Peter-Klaus Schuster: Licht und Schatten. Zur Dialektik der
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Peter-Klaus Schuster: Licht und Schatten. Zur Dialektik der
Peter-Klaus Schuster Licht und Schatten Zur Dialektik der Aufklärung in der Kunst Für Werner Hofmann Die 1784 in Berlin veröffentlichte Antwort Immanuel Kants (1724-1804) auf die Frage ›Was ist Aufklärung?‹, – "Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" –, veranschaulichten die Künstler seiner Zeit, wie hier gezeigt, mit viel Licht gegen die vorherrschenden Schatten der gesellschaftlichen Verhältnisse. Trotz solch optimistischer Erhellung nahmen mit fortschreitender Aufklärung die Schatten freilich nicht ab. Die 1944 im Exil in Los Angeles verfasste und 1947 in Amsterdam publizierte ›Dialektik der Aufklärung‹ von Max Horkheimer (18951973) und Theodor W. Adorno (1903-1969) machte dies mit ihrem erschreckenden Gegenbild einer am Traum der Vernunft nach absoluter Rationalität gescheiterten Aufklärung drastisch deutlich. Die Aufklärung gilt ihnen als inhuman und totalitär, weil sie alles Leben und jede Gesellschaft rigide dem rationalen Gesetz der Zahl unterwirft. Der Schatten, der damit die Aufklärung trifft, ist allerdings bemerkenswerterweise ein Schatten, um den, wie hier an Dürers Meisterstich demonstriert, schon die Renaissance als eine Aufklärung vor der Aufklärung hinreichend deutlich wusste. Denn sie thematisierte bereits die delikate Psyche jener Menschen, denen öffentliche Aufklärung vorzüglich zu verdanken ist. Es ist die seit der Antike ausführlich beschriebene, zutiefst zwiespältige Disposition der dem Bereich des Dunklen zugeordnete Melancholie, die dann – wie Francisco de Goyas (1746-1828) Beispiel zeigt – von den Aufklärern um 1800 souverän genutzt wird, um mit der Lizenz des genialen Wahnsinns, wie er nur dem Melancholiker zu Gebote steht, jede mögliche Zensur zu unterlaufen. Und selbst in der bürgerlichen Welt vermeintlich trockener Kalenderkupfer und Lehrtraktate wird um 1800 unverändert um die besondere Disposition der Aufklärer gewusst, deretwegen sie bis in unsere Gegenwart als ebenso ausgezeichnet wie gefährdet und deshalb im besonderen Maße als suspekt gelten. Die ›Dialektik der Aufklärung‹, im 20. Jahrhundert einer der entscheidenden Texte philosophisch fundierter Gesellschaftskritik, zählt in der Bildgeschichte der europäischen Aufklärungen zu einem der Leitthemen visueller Reflexion über die komplexe Natur des Menschen und seiner Versuche, die Welt zu bessern. 1 Voltaire Nur weil so viel Schatten ist, wirkt das Licht der Aufklärung erhellend. Voltaire (16941778), im Scherenschnitt von Jean Huber einzig im schwarzen Umriss sichtbar, leuchtet mit einer Lampe in seiner Hand auf das, was vor ihm liegt. Der französische Denker, als das ›Licht des Jahrhunderts‹ gerühmt, sucht nach dem Vorbild des antiken Philosophen Diogenes mit der Lampe in seiner Hand die Wahrheit. ›J´éclaire‹ – ›ich kläre auf‹ – ›Aufklärung‹ nennt Voltaire im Habitus eines leicht gebeugt Nachvorngehenden sein offenbar mit Neugierde und Vorsicht verbundenes Geschäft, in die Dunkelheit zu leuchten. Eine Dunkelheit, die – wie Voltaires schwarze Gestalt zeigt – auch ihn umgibt. Weshalb er seine Absichten diskret im Geheimen und Verborgenen vorbereiten kann, um danach als Agent der Aufklärung umso größere Wirkung und Überraschung zu erzielen. Chodowiecki Ganz anders erscheint das Licht der Aufklärung bei Daniel Chodowiecki (1726-1801). Es ist hier nicht die mutige Tat des Einzelnen, der getreu der Kantschen Maxime ›Wage zu wissen‹ (Sapere aude) sich selbst um die Klarheit des Wissens bemüht. Chodowiecki, wegen seines protestantischen Glaubens aus Frankreich vertrieben und im Preußen Friedrich des Großen (1712-1786) als Einwanderer wohlgelitten, zeigt Aufklärung in der Lichtflut der Sonne als Naturereignis. Über einer dörflichen Landschaft mit spitzem Kirchturm mitten in Deutschland strahlt weithin die aufgehende Sonne der ›Aufklärung‹, wie uns Chodowieckis Radierung mit ihrer Inschrift kundtut. Die weitergehende Erläuterung des Kupfers für den ›Göttinger Taschen Calender für das Jahr 1792‹ durch den Göttinger Aufklärer, Naturwissenschafter, Schriftsteller und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) problematisiert jedoch diese Landschaftsidylle mit Pferdefuhrwerk: "Dieses höchste Werk der Vernunft (= die Aufklärung) ... hat bis jetzt noch kein allgemeines verständliches allegorisches Zeichen (vielleicht weil die Sache selbst noch neu ist), als die aufgehende Sonne. Es wird wohl auch lange das schicklichste bleiben, wegen der Nebel, die immer aus den Sümpfen, Rauchfässern und von Brandopfern auf Götzenaltären aufsteigen werden, die sie so leicht verdecken können. Indessen wenn die Sonne nur aufgeht, so schaden Nebel nicht." Die von Lichtenberg erwähnten Nebel, welche die Gegner der Aufklärung erzeugen, um so die Sicht zu behindern, sind als weißer Dampf über und hinter dem Dorf auf seinem Kupfer sehr wohl zu erkennen. Wenn die meteorologischen Details selbst einer so bescheidenen Landschaftsdarstellung mit derart deutlicher Kritik auf die herrschenden gesellschaftlichen Zustände abzielen, um wie viel mehr gilt dies dann von den Nebellandschaften und ihren Schatten in der wenig späteren deutschen Romantik? Vom Künstler als "politische Landschaft" aufgefasst, wird auf Chodowieckis Kalenderkupfer plötzlich offenkundig, dass der freie Verkehr aller Waren und geistiger Güter, dass Orientierung, Beweglichkeit und Austausch, dargestellt im Fuhrwerk und den Reisenden, erst das Verdienst der alles erhellenden Aufklärung ist, für welche Chodowiecki das Sinnbild der strahlenden Sonne gewählt hat. Mit diesem Natursinnbild ist freilich auch intendiert, dass die Aufklärung von keinerlei kirchlicher wie politischer Autorität zu verhindern ist. Der Aufgang der Sonne ist nicht aufzuhalten! Zugleich gilt aber auch, dass das Licht der Aufklärung egalitär auf die Kirche und ebenso natürlich auch auf die Hütten wie Paläste fällt. Niemand kann sich dem Licht der Aufklärung entziehen, weder die 2 Reisenden, noch der Kutscher des Fuhrwerkes, noch die Bewohner der entfernt liegenden Ortschaft, jeder hat an ihr Anteil! Schick Anteil an der Aufklärung, deren rasche Verbreitung auch in Deutschland im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gesehen wurde, haben nicht nur die Männer, sondern ebenso die Frauen. Programmatisch anschaulich wird dies auf Christian Gottlieb Schicks (1776-1812) Porträt der Heinrike Dannecker (1773-1823) von 1802. Die Dargestellte war die erste Frau des klassizistischen Bildhauers Johann Heinrich Dannecker (1758-1841) und entstammte einer wohlhabenden und kunstsinnigen Stuttgarter Kaufmannsfamilie. Mit übergeschlagenem Bein und zum Kinn erhobener Hand sitzt die junge Heinrike bei Schick in freier Landschaft auf einem kubischen Steinblock, dessen Profilierungen ihn wie ein antikes Architekturfragment aussehen lassen. Die Farben ihrer Kleidung – Rot, Weiß, Blau – sind ebenso eine Anspielung auf die französische Trikolore wie ihre Haartracht an die phrygische Mütze der französischen Revolutions- beziehungsweise Freiheitsallegorien erinnert. Als eine freie Natur in freier Landschaft, hat Schick, soeben als Schüler des Revolutionskünstlers Jacques-Louis David (1748-1825) aus Paris nach Stuttgart zurückgekehrt, seine Jugendfreundin Heinrike dargestellt. Ihr ganz unbefangen freundlicher Blick auf den Betrachter spricht kaum weniger für ihr selbstbewusstes Wesen wie ihr anspruchsvolles Dasitzen in einer anmutig kultivierten Landschaft, die sich vor ihr im Sonnenlicht weit ausbreitet. Das helle Licht der Sonne fällt direkt auch auf Heinrike, womit sie in Übereinstimmung mit Lichtenbergs gesellschaftskritischen Wetterangaben auf Chodowieckis Kalenderkupfer als sonnenbestrahlt Sinnende und Schauende den Prinzipien der Wahrheit und der Aufklärung zugewandt und – mehr noch – ihrer teilhaftig ist. Wohl weniger eine Personifikation politischer Freiheit im damaligen Herzogtum Württemberg in den Farben der französischen Revolution hat Schick in seinem Porträt der Heinrike