Geschwisterbeziehungen

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Geschwisterbeziehungen
Fachbereich: Soziale Arbeit – Bildung und Erziehung
Studiengang: Early Education – Bildung und Erziehung im Kindesalter
Geschwisterbeziehungen
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Ihr Einfluss auf die (Persönlichkeits-)Entwicklung von Kindern und ihre Darstellung in
Bilderbüchern
Schriftliche Arbeit zur Erlangung des akademischen Abschlusses
Bachelor of Arts (B.A.)
Sommersemester 2009
Vorgelegt von:
Karina Schewe
Abgabetermin:
30.06.2009
Gutachterinnen:
Prof. Dr. phil. habil. Barbara Bräutigam
Prof. Dr. phil. Marion Musiol
urn:nbn:de:gbv:519-thesis2009-0109-6
Zusammenfassung
Kaum eine andere Beziehung unter Menschen ist so eng wie die zwischen Geschwistern. Die
gemeinsame Herkunft und Entwicklungsgeschichte, geteilte Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen bilden ein unlösbares Band und prägen die meisten Menschen, egal wie gut oder
schlecht die Beziehung untereinander ist. Geschwister haben entscheidenden Anteil an unserem Werdegang und unserer Persönlichkeitsentwicklung. Welche Bedeutung Geschwister
ganz konkret haben bzw. welchen Einfluss sie ausüben, wird ausführlich im ersten Teil dieser
Arbeit beschrieben. Im zweiten Teil werden drei Bilderbücher zum Thema vorgestellt.
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ................................................................................................................................... 6
I
Geschwisterbeziehungen und ihr Einfluss auf die (Persönlichkeits-)Entwicklung von
Kindern
1. Definition des Begriffes „Geschwisterbeziehung“ ................................................................ 9
2. Überblick über die Geschwisterforschung ............................................................................. 9
3. Merkmale von Geschwisterbeziehungen ............................................................................. 11
4. Einflussfaktoren von Geschwisterbeziehungen ................................................................... 12
4.1. Die Position in der Geschwisterreihe ............................................................................ 13
4.1.1. Der oder die Erstgeborene...................................................................................... 14
4.1.2. Der oder die Zweitgeborene ................................................................................... 15
4.1.3. „Mittlere“ Kinder ................................................................................................... 15
4.1.4. Das „Nesthäkchen“................................................................................................. 16
4.1.5. Schlussfolgerungen für die Arbeit in der Kindertagesstätte................................... 16
4.2. Die Geschwisteranzahl .................................................................................................. 17
4.3. Der Altersabstand .......................................................................................................... 18
4.4. Das Geschlecht der Geschwister ................................................................................... 21
4.5. Das Verhalten der Eltern ............................................................................................... 22
5. Entwicklung der Geschwisterbeziehung .............................................................................. 23
5.1. Entstehung und Aufbau der Geschwisterbeziehung...................................................... 23
5.2. Die Geschwisterbeziehung im Kleinkind- und Kindergartenalter ................................ 25
5.3. Die Geschwisterbeziehung im Grundschulalter ............................................................ 26
3
6. Formen der Geschwisterbeziehungen .................................................................................. 27
6.1. Enge Identifikation ........................................................................................................ 28
6.1.1. Zwillingsbildung .................................................................................................... 28
6.1.2. Verschmelzen ......................................................................................................... 29
6.1.3. Idealisierung ........................................................................................................... 29
6.2. Teilidentifikation........................................................................................................... 30
6.2.1. Loyale Akzeptanz................................................................................................... 30
6.2.2. Konstruktive Dialektik ........................................................................................... 31
6.2.3. Destruktive Dialektik ............................................................................................. 31
6.3. Geringe Identifikation ................................................................................................... 32
6.3.1. Polarisierte Ablehnung........................................................................................... 32
6.3.2. De-Identifizierung .................................................................................................. 32
7. Ambivalenzen in der Geschwisterbeziehung ....................................................................... 35
7.1. Geschwisterliebe ........................................................................................................... 35
7.2. Geschwisterrivalität....................................................................................................... 36
8. Geschwister und ihre Bedeutung füreinander – ein Fazit .................................................... 39
4
II
Geschwisterbeziehungen in Bilderbüchern
1. Das Bilderbuch..................................................................................................................... 40
2. „Bleib bloß da drin!“ ............................................................................................................ 41
2.1. Inhalt.............................................................................................................................. 41
2.2. Thema/Problem ............................................................................................................. 42
2.3. Bezug zum Kind............................................................................................................ 42
3. „Der kleine Bär und der viel zu große Pullover“ ................................................................. 43
3.1. Inhalt.............................................................................................................................. 43
3.2. Thema/Problem ............................................................................................................. 44
3.3. Bezug zum Kind............................................................................................................ 45
4. „Kleiner Bruder zu verkaufen!“ ........................................................................................... 45
4.1. Inhalt.............................................................................................................................. 45
4.2. Thema/Problem ............................................................................................................. 46
4.3. Bezug zum Kind............................................................................................................ 46
5. Fazit...................................................................................................................................... 47
III
Anhang
Quellennachweis ...................................................................................................................... 48
Primärliteratur ...................................................................................................................... 48
Sekundärliteratur .................................................................................................................. 48
Eidesstattliche Erklärung.......................................................................................................... 51
5
Einleitung
Eine Definition im Lexikon beschreibt Geschwister als „von denselben Eltern abstammende
Personen“ (Lexikographisches Institut 1995, S. 3590). In der Regel spricht man hier von leiblichen Geschwistern. In der heutigen Zeit, in der es immer mehr verschiedene Familienformen
gibt, nimmt aber auch die Zahl von Halb-, Stief-, Adoptiv- und Pflegegeschwistern zu. Meine
Ausführungen gelten aber dennoch überwiegend für die leiblichen Geschwister.
Kaum eine andere Beziehung unter Menschen ist so eng wie die zwischen leiblichen Geschwistern. Eltern sterben, Freunde verschwinden, Intimbeziehungen lösen sich auf, aber Geschwister bleiben einem Menschen meist lebenslang erhalten. Man kann nicht keine Beziehung zu seinem Geschwister/ seinen Geschwistern haben. Die gemeinsame Herkunft und
Entwicklungsgeschichte, geteilte Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen bilden ein unlösbares
Band und prägen die meisten Menschen, egal wie gut oder schlecht die Beziehung ist. Geschwister haben entscheidenden Anteil an unserem Werdegang, an unserer Identitätsbildung
bzw. Persönlichkeitsentwicklung. Sie bieten ein langjähriges Trainingsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen und sind Lernfeld im Umgang mit ambivalenten Gefühlen. Die
Erfahrungen mit Geschwistern in der Kindheit bilden die Basis für den Umgang mit Nähe und
Vertrautheit, mit Konkurrenz und Ablehnung, mit Konflikten und Versöhnung.
Neben der Eltern-Kind-Beziehung stellt auch die Geschwisterbeziehung eine grundlegende
Beziehung für jeden Menschen dar. Die Familie – sowohl Eltern als auch Geschwister – trägt
als wichtigste Sozialisationsinstanz zur grundlegenden Persönlichkeitsentwicklung des Menschen bei.
Welche Bedeutung hat aber nun dieses Thema für mich als zukünftige Erzieherin in einer
Kindertagesstätte (KITA)?
Kindertageseinrichtungen sind zu einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit den Eltern
verpflichtet. Obwohl sie neben den Eltern nur ein nachrangiges bzw. übertragenes Erziehungsrecht haben, üben Erzieher/innen dennoch beachtlichen Einfluss auf die Bildung und
Erziehung der Kinder aus. Familie und KITA sind gemeinsam für das Wohl der Kinder, deren
Bildung und Erziehung verantwortlich. Beide Institutionen prägen die kindliche Entwicklung
in entscheidendem Maße. Eine intensive Zusammenarbeit beider ist daher anzustreben. Offe6
ner Austausch und wechselseitige Kooperation sind Voraussetzung, um das Kind in seiner
Entwicklung verstehen und unterstützen zu können. Kenntnisse über die familiäre Lebenswelt
des Kindes sind Voraussetzung für die familienergänzende und familienunterstützende Funktion der KITA bzw. für die pädagogische Arbeit. Da zu der Familie aber nicht nur die Eltern,
sondern ebenso auch die Geschwister gehören, sollte auch ein grundlegendes Wissen über
Geschwisterbeziehungen Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses von Erziehern
bzw. Erzieherinnen sein. Man tritt der Familie wertschätzend und zugewandt gegenüber, die
Eltern fühlen sich in ihren individuellen Bedürfnissen und Lebensformen ernst genommen,
was als Grundlage für einen offenen Austausch dienen kann.
Ebenso kann es vorkommen, dass mehrere Kinder einer Familie dieselbe KITA besuchen.
Auch hierbei kann es von Vorteil sein, wenn man als Erzieher/in über ein Wissen über den
Einfluss von Geschwistern bzw. über verschiedene Aspekte von Geschwisterbeziehungen
verfügt, um das jeweilige Kind in seiner Entwicklung besser verstehen und unterstützen zu
können.
Geschwister sind etwas ganz besonderes. Niemand ist einem Menschen so nahe wie Bruder
oder Schwester – besonders in den ersten Lebensjahren. Rudolf Dreikurs, ein Schüler Alfred
Adlers, des Begründers der Individualpsychologie, äußerte bereits 1933:
„Man kann ganz einfach kein Kind unabhängig von seinen Geschwistern verstehen.“
(Vgl. Hax-Schoppenhorst 2007, S.37)
Welche Bedeutung Geschwister ganz konkret haben und welchen Einfluss sie auf die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen ausüben, möchte ich im Folgenden ersten Abschnitt dieser Arbeit beschreiben. Dazu definiere ich zunächst den Begriff „Geschwisterbeziehung“ und
gebe einen kurzen Überblick über die Geschwisterforschung. Anschließend erläutere ich einige Merkmale der Geschwisterbeziehungen und stelle verschiedene Einflussfaktoren vor. Danach folgt ein Überblick über Entwicklung und Verlauf von Geschwisterbeziehungen in der
Kindheit sowie über deren verschiedene Formen. Abschließend beschreibe ich die zwei gegensätzlichen Gefühle Liebe und Hass, die charakteristisch für die meisten Geschwisterbeziehungen sind.
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Geschwisterbeziehungen sind häufig mit Spannungen, Konflikten und Problemen verbunden,
die jüngere Kinder oftmals noch nicht verbalisieren können. Um Kindern Möglichkeiten aufzuzeigen, wie sie damit umgehen können bzw. Lösungen anzudeuten, können Bilderbücher
eingesetzt werden. Im zweiten Teil dieser Arbeit stelle ich daher drei verschiedene Bilderbücher, die die „Geschwisterproblematik“ zum Thema haben, vor.
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I
Geschwisterbeziehungen und ihr Einfluss auf die (Persönlichkeits-)Entwicklung von
Kindern
1. Definition des Begriffes „Geschwisterbeziehung“
Die amerikanischen Psychologen Stephen P. Bank und Michael D. Kahn beschreiben in ihrem
Buch „Geschwister-Bindung“ die Geschwisterbeziehung als eine „Beziehung zwischen dem
Selbst von zwei Geschwistern: die ‚Zusammensetzung’ der Identitäten zweier Menschen.“
(Bank/Kahn 1991, S. 21)
Es gibt allerdings nicht die eine, allumfassende Geschwisterbeziehung. Jede Beziehung unter
Geschwistern ist anders; es besteht eine Vielzahl von Bindungen. Diese können zum einen
positiv, zum anderen aber auch negativ sein. Dennoch vermittelt die Geschwisterbeziehung
ein Gefühl für die eigene, eigenständige Persönlichkeit. Auch wenn die Beziehung unter den
Geschwistern eher negativ geprägt ist, entsteht trotzdem das Gefühl einer vertrauten Präsenz –
wie schwierig auch immer.
Je nach Entwicklungsstand der Geschwister ist die Geschwisterbeziehung entweder durch
intensivste Aktivitäten oder Ruhe gekennzeichnet: In Kindheit und Jugend sind die Beziehungen am deutlichsten, im Erwachsenenalter „ruhen“ sie meistens etwas, wenn eigene Familien
gegründet werden. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
2. Überblick über die Geschwisterforschung
Die Beschäftigung mit der Entwicklung von Geschwisterbeziehungen hat im vergangenen
Jahrhundert eine eigene wissenschaftliche Disziplin hervorgebracht – die Geschwisterforschung. Diese untersucht die Beziehungen zwischen Geschwistern unter verschiedenen psychologischen, historischen und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Die Geschwisterforschung orientiert sich unter anderem an den Faktoren Familiengröße, Position innerhalb
der Geschwisterreihe, Abfolge der Geschlechter und zeitlicher Abstand zwischen den Geschwistern. Gegenstand der Forschung ist hierbei der Einfluss dieser Faktoren auf die Persön9
lichkeit des Menschen. In Kapitel 4 werde ich darauf noch näher eingehen. Diesen Variablen
der Geschwisterkonstellation wurde über Jahrzehnte hinweg großes Interesse gewidmet.
