes
87
88
89
90
91
96
bei mangelnder Zurechnungsfähigkeit und als liberales Paradigma bei Fremdbestimmung. – Wohl weitergehend als Neuner können wir heute es schon als soziale und liberale Forderung ansehen, dass unter den Parteien materiale Gleichheit herrsche und dass
unerträgliche Ergebnisse, die aus materialer Ungleichheit erwachsen sind, verhindert
oder ausgeglichen werden.
Kayser (SPD), Verh d RT, 4. Leg-Periode, 3. Sess, 835 (34. Sitzung, 20.4.1880).
Dreyer (Nationalliberal), Sten Berichte, Verh d RT, 4. Leg-Periode, 2. Sess, 757 (30. Sitzung, 31.3.1879).
Gröber (Zentrum), Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2762 (110. Sitzung, 20.6.1896).
Haußmann (Deutsche Volkspartei), Verh d RT, 9. Leg-Periode, 4. Sess, 2762 (110. Sitzung, 20.6.1896).
Lagen etwa Irrtum, Täuschung, Drohung, dolus oder Minderjährigkeit vor, kam es auf
die Zins- und Preisbestimmungen ohnehin nicht an. Spätestens seit Justinian war es anerkannt, dass Irrtum des Benachteiligten oder dass Täuschung oder Drohung seitens des
vertraglich Begünstigten dem Benachteiligten Rechtsbehelfe jenseits der Bestimmungen
über die laesio enormis lieferten.
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
erhalten hatte. Die überlieferte Regelung, stamme sie nun im Wesentlichen von
Diokletian92 oder weitgehend erst von Justinian, galt hierzulande, bis sie 1867
aufgehoben und 1896 bewusst nicht wieder eingeführt wurde. Das Reichsgericht lehnte es ab, „den durch das neue Reichsrecht beseitigten Grundsätzen
. . . auf dem Umwege des § 138 Abs 1 BGB wieder zur Geltung zu verhelfen“93.
Dennoch zeigt diese Quelle, die mehr als eineinhalb Tausend Jahre zu den
Kernbestandteilen des fast überall in Europa geltenden ius commune gehörte94,
„die einmal schon bewährte Praktikabilität eines Regelungsmusters“95. Wir
haben auch am Ende des 19. Jahrhunderts Wuchergesetzesentwürfe des Zentrums und andere Äußerungen, die – wie wir gesehen haben – die zivilrechtliche Sanktion von einem bewussten Fehlverhalten des Profiteurs ablösen.
Drittens sehen nicht wenige Ungültigkeitsgründe des BGB von dem
Verschulden des Geschäftsgegners gänzlich ab96. Man denke an die Bestimmungen über das Fehlen der Geschäftsfähigkeit (und die Rechtsfolgen für den
geschäftsfähigen Vertragspartner), an die Irrtumsanfechtung (und die Rechtsfolgen für den Anfechtungsgegner), bestimmte Rücktritts- und Kündigungsbefugnisse, gewisse Pfändungs-, Abtretungs- und Aufrechnungsverbote. Besonders lehrreich ist die Befugnis des Richters, eine unverhältnismäßig hohe
Vertragsstrafe herabzusetzen97. Dieser § 343 wurde unter dem Eindruck der
92 Mayer-Maly, in FS Larenz, 395 f; ders, Römisches Privatrecht (1991), 3 und 111.
93 RGZ 64, 181 f, Urteil vom 13.10.1906. BGHZ 80, 153, 156, Urteil vom 12.3.1981, erklärt lapidar: „eine Anknüpfung an Grundsätze einer Rechtsordnung der Vergangenheit
(an die ‚laesio enormis‘ des gemeinen Rechts) ist verfehlt“.
94 Mayer-Maly, in FS Larenz, 395 ff, zitiert unter den Folgenormen den Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, das ALR, den Code civil und das ABGB (mitsamt der Neufassung des § 935). – Dreyer (Nationalliberal), Reichsgerichtsrat, Verhandlungen des
Reichstags, 4. Leg-Periode, 31.3.1879, 759, hatte bei den ersten Verhandlungen über ein
Wuchergesetz (1880) verschiedene zivilrechtliche Lösungen vorgestellt und dabei auch
auf den damals in weiten Teilen Deutschlands geltenden, heute auch in Frankreich aufgehobenen Artikel 484 Code civil hingewiesen, damals wie folgt übersetzt: „Die Verbindlichkeiten, welche der emanzipierte Minderjährige durch Kauf oder auf andere Weise
übernommen hat, können, falls sie übermäßige sind, gemindert werden. – Die Gerichte
sollen in dieser Beziehung auf das Vermögen der Minderjährigen, auf den guten oder bösen Glauben derjenigen, die mit ihnen kontrahiert haben, und die vorhandene oder fehlende Nützlichkeit der Ausgaben Rücksicht nehmen“.