Dannecker vorgestellt. Vielmehr erscheint uns Heinrike inmitten zivilisierter Natur, im Sonnenlicht geradezu ins Monumentale modelliert, als beispielhafte Repräsentantin eines von den Menschheitsidealen der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – aufgeklärten weiblichen Selbstbewusstseins, deren Blumen in ihrer linken Hand uns zugleich ihre zartfühlende Empfindsamkeit mitteilt. Dürer Der Optimismus um 1800, dass die Aufklärung wie ein unabwendbares Naturphänomen gleichsam ein einziger Fortschritt von der Dunkelheit der Unwissenheit zum Licht der Wahrheit sei, hat freilich eine weit kritischere Vorgeschichte. Sie beginnt um 1500, als mit der so genannten Neuzeit in Europa nach dem vermeintlich dunklen, weil von der Autorität der christlichen Kirche bevormundeten Mittelalter, der von der Antike inspirierte Gedanke der Renaissance – oder wie Albrecht Dürer (1471-1528) sagte – "der Wiedererwachsung" des Menschen und damit die erste Aufklärung in Europa ihren Anfang nahm. Das erste Aufklärungsbild, das bereits etwas von den gefährlichen Widersprüchen des menschlichen Wissensstrebens weiß, mithin die Ikone der Moderne ist Dürers Kupferstich von 1514 ›MELENCOLIA . I‹. Wieder strahlt weithin sichtbares Licht am 3 Himmel. Doch es ist nicht die Sonne, sondern die geheimnisvolle Lichterscheinung eines Kometen, dessen weitausgreifende Strahlen den gesamten Himmelsraum sogartig zusammenfassen. Darüber wölbt sich ein Regenbogen. Trotz dieser Lichtfülle am Himmel, – eine weitere Lichtquelle liegt rechts vor dem Bild –, wirkt die dargestellte Szene durchaus nächtlich. Wie eine melancholische Schwester von Schicks schauend sinnender ›Heinrike Dannecker‹, der sie um Jahrhunderte vorausgeht, sitzt Dürers nicht weniger monumental gesehene bekränzte Melancholiefigur versunken in tiefem Nachdenken in völliger Nachteinsamkeit in freier Landschaft auf einer steinernen Aussichtsterrasse hoch über einer weiten Küstenlandschaft. Ihr tief verschattetes Gesicht wird nur vom Kometen und Regenbogen geheimnisvoll erleuchtet. In ihrer nächtlichen Einsamkeit, in der sie einzig ein eifrig kritzelnder Putto und ein schlafender Hund begleiten, während eine Fledermaus gespenstisch am Himmel flattert, sitzt Dürers engelsgeflügelte Melancholiefigur umgeben von einer Vielzahl von Geräten, die alle dem ›Vermessen‹ und ›Beherrschen‹ der Welt hilfreich sind, mit aufgestütztem Kopf am Fuß einer turmartigen Architektur. In ihren Händen hält sie untätig einen Zirkel. In ihrem Schoß liegt ein geschlossenes Buch. Anscheinend wie gelähmt dasitzend, ist Dürers Melancholiefigur, in der einzig Aby Warburg (1866-1929) dezidiert die "denkende Eigentätigkeit der angestrahlten Kreatur" und damit eine Präfiguration der Aufklärung gesehen hat, nach der allgemein verbreiteter Deutung eine Personifikation der Trauer und Resignation über die Vergeblichkeit des menschlichen Wissensstrebens im Angesicht der Schöpfung und ihrer göttlichen Geheimnisse. Das faustische Wissensstreben am Beginn der Neuzeit, der menschliche Drang, alles wissen zu wollen, sei hier bereits von Dürer auf seinem Melancholiekupferstich – als einem Warnblatt für alle zukünftigen Aufklärungen – als trauriges Scheitern dargestellt. Entsprechend hat man das Zeichen ›I‹ im Titulus deshalb auch als Imperativ des lateinischen Wortes ›ire‹ aufgelöst, womit Dürer habe sagen wollen, Melancholie gehe weg, entweiche! Eine solche Deutung, die wir ganz fraglos dem Dürerschen Melancholieblatt glauben ablesen zu können, widerspricht jedoch völlig jenem Melancholiekult, den die Humanisten der Renaissance zuerst im Umkreis von Marsilio Ficino (1433-1499) und der platonischen Akademie in Florenz im Rückgriff auf die Antike betrieben haben. Dieser Melancholiekult hat seitdem die elitäre Selbstwahrnehmung der europäischen Intellektuellen bis zur Aufklärung und weit darüber hinaus geprägt hat. Schon für Aristoteles, überliefert in der pseudoaristotelischen Schrift ›Problemata‹ (XXX,1), war unter den vier Temperamenten des Menschen (sanguin, cholerisch, melancholisch, phlegmatisch) einzig der Melancholiker auf Grund seiner herausragenden geistigen Begabung zu großen Taten in allen Künsten, Wissenschaften, aber auch in der Politik und in der Philosophie fähig. Alle großen Menschen von genialer Begabung seien Melancholiker gewesen, oder umgekehrt, nur Melancholiker vermögen genial zu sein und der göttlichen Ideen teilhaftig zu werden. Auch Dürer hat sich nachweislich als Melancholiker empfunden und mit aufgestütztem Kopf als solcher dargestellt. Noch für Johann Casper Lavater (1741-1801) und William Blake (1757-1827) am Ende des 18. Jahrhunderts galt die Melancholie ganz fraglos als "die Mutter aller Künste". Ein Übermaß an Melancholie, hervorgerufen durch ein Übermaß schwarzgalliger Körpersäfte und deren übergroßer Erhitzung oder Abkühlung, was nach astrologischer Lehre wiederum dem gefährlichen Einfluss des dunklen Planeten Saturn geschuldet ist, führt beim stets labilen Melancholiker jedoch direkt vom göttlichen Genie in den verzweifelten Wahnsinn, zur Raserei, zur tiefen Depression, zu anhaltender Trauer 4 und zur völligen Lähmung, je nach der Komposition seines melancholischen Temperamentes. Einzig in einer wohltemperierten Mittellage – weder zu heiß, noch zu kalt –, so Aristoteles, befähige die schwarzflüssige Melancholie zu den größten Leistungen in Kunst, Wissenschaft, Philosophie und Politik. Die ›Dialektik der Aufklärung‹, wie sie unter der strahlenden Sonne Kaliforniens 1944 von Max Horkheimer und Theodor Adorno in ihrem Exil in Los Angeles formuliert wurde, die Verdunkelung der Vernunft durch ihre rücksichtslose Selbstüberschätzung zu einem Natur und Menschen verachtenden Wahnsinn der Vernunft, dem sich Alles und Jedes zu unterwerfen hätte, solche "Dialektik der Aufklärung", bei Horkheimer und Adorno hervorgegangen aus der sozialkritischen Analyse der totalitären Entartung der Gesellschaft durch das zweckrationale Denken von Kapitalismus, Faschismus wie Positivismus ,wonach alles Leben und jede Gesellschaft rigide dem rationalen Gesetz der Zahl unterworfen werden, – alles muss sich rechnen, alles muss nützen und Gewinn bringen –, diese radikale Abrechnung mit einem "menschlichen Verstand", welcher vermeintlich "den Aberglauben besiegt" und geradezu totalitär "über die entzauberte Natur gebieten" soll, diese Analyse "der Selbstzerstörung der Aufklärung" hat mithin eine kaum weniger gefährliche Entsprechung auf der Seite des Individuums, in der Verherrlichung des Melancholiekultes und seiner Genielehre als Grund aller herausragenden Leistungen des menschlichen Denkens. So wie die aufklärende Vernunft nach Friedrich Schiller (1759-1805) – mit Blick auf die Schrecken der Französischen Revolution – nur segensreich wirken kann, wenn der Vernunft das Gefühl die Waage hält, ebenso ist auch die Melancholie nur von segensreicher Wirkung durch eine wohl balancierte maßvolle Lebensführung. Jedes Übermaß hat die verheerendsten Folgen für den Melancholiker. So wie Aufklärung durch Übermaß in ihr Gegenteil umschlägt, so vernichtet Melancholie im Übermaß all jene Gaben, die als ihre einzigartigen intellektuellen Auszeichnungen gelten. Aber auch umgekehrt gilt, dass die entscheidenden Impulse der lichtbringenden Aufklärung nach allgemeiner Überzeugung seit der frühen Neuzeit zumeist auf den außerordentlichen Begabungen der von der schwarzen Galle und dem dunklen Saturn ebenso gequälten wie inspirierten Melancholiker beruhen. Der Aufklärer als Intellektueller, als Denker, Wissenschaftler und Künstler, ist zumeist ein Melancholiker, der durch ein Überhandnehmen seiner Melancholie die Taten seiner Aufklärung in dunkles Verderben verwandelt. Die Segnungen wie die Gefahren der Aufklärung durch ihre Verabsolutierung des menschlichen Verstandes sind also engstens mit den Auszeichnungen wie Gefährdungen des melancholischen Temperamentes korreliert. Licht und Schatten, Melancholie und Aufklärung erscheinen so auf das Innigste miteinander verwoben. Das melancholische Genie bedarf mithin einer wohl ausbalancierten Mittellage seines melancholischen