Erst in den letzten Jahrzehnten weitete sich das Interesse der Forschung weiter aus. Neuere
Ansätze untersuchen die Phasen der Geschwisterbeziehung im Lebensverlauf (siehe auch Kapitel 5), die einzelnen Funktionen der Geschwisterbeziehung, Unterschiede zwischen den
Kulturen bzw. universelle Gemeinsamkeiten. (Vgl. Hax-Schoppenhorst 2007)
Alfred Adler (1870-1937), Begründer der Individualpsychologie, gilt als „Vater“ der Geschwisterforschung. Er begann als erster Psychologe bereits ab Mitte der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts, sich mit den Positionen in der Geschwisterreihe und deren Einfluss zu beschäftigen. (Vgl. Frick 2004)
Dennoch wurde im Verhältnis zu anderen Sozialbeziehungen, wie z.B. Eltern-Kind-, Partneroder Peer-Beziehungen, den Beziehungen zwischen Geschwistern in der Forschung jahrzehntelang erstaunlich wenig Bedeutung beigemessen. (Vgl. Kasten 2004 (2))
Erst allmählich erkennen immer mehr Fachleute die Bedeutung von Geschwistern für die Individual- bzw. Persönlichkeitsentwicklung. Sowohl in der Entwicklungspsychologie, der Soziologie als auch in der Familienpsychologie weist man auf die wichtige Funktion von Geschwistern für die Sozialisation hin und räumt ihnen eine besondere Rolle im Lebenslauf ein.
(Vgl. Frick 2004)
Im deutschsprachigen Raum sind es vor allem Jürg Frick, Psychologe und Professor an der
Pädagogischen Hochschule in Zürich, und Hartmut Kasten, Entwicklungspsychologe, Familienforscher und Frühpädagoge an der Ludwig-Maximilian-Universität in München, die mit
ihren Veröffentlichungen wichtige Erkenntnisse der Geschwisterforschung zugänglich machen.
Im Bereich der längsschnittlich orientierten Geschwisterforschung bestehen nach Hartmut
Kasten noch einige Lücken. In den letzten 20 Jahren sind zunehmend positive Aspekte von
Geschwisterbeziehungen wie Nähe, Intimität, Verbundenheit sowie negative Komponenten
wie Rivalität, Eifersucht und Aggression in den Fokus der empirischen Forschung gerückt.
Kaum untersucht sind Entwicklungsphasen übergreifende Zusammenhänge sowie die Le10
bensbedingungen von Ein- bzw. Mehr-Kind-Familien, um herauszuarbeiten, ob Einzelkinder
gegenüber Geschwisterkindern im Vor- oder Nachteil sind. (Vgl. Kasten 2004 (1))
Im Folgenden möchte ich nun wesentliche Ergebnisse der Geschwisterforschung weiter ausführen.
3. Merkmale von Geschwisterbeziehungen
Geschwisterbeziehungen werden auch, ebenso wie Eltern-Kind-Beziehungen, als Primärbeziehungen bezeichnet, da sie von Anfang an da sind. Wir haben Eltern und möglicherweise
auch bereits Geschwister von Geburt an oder diese kommen später hinzu. (Vgl. Kasten 1998)
Andererseits sind Geschwisterbeziehungen, im Gegensatz zu den vertikalen und asymmetrischen Eltern-Kind-Beziehungen (auf ungleicher Stufe basierend, hierarchisch aufgebaut), in
der Regel eher horizontal und symmetrisch. Das heißt, Geschwister stehen auf gleicher Ebene,
begründet durch die Zugehörigkeit zu derselben oder ähnlichen Altersgruppe. (Vgl. Frick
2004)
Beziehungen zwischen Geschwistern können durch spezifische, relativ stabile Merkmale charakterisiert werden, die sie von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen unterscheiden.
Hartmut Kasten hat mehrere Merkmale zusammengestellt:
Die Geschwisterbeziehung ist zum einen die – zeitlich gesehen – längste Beziehung im Leben
eines Menschen und endet erst, wenn ein Geschwister stirbt. Sie besteht in der Regel wesentlich länger als die Eltern-Kind-Beziehung.
Zum Zweiten besitzen Geschwisterbeziehungen etwas Schicksalhaftes, weil man sich seine
Geschwister nicht aussuchen kann, sondern in die Familie hineingeboren wird. (Vgl. Kasten
2004 (1), (2))
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Die Autorinnen Cornelia Nitsch und Brigitte Beil schreiben dazu:
„Geschwister sind ein nicht selbst gewählter Teil des eigenen Lebens, und sie bleiben
es, ob man will oder nicht.“ (Nitsch/Beil 2007, S. 36)
Durch ihr Da-Sein und So-Sein nehmen sie auch Einfluss auf unseren persönlichen Lebenslauf bzw. auf unsere Persönlichkeitsentwicklung. (Vgl. Nitsch/Beil 2007)
Ein weiteres Merkmal sind die in unserem Kulturkreis nicht vorhandenen gesellschaftlich
kodifizierten Regeln, die auf den Ablauf und die Gestaltung von Geschwisterbeziehungen
Einfluss nehmen, so wie z.B. Heirat, Scheidung, Taufe, Kündigung oder ähnliches, welche für
andere Sozialbeziehungen gelten.
Ein viertes Merkmal sind die im Allgemeinen mehr oder weniger ausgeprägten, ungeschriebenen Verpflichtungen, welche zwischen Geschwistern existieren, die sich in solidarischem,
Anteil nehmendem, hilfsbereitem und hilfreichem Verhalten manifestieren können.
Weiterhin können Geschwisterbeziehungen durch das Aufwachsen in einem „Nest“, in einem
Zuhause, durch ein Höchstmaß an Intimität charakterisiert sein, welches in keiner anderen
Sozialbeziehung erreicht wird. Sie gelten als die engsten und vertrautesten Beziehungen überhaupt.
Ein letztes von Hartmut Kasten angeführtes, für die meisten Geschwisterbeziehungen typisches Merkmal ist eine tief verwurzelte emotionale Ambivalenz, also das gleichzeitige Vorhandensein von intensiven positiven Gefühlen wie Liebe und Zuneigung und negativen Gefühlen wie Ablehnung oder sogar Hass (siehe Kapitel 7). (Vgl. Kasten 2004 (1), (2))
4. Einflussfaktoren von Geschwisterbeziehungen
Auch wenn es verschiedene relativ stabile Merkmale von Geschwisterbeziehungen gibt, ist
dennoch nicht jede Beziehung unter Geschwistern gleich. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die Einfluss auf das Miteinander zwischen den Geschwistern haben können, z.B. die Position in der Geschwisterreihe, der Altersabstand, die Geschwisteranzahl, das Geschlecht der
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Geschwister, das Verhalten der Eltern und noch einige mehr. Im Folgenden möchte ich näher
auf einige Faktoren eingehen und mögliche Effekte beschreiben.
Zu beachten ist allerdings, dass die einzelnen Faktoren nicht unabhängig voneinander zu betrachten sind. Alle hängen miteinander zusammen und stehen in einem permanenten Wechselspiel.
4.1. Die Position in der Geschwisterreihe
Begründer der Geburtsrangplatzforschung ist – wie weiter oben schon erwähnt – Alfred Adler, der in seiner in den 1920er Jahren geschaffenen Individualpsychologie die Aufmerksamkeit auf mögliche Zusammenhänge zwischen Geburtsrangplatz und Eigenschaften des Individuums lenkte. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass mit einer bestimmten Position in der
Geschwisterreihe typische Erziehungs- und Sozialisationseinflüsse verbunden sind, die die
Persönlichkeit des Kindes entscheidend formen. (Vgl. Kasten 1998)
Ende der 90er Jahre wurden Alfred Adlers Thesen durch Frank Sulloway, Wissenschaftshistoriker an der University of California in Berkeley, bestärkt. Er behauptete, dass der Platz in der
Geburtenfolge für das Verhalten und den Werdegang eines Menschen entscheidender sei als
Geschlecht, Gene, Temperament oder soziales Milieu. Diese Theorie belegte er mit der Analyse von über 6.000 Lebensläufen berühmter Menschen, darunter u.a. Kopernikus oder Voltaire, aber auch aktuelle Hollywood-Schauspieler wie Tom Hanks oder Bruce Willis. (Vgl.
Nitsch/Beil 2007)
Heute wird Frank Sulloways Theorie nur noch begrenzt akzeptiert. Die Bedeutung der Position innerhalb der Geschwisterreihe ist laut Hartmut Kasten sehr gering. (Vgl. Kasten 1998)
Dennoch werden bei Erklärungsversuchen zur Verschiedenheit von Geschwistern immer wieder Bezüge zum jeweiligen Geburtsrangplatz hergestellt, unter dem Vorbehalt, dass es nicht
zwangsläufig so sein muss, aber so sein kann. Es gibt also, wie Jürg Frick ausführt, Tendenzen, die jedoch nicht verallgemeinert werden dürfen, da zwischen Familienmitgliedern dynamische Beziehungen bestehen. Keine Geschwisterposition kann generell als günstiger oder
nachteiliger betrachtet werden. Jede Konstellation bringt je nach individueller und familiärer
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Situation Vor- und Nachteile, Möglichkeiten, Chancen, Potentiale, Gefahren, Probleme oder
Risiken mit sich. (Vgl. Frick 2004)
Ich möchte nun einen Überblick über die wesentlichen Geschwisterpositionen geben.
4.1.1. Der oder die Erstgeborene
Das erste Kind erlebt eine besondere Situation, da es zunächst die alleinige Aufmerksamkeit
der Eltern erfährt. Es steht im Mittelpunkt ihres Interesses. Für Erstgeborene sind die Eltern
Vorbilder, von denen sie vieles lernen und übernehmen. Alles, was Erstgeborene tun, wird für
die Eltern oder andere Familienmitglieder zu einer bedeutsamen Angelegenheit. Erstgeborene
fühlen sich von ihrer Umgebung akzeptiert und ernst genommen. Mit der Geburt eines zweiten Kindes setzt ein so genanntes „Entthronungserlebnis“ bzw. „Entthronungstrauma“1, wie es
häufig in der Literatur bezeichnet wird, ein. Das ältere Kind tut sich oft schwer mit dieser
neuen Situation. Damit verbunden ist die Angst, nun nicht mehr im Mittelpunkt des familiären
Geschehens zu stehen, zurückgesetzt oder benachteiligt zu werden. Das erste Kind ist nun
nicht mehr konkurrenzlos; häufig setzt Eifersucht auf das zweite Kind ein.
Erstgeborene können aber durchaus auch liebevolles, von Neugierde und positiven Spannungen getragenes Verhalten gegenüber dem zweiten Kind zeigen. Eine zentrale Rolle spielt
hierbei das Verhalten der Eltern (siehe 4.5. und 5.1.).
Im Vergleich zu den jüngeren Geschwistern gelten die älteren oft als „Maßstab“, als die
„Vernünftigen“.
Erstgeborene entwickeln sich meist schneller als ihre Geschwisterkinder und übernehmen
häufig die Verantwortung für die jüngeren Geschwister. Meist sind sie zuverlässig, gewissenhaft und ehrgeizig. (Vgl. Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007; Kasten 1998; Leman 1994;
Mähler 2002; Rufo 2004; Stark-Städele 2006; wh 2009)
1
Die Bezeichnung „Entthronungstrauma“ geht auf Alfred Adler zurück, der davon ausging, dass das erste Kind
durch die Geburt des zweiten einen Schock erleidet, begleitet von Gefühlen wie Neid, Eifersucht, Ablehnung
oder sogar Hass. (Vgl. Kasten 1998; Nitsch/Beil 2007)
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4.1.2. Der oder die Zweitgeborene
Das zweite Kind steht zunächst im Zentrum der elterlichen Aufmerksamkeit. Es erlebt meist
sehr deutlich den Vorsprung des älteren Geschwisters, was entweder als Benachteiligung oder
als Anreiz empfunden werden kann. Dem älteren Bruder bzw. der älteren Schwester nachzueifern, erweist sich häufig als „Entwicklungsantrieb“. Das ältere Kind beobachtet mit Stolz
und Vergnügen, wie sich das jüngere Geschwister anstrengt, auf gleicher Höhe zu stehen, das
zu erreichen, was der große Bruder oder die große Schwester bereits kann. Wenn das Nacheifern allerdings zu einem „Kampf“ wird, entstehen Probleme. Als tragisches Ereignis für das
ältere Kind ist zu werten, wenn es vom zweiten Kind ständig „überholt“ wird, wenn dieses
also z.B. bessere Noten in der Schule bekommt.
Wenn das jüngere zum älteren Kind aufschließt, zieht sich das ältere häufig zurück: Es gibt
auf dem entsprechenden Gebiet auf oder wendet sich einer anderen Beschäftigung zu. (Vgl.
Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007; Stark-Städele 2006)
4.1.3. „Mittlere“ Kinder
Für „mittlere“ Kinder gestaltet sich die Suche nach ihrer eigenen Stellung bzw. Identität am
schwierigsten. Etwas überspitzt kann man sagen: Sie kamen zu spät auf die Welt, um die Privilegien und die Aufmerksamkeit zu genießen, die die Erstgeborenen hatten und sie kamen zu
früh auf die Welt, um sich alles erlauben zu dürfen, was den „Nesthäkchen“ oft vorbehalten
bleibt.