95 Mayer-Maly, in FS Larenz, 409.
96 Zu der dadurch erfolgten „Kompensation gestörter Vertragsparität“ s die auch vom Bundesverfassungsgericht herangezogene Arbeit dieses Titels von Hönn (1982) pass – Schon
früher: H. Weitnauer, Der Schutz des Schwächeren im Zivilrecht (1975) pass.
97 „Sämtliche Anträge bezwecken, die Vertragsfreiheit hinsichtlich der Höhe der Strafe zu
beschränken“. Das Hauptbedenken richtete sich „gegen die Einführung eines richterlichen Ermäßigungsrechts“. Aber alle Bedenken seien „nicht schwerwiegend genug, um
mit dem (Ersten) Entwurf auf eine Beschränkung der Vertragsfreiheit hinsichtlich der
Höhe der Vertragsstrafen ganz zu verzichten. Von der überwiegenden Mehrzahl der Kritiker, von der Presse, von dem 20. Juristentage, dem Preußischen Landes-Ökonomie-
97
Hans-Peter Benöhr
„öffentlichen Meinung“, dem „Zuge der Zeit“ folgend eingeführt, um den
„hervorgetretenen Missständen“ entgegen zu treten98. Niemandem fiel es damals ein, den Schutz des Schuldners von einem Verschulden des Vertragsstrafegläubigers abhängig zu machen.
Man darf nicht das Sozialmodell nur des BGB, ohne Blick auf die vollständige Gesamtrechtsordnung, ins Auge fassen, um einen Spiegel von Gesellschaft und Staat mitsamt ihren Grundlagen zu erhalten99. Neben dem BGB
stehen von Anfang an beispielsweise ein weitgreifender Pfändungsschutz, der
auch den Arbeitslohn umfasst und gegen Aufrechnung und Abtretung sichert,
die Arbeitsschutzbestimmungen (neben denen des BGB) der Gewerbeordnung und des HGB, das Reichshaftpflichtgesetz, die Sozialversicherungsgesetze, das Abzahlungsgesetz und andere Bestimmungen.
Dieses also ist die Welt am Ende des 19. Jahrhunderts, in der wir § 138 BGB
finden. In diese Welt würde die Verbesserung des Schutzes des Benachteiligten, durch Verzicht auf das Merkmal der verwerflichen Gesinnung des Profiteurs, gut passen. Hundert Jahre später würde sich diese revidierte Regelung
auf das Beste in das neue Programm des BGB, das dem Verbraucher Rücktrittsrechte einräumt ohne nach dem Verhalten des Unternehmers zu fragen,
einfügen.
V. Andere Rechtsordnungen
Eine der fortschrittlichsten Privatrechtskodifikationen, das niederländische
Bürgerliche Gesetzbuch von 1992100, sowie die Principles of European
Contract Law (Lando Commission) von 1999101 stellen, wie § 138 Abs 2
BGB, darauf ab, ob die andere Partei die Schwächesituation des Übervorteilten
Kollegium, von der größeren Zahl der Bundesregierungen sei eine solche Beschränkung
dringend verlangt worden“, Protokolle der Kommission für die zweite Lesung, Bd I
(1897), 781 ff, Prot Nr 93.
98 Im Ersten Entwurf noch nicht vorgesehen, s Motive zu dem Entwurfe eines BGB, Bd II
(1888), 278, zu § 421 des Ersten Entwurfs. Vorgeschlagen in der Vorkommission des
Reichsjustizamts von dem bayerischen Kommissionsmitglied, Jacubezky; s H. H. Jakobs/ W. Schubert (Hrsg), Die Beratung des BGB in systematischer Zusammenstellung
der unveröffentlichten Quellen, Recht der Schuldverhältnisse I (1978), 546, zu § 343.