Temperamentes. Zu große Erhitzung der schwarzen Galle führt nach Aristoteles beim Melancholiker zu phantastischen Träumen und zum Wahnsinn, zu große Abkühlung hingegen zu Trauer, Stumpfsinn, Trägheit bis zur völligen Lähmung. Auf Dürers Kupferstich von 1514 hat also erstmals in der europäischen Kunst das menschliche Wissensstreben, das Streben nach Aufklärung, in der Verbindung mit dem melancholischen Temperament anschaulich eine höchst delikate Psyche bekommen. Und diesem mit der delikaten Psyche eines Genies versehenen Forschungsstreben hat Dürer durch die Verbindung mit der Mathematik höchsten Wahrheitsanspruch und größte Dignität verliehen, analog der biblischen Sentenz, dass Gott seine Schöpfung nach Maß, 5 Zahl und Gewicht geordnet habe. Eben darauf dürfen wird das Zeichen ›I‹ im Titulus beziehen. Denn nach der kanonischen Definition von Euklid ist ›Eins‹ keine Zahl, wohl aber das Fundament aller Zahlen, "Unus est fons et origo numerorum". Mithin ist die Eins das Fundament der gesamten Mathematik. ›Melancholie und Mathematik‹, diese auf seinem Kupferstich so umfassend dargestellte Verbindung, meint somit auch Dürers zweiteiligen Titulus ›MELENCOLIA . I‹ im ersten Bezugssystem der unmittelbaren Anschaulichkeit. Hinzu kommt als zweites Bezugssystem Dürers permanente Aufforderung zur Tugend, zum rechten Maß in allem Wissensstreben. Der Mensch kann nicht alles wissen! Für den frommen Christen Dürer gibt es ganz fraglos einen Wissensvorbehalt Gottes: "Was aber die Schönheit ist, weiß ich nicht". Allein Gott hat davon ein Wissen, "wem er es offenbart, der weiß es auch". Mit dem Blick zum Himmel, im Anblick des für die Astronomen der Dürerzeit noch unberechenbaren Kometen, erkennt Dürers Melancholiefigur somit die Grenze ihres Wissens, ihr Nichtwissen! Auch bei Dürer – wie später noch unverändert bei Chodowiecki – dient der Himmelsanblick, der Blick zum Licht des Himmels, also bereits höchster Aufklärung! In Dürers Fall der Aufklärung des Menschen über sein Nichtwissen. Solche ›Docta ignorantia‹, das Wissen des eigenen Nichtwissens, ist mit der Einsicht in die letztliche Unerklärbarkeit der göttlichen Schöpfung für die Humanisten die Vollendung des Wissens in devoter Frömmigkeit gegenüber der Größe Gottes. Zugleich begründet die ›Docta Ignorantia‹, das Wissen des Nichtwissens, den Ansporn zu jeder weitergehenden Wissensanstrengung und mithin den Fortschrittsgedanken aller aufgeklärten modernen Wissenschaften. So auch bei Dürer, der apodiktisch befand, wenn ihm auch die letzte Wahrheit verschlossen bleibe, werde er mit der Forschung keineswegs aufhören, "den viehischen Gedanken" – so Dürer – "nehme ich nit an". Keineswegs aber gilt das menschliche Wissensstreben für Dürer schon als das Gute per se. Die Menschen, so Dürer, haben Gutes und Schlechtes von den Künsten und Wissenschaften. Es gezieme dem vernünftigen Menschen, die Künste und Wissenschaften zu ihrem Besten zu nutzen. Dürer teilt also die Auffassung der Humanisten, dass der Mensch einen freien Willen habe, dass er ein ›willensfreies Wesen‹ ist. In seiner berühmten, 1486 verfassten Rede ›Über die Würde des Menschen‹ hat Pico della Mirandola (1463-1494) in Florenz dies für die Humanisten verbindlich formuliert. Und der französische Humanist und Mathematiker Carolus Bovillus (1479-1567) hat diese Auffassung vom Menschen 1510, also vier Jahre vor Dürers Melancholiekupferstich, in seinem in Paris erschienenen – und in Nürnbergs Bibliotheken mehrfach vorhandenen – ›Buch vom Weisen‹ illustriert. Der Mensch, so Pico, hat keinen bestimmten Platz in Gottes Schöpfung. Seine besondere Würde besteht vielmehr darin, dass er als Mikrokosmos an allen Stufen des Makrokosmos Anteil hat. Bovillus illustriert dies mit dem Stufen-Aufbau auf der linken Seite seines Schemas. Zum ›wirklichen Menschen‹ wird der Mensch aber nur, wenn er – wie Bovillus auf der rechten Seite seines Schemas zeigt – alle in ihm angelegten Möglichkeiten auch wirklich aktiviert. Nur wenn er alle seine Möglichkeiten mitsamt seinem Intellekt auch wirklich ergreift, ist der Mensch wirklich ein Mensch geworden. Nur der ›Weise‹, der all seine Möglichkeiten aktiviert, ist nach Bovillus als Schöpfer seiner Selbst, als ›Artifex et sui calothecnicus‹ ein Mensch und mit sich selbst Eins, ›Cum se ipsum unus‹, ›Sapiens unus est‹!. Eins mit sich selbst, ist der Weise nicht nur ein wirklicher Mensch, sondern zugleich zum Abbild der göttlichen Einheit geworden. Er ist aus eigenen, tugendhaft genutzten Kräften wieder gottebenbildlich, Eins mit Gott geworden, ›secundus Deus in terris‹. Entsprechend sitzt die Repräsentantin der 6 ›Weisheit‹ auf dem Titelblatt von Bovillus ›Liber de Sapiente‹ von 1510 – wie wenig später auch Dürers Melancholiefigur – auf der rechten Seite auf ihrem stabilen Tugendsitz und betrachtet im Spiegel die göttliche Schöpfung, um so zur Kenntnis ihrer Selbst zu gelangen. Der ›Weisheit‹ gegenüber sitzt die blinde ›Fortuna‹ auf instabilem runden Sitz. Auf dem von ihr gehaltenen Fortunarad bemühen sich die Menschen um Glück und Reichtum und übersehen, dass sie jederzeit nach unten ins offene Grab sich zu Tode stürzen können. In völliger Übereinstimmung zu dieser Disposition versammelt auch Dürers Melancholiekupferstich auf der linken Bildhälfte im Weltausblick alle Sinnbilder der Unbeständigkeit, die Kugel, das Meer, die Schiffe, das Feuer und die Leiter. Der jugendliche Putto auf seinem Mühlrad sitzt dagegen absichtsvoll als Sinnbild der unbeschwerten, aber rasch vergehenden Jugend auf der Mitte zwischen Virtus- und Fortunabereich. Eifrig kritzelnd, ist er unter der Obhut der Melancholiefigur aber bereits auf dem Weg zum Wissen und damit zur Weisheit und Tugend, die für Dürer – deutlich in der Balkenwaage und im Zirkel – ihr rechtes Maß im maßvollen Ausgleich zwischen den Extremen findet, während alles Lasterhafte bei Dürer ›kein Zyl noch Maß hat‹! Nur durch das rechte Maß ist aber auch der Melancholiker seit Aristoteles einzig zu großen, genialen Leistungen befähigt! Dass Dürers engelsgeflügelte Melancholiefigur auf ihrem stabilen Tugendsitz mit energisch geballter Faust und mit Hilfe ihrer außerordentlichen Gaben in den mathematischen Künsten – als ein willensfreies Wesen – sich selbst zur Weisheit empor gebracht hat, dass sie als Repräsentantin der Weisheit wieder Eins mit sich und darin wieder engelsgleiches Abbild der göttlichen Einheit geworden ist, das eben hat Dürer ihr auch im zweiteiligen Titulus zugesprochen. Diesen können wir nun auflösen als ›MELENCOLIA . UNUS‹. ›UNUS‹ bezeichnet nach Euklids verbindlicher Definition das Fundament der Mathematik. Und ›UNUS‹ gilt den Humanisten als höchste Auszeichnung des Weisen, als die wiedererlangte Einheit mit sich und mit Gott gemäß der humanistischen Überzeugung, dass es die Würde des Menschen ausmache, der freie Schöpfer seiner Selbst zu sein und durch die tugendhaften Nutzung aller ihm verliehener Gaben mit sich selbst eins zu werden! Das melancholische Temperament als das am meisten ausgezeichnete wie gefährdete unter allen Temperamenten des Menschen, so zeigt es uns Dürers Melancholiekupferstich als gleichzeitiges Trost- und Warnblatt aller Aufklärungen, kann dieses Ziel trotz aller sichtbaren Gefährdungen erreichen, wenn es sich in all seinem Streben stets am rechten Maß orientiert. Der Mensch darf wissen. Das Wissen, das Vermögen, aus eigener Kraft zum Wissen zu gelangen, macht seinen göttlichen Rang aus. Sicheres Wissen begründet sich auf mathematischer Messung und nachprüfender Beobachtung. Alles Wissen ist verbesserungsfähig. Der Künstler ist als Melancholiker zwar ausgezeichnet, der höheren Ideen teilhaftig zu werden. Nur durch tugendhaften Gebrauch, durch das richtige Maß, werden diese dem Menschen nicht schädlich. Mit dem Wissen des Menschen wächst nach Dürer auch seine Bewunderung für Gott und mithin seine Frömmigkeit. Deshalb sitzt Dürers Melancholiefigur am Ende ihres Wissens mit aufgestütztem Kopf zwischen ihren Geräten wie schon Christus als Schmerzensmann auf Dürers Titelblatt seiner HolzschnittPassion von 1511. Wissen und Glauben sind auf Dürers Melancholieblatt