Auf der einen Seite profitieren „Mittelkinder“: Sie sind größer und älter als die jüngeren Geschwister und können somit als Vorbilder fungieren. Von den älteren Geschwistern lernen sie
und können Fehler vermeiden, die den „Großen“ bereits Ärger und Leid eingebracht haben.
Andererseits fühlen sich „mittlere“ Kinder oft allein gelassen, von keinem geliebt und überflüssig, da das erste Kind immer etwas besonderes bleibt – es hat seinen Platz in der Familie –
und das jüngste ebenfalls eine besondere Stellung einnimmt.
„Mittlere“ Kinder sind Einflüssen von den großen und den kleinen Geschwistern sowie von
den Eltern ausgesetzt, weshalb sie sehr gegensätzlich sein können: Manche bleiben im Hintergrund und behaupten sich wenig zwischen den Geschwistern. Sie fordern selten ihre Rechte
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ein. Ihr Grundbestreben ist es, Anerkennung zu erlangen. Andere „Mittelkinder“ sind lebhaft
und quirlig. Der Wettstreit zum ersten Kind ist für sie Motivation, zu lernen. Bekommen sie
zu wenig Anerkennung und Lob, können sie ungeduldig oder sogar aggressiv werden.
Bedingt durch ihre Stellung in der Familie sind „Mittelkinder“ oft gute „Diplomaten“: Sie
vermitteln zwischen den Geschwistern und schließen Kompromisse. (Vgl. Frick 2004; HaxSchoppenhorst 2007; Kasten 1998; Leman 1994; Mähler 2002; Rufo 2004; Stark-Städele
2006; wh 2009)
4.1.4. Das „Nesthäkchen“
Die jüngsten Kinder erleben ihre Geschwister als größer, schneller und geschickter, was einerseits beeindruckend bzw. herausfordernd, andererseits aber auch belastend sein kann. Die
älteren Geschwister sind Ansporn und Richtmaß. Es gibt aber auch Kinder, die lange Zeit die
Gefühle der vermeintlichen Minderwertigkeit nicht loswerden.
„Nesthäkchen“ erfahren von den übrigen Familienmitgliedern Schutz, Rat und Begleitung.
Andererseits wird mit den jüngsten Kindern häufig auch sehr zwiespältig umgegangen: Sie
werden zum einen liebkost und meist besonders verwöhnt, zum anderen abgewiesen und herabgesetzt.
Jüngere Kinder haben oft den Wunsch, von ihren älteren Geschwistern ernst genommen zu
werden.
Die Jüngsten wissen oft sehr schnell, wie sie sich verhalten müssen, um an ihr Ziel zu kommen. Sie möchten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen, zeigen dabei nicht selten
Charme und sind häufig sehr lebhaft. (Vgl. Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007; Kasten
1998; Leman 1994; Mähler 2002; Rufo 2004; Stark-Städele 2006; wh 2009)
4.1.5. Schlussfolgerungen für die Arbeit in der Kindertagesstätte
Jede Geburt eines weiteren Kindes bringt Veränderungen im Familienleben und in den Beziehungen zueinander mit sich, was sich auf das Verhalten und die Persönlichkeit jedes einzelnen Kindes auswirkt und auch Probleme mit sich bringen kann. Ältere Geschwister haben
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eventuell Schwierigkeiten, sich an die neue Situation zu gewöhnen und damit umzugehen.
Damit sich Erzieherinnen bzw. Erzieher auf solche Situationen einstellen und die Kinder dabei begleiten und unterstützen können, ist es wichtig, die Eltern als Partner in der Erziehung
der Kinder zu sehen und sich regelmäßig sowohl über die Entwicklung des Kindes als auch
über die Familienverhältnisse bzw. das Familienleben auszutauschen. Das kann dabei helfen,
jedes Kind in seinem So-Sein, in seiner Entwicklung besser zu verstehen.
4.2. Die Geschwisteranzahl
Hartmut Kasten weist darauf hin, dass sich die Tatsache, ob ein Kind Einzelkind ist, ein oder
mehrere Geschwister hat, stärker auf seine Entwicklung auswirkt als sein Geburtsrangplatz.
Er verweist auf den klinischen Psychologen Arnold Langenmayr, der sich mit den Einflüssen
der Geschwisterzahl beschäftigt hat. Langenmayr geht davon aus, dass bestimmte konstante
Merkmale wie z.B. die Geschwisterzahl, einen Menschen auf bestimmte Weise beeinflussen
und in seinem Verhalten und Erleben entscheidend prägen. (Vgl. Kasten 1998)
Bei einer geringen Zahl von Kindern besteht die Gefahr, dass vielfältige Erwartungen der
Eltern gezielt an jene gerichtet werden. Dies kann von den Kindern entweder als Druck – im
Sinne von zu hohen, vielen und einseitigen Erwartungen – oder auch als Chance – im Sinne
von optimaler Zuwendung und Förderung – empfunden werden. Familien mit mehreren Kindern hingegen bieten mehr Freiräume, da Zuwendung und Aufmerksamkeit „aufgeteilt“ werden müssen; es besteht aber auch die Gefahr, zu wenig Beachtung zu finden, „unterzugehen“.
(Vgl. Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007)
Die Ergebnisse des Mikrozensus 2005 zeigen, dass im Jahr 2005 fast die Hälfte aller minderjährigen Kinder (48 %) mit einem Geschwister im Haushalt aufwuchs, 19 % hatten 2 Geschwister, 8 % mindestens 3. Ein Viertel von den 14,4 Millionen minderjährigen Kindern
wuchs ohne Geschwister im Haushalt auf. (Vgl. Statistisches Bundesamt 2006)
Am häufigsten vertreten ist somit die Zwei-Kind-Familie, in der Stephen P. Bank und Michael D. Kahn „das Potential für gegenseitige Abhängigkeit und Intensivierung des Geschwisterverhältnisses gegeben“ (Bank/Kahn 1991, S. 17) sehen. Es kann ausschließlicher Einfluss auf
den einen Bruder bzw. die eine Schwester ausgeübt werden. Er oder sie ist einziger Bezugspunkt für den anderen – bezogen auf das Geschwisterverhältnis. Wenn ein Geschwister aber
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aus dem gemeinsamen Zuhause auszieht oder gar stirbt, fehlt diese enge Bezugsperson und
auch ein „Ersatz“. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
Bank und Kahn schreiben dazu:
„Durch das Fehlen anderer Geschwister, mit denen man Freud und Leid teilen, sich
identifizieren kann, können heutige Geschwister in sehr intensiven oder begrenzten
Beziehungen gefangen bleiben.“ (Bank/Kahn 1991, S. 17)
4.3. Der Altersabstand
Die amerikanischen Psychologen Stephen P. Bank und Michael D. Kahn beschreiben den
Altersabstand als entscheidenden Faktor, welcher den emotionalen Zugang der Geschwister
zueinander bestimmt. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
Geschwister mit kleinem Altersabstand entwickeln häufiger eine enge, gefühlsintensive Bindung zueinander als Geschwister mit größerem Altersabstand. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass altersmäßig eng benachbarte Geschwister viele Gemeinsamkeiten im Alltag teilen und entwicklungsbedingt ähnliche Interessen haben. Sie gehen häufig in denselben Kindergarten bzw. dieselbe Schule, spielen mit den gleichen Freunden oder ähnliches. Dadurch
gibt es aber auch oft Grund zum Streiten. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Frick 2004; Kasten 1998;
Mähler 2002; Nitsch/Beil 2007; Stark-Städele 2006)
Hartmut Kasten schreibt, dass unter Geschwistern mit geringerem Altersabstand häufiger Rivalität und aggressives Verhalten auftreten als bei altersmäßig entfernteren Geschwistern. In
der frühen Kindheit gehen die aggressiven Verhaltensweisen häufig vom älteren Geschwister
aus. Als Beweggründe führt Hartmut Kasten Neid und Eifersucht des älteren Kindes auf das
jüngere Geschwister an. (Vgl. Kasten 1998)
Je größer der Altersabstand zwischen den Geschwistern ist, desto weniger beschäftigen sie
sich miteinander. Sie haben weniger Gemeinsamkeiten und es kommt seltener zu Streitigkeiten. (Vgl. Kasten 1998; Stark-Städele 2006)
18
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn beschreiben Geschwister mit größerem Altersunterschied als „Geschwister mit niedrigem Zugang“ (Bank/Kahn 1991, S. 15). Sie fügen hinzu:
„Meist besteht ein Altersunterschied von 8-10 Jahren, so daß sie eigentlich verschiedenen Generationen angehören. Sie haben nur wenig Zeit miteinander verbracht und
kaum eine gemeinsame persönliche Geschichte; ihre Schulzeit, Freunde, ja sogar ihre
Eltern waren verschieden, die sich ja je nach Lebensalter anders zu ihrer Rolle verhalten. Ihnen fehlt das Gefühl einer gemeinsamen Geschichte.“ (Bank/Kahn 1991, S.
15)
Geschwister mit solch einem großen Altersabstand wachsen häufig wie zwei Einzelkinder
auf. (Vgl. Kasten 1998)
Jürg Frick fasst in einer Tabelle Schwerpunkte und Tendenzen der Einflüsse des Altersabstandes von Geschwistern zusammen, allerdings unter dem Vorbehalt, dass, abhängig von
vielen weiteren Faktoren, im Einzelfall ganz andere Auswirkungen möglich sind. (Vgl. Frick
2004)
19
Tabelle 1: Einflüsse des Altersabstandes von Geschwistern2
Altersunterschied
Klassifikation
eher positiv
eher negativ
1-3 Jahre
kleiner Altersunterschied
gemeinsame Beschäftigungen, Aktivitäten, Interessen
unter Brüdern häufiger
Handgreiflichkeiten
in der Regel enge emotionale Beziehung
Vergleiche können Neid,
Konkurrenz, Rivalität und
Aggressivität fördern.
Tutoren-Effekt: Jüngere
Geschwister übernehmen
häufig Satzgebilde, Redewendungen, Meinungen,
Ansichten.
Vergleiche können zu produktiven Leistungen führen.
3-6 Jahre
mittlerer bis großer
Altersunterschied
tendenziell weniger aggressive Auseinandersetzungen,
je größer der Altersunterschied
Ältere Geschwister übernehmen häufig Betreuungsaufgaben und können Vorbilder werden.
wenige gemeinsame Interessenfelder, je größer der
Abstand ist
großer Unterschied in der
Selbständigkeit
Tutoren-Effekt: Jüngere
Geschwister übernehmen
häufig Meinungen, Ansichten des älteren Geschwisters.
mehr als 6 Jahre
großer Altersunterschied
Betreuung des jüngsten
Geschwisters fördert Sozialkompetenzen des Betreuerkindes.
wenige bis keine gemeinsamen Interessen
Geschwister leben in verschiedenen Welten.
Erziehung/Betreuung durch
die älteren Geschwister ist
eine Entlastung für die Eltern.
kaum Konkurrenz unter den
Geschwistern
Bei der Frage nach dem idealen Altersabstand gehen die Meinungen auseinander: Hartmut
Kasten hält 3 Jahre für optimal (Vgl. Kasten 2004 (2)), Marcel Rufo hingegen befindet 6 bis 7
2
Quelle: Frick, Jürg: Ich mag dich – du nervst mich! : Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben. 1.
Auflage. Bern: Verlag Hans Huber 2004. S. 99
20
Jahre als idealen Altersabstand (Vgl. Rufo 2004). Ich hingegen bin der Meinung, dass es keinen idealen Altersabstand gibt. Jeder hat Vor- und Nachteile: Ein geringer Abstand kann zu
einer engen Bindung, aber auch zu großer Rivalität führen, ein größerer zu weniger Rivalität,
aber auch zu geringerer emotionaler Bindung. Dennoch: Jede Geschwisterbeziehung hat ihre
eigene Dynamik. Der Altersabstand ist nur einer von vielen Einflussfaktoren, deren Zusammenspiel entscheidend ist, wenn es um die Beziehung zwischen den Geschwistern geht.
4.4. Das Geschlecht der Geschwister
Wenn man den Ausführungen von Hartmut Kasten folgt, hat das Geschwistergeschlecht bzw.
die Geschlechtszusammensetzung der Geschwisterreihe nachweisbare Auswirkungen auf die
individuelle Entwicklung des Kindes in bestimmten Bereichen, die vermutlich sogar über
Kindheit und Jugend hinweg andauern. Wissenschaftliche Untersuchungen haben die Einflüsse auf eine Reihe von Persönlichkeitsmerkmalen wie Geschlechtsrollenverhalten, Intelligenz,
Kreativität, Lernverhalten, Leistungsmotivation, Berufsinteressen u.a. nachgewiesen.
Ich möchte in Kürze auf einige Forschungsergebnisse eingehen:
Hartmut Kasten führt an, dass Mädchen, welche die Eigenschaften des weiblichen Rollenklischees besonders deutlich zeigen, häufig Einzelkinder sind oder ausschließlich weibliche Geschwister haben. Dasselbe gilt entsprechend für die Jungen. Wenn der Altersabstand zwischen
diesen Geschwistern gering ist, verstärkt sich das rollenkonforme Verhalten zusätzlich.