99 Heutzutage meistens ziemlich zurückhaltende Beurteilung der „Sozialpolitik“ und des
„Richterbildes“ des BGB, so auch noch bei H. Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und
die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs (1995), insb 312 ff und 341 ff. – 1896 erwartungsgemäß durchgängige Kritik bei: Th. Vormbaum (Hrsg), Die Sozialdemokratie
und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Quellen aus der sozialdemokratischen Partei und Presse2 (1997) pass.
100 Burgerlijk Wetboek, Boek 3, Artikel 44.
101 Article 4:109.
98
Schutz dem Ausgebeuteten oder Strafe dem Ausbeuter?
gekannt hat oder hätte kennen müssen. Die Principles of International Commercial Contracts von 1994, Unidroit, verlangen in ganz allgemeiner Weise,
dass die andere Partei „has taken unfair advantage“ in Bezug auf die Schwächesituation102.
VI. Weitere Fragen
Eine größere Diskussion verdiente der Gedanke, die Beweislast für das Fehlen
der Unterlegenheit des Übervorteilten dem Profiteur zuzuweisen. Noch wichtiger erschiene die Frage, ob man an der von Gesetzes wegen eintretenden
Nichtigkeitsfolge festhalten wollte oder ob es richtiger wäre, statt ihrer den
Parteien die Befugnis zu gewähren, zwischen Vertragsvernichtung und Vertragsanpassung zu wählen, auch hierfür bietet die antike Regelung der laesio
enormis bereits ein Beispiel103.
VII. Zusammenfassung
Man sollte – auch auf Grund der Entstehungsgeschichte des § 138 – de lege lata
Mayer-Malys Vorstoß unterstützen, Verträge gemäß § 138 Abs 1 für sittenwidrig und deswegen für nichtig zu erachten, die (1) durch ein auffälliges Missverhältnis der gegenseitigen Leistungen und (2) durch eine Unterlegenheit des Benachteiligten charakterisiert sind. Auf das Erfordernis eines zusätzlichen
gravierenden Umstandes, insbesondere auf das Merkmal der verwerflichen
Gesinnung des Profiteurs, ist zu verzichten.
Weitergehend als Mayer-Maly würde ich diese Interpretation nicht auf die
Rechtsgeschäfte zwischen Gewerbetreibenden und Nichtgewerbetreibenden
beschränken. Ich will auch nicht der „legislatorischen Unbeholfenheit“ das
Wort reden, „die laesio enormis in den Dienst des Verbraucherschutzes zu stellen“, wie es der österreichische Gesetzgeber getan hat104. Ich würde die vorgeschlagene Interpretation auch auf Geschäfte zwischen Gewerbetreibenden
oder zwischen Privatleuten anwenden.
Für diese Interpretation sprechen die Sittenwidrigkeitsrechtsprechung zu
anderen Fallgruppen, in der das Merkmal der Verwerflichkeit nicht von Bedeutung ist, vor allem die vielen Bestimmungen des BGB zum Schutz eines
Vertragspartners ohne Rücksicht auf die Vorstellungen oder den Willen der
102 Article 3.10.
103 C 4, 44, 2: Vertragsaufhebung oder – nach Entscheidung des Profiteurs – Aufrechterhaltung des Vertrages bei Zuzahlung der Differenz zwischen dem vereinbarten niedrigeren Preis und dem angemessenen, höheren Preis.
104 Dagegen schon Mayer-Maly, in FS Larenz, 398 f.
99
Hans-Peter Benöhr
anderen Vertragspartei, nicht zuletzt die Erfahrung der Rechtsgeschichte,
einen Ausgleich bei einem Leistungsmissverhältnis zu erzwingen, ebenfalls
ohne nach dem sonstigen Verhalten oder der Absicht des Profiteurs zu fragen.
Der Hauptgrund für diese neue Interpretation ist der Wechsel der Perspektive von der Bestrafung des Profiteurs hin zu dem Zweck des Schutzes und der
Hilfe für den Benachteiligten.
In eine andere Richtung gehend als Mayer-Maly würde ich aus denselben
Gründen eine Änderung des § 138 Abs 2 befürworten und dort auf das Tatbestandsmerkmal der „Ausbeutung“ verzichten. Hierfür spricht außerdem die
bisher nicht reflektierte Herkunft dieser Regel aus dem Strafrecht.
100

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