noch ebenso vereint gedacht wie die Trias von künstlerischer Inspiration, mathematischer Messung und exakter Beobachtung. Eine Dürers Melancholiekupferstich unterstellte ›RenaissanceDämmerung‹, eine Infragestellung der entscheidenden Ideale der Renaissance und mithin aller nachfolgenden Aufklärungen – Willensfreiheit und Selbstbestimmung durch Vernunft – hat es bei Dürer nicht gegeben. Oder um es nochmals mit Aby Warburg zu 7 formulieren, alle Schatten werden bei Dürer durch die "denkende Eigentätigkeit der angestrahlten Kreatur" balanciert. Goya Francisco de Goyas berühmte Radierung ›Capricho 43‹ mit der Inschrift ›El sueno de la razon produce monstruos‹, wenige Jahren nach der Französischen Revolution um 1797/98 in Madrid entstanden, zeigt erneut einen melancholischen Künstler als Aufklärer. Goyas Bezug zu Dürers kanonisch gewordener Darstellung der Künstlermelancholie ist nicht zu übersehen in der von Fledermäusen und anderem Getier geteilten Nachteinsamkeit eines ebenfalls untätigen Künstlers. Anders als bei Dürer meditiert dieser aber nicht als denkender Beobachter vor einem Weltausblick. Vielmehr wirkt er an seinem ebenfalls als Tugendsitz ausgebildeten kubischen Arbeitsplatz weit eher wie ein Schlafender, der mit herabgesenktem Kopf auf seinen verschränkten Armen über seinen Zeichengeräten ruht. Ist dieser Künstler, mit dessen Darstellung Goya die mittelalterliche Gleichsetzung des melancholischen Temperamentes mit der Acedia, mit der bei der Arbeit eingeschlafenen Todsünde der Faulheit fortsetzt, ist dieser untätige Künstler überhaupt ein Aufklärer? Die helle Inschrift auf der Vorderseite des kubischen Arbeitsplatzes ist zweideutig und gibt Anlass zu neuen Fragen. ›Sueno‹ bedeutet im Spanischen ›Schlaf‹ ebenso wie ›Traum‹. ›Der Schlaf der Vernunft produziert Monster‹, diese Lesart der Inschrift ist geradezu ein Glaubensbekenntnis der Aufklärung. Sie scheint sich im Bild unmittelbar zu bestätigen im Schlaf des Künstlers direkt unter den riesigen, ihm bedrohlich nahe kommenden Nachtvögeln. Schlafend vernachlässigt der Mensch seine Verpflichtung zum vernünftigen Handeln, mithin zur Aufklärung, und wird gequältes Opfer seiner Chimären. Was aber, wenn gemeint ist ›Der Traum der Vernunft produziert Monster‹? Dann wäre Goyas Radierung als Problematisierung der reinen Vernunft ein hellsichtiger Vorgriff auf Horkheimers und Adornos ›Dialektik der Aufklärung‹ mit der erstaunlichen Warnung vor einer Vernunft, die sich in Gestalt des träumenden Künstlers in immer neue Projekte und Möglichkeiten hineinträumt, deren monströse und bedrohliche Ausmaße in dem Nachtgetier angezeigt sind. Aus dem Künstler als Opfer seiner schlafenden Vernunft wird nun ein träumender Täter, der aber nicht weniger zum Opfer seiner träumenden Vernunft zu werden droht. Die erste Vorzeichnung zu ›Capricho 43‹ zeigt genau nach dieser zweiten Lesart die schier grenzenlose Produktivkräfte des Künstlers. Hier bereits ruht der Kopf des Künstlers mit geschlossenen Augen auf seinem Arbeitstisch. Das gelockte Haupt des offensichtlich träumenden Künstlers, dessen Porträtähnlichkeit mit Goya nicht zu verkennen ist, erscheint durch die weit ausfahrenden Strahlen deutlich als Quellpunkt all jener Gesichter, Fratzen und Tiergestalten wie Hunde, Pferdeköpfe und Fledermäuse, die den gesamten Luftraum über den in visionärer Innenschau versunkenen Künstler ausfüllen. Es ist der melancholische Künstler, der mit grenzenloser Phantasie und Schöpferkraft begabt aus seinem Kopf, aus seinen inneren Ideen, beliebig Kreaturen hervorbringen kann. Als Selbstbildnis und Programmbild seiner Schöpferkraft macht diese Vorzeichnung offenkundig, dass Goya ›Capricho 43‹ ursprünglich als Titelblatt für die gesamte Folge der ›Caprichos‹ vorgesehen hatte. Mit diesem Zyklus von 80 Radierungen, die zahlreich 8 in unserer Ausstellung vertreten sind, gibt Goya ein Schreckensporträt der Gesellschaft seiner Zeit. Die menschenverachtende Arroganz des Adels, die Heuchelei des Klerus, das Bigotte der Bürger und die Torheit der einfachen Leute hat Goya ebenso schonungslos zur Anschauung gebracht wie das menschliche Tollhaus aus Hass, Lügen, Gier, Gewalt, Begierden und Betrug, das nach Goya ohne Einspruch irgendeiner Vernunft das gesamte gesellschaftliche Leben im damaligen Spanien am Ende des 18. Jahrhunderts beherrschte. Goya zeigt eine Gesellschaft jenseits jeglicher Räson! Seine ›Caprichos‹ klagen jedoch niemanden direkt an, sondern tarnen sich, ihrem Namen entsprechend, als bloße Träume und Künstlerphantasien. Solcher Spurenverwischung dient auch ein im Prado in Madrid aufbewahrter Kommentar zu den ›Caprichos‹, zwar nicht von Goyas Hand, doch ganz von der Raffinesse seiner Vieldeutigkeit geprägt, dank welcher Goya den radikalen künstlerischen Tabubruch seiner ›Caprichos‹ hinter geläufigen akademischen Formeln verbirgt. So heißt es dort in völliger Übereinstimmung mit den Regeln der Akademie über die künstlerischen Prinzipien der ›Caprichos‹: "Die Phantasie, von der Vernunft verlassen, bringt unmögliche Monstren hervor. Vereint mit ihr, ist sie die Mutter aller Künste und der Ursprung der Wunder". Eben dies, die Vernunft als notwendiges Regulativ der Phantasie, war die klassische Kunstdoktrin der Aufklärung, kanonisch geworden auch durch Anton Raphael Mengs (1728-1779), Direktor der Madrider Kunstakademie und Lehrer Goyas. In solch dienender Rolle erscheint die ›Imaginatio‹, die Personifikation der ›Einbildungskraft‹ auf dem berühmten Frontispiz von 1772 zur französischen ›Enzyklopädie‹, einem Hauptwerk der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Die "Imaginatio" eilt oben links in den Lichttempel der ›Wahrheit‹, um diese zu schmücken, während ›Vernunft‹ und ›Metaphysik‹ auf der rechten Seite versuchen, die ›Wahrheit‹ von ihrem Schleier zu befreien. Gemeinsam bewirken ›Vernunft‹ und ›Einbildungskraft‹ im Licht der ›Wahrheit‹ die Entstehung aller unter ihnen versammelten Künste und Wissenschaften, wobei einzig die ›Vernunft‹ feste Regeln und gültige Wahrheiten verbürgt, während die ›Einbildungskraft‹ nachgeordnet auf das Feld der Nachahmung beschränkt bleibt. Ebenso hat Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) in seinem Farbkreis zur Symbolisierung des menschlichen Geistesund Seelenlebens die Überschneidungen von ›Phantasie‹ und ›Vernunft‹ als ›Schön‹ bezeichnet und als höchstes Ideal in den Zenit seines Farbkreises gestellt. Die bloße ›Phantasie‹ gilt dem Klassiker Goethe dagegen als schlichtweg ›unnötig‹ und mithin als zu vermeiden. Um das Titelblatt seiner ›Caprichos‹ in Übereinstimmung mit dieser klassischen Kunstdoktrin zu bringen, musste es von Goya notwendig geändert werden. Die künstlerischen Phantasieexplosionen, diese Exzesse einer regellosen Imagination, hervorquellend aus dem Kopf des Künstlers auf der ersten Vorzeichnung wurden auf der zweiten Vorzeichnung entschieden getilgt. Die Bedeutung der Vernunft für die künstlerische Produktion wird dagegen weit deutlicher hervorgehoben, indem der "träumende Autor" – so die Beischrift auf der als ›Sueno 1‹ (1.Traum) bezeichneten Vorzeichnung – nun ebenso wie der geometrische Tugendkubus seines Arbeitsplatzes von hellem Licht umflossen ist. Damit erscheint der Künstler wie seine Arbeitsstätte sichtbar vom Licht des Vernunft und der Aufklärung illuminiert. Als aufklärendes Prinzip des Geistes hat das Licht auch das zuvor chaotische Durcheinander der Traumerscheinungen getilgt. Vom makellos geometrischen und hell strahlenden Lichtkegel auf der linken Seite werden die monströsen Nachtvögel auf der rechten Seite ganz offensichtlich gebannt. Keines der Tiere wagt sich ins blendende Licht der Vernunft. Phantasie und Vernunft sind hier ganz nach der akademischen Doktrin als gemeinsame Voraussetzungen des künstlerischen Schöpfungsaktes offensichtlich in Ausgleich gebracht. Die Phantasie 9 überwältigt den Künstler nicht länger wie in der ersten Vorzeichnung. Vielmehr wirkt die Lichtgestalt des im Traumschlaf befindlichen Künstlers durch den tiefer in seinen Armen verborgenen Kopf merklich beruhigt und zudem anonymisiert. Mit Goyas zweiter