Dem gegenüber entwickeln sich Mädchen, die mit Brüdern aufwachsen, weniger geschlechtsrollenkonform, genauso wie Jungen, die mit Schwestern aufwachsen. Kinder, die mit älteren
Geschwistern des anderen Geschlechts aufwachsen, übernehmen mehr typische Interessen
dieses Geschlechts – die große Schwester bzw. der große Bruder gelten als Vorbild. (Vgl.
Kasten 1998)
Jürg Frick ergänzt dazu, dass das nur in solchen Familien gilt, in denen keine allzu starke geschlechtsspezifische Erziehung und Wertung vorgenommen wird. (Vgl. Frick 2004)
Wissenschaftliche Untersuchungen haben zudem hervorgebracht, dass es für Jungen, um Kreativität bzw. Problemlösefähigkeit auszubilden, wichtiger ist, eine Schwester, als umgekehrt
21
für Mädchen, einen Bruder zu haben. Außerdem profitieren jüngere Geschwister von älteren
Schwestern in sprachlicher Hinsicht, von älteren Brüdern in mathematisch-naturwissenschaftlicher Hinsicht. (Vgl. Kasten 1998)
Auch wenn diese Ergebnisse mehrfach nachgewiesen wurden, so sind sie dennoch nicht auf
alle Geschwisterbeziehungen zu übertragen und allgemeingültig. Es muss auch hierbei beachtet werden, dass andere Einflussfaktoren wie z.B. der Altersabstand, die Geschwisterzahl, die
Eltern-Kind-Beziehung bzw. der Erziehungsstil der Eltern u.a., die Wirkung des Geschwistergeschlechts in verschiedene Richtungen beeinflussen können.
4.5. Das Verhalten der Eltern
Der Pädagoge Thomas Hax-Schoppenhorst zitiert in seinem Buch Jürg Frick, der darauf hinweist, „dass die Haltung der Eltern die zentrale Einflussgröße bei der Frage ist, ob zwischen
Geschwistern eher eine kooperative oder stark konkurrierende oder gar ablehnende Tendenz
überwiegt.“ (Vgl. Hax-Schoppenhorst 2007, S. 64)
Folgt man den Ausführungen von Jürg Frick, so hat der Erziehungsstil der Eltern bedeutenden
Einfluss auf die Art der Geschwisterbeziehung. Der Psychologe schreibt:
„Tendenziell kann festgehalten werden, dass ein autoritativer Erziehungsstil in der
Regel eine günstigere Voraussetzung für ein überwiegend positives Geschwisterverhältnis schafft als ein autoritärer, vernachlässigender oder permissiver Stil.“ (Frick
2004, S. 105)
Eine Geschwisterbeziehung ist nicht von Anfang an da, sondern sie muss wachsen und gefördert werden. Diese Aufgabe kommt den Eltern zu. Sie leben Beziehung vor, sind Vorbilder,
vermitteln ein grundlegendes Verständnis von Beziehung. Das Verhalten der Eltern spielt eine
wichtige Rolle bei der Qualität der Geschwisterbeziehung, sie sind „Moderatoren“ für den
Umgang der Geschwister untereinander. Jedes Kind braucht eine sichere, verlässliche Bindung zur Mutter oder zum Vater, um auch untereinander eine Bindung aufzubauen. Sie müssen erleben, dass sie von beiden Eltern angenommen werden. Nachteilig für die Geschwisterbeziehung wirkt sich eine Ungleichbehandlung der Geschwister aus, die nicht allein durch
22
Alters- und Bedürfnisunterschiede begründet ist. (Vgl. Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007;
Schaeffler 2003; Stark-Städele 2006)
Darauf aufbauend möchte ich nun zum nächsten Kapitel übergehen, in dem das Verhalten der
Eltern ebenfalls eine Rolle spielt.
5. Entwicklung der Geschwisterbeziehung
Im Laufe des Lebens verändert sich das Verhältnis bzw. die Beziehung der Geschwister untereinander. Allerdings gibt es noch keine umfassende Studie, die sich mit der Entwicklung
von Geschwisterbeziehungen über die Lebensspanne hinweg befasst. Es wurden bisher nur
Ergebnisse aus verschiedenen Untersuchungen miteinander verglichen und zu einem Gesamtbild zusammengefügt. (Vgl. Kasten 1998)
Im Folgenden möchte ich die sich wandelnden Beziehungen zwischen Geschwistern beschreiben, beginnend bei der Geburt des zweiten Kindes bis hin zum Grundschulalter. Auf die
Art der Beziehungen im Jugend-, Erwachsenen- und höheren Alter werde ich nicht weiter
eingehen, da dies für mein späteres Arbeitsfeld eine eher geringere Bedeutung hat.
5.1. Entstehung und Aufbau der Geschwisterbeziehung
Seit etwa 20 Jahren gibt es Beobachtungsstudien, die untersuchen, was in einer Familie nach
der Geburt des zweiten Kindes passiert. In Amerika, England, Kanada und Deutschland wurden vor allem Mittelschichtfamilien über mehrere Jahre regelmäßig beobachtet und befragt.
Die Geburt eines jüngeren Geschwisters kann für das erste Kind durchaus mit krisenhaften
Erlebnissen verbunden sein (siehe 4.1.1.); die Beziehungen in der Familie werden neu geordnet. Das Verhalten der Eltern nach der Geburt ist von entscheidender Bedeutung. Es liegt in
ihrer Verantwortung, Kontakt zwischen den Geschwistern herzustellen, sie miteinander bekannt und vertraut zu machen und so auf den Aufbau einer Beziehung zwischen ihnen hinzuwirken. (Vgl. Frick 2004; Hax-Schoppenhorst 2007; Kasten 1998)
23
Kurt Kreppner, Sibylle Paulsen und Yvonne Schütze, eine Forschergruppe des Berliner MaxPlanck-Instituts für Bildungsforschung, haben sich in den 70er Jahren 2 Jahre lang mit den
Problemen auseinandergesetzt, die bei der Geburt eines zweiten Kindes entstehen. Vier Wissenschaftlerinnen der Frankfurter Universität setzten diese Untersuchungen fort. Es wurde ein
Drei-Phasen-Modell für die Zeit nach der Geburt des zweiten Kindes erarbeitet, welches die
dadurch entstehenden familiären Veränderungen beschreibt. (Vgl. Kasten 1998; Mähler 2002)
In der ersten Phase, welche den Zeitraum von der Geburt des zweiten Kindes bis zu dessen 8.
Lebensmonat umfasst, ist es Aufgabe der Eltern, beide Kinder zu versorgen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, aber auch Kontakt zwischen beiden Geschwistern herzustellen
bzw. Kontaktaufnahmen anzuregen. Wichtig ist es zudem, in dieser ersten Phase vor allem
den Bedürfnissen des älteren Kindes nach ungeteilter, elterlicher Zuwendung Beachtung zu
schenken. Es reagiert häufig mit negativen Verhaltensänderungen wie Schlafproblemen oder
Aggressivität, welche sich aber nicht direkt gegen das Baby richtet.
Die zweite Phase umfasst die Zeitspanne vom 8. bis etwa 16. Lebensmonat des zweiten Kindes. In dieser Zeit nimmt der Aktionsradius des jüngeren Kindes erheblich zu, es lernt laufen,
sprechen und vieles mehr. Es kommt häufig zu konflikthaften Auseinandersetzungen zwischen den Geschwistern. Das ältere Kind fühlt sich vom jüngeren gestört. Aggressionen richten sich jetzt eindeutiger an das kleine Geschwisterkind; Anzeichen von Rivalität und Eifersucht zeichnen sich ab. Die Eltern müssen in dieser Phase dafür sorgen, dass den unterschiedlichen Erwartungen der beiden Kinder entsprochen wird und dass sie sich auch nach heftigem
Streit wieder vertragen. Daneben gibt es aber auch positive Begegnungen zwischen den Kindern. (Vgl. Kasten 1998, 2004 (2); Mähler 2002; Petri 2001; Schaeffler 2003)
Die Berliner Forschergruppe konnte beobachten, dass sich Eltern unterschiedlich verhalten,
was die Regelung der Konflikte zwischen den Geschwistern betrifft. Es gibt zum einen Eltern,
die vom älteren Kind verlangen, nachzugeben bzw. die eigenen Wünsche und Ansprüche zurückzustellen. Andere Eltern halten sich überwiegend aus den Konflikten ihrer Kinder heraus
und wiederum andere versuchen, dafür zu sorgen, dass erst gar keine Konflikte zwischen den
Geschwistern entstehen, indem sich z.B. die Mutter überwiegend um das jüngere Kind kümmert und der Vater sich mehr mit dem älteren Kind beschäftigt. (Vgl. Kasten 1998)
24
In der dritten Phase, vom 17. bis 24. Lebensmonat, werden Rivalitätskonflikte zwischen den
Geschwistern weniger. Es festigt sich allmählich eine Beziehung zwischen den Geschwistern,
die auch unabhängig von elterlichen Einflüssen Eigendynamik gewinnt. Das Interesse des
jüngeren Kindes an den Aktivitäten des älteren Geschwisters nimmt zu. Es wird vom älteren
Geschwister als „Spielgefährte“ entdeckt, wobei das ältere Kind häufig die Rolle des „Lehrenden“ übernimmt, während das jüngere Kind sich viel von ihm abschaut und nachahmt. Es
ist also in der Rolle des „Lernenden“. Hierbei soll aber nicht unbeachtet bleiben, dass die Rollen auch tauschen können.
Zudem gelingt es dem jüngeren Kind immer besser, selbstständig Kontakt zu anderen Familienmitgliedern herzustellen und vorhandene Beziehungen aufrechtzuerhalten. (Vgl. Kasten
1998, 2004 (2); Mähler 2002; Petri 2001; Schaeffler 2003)
Auch hier muss wieder gesagt werden, dass dieses Modell nur idealtypische Aussagen macht
und Abweichungen unberücksichtigt lässt. Es bietet Anhaltspunkte, ist aber nicht auf alle Familien übertragbar, da verschiedene Faktoren zu berücksichtigen sind.
5.2. Die Geschwisterbeziehung im Kleinkind- und Kindergartenalter
Mit zunehmendem Alter spielen sich immer mehr Bezug nehmende Handlungen zwischen
den Geschwistern ab. Laut Hartmut Kasten ist über ein Viertel des von jüngeren Kindern auf
ihre älteren Geschwister bezogenen Verhaltens Nachahmungsverhalten. Hierbei zeigt sich
deutlich die Vorbild- bzw. Modellrolle des älteren Kindes. Im Verlaufe des zweiten Lebensjahres imitiert das jüngere Kind immer häufiger positives, aber auch negatives Sozialverhalten, worauf das ältere Geschwister entsprechend reagiert. Hartmut Kasten geht davon aus,
dass sich in der Häufung dieser aufeinander Bezug nehmenden Verhaltensweisen „die zunehmende Vertrautheit zwischen den Geschwistern, das Aufeinander-Zugeschnittensein ihrer
Beziehung, ausdrückt.“ (Kasten 1998, S. 96)
Es wurde nachgewiesen, dass sich Geschwister auch während der Kindergartenzeit des jüngeren Kindes viel miteinander beschäftigen. Die jüngeren werden für die älteren Kinder zu immer attraktiveren Spielpartnern. (Vgl. Kasten 1998; Petri 2001)
25
Im Alter von 3 bis 5 Jahren verbringt das jüngere Kind etwa doppelt so viel Zeit mit seinem
älteren Geschwister wie mit den Eltern. Eifersucht, Wut und Rivalität zwischen ihnen sind
wesentlicher Bestandteil kindlicher Interaktionen. In dieser Phase bilden sie emotional bedeutsame Beziehungen untereinander aus und können die Gegensatzspannung von Liebe und
Hass aushalten. Für das jüngere Kind bedeutet Rivalität meist Ansporn: Es möchte das können, was das große Geschwister auch kann; es ist sein Vorbild. Im Alter von 4 bis 5 Jahren,
wenn sie sich ihrer eigenen Identität bewusster werden, entdecken sie neue Aspekte der eigenen Person und die Eifersucht wächst: Der große Bruder bzw. die große Schwester wird nun
zum Objekt bewussterer Vergleiche. (Vgl. Bugelnig-Reiter 2008)
5.3. Die Geschwisterbeziehung im Grundschulalter
Über die Entwicklung der Geschwisterbeziehungen in der mittleren und späten Kindheit, also
zwischen 7 und 12 Jahren, gibt es für Deutschland keine Forschungsergebnisse. In den USA
hingegen wurden dazu bereits in den 60er und 70er Jahren etliche Untersuchungen durchgeführt, welche belegen, dass sich zwischen dem älteren und jüngeren Geschwister, in Abhängigkeit von Geschlecht und Altersabstand, typische Rollenverhältnisse ausbilden.
Wie auch vorher schon erwähnt, übernehmen häufig die älteren Geschwister die Rolle des
Vorbilds bzw. „Lehrers“. Jüngere Geschwister fügen sich ihrer eigenen Rolle als Lernende
eher, wenn das vorbildhafte Verhalten von einer Schwester kommt. Zudem wurde für diese
Altersphase nachgewiesen, was auch für die vorige gilt, dass es zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwisterpaaren häufiger zu Auseinandersetzungen und Konflikten kommt als zwischen Bruder und Schwester. Außerdem zeigt das jüngere Geschwister in diesem Alter eine
niedrigere Eltern- bzw. Erwachsenenbezogenheit als ältere Geschwister, da sie eher das geschwisterliche Vorbild nachahmen und weniger die Eltern.