Vorzeichnung ist die Darstellung des traumschlafenden Künstler also noch immer als Titelblatt der so gesellschaftskritischen ›Capricho‹-Serie vorgesehen, gerade weil das Licht der Vernunft entsprechend der herrschenden Kunstlehre von Klassizismus und Aufklärung so merklich verstärkt und der Künstler wie zur Tarnung unerkennbar gemacht wurde. Dass es sich bei diesem weit eleganter hin gelagerten Künstler noch immer um ein Rollenselbstbildnis Goyas handelt, erfahren wir unmissverständlich durch die Beischrift auf dem hell beschienenen Tugendkubus seines Arbeitsplatzes. Sie bezeichnet die dort entstandenen Werke der ›Caprichos‹ als ›Ydioma universal‹, als ›Universelle Sprache‹, die "von Francisco de Goya im Jahr 1797 gezeichnet und radiert worden sei." Und geradezu apologetisch heißt es über den ebenfalls vom hellen Licht der Vernunft beschienenen Traumautor: "Seine einzige Absicht ist es, die schädlichen Gemeinplätze zu verbannen und mit diesem Werk der Launen das feste Zeugnis der Wahrheit fortzusetzen". Die ›Caprichos‹ gelten somit inschriftlich als kapriziöse, launenhafte Phantasiestücke, welche die schädlichen Gemeinplätze, die Nachtseiten der Gesellschaft festhalten und diese durch das Licht der Wahrheit bannen und verbannen wollen. Dieser aufklärende Exorzismus – oder auch Exorzismus der Aufklärung – wird in der so auffällig zweigeteilten Lichtregie des Blattes, die einmal mehr Goyas Kenntnis des Dürerschen Melancholiekupferstich verrät, als Polarität von Licht und Schatten, von rationaler Vernunft und ausgreifender Phantasie gesehen, ganz so wie es der Prado-Kommentar formuliert und die klassische Kunstregel verlangt. Jedoch hat bereits Werner Hofmann die so kalkulierte Lichtspannung dieser Zeichnung, die Verdrängung des Dunklen und Monströsen durch den geometrischen Lichtkegel der Vernunft, als Vorgriff Goyas auf jene Bemerkung von Adorno und Horkheimer in der ›Dialektik der Aufklärung‹ bezogen, wonach Aufklärung nichts anderer als die radikale Verdrängung und damit die potenzierte Rückkehr elementarer Angst ist, "Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst". Im Lichte dieser Beobachtung erscheint es nur konsequent, dass Goya sich schließlich für die endgültige Fassung der Radierung ›Capricho 43‹ zu einer entscheidend weiteren Veränderung auch seiner zweiten Vorzeichnung entschloss. Denn stets war es Goyas Strategie, die Laster der Gesellschaft nicht durch Verdrängung oder Ausblendung, sondern durch ihr erschreckendes Vorzeigen zu bannen. Keine Kunstgattung vermag dies so schonungslos übertreibend und zugleich mit solch hinterlistiger Wahrheit wie die vermeintliche Phantasiewelt des ›Caprichos‹. Das erfordert jedoch das völlige Hineintauchen des Künstlers in die Nachtseiten der Gesellschaft, in das dunkle AlptraumPanorama, wie es Goya dann im Unterschied zu seinen beiden Vorzeichnungen in seiner mit Aquatinta dunkel abgetönten Radierung ›Capricho 43‹ vollzieht. Zwar ist der in seinem Habitus unverändert aus der zweiten Vorzeichnung übernommene Künstler mit seinen schwarzen offenen Haaren noch immer an den Schultern, am rechten Arm und an der rechten Hand – der Künstlerhand! – merklich vom Licht erleuchtet. Doch befindet er sich auf der Radierung erstmals in einem völlig grauschwarz eingefärbten melancholischen Dunkelraum. Diese Radierung figuriert konsequenterweise nicht mehr als Titelblatt, sondern eben als 43. Blatt, fast genau in der Mitte der Serie, unter dem so berühmt gewordenen zweideutigen Titel "Der Traum/Schlaf der Vernunft produziert 10 Monster". Damit wird das dunkle Schlüsselbild moderner Künstlermelancholie gleich einer Selbstanzeige jener Lasterwelt zugeordnet, in der eine bürgerliche Ordnung die ihr stets als so suspekt weil inkommensurabel erscheinende Melancholie immer schon verbucht hatte. Zu solcher Überführung der Künstlermelancholie in den Lasterbereich tat Goya noch ein Übriges zur tarnenden Distanzierung seines künstlerischen Programmbildes, indem er seinen ›Caprichos‹ als neues Titelblatt ein sehr achtsam bürgerliches Selbstbildnis mit Zylinder voranstellte. Zudem pries Goya den Zyklus seine ›Caprichos‹ in der Tagespresse gewiss auch aus taktischen Gründen nicht als eine kritisch anklagende Bildserie mit aktuellem Wirklichkeitsbezug an, sondern als ein weit mehr ins Allgemeine reichendes Bildkonzentrat, ein Zyklus ganz wie eine Dichtung, eben als Werk einer Universalsprache. Man spürt an diesen Texten deutlich, wie der gesellschaftlich so erfolgreiche und doch desillusionierte königliche Hofmaler Goya sich einer Rhetorik von Schutzbehauptungen bedient, um seine so abgründigen wie schockierenden Ansichten von den Nachtseiten der Gesellschaft hinter aufklärerischen Allgemeinplätzen vor dem Zugriff einer argwöhnischen Zensur zu schützen sucht. Goyas Argumentation erklärt sein kritisches Anliegen der Aufklärung über krasse Missstände im Land zu launigen Exerzitien seiner Künstlerartistik, als eine hohe Schule der Phantasie und damit der künstlerischen Innovation. Denn, so fährt Goyas hintersinniger Werbeprospekt fort, publiziert am 6. Februar 1799 im ›Diario de Madrid‹, "in einer einzigen, der Einbildungskraft entsprungenen Figur vereint sie (= die Phantasie des Genies) Umstände und Eigenschaften, die in der Natur auf viele verteilt sind, und erst eine solch geistvolle Verbindung entspringt jene glückliche Nachahmung, durch die der Künstler den Titel eines Erfinders und nicht den eines servilen Kopisten erringt". Goya tarnt also seine aufklärerischen Absichten als Ausweis der singulären Erfindungskraft seines künstlerischen Genies. Damit entwickelt er analog zur Umwertung von Rationalität und Vernunft in der ›Dialektik der Aufklärung‹ eine ›Dialektik des Aufklärers‹, um seine gesellschaftskritischen Absichten im Zwielicht seines artistischen Ingeniums zum Verschwinden und zugleich als Zeugnisse höchster künstlerischer Originalität frappierend und drastisch zum Vorschein kommen zu lassen. Zugleich verwischt er seine Spuren als künstlerischer Urheber, indem er sich in ›Capricho 43‹, seinem anonymisierten Rollen- und Programmbild, als leidendes Opfer seiner monströsen Phantasien zeigt. Als launige Künstlerphantasie ständig zwischen Rationalem und Irrationalem changierend, ist das ›Capricho‹ die ideale Gattung zur Tarnung kritischer Aufklärung. Im ›Capricho‹ kann schwerlich jemand zur Verantwortung gezogen werden. Am wenigsten das melancholische Genie, das mit seinem jederzeit möglichen Wechsel zwischen ingeniöser Phantasie und krankhaftem Wahn nun von Goya selbst mit ›Capricho 43‹ in die Welt der Laster verbannt wurde. Dennoch hat Goya in einem bisher wenig vermerkten Detail auf den entschiedenen Aufklärungsimpuls seiner als bloße Laune und als Träume (›suenos‹) getarnten Phantasiestücke verwiesen. So wird dem traumschlafenden Künstler auf ›Capricho 43‹, und zwar nur im Dunkel der endgültigen Radierung, ganz auf der linken Seite von einer Eule mit ihren Krallen ein Zeichenstift hingehalten. Und zwar so, als ob der Künstler damit aus seiner träumerischen Inspiration zu künstlerischem Tun geweckt werden soll. Damit paraphrasiert Goya ein Nebenmotiv jenes Porträts, das er 1798, also nahezu gleichzeitig, von seinem Freund Gaspar Melchor de Jovellanos (1744-1811) gemalt hat und das diesen universal gelehrten Aufklärer Spaniens im aufgestützten Gestus des 11 nachsinnenden Melancholikers nobiliert. 