In den USA wurden zudem Kinder selbst zu ihren Geschwisterbeziehungen befragt. Die Autoren Wyndol Furman und Duane Burmester ermittelten in den 80er Jahren mit Hilfe eines
Fragebogens vier Dimensionen, die in den Geschwisterbeziehungen von 11- bis 12-Jährigen
eine zentrale Rolle spielten: Nähe/Wärme; Status/Macht; Rivalität; Konflikt. Demnach empfinden Kinder gegenüber gleichgeschlechtlichen Geschwistern mehr Nähe und Wärme. Je
älter ein Kind und je größer der Altersabstand zum jüngeren Geschwister ist, umso mächtiger
erlebt es sich. Ältere Kinder erleben in besonderem Maße Rivalität untereinander sowie Be26
nachteiligungen von Seiten der Eltern, wenn die Geschwister noch besonders jung sind. Konflikte werden in besonders starkem Ausmaß erlebt, wenn der Altersabstand zwischen den Geschwistern gering ist. (Vgl. Kasten 1998)
6. Formen der Geschwisterbeziehungen
Hartmut Kasten weist darauf hin, dass enge, gefühlsintensive Geschwisterbindungen mit ganz
alltäglichen wechselseitigen Identifikationen zusammenhängen: Je älter die Geschwister werden, desto mehr vergleichen sie sich untereinander – zunächst bezogen auf Äußerlichkeiten.
Während der mittleren und späten Kindheit beziehen sie dann auch immer mehr Charakterbzw. Persönlichkeitseigenschaften mit ein, hinsichtlich derer sie sich als ähnlich bzw. verschieden erleben. Objektive oder auch nur eingebildete Ähnlichkeiten können laut Hartmut
Kasten Identifikationen auslösen oder zumindest erleichtern. (Vgl. Kasten 1998)
Ergänzend dazu behauptet Jürg Frick, dass Gefühle wie Nähe, Sympathie, Zuneigung, Bewunderung usw., also eine grundsätzlich positive Wahrnehmung des Geschwisters, Voraussetzung sind für geschwisterliche Identifikationen. (Vgl. Frick 2004)
Ob sich zwischen Geschwistern eher eine nahe oder distanzierte Beziehung entwickelt, hängt
unter anderem von Alter und Geschlecht der Kinder ab: Zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern mit geringem Altersabstand lassen sich im Allgemeinen mehr Gemeinsamkeiten
und Ähnlichkeiten feststellen, als zwischen Geschwistern mit größerem Altersabstand, die
nicht demselben Geschlecht angehören. (Vgl. Frick 2004; Kasten 1998)
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn haben von zahllosen möglichen Beziehungstypen acht
wesentliche Identifikationsmuster – in drei Gruppen zusammengefasst – und deren Wirkungen auf die Persönlichkeitsentwicklung herausgearbeitet. Es handelt sich dabei um vorübergehende oder lebenslange Identifikationsprozesse. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
Jürg Frick ergänzt, dass verschiedene Muster – positive und negative – kombiniert auftreten
bzw. sich überlappen können und sich im Regelfall im Laufe der Jahre verändern, da sie von
vielfältigen Faktoren beeinflusst werden, so z.B. Zeit/Alter, Entwicklungsaufgaben, andere
Bezugspersonen/Freunde und die Lebensumstände (Trennung der Eltern, Tod eines Familien27
angehörigen, Umzug, Lebenspartner/in usw.). Auch unterscheiden sich in vielen Geschwisterbeziehungen die individuellen Identifikationen erheblich:
„So wird sich – was häufig vorkommt – das jüngere Geschwister stärker das ältere als
Vorbild nehmen und sich mit ihm identifizieren als umgekehrt.“ (Frick 2004, S. 235)
Ich werde nun im Folgenden die acht Identifikationsmuster, welche Stephen P. Bank und Michael D. Kahn als wesentlich erachten, näher erläutern.
6.1. Enge Identifikation
Folgt man den Ausführungen der amerikanischen Psychologen, so gibt es drei Muster enger
Identifikation, die wiederum zu drei Beziehungstypen führen (siehe Tabelle 2). In allen Fällen
erlebt sich zumindest eins der Geschwister dem anderen sehr ähnlich bzw. es wünscht sich
eine Ähnlichkeit. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Kasten 1998)
6.1.1. Zwillingsbildung
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn beschreiben die Zwillingsbildung als frühkindliches
Phänomen. Demnach ist ein Kind, welches sich in dieser Phase befindet, sehr wütend, wenn
der Bruder bzw. die Schwester eine andere Meinung hat:
„Die Erkenntnis, daß der zum Zwilling gemachte Bruder/die Schwester die Welt anders sieht, kann Ärger, Frustration und die von den Eltern fälschlich für bedeutungslos gehaltenen Streitereien auslösen.“ (Bank/Kahn 1991, S. 46)
Wenn die Rollen und Identitäten der Kinder in der Familie nicht klar sind, besteht die Gefahr,
dass sich die Zwillingsbindung in der späteren Kindheit sowie im Jugend- und Erwachsenenalter fortsetzt. Die Geschwister erleben sich als „Doubles“ bzw. im Extremfall als undifferenzierte Einheit, was schwere psychische Störungen nach sich ziehen kann: Sie sind nicht in der
Lage, Unterschiede, entwicklungsbedingte Veränderungen sowie Höhen und Tiefen einer
normalen Beziehung zu ertragen. Die ständige Gegenwart des Bruders bzw. der Schwester,
welche Teil des Selbst sind, wird lebensnotwendig.
28
Bei eineiigen Zwillingen besteht ein erhöhtes Risiko für symbiotische und undifferenzierte
Identität, sie kann aber auch bei anderen Geschwistern mit hohem Zugang auftreten. (Vgl.
Bank/Kahn 1991)
6.1.2. Verschmelzen
Kinder, die von ihren Eltern keine abgegrenzte Identität zugewiesen bekommen, suchen ständig nach Menschen, mit denen sie sich identifizieren können. Bei der Suche nach dem eigenen Selbst klammern sie sich häufig an ein Geschwister und bleiben von ihm abhängig. Oftmals hat keines der beiden Geschwister genügend Selbstvertrauen, um aus der Beziehung
auszubrechen, welche häufig zu Schwierigkeiten, Konflikten und Ambivalenzen führt. Obwohl sie lange und intensive Phasen von Nähe gemeinsam erleben, sind sie häufig nicht in der
Lage, dem anderen verbal zu vermitteln, was in ihnen vorgeht, wenn sich der andere verändert, da sie an ihrer eigenen Identität zweifeln. Eltern und eventuell weitere Geschwister können diese Verletzungen und Zweifel nicht verringern.
Die Abhängigkeit von einem selbstsicheren Geschwister bzw. die Verschmelzung mit ihm, ist
ein Versuch, die eigenen Schmerzen und Zweifel zu beheben. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
6.1.3. Idealisierung
Ein jüngeres Kind verehrt häufig den älteren Bruder bzw. die ältere Schwester und imitiert
hochbewertete positive Eigenschaften. Durch Idealisierung und Imitation bekommt es die
Identität, die es sich wünscht. Aber auch negative Charaktereigenschaften können zur Grundlage für die Idealisierung werden.
Dieser einseitige Identifikationsprozess tritt meist nur in der Kindheit und frühen Adoleszenz
auf. Später werden die Geschwister nüchterner eingeschätzt, ausgehend von dem Bedürfnis
nach eigener Identität – es sei denn, der Verlust eines Elternteils, z.B. durch Trennung oder
Tod, führt zu einer Erstarrung der Idealisierung. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
29
6.2. Teilidentifikation
Geschwister, zwischen denen vorwiegend Teilidentifikationen ablaufen, fühlen sich in einigen
Bereichen dem Bruder bzw. der Schwester ähnlich, z.B. im Aussehen, in Verhaltensweisen
oder Interessengebieten. Sie nehmen zudem aber auch Unterschiede wahr und sehen sie als
wünschenswert an. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Kasten 1998)
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn schreiben dazu:
„Die Beziehung ist lebendig, weil sie relativ offen für Veränderung ist. Die auf beiden
Seiten vorhandenen Gefühle von Nähe und Ähnlichkeit geben Trost und Rat, während
das Gefühl von Distanz und Differenz den Geschwistern die Freiheit läßt, ihr Schicksal selbst zu bestimmen.“ (Bank/Kahn 1991, S. 93)
Dennoch kann auch die Teilidentifikation in drei verschiedenen Ausprägungen stattfinden:
6.2.1. Loyale Akzeptanz
Bei dem Identifikationsprozess der Loyalen Akzeptanz akzeptieren beide Geschwister ihre
jeweilige Verschiedenheit, was nicht bedeutet, dass sie sie auch schätzen. Dennoch finden sie
grundsätzliche Gemeinsamkeiten. Solche Geschwister verhalten sich oft großzügig und warm
zueinander.
Diese Form der Identifikation, bei der ambivalente Gefühle erfahren und akzeptiert werden,
gilt als eine der erstrebenswerteren Formen der Geschwisterbindung, kann aber manchmal
auch statisch werden, wenn es z.B. große Unterschiede in Erfolg, Status oder Ansehen gibt.
Wenn solche Ungleichheiten ohne Weiteres akzeptiert werden, wird das erfolglosere Geschwister schnell abhängig vom erfolgreichen. Eine solche Beziehung ist dann wenig veränderbar, weil sie für beide Vorteile bringt. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Bugelnig-Reiter 2008)
30
6.2.2. Konstruktive Dialektik
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn sprechen bei dieser Form der Identifikation von dem
Ideal der Geschwisterbeziehung. Kein Geschwister muss sich minderwertig fühlen und kein
Geschwister will ständig dominieren:
„Die Betonung der individuellen Verschiedenheit wird durch Zuneigung und Achtung
gemildert. Dadurch werden das ganze Leben lang Veränderungen, Kontakt und gesunde Herausforderung möglich.“ (Bank/Kahn 1991, S. 98)
Die Geschwister dienen sich gegenseitig als Bezugspunkt für die Selbstprüfung. Die Interaktionen vermitteln ein Gefühl von Spannung und ausgeglichener Gleichberechtigung. Diese
kontinuierliche und lebendige Beziehung ist Vorläufer für spätere gerechte, ausgeglichene
und gleichberechtigte Beziehungen zu anderen Menschen. (Vgl. Bank/Kahn 1991; BugelnigReiter 2008)
6.2.3. Destruktive Dialektik
Diese Form der Identifikation entsteht vor allem dann, wenn in der Familie lebendige Beziehungen fehlen. Die Gleichgültigkeit der Eltern bzw. ihre Vernachlässigung der Kinder führen
dazu, dass sich die Geschwister einander nur negativ zuwenden:
„Die Kinder projizieren auf das verfügbarste Objekt, d.h. den Bruder oder die
Schwester, all die verdrängten oder abgelehnten Aspekte des Selbst, die sie sonst in
Verzweiflung und Selbstvorwürfe treiben würden.“ (Bank/Kahn 1991, S. 100)
Die Geschwister wenden sich mit ihrer Angst, mit Hass, Wut, Trauer oder Verwirrung an
Bruder oder Schwester. Solche Geschwister behaupten häufig, sie könnten sich nicht leiden
und glauben, sie hätten nichts gemeinsam. Sie streiten häufig, die Konkurrenz ist extrem.
Dennoch sind sie voneinander abhängig. Offene Zuneigung und gegenseitige Hilfe sind nicht
möglich, deshalb bleibt der Prozess destruktiv.
Im Laufe der Zeit kann aus einer destruktiven Dialektik eine konstruktive werden, aber häufig
entfremden sich die Geschwister sehr stark, weil sie Ähnlichkeiten nicht akzeptieren können.