1798 war für Jovellanos das Jahr seines größten Erfolges, seiner Ernennung zum Justizminister Spaniens, und seiner größten Niederlage, Entlassung und anschließend Verbannung mit jahrelangem politischen Exil auf Mallorca. Auf Goyas Porträt stehen alle Arbeiten des berühmten Aufklärers unter dem Schutz der Weisheitsgöttin Minervas, deren Statue den Schreibtisch von Jovellanes bewacht. Das Wappentier der Minerva ist seit alters die Eule. Wenn diese Goya in seinem Rollenporträt des träumenden Künstlergenies den Zeichenstift reicht und wenn eine zweite Eule, gewiss nicht zufällig mit vom Licht erhellten Flügeln, den Künstler vor der bedrohlich über aus dem dunklen Hintergrund herbei fliegenden Fledermausschwarm abzuschirmen scheint, dann hat Goya damit sein ingeniös vieldeutiges Aufklärungsprojekt der ›Caprichos‹ offenkundig unter den Schutz der Minerva gestellt, seit alters Schutzgöttin der Wissenschaften, der Künste und der gelehrten Aufklärung. Es sind die guten Geister unter den Nachtvögeln, es sind die Eulen der Minerva, die Goya hier zu künstlerischem Tun auffordern, um ihn so von den gefährlichen Alpträumen seiner Künstlermelancholie zu erlösen, die, wie schon bei Dürer, in den Fledermäusen ihre bedrohlichen Boten haben. Die Eulen haben Goya besser beschützt als Minerva Jovellanos. Dieser musste ins Exil, dem taktisch vieldeutig agierenden Goya blieb die Verbannung erspart. Vielleicht um den Preis, dass die ›Caprichos‹ auf dem Kunstmarkt für Goya ein Desaster waren. Von 300 Folgen konnte Goya nur 27 verkaufen. Die von ihm so demaskierte Gesellschaft hat seine ›Caprichos‹ nicht wahrnehmen wollen. Der melancholische Künstler und kritische Aufklärer als Außenseiter der Gesellschaft, auch damit wurde Goya schließlich zum Propheten und Märtyrer einer zwiespältigen Moderne. Goya inszeniert mit seinem Rollenselbstbildnis auf ›Capricho 43‹ und auf dessen Vorzeichnungen sich selbst als irrationales Genie, das getarnt durch die klassische Kunstdoktrin und unter dem Schutzmantel des seit der Renaissance etablierten Melancholiekultes es wagen konnte, eine Gesellschaft am Ende ihrer Vernunft rücksichtslos zu provozieren. Und dies mit der aufklärenden Absicht, dass solche Provokation mit seinen ›Caprichos‹ durch das Ungeheuerliche und bisher nie Gesehene beim Betrachter vom faszinierten Erschrecken zur Besinnung und Besserung führen könnte. Im Falle der unverkäuflichen ›Caprichos‹ ging diese Rechnung nicht auf. Der Aufklärer Goya geriet zunehmend in die Rolle des melancholischen Außenseiters. Nochmals Chodowiecki Ganz anders agierte Chodowiecki mit seiner Aufklärung der kleinen Schritte in einer bürgerlichen Welt, die in Deutschland in zahllose Kleinstaaten verzettelt, sich deshalb gerne in einer reich zirkulierenden Traktat-, Journal- und Kalenderliteratur zusammenfand. Mit seinen Monatskupfern in den populären Göttinger Taschenkalendern von 1778 bis 1783 hat Chodowiecki nach William Hogarths (1697-1764) Vorbild den ›Fortgang der Tugend und des Lasters‹ zur Orientierung eines bürgerlichen Publikums in Deutschland in leicht fassbaren antithetischen Bilderpaaren – gut und böse, tugend- und lasterhaft – vor Augen gestellt. In seinen Kommentaren, die diesen Bilderpaaren stets beigegeben waren, machte Lichtenberg, der schon erwähnte und als Aufklärer hoch angesehene Professor der Naturwissenschaften, Schriftsteller und Philosoph an der Universität Göttingen, sich oft ein Vergnügen daraus, den Lastertypus dieser Bilderpaare weit interessanter zu finden als die in ihrer Körpersprache durchweg steif und gesittet dastehenden Musterpaare der Tugend. So heißt es bei Lichtenberg von dem Paar, dass mit angemessener Zurückhaltung den Untergang der Sonne in freier Natur betrachtet, 12 "Sie genießen den Anblick der untergehenden Sonne mit dem ruhigen Gefühl", ganz im Gegensatz zur Emphase "so vieler unserer jugendlichen Dichter", welche dieses grandiose Schauspiel des Sonnenuntergangs, – wenn die Sonne als Sinnbild der Aufklärung am Ende des Tages in die Nacht versinkt –, mit der "Ausplauderung dieser Mysterien begleitet". Entsprechend spöttisch heißt es über Chodowieckis Kontrastpaar, welches den Sonnenuntergang allzu affektiert betrachtet und sich dabei verräterisch eng am Rücken umfasst: „Wer hier nicht modische Empfindsamkeit und virtulirendes Entzücken in Hexametern aufwallen sieht, der sieht nicht." Und weitergehend erkennt Lichtenberg die erotischen Absichten des jungen Mannes: "Aus den Bewegungen des einen Beins und des rechten Arms [...] zu urteilen, würde ich schließen, er wolle dem Himmel zufliegen, wenn der Schelm mit dem linken [Arm] die Erde nicht so fest angefaßt hätte". Die vermeintlich Gebildeten, die Aufgeklärten und die Überaufgeklärten, sind auch bei der Kunstbetrachtung die lasterhaft Affektierten, die bei ihrem intensiven Kunstdiskurs angesichts der Statue einer Flora oder Pomona jegliche stille Andacht und natürliche Bescheidenheit vor dem Kunstwerk vermissen lassen, welche auch hier die Tugendhaften auszeichnet. Aufklärung ist in diesen Kalenderillustrationen ebenso wie auf Chodowieckis Kupfern zu Johann Bernhard Basedows (1724-1790) ›Elementarwerk‹ von 1769 ganz offensichtlich Affektbeherrschung. So erscheint auf Tafel 26 dieser Bildenzyklopädie zur Einführung der Kinder in die verschiedensten Lebenssituationen unter Anleitung der Erwachsenen, die ihnen diese Tafeln erläutern, das bürgerliche Wohnzimmer als ein von der Sonne der Aufklärung freundlich hell beschienener Ort, wo man gemeinsam liest, betrachtet, schreibt oder nachdenkt. Rücksichtsvolles und sittsames Betragen knüpft das Familienband über die Generationen hinweg. Im krassen Kontrast dazu zeigt das Irrenhaus darunter, wie die von ihren Affekten Getriebenen, die der Anstalt entwichen sind, sich gegenseitig verspotten und sich schließlich im Wahn selbstmörderisch ins Wasser stürzen. Nur wo die Triebe beherrscht werden, so illustriert auch das Pferdefuhrwerk links oben, können die Gewerbe gedeihen. Nur wo unter den Völkern von China über den Orient bis nach Europa Friede, Eintracht und vertrauensvoller Handel herrscht, so demonstriert das Bild mit der Balkenwaage darunter, überwiegt das Gute in der Welt. Erziehung war in Basedows ›Elementarwerk‹, einem der wichtigsten Bilderbücher für Kinder im Deutschland der Aufklärung, durchaus noch religiös bestimmt. So zeigt Tafel 48 oben links den Schulunterricht unter der Leitung eines Lehrers, der seine Schüler auf eine Inschrift mit den Unterrichtszielen hinweist. Diese lauten: "Das Buch der Natur und der Sitten und das Buch der Religion". Die Natur hat in den ausführlichen Lehrtafeln zu Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen Einzug in das Schulzimmer gehalten. Im Bild links daneben wandern die bereits älter gewordenen Jugendlichen geordnet durch eine felsige Küstenlandschaft den gefährlichen Weg zum Rundtempel der Tugend empor. Darunter ist schließlich ein karger Kirchenraum zu sehen mit einem Pfarrer vor der aufgeschlagener Bibel und darüber eine Inschrift an der Stirnwand, welche die versammelte Gemeinde anstelle eines Altarbildes ermahnt: ›Wandelt Vor Gott, Thut Wohl Auch Feinden‹. Als Kunst ist einzig die Musik in diesem kargen, bildlosen Kirchenraum der Aufklärung gelitten, erkenntlich an den Geigen, die links vom Pfarrer an der Rückwand hängen. 13 Genau diese Darstellung von 1769 hat Chodowiecki mehr als 20 Jahre später wiederverwendet als Titelblatt für Ziegenhagens 1792 erschienene ›Verhältnislehre‹. In dieser umfangreichen Programm- und Werbeschrift für eines der wohl extremsten Projekte utopischer Aufklärung in Deutschland entwickelte der Kaufmann Franz Heinrich Ziegenhagen (1751-1806) das Konzept einer landwirtschaftlichen ›Kolonie‹, die in der Nähe von Hamburg bei Billwerder gelegen sein sollte. In diesem geplanten Mustergut, von Chodowiecki illustriert, sollten die Kinder vermögender Eltern mit ebenso vielen Kindern aus Waisen- und Armenhäusern unter Anleitung verständiger Pädagogen zusammen leben und lernen. Und zwar immer gleich viele Jungen und Mädchen, um so durch stets mögliche spätere Eheschließungen die Zukunft der ›Kolonie‹ als sozialrevolutionäre Utopie einer klassenlosen Gesellschaft zu sichern. In dieser ›Kolonie‹, deren Vorbildcharakter Chodowiecki im Sinne der Aufklärung in der streng geometrischen Struktur der Anlage verdeutlicht, ist der Tageslauf für die stets gemeinschaftlich lebenden und lernenden Kinder streng nach der Uhr geregelt, vom gemeinsamen Aufstehen morgens um 4 Uhr im Sommer und um 6 Uhr im Winter bis über die gemeinsamen Mahlzeiten, den gemeinsamen Schulunterricht mit Schwerpunkt in den naturwissenschaftlichen Fächern und der praktischen Ausbildung in der Landwirtschaft und in den Handwerken wie Tischlerei oder Schmieden bis hin zum gemeinsamen Sonnenbaden mit anschließenden Schwimmen und den sportlichen Übungen zwischen 18 und 19 Uhr bis zur Stunde des Schlafengehens um 21 Uhr. An Chodowieckis Übersichtsdarstellung dieser Kinder-Kolonie lassen sich alle Etappen dieses Stundenplanes, dieses Erziehungswerkes der Vernunft streng nach der Uhr ablesen. Der Uhrenturm steht denn auch weithin sichtbar genau in der Mittelachse der Anlage. Außerhalb des abgegrenzten Bereiches der ›Kolonie‹ herrscht in den angrenzenden Wohnbereichen mit Blick auf die entfernt liegende Stadt am oberen linken Bildrand sichtbare Unordnung, Tiere werden gequält und weiter im Hintergrund werden Verbrecher gerädert und gehängt. In der Musteranlage sieht man hingegen die Mitglieder der ›Kolonie‹ friedlich bei nützlichen gärtnerischen und landwirtschaftlichen Arbeiten, wobei das Hauptaugenmerk im Vordergrund auf der Aufzucht des Viehs mit der Pferdekoppel in der Mitte liegt. In enger Nachbarschaft zu den Tieren treiben die Jungen und Mädchen in leichter Bekleidung als freie Naturen in freier Natur und bei frischer Luft, worauf Ziegenhagen im Gegensatz zum schädlichen Leben in der Stadt besonderen Wert legt, ihre sportlichen Übungen zur körperlichen Ertüchtigung. Ganz in der Mitte im Vordergrund reitet Ziegenhagen zu Pferd als Regent des von ihm erfundenen Vernunftreiches, das sich bis zum Fortschritt des Heißluftballons am Horizont erstreckt. In dieser pädagogischen Provinz musterhafter Aufklärung zur klassenlosen Erziehung der Jugend sind unter der so geordneten Oberfläche bereits alle jene von Horkheimer und Adorno in ihrer "Dialektik der Aufklärung" beschriebenen Reglementierungen und Verdrängungen in nuce angelegt, von der rigiden Lebensordnung nach der Uhr zur nützlichen Optimierung der Welt bis zur Ausgrenzung des anscheinend nicht lebenstüchtigen Lebens. Es war Chodowiecki, der in letzterem Punkt Ziegenhagens Utopie auf seinem Titelblatt bloßgestellt hat. Was im Kupfer von Basedows Elementarwerk noch ein Kirchenraum zum gemeinsamen Gottesdienst war, verwandelt sich auf dem Titelblatt zu Ziegenhagens ›Verhältnislehre‹ in einen reinen Versammlungsraum zur Verehrung der Vernunft, abermals geschmückt mit Lehrtafeln über die Beschaffenheit der Schöpfung von den Mineralien über die Pflanzen und Tiere bis zum Menschen. Wieder ist in diesem Versammlungsraum der Aufklärung unter den Künsten einzig die Musik zugelassen, verstärkt um eine mächtige Orgel, endet doch 14 Ziegenhagens Buch seiner ›Verhältnislehre‹ mit dem Abdruck der Notenblättern einer von Mozart komponierten Vertonung eines Gedichtes, in dem der Freimaurer Ziegenhagen einen Hymnus auf den "göttlichen Allherrscher" anstimmt, den alle Religionen nur unterschiedlich benennen und dessen höchste göttliche Gebote Ziegenhagens Gedicht aufzählt: ›Liebt mich in meinen Werken! / Liebt Ordnung, Ebenmaß und Einklang! / Liebt euch, euch selbst und eure Brüder! / Körperkraft und Schönheit sey eure Zierd, / Verstandeshelle euer Adel! / Reicht euch gegenseitiger Liebe Sicherungshand, / die nur ein Wahn, nie Wahrheit euch solang entzog!‹. Ziegenhagen selbst steht vor einem aufgeschlagenen Buch mittig an der Stirnwand und wendet sich mit ausgestreckten Armen als Redner an die Gemeinde. Diese ist nicht mehr, wie damals im kirchlichen Gemeindeleben üblich und so auch bei Basedow illustriert, nach Geschlechtern getrennt. Vielmehr sitzen Männer und Frauen, aber auch Arme und Reiche auffällig gemischt in den Bänken. Einige stehen, wie ein Barfüßiger und eine bedürftige Frau, zwischen den Perückenträgern und scheinen besonders nachdenklich und ergriffen zuzuhören. Der Kernsatz des Vernunftevangeliums von Ziegenhagen steht auch hier wieder an der Stirnwand geschrieben: ›Setzt Euch In Das Richtige Verhältnis Untereinander Und Mit Der Übrigen Schöpfung‹. Die politische Konsequenz dieses Lehrsatzes demonstrieren im Vordergrund rechts die dort versammelten weltlichen und geistigen Würdenträgern und Regenten aller Nationen und Glaubensrichtungen, die sich gemeinsam die Hand reichen, und damit den von Ziegenhagen eingeforderten Weltfrieden begründen, bei gleichzeitigem Verzicht auf alle Religionen, da diese im Zeitalter vernünftiger Verhältnismäßigkeit ganz unnötig und nur Grund des ständigen Unfriedens unter den Menschen seien. Entsprechend liest man auf den wie Gesetzestafeln der Ewigkeit aufgeschlagenen Buchseiten hoch oben an der Stirnwand: ›Lehre vom richtigen Verhältnis zu Gottes Schöpfung / Weg zum wahren Glück‹. Diesem allgemeinen Gebot zum wahren Glück widerspricht nach Ziegenhagens Überzeugung auf dem Titelblatt seiner ›Verhältnislehre‹ jedoch gänzlich jener bucklige Herr im sehr manierlichen schwarzen Rock und mit gepflegter Perücke, Degen und Stock, den Chodowiecki als Zuhörer der Rede Ziegenhagens und als Zeuge des Weltfriedensbundes prominent im Vordergrund auftreten lässt. Ziegenhagen empfand ihn als völlig unerbetenen Gast. Im Druckfehlerverzeichnis am Ende seines über 600 Seiten starken Traktates beklagt Ziegenhagen, dass wegen der räumlichen Entfernung zwischen ihm und Chodowiecki dieser ohne Rücksprache diesen Buckligen in das Titelblatt eingeführt habe. Das Ziel seines Werkes sei es doch gerade, den Menschen in seinem richtigen Verhältnis zur Schöpfung zu entwickeln. Eben eine solche Verhältnismäßigkeit fehle aber dem Buckligen: "Vorzüglich aber hat das Titelkupfer durch die mißverhältnismäßige Figur im Vordergrund, welche nach eigenem Entwurf des Künstlers ausserhalb der Bänke in der gegenwärtigen Attitude dargestellt worden, das abgezweckte Edle und Rürende [sic] des Eindrucks gänzlich verloren und dafür ein komisches Aussehen bekommen." Das heißt im Klartext, Ziegenhagens Ziel ist es, schöne Menschen heranzubilden und weisungsgemäß hat Chodowiecki auf den anderen Kupfern, die das Leben in der ›Kolonie‹ zeigen, durchgehend nur schöne und wohl proportionierte Menschen aller Altersstufen dargestellt. Wenn er hier, isoliert geradezu als Gegenfigur zu Ziegenhagen als lebhaft agierendem Prediger utopischer Aufklärung, einen sehr korrekt gekleideten Herrn in würdigem Alter und von sichtbarem Anstand so prominent und reserviert auftreten lässt, dann kann dies nicht zufällig sein. Dieser Herr mit verwachsenem Rücken 15 kann als prononcierte Gegenfigur nur ebenfalls ein Aufklärer sein! Als der meistbeschäftigte Illustrator der deutschen Aufklärung hatte Chodowiecki sehr enge Beziehungen zu Moses Mendelssohn (1729-1786) und Georg Christoph Lichtenberg, die beide mit verkrümmten Rückgrat von buckliger Gestalt und gemeinsam mit Kant als die Geistesgrößen der Aufklärung mit verwachsenem Äußeren in Deutschland bekannt waren. Es scheint Lichtenberg, der geistvolle Kommentator der Kupfer Chodowieckis zu sein, den dieser hier selbstbewusst und distanziert als missliebige Gegenfigur für Ziegenhagen mit Absicht eingeführt hat. Lichtenberg war ein ironischer Skeptiker gegenüber allen großen und geschlossenen Denk- und Weltsystemen, gerade auch der Aufklärung. Er war ein Aufklärer, geprägt von angelsächsischem common sense, der von jeder aufgeklärten Philosophie forderte, sie solle die Menschen nicht lehren, was sie zu denken, sondern wie sie zu denken hätten. Wenn es einen Vorläufer und eine Leitfigur für die "Dialektik der Aufklärung" im Deutschland der Aufklärung um 1800 gibt, dann ist dies Lichtenberg! Im schwarzen Rock ist er auch bei Chodowiecki deutlich als Mitglied im Orden gelehrter Melancholie erkenntlich, der vielfach kränklich und als Buckliger lebenslang die Rolle des Außenseiters zu verspüren hatte. Nachdem Ziegenhagens utopisches Projekt als nicht realisierbar abgelehnt wurde, geriet dieser zunehmend in finanzielle Schwierigkeiten. 