31
Erstarrte Bilder der Vergangenheit werden aufrecht erhalten und so bleibt die Möglichkeit
einer Veränderung eher gering. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Bugelnig-Reiter 2008)
6.3. Geringe Identifikation
Geschwister mit geringen oder distanzierten Identifikationen – Stephen P. Bank und Michael
D. Kahn beschreiben zwei Formen – empfinden große Unterschiede untereinander. Bei beiden
Formen ist die Entfremdung zwischen den Geschwistern so groß, dass sie ihre Probleme nicht
selbst lösen können. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Kasten 1998)
6.3.1. Polarisierte Ablehnung
„Polarisierte Ablehnung bedeutet, die bei Bruder oder Schwester verabscheuten Eigenschaften in sich selbst nicht zuzulassen, eigene Aggressionen zu tabuisieren und
sich fieberhaft zu bemühen, ‚anders’ zu bleiben.“ (Bank/Kahn 1991, S. 103)
Das bedrückende, aggressive oder unsensible Verhalten eines Geschwisters ist der Grund für
polarisierte Identifikation. Keines der Geschwister möchte dem anderen ähnlich sein; sie lehnen die Eigenschaften des anderen ausnahmslos ab. Das dominierende Kind verachtet das
unterlegene, welches sich wiederum weigert, das Verhalten des anderen zu übernehmen. Das
unterlegene Geschwister kann die Beziehung durch seine Festlegung auf die „Opferrolle“
nicht verändern, entwickelt aber häufig Verhaltensweisen, die denen des aggressiven Geschwisters entgegengesetzt sind. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
6.3.2. De-Identifizierung
De-identifizierende Geschwister behaupten, dass es nicht die geringste Gemeinsamkeit zwischen ihnen gebe und wollen so wenig wie möglich miteinander zu tun haben. Die DeIdentifizierung kann zum einen einseitig sein. Das ist häufig dann der Fall, wenn ein Kind in
der Familie stark bevorzugt wird oder wenn die von der Familie festgelegten Identitäten stark
gegensätzlich sind, z.B. „der/die Böse“ und „der/die Brave“ oder „der/die Starke“ und
„der/die Schwache“. Es können sich zum anderen auch beide Geschwister gegenseitig deidentifizieren, also verleugnen. Solch eine Beziehung ist häufig Ursache dafür, dass die Be-
32
ziehung im Erwachsenenalter völlig abbricht, weil es zu lange zu viele Missverständnisse,
Vorurteile und Leid gab. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn fügen schließlich hinzu:
„De-Identifizierung bedeutet immer einen Verlust für die eigene Identität, weil die
Entscheidung, auf keinen Fall so zu werden wie ein Bruder oder eine Schwester, auch
bedeutet, Optionen auf bestimmte Verhaltensweisen aufzugeben und sie der oder dem
anderen zu überlassen.“ (Bank/Kahn 1991, S. 107)
Folgende Tabelle fasst alle Identifikationsmuster noch einmal zusammen. Es ist dargestellt,
„wie der jeweilige Identifikationsprozeß und -grad die Art der Beziehung zwischen Geschwisterpaaren bestimmt. Jede dieser Beziehungsformen fördert den Identifikationsprozeß. Die
Beziehung ist die beobachtbare Bindung, während die Identifikation das Gefühl zu der Beziehung bezeichnet.“ (Vgl. Bank/Kahn 1991, S. 85)
33
Identifikationsgrad
Identifikationsprozeß
Beziehungstyp
Eng
Zwillingsbildung
Symbiotisch
„Wir sind gleich. Es
gibt keinen Unterschied.“
Verschmelzen
Verschwommen
„Ich weiß nicht genau,
wer ich bin. Vielleicht
kann ich du sein.“
Idealisierung
Heldenverehrung
„Ich bewundere dich
so sehr, daß ich sein
möchte wie du.“
Loyale Akzeptanz
Gegenseitig abhängig
„Wir sind uns in vieler
Hinsicht ähnlich. Wir
werden uns immer
brauchen und füreinander sorgen, trotz
aller Verschiedenheiten.“
Konstruktive Dialektik
Dynamisch unabhängig
„Wir sind uns ähnlich,
wir sind aber auch
verschieden. Das ist
eine Herausforderung
und gibt uns beiden
die Gelegenheit, zu
wachsen.“
Destruktive Dialektik
Feindselig abhängig
„Wir sind in vieler
Hinsicht sehr verschieden. Wir mögen
uns nicht besonders,
aber irgendwie brauchen wir uns.“
Polarisierte Ablehnung
Starr differenziert
„Du bist ganz anders
als ich. Ich will nicht
von dir abhängig sein
und nie so werden wie
du.“
De-Identifizierung
Verleugnet
„Wir sind absolut
verschieden. Ich brauche dich nicht, ich
mag dich nicht und es
ist mir egal, ob ich
dich je wiedersehe
oder nicht.“
Teilweise
Vitalität
Mangelndes Selbst
Tabelle 2: Die hauptsächlichen Muster von Identifikation und Beziehung zwischen Geschwistern3
Entfremdung
Gering
3
Quelle: Bank, Stephen P.; Kahn, Michael D.: Geschwister-Bindung. 2. Auflage. Paderborn: Junfermannsche
Verlagsbuchhandlung 1991
34
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sowohl die engen als auch die distanzierten Identifikationsmuster häufig zu starren Beziehungen führen. Eines der Geschwister oder auch beide
möchten die Beziehung so belassen, wie sie ist – aus welchen Gründen auch immer. Eine
Veränderung wird abgewehrt. Eine zu enge Identifikation behindert die autonomen Anteile
der Selbstentwicklung. Bei einer zu distanzierten Identifikation können die Geschwister kaum
mehr voneinander profitieren; viele Erfahrungen in der Beziehung unter Geschwistern bleiben
verschlossen. Die Teilidentifikation ist flexibler und günstiger. Sie ermöglicht den emotionalen Zugang auch zu anderen Menschen und die Geschwister sind nicht starr auf die eigene
Beziehung fixiert. Es erschließen sich optimale Entwicklungschancen und es bleibt genügend
Raum für Individualität und Kooperativität. (Vgl. Bank/Kahn 1991; Frick 2004; Kasten 1998)
7. Ambivalenzen in der Geschwisterbeziehung
Obwohl es, wie eben beschrieben, verschiedene Formen der Geschwisterbeziehungen gibt –
und ich wage zu behaupten, dass dies bei Weitem nicht alle möglichen Formen sind – so haben die meisten doch eines gemeinsam: Wie in Kapitel 3 bereits angesprochen, besteht ein
ganz wesentliches Merkmal von Geschwisterbeziehungen darin, dass sowohl positive als auch
negative Gefühle für das bzw. die Geschwister gleichzeitig vorhanden sind. Es gibt eher selten Geschwisterpaare, die sich ausnahmslos lieben bzw. hassen. Jede Geschwisterbeziehung
bewegt sich somit zwischen den Polen Liebe, Solidarität, Nähe und Verbundenheit auf der
einen und Rivalität, Konflikt, Distanz und Abgrenzung auf der anderen Seite. (Vgl. Kasten
1998; Schaeffler 2003)
Ein dazu passendes Zitat von Kurt Tucholsky lautet:
„Wilde Indianer sind entweder auf Kriegspfad oder rauchen die Friedenspfeife – Geschwister können gleichzeitig beides!“ 4
7.1. Geschwisterliebe
Die Geschwisterliebe kann nicht verordnet werden, sondern sie braucht Raum und Zeit, um zu
wachsen. Die Eltern können liebevollen Umgang vorleben und durch ihr Vorbildverhalten
4
Quelle: Endres, Wolfgang: Geschwister...haben sich zum Streiten gern. 5. Auflage. Weinheim: Beltz Verlag
1997. S. 13
35
den Kindern die Möglichkeit geben, ihre Geschwisterbeziehung selbst zu gestalten. Nähe,
Verbundenheit, Liebe und Achtung zwischen den Geschwistern entstehen durch das tägliche
Miteinander. Es ist belegt, dass bereits einjährige Kinder genauso lange und häufig Kontakt
zu ihren älteren Geschwistern haben wie zur Mutter. Mit etwa 3 Jahren verbringen Kinder
dann schon wesentlich mehr Zeit mit ihren älteren Geschwistern als mit den Eltern. Die Geschwister spielen miteinander, lernen voneinander, ahmen sich nach, helfen sich gegenseitig,
unterstützen sich, stehen zueinander, können sich in den anderen hineinversetzen und trösten
sich gegenseitig. (Vgl. Frick 2004; Kasten 1998; Mähler 2002; Schaeffler 2003; Stark-Städele
2006)
Die amerikanischen Psychologen Stephen P. Bank und Michael D. Kahn haben herausgefunden, dass sich Eigenschaften, wie Fürsorglichkeit, Hilfsbereitschaft und Verantwortungsbewusstsein in den ersten 18 Lebensmonaten durch die Orientierung an Vorbildern ausbilden.
Fürsorgliche Eltern können somit dazu beitragen, dass sich zwischen Geschwistern Loyalität
entwickelt. (Vgl. Bank/Kahn 1991)
Zusätzlich gibt es auch die Geschwistersolidarität, die sich laut Bettina Mähler von der Geschwisterloyalität vor allem dadurch unterscheidet, dass sie zeitlich begrenzt ist. Außerhalb
der Familie, z.B. auf dem Spielplatz, zeigen sich Geschwister fast immer solidarisch. Wenn
eines der Kinder bedroht oder ungerecht behandelt wird, wird es von seinem Geschwister
verteidigt. Sie zeigen sich dort als zusammengehörig, miteinander vertraut und beschützen
sich gegenseitig. Es kann aber auch vorkommen, dass sich Geschwister gegen die Eltern verbünden, wenn sie sich von ihnen ungerecht behandelt fühlen. Dadurch entsteht ein „Band“
zwischen den Geschwistern, welches sie miteinander verbindet – auch außerhalb der Familie.
(Vgl. Mähler 2002; Stark-Städele 2006)
7.2. Geschwisterrivalität
Geschwisterliches Rivalisieren und damit verbundene Aggressionen zeigen sich in unserem
Kulturkreis besonders deutlich in der frühen und mittleren Kindheit, vor allem bei Geschwistern mit kleinem Altersunterschied und gleichem Geschlecht.
Die Frage nach den Ursachen von Geschwisterrivalität wird sehr unterschiedlich beantwortet:
Viele Psychoanalytiker behaupten, dass geschwisterliche Rivalität im beständigen Kampf um
36
die Liebe und Zuneigung der Eltern begründet ist. Der Ursprung liegt demnach im so genannten „Entthronungstrauma“ (siehe 4.1.1.). Das ältere Kind steht durch die Geburt eines weiteren Kindes nun nicht mehr allein im Mittelpunkt der Eltern und empfindet Eifersucht auf das
jüngere Geschwister. Nicht selten verhält es sich ablehnend oder gar aggressiv ihm gegenüber. (Kasten 1998, 2004 (1), (2))
Andere Autoren sehen in den Vergleichsprozessen, die sich zwischen Geschwistern abspielen,
die Ursache für geschwisterliches Konkurrieren bzw. Rivalisieren. Geschwister sind sich in
der Regel recht ähnlich – sie haben im Durchschnitt 50 % identische Gene – und verbringen
viel Zeit miteinander. Deshalb vergleichen sie sich im Hinblick auf Aussehen, Eigenschaften
und Fähigkeiten miteinander. In der Folge erleben sie Gefühle von Benachteiligung (oder
auch Bevorzugung), Kränkung und Frustration. Wenn Eltern Eigenschaften und Fähigkeiten
ihrer Kinder hervorheben und gegenseitig in Kontrast setzen, bewerten und vergleichen, können sie das Miteinander-Konkurrieren der Geschwister noch verstärken. Es entsteht eine Atmosphäre, die durch Rivalität geprägt ist, verbunden mit Gefühlen von Neid und Eifersucht.
(Vgl. Kasten 1998, 2004 (1), (2); Stark-Städele 2006)
Jedes Kind hat Stärken und Schwächen in ganz unterschiedlichen Bereichen. Kein Geschwister darf vorgezogen werden, jedes sollte für seine ganz individuellen Stärken gelobt und darin
unterstützt werden – sowohl von den Eltern in der Familie als auch von Erziehern/ Erzieherinnen in der Kindertagesstätte. Dies kann helfen, Eifersucht und Rivalität zu verringern.
(Vgl. Weymann 2008)
Hartmut Kasten fügt hinzu, dass aber vor allem auch unsere Gesellschaft eine wichtige Rolle
bei der Aufrechterhaltung von Geschwisterrivalität spielt:
„In unserem Kulturkreis ist ‚Leistung’ ein zentraler Wert; wir werden nach Leistung
und unserer Effizienz im Produktionsprozess bezahlt und jemand, der wenig leistungsfähig ist oder gar Leistung verweigert, gilt als Tunichtgut oder Schmarotzer. [...] Und
so werden schon die Kleinsten, lange bevor sie in den Kindergarten kommen, bewertet
und miteinander verglichen auf der Grundlage von Leistungskriterien (‚früher’,
‚schneller’, ‚besser’). Ihre Lernfortschritte – schon beim Sauberwerden, Laufen- und
Sprechenlernen – und die von ihnen angefertigten Produkte, ihre ersten gemalten
Kopffüßler und korrekt gelegten Puzzles, stehen im Mittelpunkt des elterlichen Interes37
ses. Und die Eltern, die die Normen der Leistungsgesellschaft verinnerlicht haben,
würdigen weniger den individuellen Fortschritt ihrer Kinder, sondern beurteilen deren
Leistungen und Fortschritte unter Bezugnahme auf Gütemaßstäbe, die ihnen von Elternzeitschriften und Erziehungsratgebern vorgegeben werden. Sie vergleichen dabei
natürlich auch die unterschiedlichen Leistungen ihrer Kinder und spiegeln dies, zuweilen ohne dass es ihnen bewusst ist, diesen wieder.“ (Kasten 2004 (2); Änderungen
K.S.)
Die oftmals zu große Nähe, das gemeinsame Verbringen von viel Zeit und nicht zuletzt die
Rivalität unter Geschwistern führen immer wieder zu Konflikten und Streitereien. Solche
Auseinandersetzungen bieten jedoch eine Chance zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit,
der Ich-Identität und sind wichtig für die soziale Entwicklung des Kindes. Sie erfordern ein
Auseinandersetzen mit sich selbst, den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen, aber auch mit den
Bedürfnissen, Gefühlen und Interessen des anderen. (Vgl. Endres 1997)
Stephen P. Bank und Michael D. Kahn beschreiben die Geschwisterbeziehung als „eine Art
soziales ‚Labor’, in dem sie [die Geschwister] lernen, mit Konflikten umzugehen und sie zu
lösen.“ (Bank/Kahn 1991, S. 182; Änderungen K.S.)