1806 beging er Selbstmord. Shonibare MBE Der 1962 als Sohn nigerianischer Eltern in London geborene, in Lagos, Nigeria und London aufgewachsene und seit 1984 unter anderem am Goldsmith College ausgebildete Künster Yinka Shonibare hat nach einer schweren Erkrankung, die ihn bleibend behindert, mit seinem Skulpturenzyklus ›The Age of Enlightenment‹ von 2008 demonstriert, dass auch die bedeutenden Aufklärer Europas wie D´Alembert, Lavoisier, le Tonnelier oder Kant und Adam Smith verwachsen, verkrüppelt oder anderweitig behindert waren. Einmal mehr ist damit wie schon von Chodowiecki das Glücks- und Perfektionsangebot radikaler Aufklärung ad absurdum geführt. Aufklärung ist nicht für die vermeintlich vollkommenen Menschen da, sondern dazu, dass die Menschen, so wie sie sind, mit ihren jeweiligen Gaben sich gegenseitig respektieren. Denn nach Shonibare MBE waren es häufig gerade die auf Grund ihrer Behinderung zu Außenseitern gemachten Aufklärer, deren Denken wiederum das Anderssein der Anderen definierte und somit diese zu Außenseitern hat werden lassen. Als Aufklärer über die Aufklärung und damit als subversiver Bilderfinder der ihm keineswegs verborgen gebliebenen "Dialektik der Aufklärung" erweist sich Shonibare MBE auch mit einer seiner jüngsten, 2008 entstanden Fotoserie ›The Sleep of Reason Produces Monsters‹, fotografierte Bildinszenierungen nach Goyas ›Capricho 43‹. Als international bekannter Künstler von afrikanischer Herkunft hat Shonibare MBE den ihm 2005 verliehenen Ehrentitel ›Member of the British Empire‹ in der offiziellen Abkürzung ›MBE‹ als festen Bestandteil seinem Namen hinzugefügt. Der zum Ehrenbürger des British Empire ernannte Künstler mit afrikanischem wie europäischem Hintergrund hinterfragt mit seinen fotografischen Bildinszenierungen im offenkundigen Rückgriff auf Goyas Programmbild und mit präzise nachfragenden Bildinschriften in französischer Sprache all jenen Ungeheuerlichkeiten, welche die weltweiten Träume der Aufklärung nicht nur Afrika, sondern ebenso den anderen Kontinenten angetan haben. Wo bei Goya der melancholische Künstler träumt, der mit der Einbildungskraft seines Genies die Monster der Gesellschaft offenbart, sitzt nun ein als Hybrid der Kolonialisierung wie der 16 Globalisierung in pseudo-afrikanischen Textilien eingekleideter Projektemacher. Dessen Vernunft träumt im Schlaf all das, was seiner Ansicht nach als Beglückung für Afrika, Asien, Amerika, Australien oder auch Europa vernünftig und gut sein soll, tatsächlich aber diese wie den schlafenden Projektemacher selber zu Grunde richtet in Gestalt der bei Shonibare MBE höchst surreal ins Leben übergetretenen Nachtvögel, die den Schläfern wie schon bei Goya alptraumartig zusetzen. Vor solch selbstvergessener Aufklärung mitsamt ihren monströsen Alpträumen gibt es nach Shonibare MBE kein Entkommen. Jeder Kontinent wird von den Aufklärern des jeweils anderen Kontinentes beglückt und von den Träumen jeweils seiner Vernunft zu Grunde gerichtet. Afrika wird von Europa beträumt, Europa von Asien, Asien von Afrika und so fort. Dass die Inschriften auf der Vorderseite des Arbeitsplatzes jeweils in Französisch abgefasst sind, erinnert nach Shonibare MBE noch immer an die überragende Rolle Frankreichs für die Aufklärung, die Befreiung des Denkens und die fortlaufend daraus möglichen Monstrositäten. Selten hat ein zeitgenössischer Künstler über eine blinde, sich selbst verführende Aufklärung in ihren Folgen für die gesamte moderne Welt so illusionslos in Bildern wie auch in Worten reflektiert wie Shonibare MBE! Gibt seine Fotoserie eine frappierende Paraphrase auf Goya, so liest sich sein erläuternder Kommentar geradezu wie eine aktualisierte Fortsetzung von Horkheimer und Adornos "Dialektik der Aufklärung". So erläutert Shonibare MBE seine Fotoserie zu den Monstern der Vernunft nach Goya mit brillanter Klarheit in einem Interview von 2008: “The Enlightenment period is a time of being liberated from the Dark Ages, from the shackles of tradition into the empirical methods of science and rationality. Our traditional notions of democracy were refined in this period and emerged in the Age of Enlightenment alongside the ideals of liberalism. However, it is precisely the arrogance of liberal democracy that has been used as a justification for a number of wars and, most recently, the war in Iraq. The appeal to a transcendentalist notion of democracy has effectively presaged an unjust war. The arguments are familiar from a colonial period: they, the other, are an ‘uncivilised’ people and we, enlightened Europeans that we apparently are, will endeavour to enlighten them. However, like Caliban in The Tempest, they refuse to be enlightened so we will force democracy upon them by the gun. This act is irrational in itself: the arrogance of liberal democracy has led to the most irrational acts of genocide. In The Sleep of Reason Produces Monsters, I have taken the text from Goya’s original aquatint prints and their formal composition. I have turned the original statement, reproduced on the desk where a figure sleeps, and put a question mark after it so that it reads in French, ‘The sleep of reason produces monsters in America?’ The original statement becomes rhetorical and I used French in particular here as it was the French who gave America its Statue of Liberty. There are five images in all, representing five continents. In Africa, it is an image of an old white man, rather than an African, asleep at the desk. In Asia, the figure is a black man. In the most basic terms I am suggesting that irrational aggression, born out of a form of Enlightenment rational reasoning, towards a race that you do not understand produces a sleep of ‘reason’ out of which comes monsters – and the term ‘monsters’ could be substituted here with any amount of atrocity. Your enlightened intentions, in sum, do not necessarily produce enlightened results.” 17 Über den Autor 1943 in Calw in Baden-Württemberg geboren, studierte Peter-Klaus Schuster Kunstgeschichte, deutsche Literatur und Philosophie in Tübingen, Zürich, Frankfurt und Göttingen. Nach Abschluss seiner Promotion 1975 mit einer Dissertation über Albrecht Dürer, Melencolia I. Dürers Denkbild, war er als Forschungsstipendiat am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München und als Volontär an der Hamburger Kunsthalle tätig. Sein weiterer Werdegang führte ihn an das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, wo er von 1978 bis 1981 als Konservator für die Kunst des 19. Jahrhunderts arbeitete. Während dieser Zeit kam er auch einem Lehrauftrag an der Universität Regensburg nach. Von 1981 bis 1983 war er als Kurator an der Hamburger Kunsthalle tätig, bevor er 1983 als Oberkonservator an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München berufen wurde. Zeitgleich kam Schuster während der fünf Jahre, die seinem Umzug nach Berlin im Jahr 1988 vorangingen, auch einem Lehrauftrag an der Ludwig-MaximiliansUniversität München nach. Seit 1988 hat er einen Lehrauftrag an der Freien Universität in Berlin inne, wo er im selben Jahr zum Hauptkurator und stellvertretenden Direktor der Nationalgalerie Berlin ernannt wurde. Von 1994 bis 1997 folgte die Position als Direktor der Alten Nationalgalerie. Von 1998 bis 1999 kehrte er für kurze Zeit als Generaldirektor an die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in München zurück, um von 1999 bis 2008 als Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin und Direktor der Nationalgalerie Berlin erneut in die Hauptstadt zurückzukehren. Im Jahr 2008 wurde Schuster der Verdienstorden des Landes Berlin verliehen und im selben Jahr wurde er vom Ordre des Arts et des Lettres mit der Ordensklasse des Officier ausgezeichnet. Von 2008 bis 2010 war er Gastforscher am Getty Research Institute (GRI) in Los Angeles. Er hat umfassend publiziert und zahlreiche Ausstellungen kuratiert, die sich auf die Kunst im Zeitalter Dürers sowie des 19. und 20. Jahrhunderts spezialisierten. Dieser Text wurde entnommen aus: Die Kunst der Aufklärung, Ausstellungskatalog der Staatlichen Museen zu Berlin, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen München in Kooperation mit dem National Museum of China, Peking 2011 18 Bei Fragen sprechen Sie uns gerne an: Ausstellung „Die Kunst der Aufklärung“: Mechtild Kronenberg Staatliche Museen zu Berlin Leiterin Presse, Kommunikation und Sponsoring Tel.: +49 30 266 42 3400 [email protected] Veranstaltungsreihe „Aufklärung im Dialog“: Christine Ehrig Stiftung Mercator Kommunikationsmanagerin Tel.: +49 201 245 22-0 [email protected] 19