Wie heftig die Streitigkeiten ausfallen, hängt entscheidend vom elterlichen Verhalten ab. Häufiges und zu frühes Eingreifen der Eltern verhindert, dass die Geschwister selbstständig zu
einer Lösung finden bzw. führt dazu, dass die Konflikte gar nicht gelöst werden. Dennoch
müssen die Eltern eingreifen, wenn der Streit ausartet und jemand verletzt werden könnte.
Entsprechendes gilt natürlich auch für Erzieher/innen in der KITA.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Liebe und Rivalität – so gegensätzlich sie sein mögen –
sind zwei wesentliche Aspekte in Geschwisterbeziehungen, deren Zusammenwirken bzw.
Wechselspiel eine „gesunde“ Geschwisterbeziehung ausmachen. In diesen Zusammenhang
passt ein weiteres Zitat von Kurt Tucholsky:
„Man liebt sich auseinander, aber man zankt sich zusammen.“5
5
Quelle: Endres, Wolfgang: Geschwister...haben sich zum Streiten gern. 5. Auflage. Weinheim: Beltz Verlag
1997. S. 20
38
8. Geschwister und ihre Bedeutung füreinander – ein Fazit
Ich denke, dass es deutlich wurde, welch herausragende Rolle Geschwister im Leben eines
Menschen spielen. Geschwister gehören in der Regel neben den Eltern zu den nächsten Bezugspersonen. Geschwisterbeziehungen beginnen bereits in der frühesten Kindheit und bestehen meistens bis ins hohe Alter, jedoch individuell sehr unterschiedlich in Intensität und Qualität. Sie gehören daher zu Recht zu den dauerhaftesten Bindungen eines Menschen, denn Eltern sterben in der Regel früher und Freunde bzw. der Partner/ die Partnerin wechseln mitunter. Geschwister können sich jedoch nicht „scheiden“ lassen. Selbst wenn sie zerstritten sind
und den Kontakt zueinander vollkommen abbrechen, ist die gemeinsam erlebte Kindheit und
Jugendzeit unauslöschbar. Sie wurde verinnerlicht und prägt ein Leben lang. (Vgl. Frick
2004; Hax-Schoppenhorst 2007; Kasten 1998; Nitsch/Beil 2007; Stark-Städele 2006)
Geschwister beeinflussen uns in unserer individuellen Entwicklung, insbesondere in den Bereichen Kognition, Emotionen, Sozialverhalten und Persönlichkeitseigenschaften. Die Familie
gilt als geschützter Raum, in dem Geschwister die ganze Bandbreite von Gefühlen, Reaktionen und Handlungsmustern ausprobieren, durchspielen und modifizieren können. Des Weiteren bieten Geschwister ein Trainingsfeld, um Beziehungsmuster einzuüben. Jürg Frick
schreibt dazu:
„Geschwister vergleichen – [...] – und bewerten sich, bewundern und kritisieren einander gegenseitig, sagen einander die Meinung, rivalisieren miteinander, helfen und
streiten, lieben und hassen einander, richten sich aneinander aus, üben Macht aus
oder unterziehen sich dem mächtigeren Geschwister, passen sich an, wollen ganz anders sein oder den anderen übertreffen. Geschwister ermöglichen Abgrenzung, Nähe
und Selbstwerdung, erlernen kooperative Aushandlungsprozesse. Stilles wie offenes
Vergleichen kann sich sehr stark auf das Selbstwertgefühl auswirken, wie auch die
Meinungen und Bewertungen durch das Geschwister einen beträchtlichen Einfluss auf
die Konstituierung des Selbstwertgefühls haben können.“ (Frick 2004, S. 120; Änderungen K.S.)
Im Verlauf ihres Lebens finden unzählige gegenseitige Beeinflussungen unter Geschwistern
statt, sie prägen einander und gestalten ihre ganz individuelle Beziehung zueinander. Kurzum:
Geschwister bieten ein umfangreiches und vielseitiges Entwicklungs- und Lernfeld.
39
II
Geschwisterbeziehungen in Bilderbüchern
1. Das Bilderbuch
Das Bilderbuch ist eine Untergattung der Kinderliteratur. Es handelt sich dabei um ein reich
illustriertes Buch, bei dem Bild und Text gleichberechtigt nebeneinander stehen und zusammen das Werk ausmachen. Sie ergänzen und verdeutlichen einander – unabhängig davon, wie
groß der jeweilige Anteil von Text und Bild ist.6 In der Regel werden 30 Buchseiten nicht
überschritten. Bilderbücher werden vorwiegend für Klein- und Vorschulkinder, also Kinder,
die selbst noch nicht lesen können oder aber sich gerade im ersten Lesealter befinden, geschrieben und gestaltet.
Das Bilderbuch erfüllt viele verschiedene Funktionen: Zum einen ist es Mittel der Begegnung
– zwischen Kind und Erwachsenem, aber auch zwischen Kind und Kind. Des Weiteren regt es
Denkprozesse der Kinder sowie deren Fantasie an und fördert sprachliche Fähig- und Fertigkeiten sowie die literarische und ästhetische Sozialisation. Eine weitere, nicht zu unterschätzende Funktion von Bilderbüchern besteht darin, dass sie ein Hilfsmittel bei der Bewältigung
von Problemen, Konflikten und Ängsten darstellen können. (Vgl. Dietschi Keller 1995; Engelbert-Michel 1998; Thiele/Steitz-Kallenbach 2003)
„Das Kind kann in Geschehnissen des Bilderbuches eigene Bedürfnisse, Wünsche,
Sorgen und Probleme erkennen, mit denen es sich in seinem eigenen Leben auseinandersetzt. Während es den Inhalt intensiv aufnimmt, sich mit der Heldenfigur identifiziert, sich demzufolge mitfreut und mitängstigt, den Ablauf und die Lösung der Konflikte miterlebt, kann es Klärung seiner eigenen Lebenssituation finden und zudem Sicherheit und Selbstvertrauen für weitere Ereignisse aufbauen.“ (Dietschi Keller 1995,
S.84)
Auch die Beziehung zwischen Geschwistern bringt – wie im ersten Teil ausreichend beschrieben – Spannungen, Probleme und Konflikte mit sich. Demnach könnten geeignete Bilderbücher auch beim Umgang mit solchen „Lebensproblemen“ helfen. Wichtig im Umgang
6
Daneben gibt es auch Bilderbücher, die ganz ohne Text auskommen.
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mit Bilderbüchern ist aber, dass die Bezugsperson – das können sowohl die Eltern als auch
Erzieher/innen in der Kindertagesstätte sein – die Geschichte nicht einfach nur vorliest, sondern das Kind durch das Buch hindurch begleitet, die angesprochenen Themen mit ihm bespricht, das Kind ermuntert Fragen zu stellen und auf Fragen eingeht, es also dabei nicht alleine lässt.
Es gibt eine Reihe von Bilderbüchern, in deren Zentrum Geschwister und ihre Beziehung zueinander stehen. Ich habe drei Bücher ausgewählt, die ich im Folgenden vorstellen möchte.
Dabei werde ich auf drei wesentliche Punkte eingehen: Inhalt, Thema und Bezug zum Kind.
2. „Bleib bloß da drin!“
2.1. Inhalt
Helli findet ihre Familie in Ordnung, genauso wie sie ist. Doch
eines Tages erzählen ihr ihre Eltern, dass sie ein Geschwisterchen bekommt. Helli ist geschockt und kann es nicht glauben.
Doch mit der Zeit wird der Bauch ihrer Mama immer größer.
Das findet Helli gar nicht gut und sie mag auch nicht daran
denken, dass da ein Baby drin ist. Sie fragt sich, wozu man es
denn überhaupt braucht, meint, es würde nur Lärm und Dreck
machen und befürchtet, dass sich dann alle nur noch um das
Baby kümmern und nicht mehr um sie. Aber wenn dann noch
unbedingt jemand dazu kommen muss, dann würde Helli am liebsten eine große Schwester
haben, die ihr teure Kleider schenkt. Aber leider wird es keine große Schwester, sondern ein
kleiner Bruder. Helli findet, er sieht aus wie ein kleiner Opa und möchte ihn am liebsten umtauschen. Doch plötzlich hat Helli ein seltsames warmes Gefühl im Bauch. Ihr Bruder sieht so
hilflos aus und sie muss ihn einfach beschützen. Und nun ist Helli nicht mehr die einzige, die
abends früh ins Bett muss und ausgeschimpft wird, wenn etwas passiert. Helli hat sich schnell
an ihren Bruder gewöhnt und hat ihn meistens sogar richtig lieb. Nun ist sie die große
Schwester und große Schwestern sind prima.
41
2.2. Thema/Problem
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Helli, ein nach meinen Schätzungen etwa 3- bis 4jähriges Mädchen, und ihre Beziehung zu ihrem kleinen Bruder – sowohl vor als auch nach
seiner Geburt. Es wird beschrieben, was sie denkt und wie sie sich fühlt. Helli ist geschockt
von der Nachricht, dass ein Baby in die Familie kommt. Sie macht sich Gedanken darüber,
wie es mit ihm sein könnte, sieht aber nur negative Seiten: Sie ist der Meinung, dass sich alle
nur noch um das Baby kümmern und sie ganz vergessen werden. Helli hat also Angst, nun
nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, zurückgesetzt zu werden. Sie ist
wütend und möchte nicht, dass das Baby kommt. Diese Gedanken und Gefühle sind mit denen eines „Entthronungstraumas“ vergleichbar. Erste Anzeichen von Neid, Eifersucht und
Ablehnung sind erkennbar.
Nach der Geburt erkennt Helli die positiven Seiten eines Geschwisters. Sie ist nun die stolze
große Schwester und beschützt ihren kleinen Bruder. Sie fühlt sich manchmal von den Eltern
ungerecht behandelt (früh ins Bett gehen, Gemüse essen, ausgeschimpft werden), aber sie
erlebt, dass es ihrem Bruder genauso geht. Er wird also nicht bevorzugt. Und nicht zuletzt
weiß Helli jetzt, dass man einen kleinen Bruder auch lieb haben kann.
2.3. Bezug zum Kind
Die Gedanken und Ängste der Protagonistin werden einfach und verständlich dargestellt, so
dass bereits jüngere Kinder an dieses Thema herangeführt werden können. Auch wenn ich der
Meinung bin, dass jüngere Kinder – das Buch ist für Kinder ab 3 Jahren konzipiert – die Eifersucht auf das Geschwister noch nicht empfinden, solange das Baby noch gar nicht geboren
ist, sondern erst wenn es auf der Welt ist. Es könnte Kinder, die etwa in Hellis Alter sind, sich
in einer ähnlichen Situation befinden und dann mit Gedanken und Gefühlen konfrontiert werden, die sie selber (noch) gar nicht empfinden, verunsichern oder sogar überfordern. Daher
würde ich einem jüngeren Kind dieses Buch erst dann vorlesen, wenn das Baby geboren ist
und das Erstgeborene sich mit dieser neuen Situation schwer tut. Es kann dann mit Helli gemeinsam erleben, welche Gedanken und Gefühle mit dem „Familienzuwachs“ verbunden sind
und wie anfängliche Skepsis und Eifersucht in Freude übergehen und ein liebevolles Verhältnis entstehen kann. Insgesamt könnte das Buch also dem erstgeborenen Kind dabei helfen, mit
dieser neuen Situation umzugehen. Es kann sich mit der Hauptfigur identifizieren, sieht, dass
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es anderen Kindern genauso geht, dass diese Gefühle und Gedanken normal sind, dass es aber
nicht immer so bleiben muss.
Älteren Kindern kann dieses Buch aber durchaus als Vorbereitung auf die neue Situation dienen und ihnen dabei helfen, sich mit den eigenen Gefühlen von Neid und Eifersucht auf das
ungeborene Kind auseinanderzusetzen – allerdings nur, wenn sie solche Gefühle bereits im
Vorfeld empfinden.
3. „Der kleine Bär und der viel zu große Pullover“
3.1. Inhalt
Anton und Benni sind zwei Bärenbrüder. Antons gestreifter
Lieblingspullover sitzt schon sehr eng, aber Anton findet, er
passt wie angegossen. Doch Mama Bär schlägt vor, ihn seinem kleinen Bruder Benni zu schenken. Nur widerwillig gibt
er ihn weiter und meint, er sei ihm doch viel zu groß. Aber
Benni findet, er passt wie angegossen und freut sich, dass er
nun genauso aussieht wie sein großer Bruder. Anton ermahnt
seinen Bruder, vorsichtig mit dem Pullover zu sein. Dann
gehen sie beide zum Spielen in den Wald. Anton nimmt
seinen kleinen Bruder huckepack, sie springen durch Pfützen und haben dabei großen Spaß.
Anton hangelt sich an einem Ast entlang. Benni möchte auch klettern und hängt sich an Antons Fuß. Dieser schimpft, er solle loslassen. Anton balanciert über einen Baumstamm. Benni
macht es ihm nach, doch er schimpft erneut, er sei viel zu wild. Plötzlich bricht der Baumstamm durch und beide Bären landen in einer großen Pfütze. Anton ist wütend und brüllt
Benni an, er sei schuld und habe nun auch noch den Pullover schmutzig gemacht. Benni fängt
an zu weinen und entschuldigt sich, doch Anton schickt ihn weg. Er möchte allein spielen.
Doch irgendwann sitzt er allein auf einer Wippe und fühlt sich plötzlich sehr einsam. Anton
beginnt, nach Benni zu suchen, doch er findet ihn an keinem seiner Lieblingsplätze. Doch
dann entdeckt er einen Wollfaden und folgt ihm. Am anderen Ende findet er dann seinen kleinen Bruder, der ganz traurig ist, weil der Pullover nun kaputt ist. Anton nimmt ihn in den Arm
und tröstet ihn. Es ist ja nur ein Pullover. Beide entschuldigen sich beim anderen und gehen
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zusammen nach Hause. Am nächsten Tag hat Mama Bär eine große Überraschung: zwei neue
und ganz gleiche Pullover. Anton freut sich, dass er nun genauso aussieht wie sein kleiner
Bruder Benni, denn er ist nämlich der beste kleine Bruder der Welt.
3.2. Thema/Problem
Thema dieses Bilderbuches sind verschiedene Aspekte des Geschwisterverhältnisses. Zunächst geht es um das Teilen bzw. Abgeben von Dingen, was bei Geschwistern oftmals mit
Problemen verbunden ist. Der Lieblingspullovers ist Anton zu klein geworden, dennoch gibt
er ihn nur widerwillig her. Es zeigt sich Neid und Eifersucht. Benni hingegen, der kleine Bruder, ist nun stolz darauf, genauso auszusehen, wie Anton. Er „verehrt“ seinen großen Bruder.
Ein weiterer Aspekt, der hier zum Tragen kommt, ist das gemeinsame Spielen mit dem Geschwister. Beide Bären gehen zusammen in den Wald und haben zunächst viel Spaß. Doch
irgendwann fühlt sich Anton gestört. Benni möchte das gleiche machen wie er, ahmt ihn nach
(Klettern, Balancieren), was dem großen Bruder nicht passt, sodass dieser entsprechend wütend und genervt reagiert, mit Benni schimpft. Er fungiert hier als „Lehrer“, der Benni sagt,
was er tun bzw. lassen soll.
Als dann der Lieblingspullover leidet, geraten die Brüder in einen großen Streit: Anton gibt
Benni die Schuld und schickt ihn weg. Er ist wütend und enttäuscht und möchte alleine sein.
Der kleine Bär weint, entschuldigt sich und läuft dann traurig in den Wald. Anton scheint zunächst glücklich darüber, endlich ungestört spielen zu können, doch plötzlich fühlt er sich
einsam und allein. Sein kleiner Bruder fehlt ihm; alleine Spielen macht ihm keinen Spaß.
Zum Ende der Geschichte versöhnen sich die Bärenbrüder wieder. Sie gehen aufeinander zu
und es zeigt sich eine liebevolle Bindung trotz des Streites.
In diesem Buch werden also vor allem die ambivalenten Gefühle von Geschwistern deutlich –
hier hauptsächlich aus Sicht des großen Bären, der auf der einen Seite Neid, Eifersucht und
während des Streites eventuell auch Hass empfindet. Auf der anderen Seite wird aber auch die
Liebe, Nähe und Zuneigung zum kleinen Bruder deutlich.
44
3.3. Bezug zum Kind
Dieses Buch stellt eine realistische Situation im oftmals schwierigen Geschwisterleben dar. Es
werden die Gefühle beider verständlich und nachvollziehbar beschrieben, sodass die Geschichte sowohl den kleinen also auch den großen Geschwistern vorgelesen werden kann, die
sich entsprechend mit Benni bzw. Anton identifizieren können.
Das Buch kann dabei helfen, Spannungen unter Geschwistern abzubauen, wenn es Streit gab,
da die Geschichte ein versöhnliches Ende nimmt.
Laut Verlagsempfehlung ist das Buch für Kinder ab 3 Jahren geeignet. Ich würde dieses Buch
aber nur dann 3-jährigen Kindern vorlesen, wenn sie die jüngeren Geschwister sind. Wenn
das ältere Geschwister erst 3 Jahre alt ist, würde es die Moral am Ende (Ein Pullover ist es
nicht wert, sich deshalb zu streiten.) sicher nicht nachvollziehen können. Für jüngere Kinder
können bestimmte Dinge, die älteren Kindern oder Erwachsenen unwichtig erscheinen,
durchaus eine größere Bedeutung haben.
4. „Kleiner Bruder zu verkaufen!“
4.1. Inhalt
Lisa hat genug von ihrem kleinen Bruder. Früher war er klein und
süß, aber jetzt ist er ein kleines Monster geworden. Er zerstört
ihre Bauklotztürme, zerreißt ihre Bilder und beißt den
Knetfiguren die Köpfe ab. Und wenn sie zusammen baden, muss
Lisa immer auf dem Stöpsel sitzen. Ihre Mama sagt immer, dass
er doch noch so klein ist. Aber Lisa reicht es. Der kleine Bruder
muss weg. Sie klebt ihn mit Briefmarken voll, aber er passt nicht
in den Briefkasten. Sie steckt ihn in den Mülleimer, was er lustig
findet, aber ihre Mama gar nicht. Nun setzt sie ihn auf den
Gehweg und stellt ein Schild daneben: „Zu verkaufen!“ Benno kommt vorbei. Er wollte schon
immer einen kleinen Bruder haben und nimmt ihn mit. Lisa baut nun fröhlich einen Turm aus
all ihren Bauklötzen, malt jede Menge Bilder und knetet eine ganze Familie. Abends liegt sie
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ganz allein in der großen Wanne und erinnert sich: Sie wäscht ihrem Bruder immer den Rücken und die Haare. Anschließend kuscheln sie sich in ein Badetuch und er gibt ihr Küsschen.
Jetzt badet er mit Benno, aber Benno weiß nicht, dass er kein Wasser in den Augen mag. Lisa
springt aus der Wanne und rennt zu Benno. Sie will ihren kleinen Bruder wiederhaben und nie
mehr hergeben. Er mag zwar ein kleines Monster sein, aber er ist ihr Mini-Monster.
4.2. Thema/Problem
Protagonistin in diesem Bilderbuch ist Lisa, die sich gestört fühlt und genervt ist von ihrem
kleinen Bruder. Er macht alles kaputt, lässt sie nicht in Ruhe spielen und wird auch noch bevorzugt (Lisa muss immer auf dem Wannenstöpsel sitzen.). Sie versucht alles, um ihn endlich
loszuwerden. Als Benno ihn mitnimmt, ist sie überglücklich. Sie nutzt das Alleinsein, um
endlich das machen zu können, wobei sie von ihrem Bruder immer gestört wurde. Doch dann
bemerkt sie, dass sie ihn sehr vermisst, als sie daran denkt, wie schön und lustig es mit ihm
doch eigentlich immer war. Und Benno kennt ihn nicht und weiß nicht, was er mag und was
nicht. Das kann nur Lisa wissen, denn sie ist mit ihm zusammen aufgewachsen. Lisa ändert
ihre Meinung und holt ihren kleinen Bruder zurück, denn sie liebt ihn trotzdem, auch wenn er
noch so nervig, böse und übermütig ist.
Hauptthema ist hier also vor allem die Ambivalenz. Aus Sicht der großen Schwester werden
sowohl positive als auch negative Gefühle für den kleinen Bruder beschrieben: Lisa fühlt sich
genervt, hasst ihn, möchte ihn loswerden, aber sie vermisst und liebt ihn auch und holt ihn
deshalb wieder nach Hause.
4.3. Bezug zum Kind
Dieses Bilderbuch kommt, im Vergleich zu den anderen beiden, mit dem wenigsten Text aus.
Durch die aussagekräftigen Zeichnungen ist die Geschichte dennoch nachvollziehbar, auch
bereits für jüngere Kinder.
Die Geschichte wird für Kinder ab 3 Jahren empfohlen. Zu beachten ist dabei aber, dass jüngere Kinder vielleicht noch nicht nachvollziehen können, dass dies eine fantasierte Geschichte
ist, da es ja nicht erlaubt ist, ein Kind in einen Briefkasten oder Mülleimer zu stecken bzw. zu
verkaufen. Wichtig ist also, mit den Kindern darüber zu sprechen.
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Ältere Kinder, die ein jüngeres Geschwister haben, finden sich sicherlich häufig in der Geschichte wieder und können sich mit Lisa identifizieren, denn es kommt in fast jeder Familie
vor, dass sie sich genervt fühlen und sich manchmal auch wünschen, der kleine Bruder oder
die kleine Schwester wäre nicht mehr da. Das positive Ende zeigt aber auf, dass es zum Geschwisterverhältnis dazu gehört, dass man sich auch einmal auf die Nerven geht und sich dennoch sehr lieb haben kann.
5. Fazit
Bilderbücher können einen Brückenschlag zur Lebenswelt des Kindes ziehen. Themen und
Probleme, die ein Kind als bedeutsam erlebt, werden in Bilderbüchern wiederentdeckt. Das
Kind erlebt gemeinsam mit dem Protagonisten/ der Protagonistin den Ablauf der Geschichte
und es erhält Antworten auf seine ganz individuellen Fragen bzw. Hilfen zur Lösung des
Problems. Voraussetzung dabei ist aber, dass Kindern geeignete Bilderbücher vorgelesen
werden, die ihrer individuellen Situation und Entwicklung entsprechen. Geschwisterbeziehungen sind sehr vielfältig, so auch die Auswahl von Bilderbüchern zu diesem Thema. Falls
Erzieher/innen solche Bilderbücher einsetzen möchten, um Kinder bei der Klärung ihrer Situation zu unterstützen, sollten sie sich vorher bei den Eltern genau informieren, wo die Probleme im Geschwisterverhältnis liegen bzw. die Geschwisterkinder – falls sie dieselbe KITA
besuchen – im Alltag beobachten. Denn dann kann das individuell geeignete Bilderbuch
durchaus ein Mittel zur Konfliktbewältigung darstellen.
47
III
Anhang
Quellennachweis
Primärliteratur
Bedford, David; Pedler, Caroline (2008): Der kleine Bär und der viel zu große Pullover. Gießen: Brunnen Verlag
De Smet, Marian (2007): Kleiner Bruder zu verkaufen! Oldenburg: Lappan Verlag GmbH
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Sekundärliteratur
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Dietschi Keller, Ursula (1995): Bilderbücher für Vorschulkinder : Bedeutung und Auswahl.
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Engelbert-Michel, Angela (1998): Das Geheimnis des Bilderbuches : Ein Leitfaden für Familie, Kindergarten und Grundschule. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel
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Frick, Jürg (2004): Ich mag dich – du nervst mich! : Geschwister und ihre Bedeutung für das
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Hax-Schoppenhorst, Thomas (2007): Große Schwester – kleiner Bruder : Konflikte in Geschwisterbeziehungen überwinden. Neukirchen: Neukirchener Verlagshaus
Kasten, Hartmut (1998): Geschwister : Vorbilder, Rivalen, Vertraute. 2., aktualisierte Auflage. München: Ernst Reinhardt Verlag
Kasten,
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Nitsch, Cornelia; Beil, Brigitte (2007): Beide Hände reich ich dir : Geschwister – glücklich,
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Petri, Horst (2001): Geschwister – Liebe und Rivalität : Die längste Beziehung unseres Lebens. Stuttgart: Kreuz Verlag
Rufo, Marcel (2004): Geschwisterliebe – Geschwisterhass : Die prägendste Beziehung unserer Kindheit. München: Piper Verlag
Schaeffler, Stefanie (2003): Was mit dem Zweiten anders wird... München: Südwest Verlag
Stark-Städele, Jeanette (2006): Mein Geschwisterchen : Wenn das zweite Kind kommt. Stuttgart: Urania Verlag
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Thiele, Jens; Steitz-Kallenbach, Jörg (Hrsg.) (2003): Handbuch Kinderliteratur : Grundwissen
für Ausbildung und Praxis. 2. Auflage. Freiburg: Verlag Herder
Weymann, Beate (2008): Geschwister – ihre Beziehung zueinander. In: http://www.familienhandbuch.de/cmain/f_Aktuelles/a_Haeufige_Probleme/s_299.html
(letzter
Zugriff:
19.05.2009)
wh (2009): Geschwisterrolle prägt das Leben. In: Märkische Allgemeine Zeitung. Potsdam:
Märkische Verlags- und Druck-Gesellschaft mbH Potsdam. Ausgabe: 24.03.2009
50
Eidesstattliche Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig und ohne fremde Hilfe
angefertigt habe. Außer der angegebenen Quellen wurden keine weiteren Hilfsmittel verwendet. Die aus fremden Quellen direkt und indirekt übernommenen Gedanken sind als solche
kenntlich gemacht. Die Arbeit wurde bisher in gleicher oder ähnlicher Form keiner anderen
Prüfungsbehörde vorgelegt.
..........................................................................................
Datum, Unterschrift
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