Kurze Zusammenfassung über Zweck, Verlauf und Resultat der

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Kurze Zusammenfassung über Zweck, Verlauf und Resultat der
Dr. Hans-Theo Weyhofen
Kurze Zusammenfassung über Zweck, Verlauf und Resultat
der Eroberung Mittel und Südamerikas seit 1492
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Inhaltsverzeichnis
I. Rechtstitel der kolonialen Eroberung
1. Die Anfänge. Schenkung, Gewährung und Übertragung der Neuen Welt
2. Die Entstehung des Patronatsrechtes vor 1492 im Zeichen von Inquisition und Judenverfolgung
3. Das Patronatsrecht in den neuentdeckten Ländern Die Stellung der Kirche bei der Eroberung
Lateinamerikas
a). Die kolonialistische Fraktion
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Juan Ginés Sepúlveda - Hoftheologe
Das Requerimiento oder die Herstellung eines Rechtstitels durch eine Farce
Das Requerimiento
Das Gutachten von Yucay
b). Die staatliche Fraktion
c). Die Position der Indioverteidiger
Die päpstliche Bulle "Sublimis Deus" "Sind Indianer Menschen?"
II. Die altamerikanischen Kulturen
1. Die Besiedlung Amerikas
Einwanderungsland Amerika
2. Die Taino
Mythos "Edler Wilder"
3. Die Kariben
Mythos "Böser Wilder"
4. Die Maya
Astronomie und Mathematik bei den Maya
5. Die Azteken
Menschenopfer
6. Das Imperium der Inka
Militär und Straßen
7. Gold in Alt-Amerika
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8. Die leichten Siege der Europäer
9. Die Rolle der Krankheiten
III. Edelmetalle und Handelsartikel
1. Kolumbus und die Suche nach Reichtum
2. Reichtum ohne eigene Arbeit - Encomienda und Mita
3. Gold in Altamerika- Gold in Spanien. Zwei Prinzipien des Reichtums treffen aufeinander
4. Vom Gold zur Kolonialware
5. Perlenfischerei
6. Die Herrschaft des Zuckers
7. Die Landwirtschaft richtet sich nach den Bergbauzentren
8. Der Nutzen und die Nutznießer der Conquista
IV. Afrika und der Sklavenhandel
1.Die Anfänge der europäischen Suche nach Reichtum
Afrika-Europa-Amerika. Ein erfolgreicher Dreieckshandel mit Sklaven, Waffen und Gold
Wie lange lebt ein Sklave? Eine Sache von Angebot und Nachfrage
2. Ohne Arbeit(er) kein Reichtum
3. Afrika: Vagina gentium
4. Störrische Neger
5. Schreckliche Entschlossenheit
6. Loose-packers und tight-packers
V. Der Verteidiger der Indianer - Bartolomé de Las Casas
1. Vom Eroberer zum Anwalt der Indios
2. Die Missionierung der Dominkaner und ihre Interpretation des Evangeliums
3. Las Casas als Vorläufer einer "Theologie der Befreiung" Eine theologische Kritik an der
Ausbeutung
4. Der "Kurze Bericht"
5. Abschnitte aus dem "Kurzgefaßten Bericht über die Zerstörung der Westindischen Länder"
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Goldgier
Tod durch Arbeit und Unterernährung
Eine christliche Bekehrung
Kannibalismus
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Perlenfischerei
Bluthunde und Indianerjagd
Im Namen Gottes und des Königs
6. Las Casas und die schwarze Legende
7. Las Casas und die Frage der Negersklaven
8. Las Casas und der Ursprung des Mythos vom edlen Wilden(Apologie)
9. Das Testament des "Beschützers der Indianer"
VI. Die Jesuitenreduktionen in Lateinamerika
1. Die Guarani und Gran Chaco Indios
2. Missionierung ohne Gewalt
3. Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Reduktionen
Die Rolle der Jesuiten
4. Arbeitsteilung und Naturalwirtschaft
5. Der Messianismus der Guarani
6. Die Bedeutung der Religion und der Musik in den Reduktionen
Der Jesuitenorden
7. Die Reduktionen im Urteil von Zeitgenossen
8. Der Untergang der Reduktionen
VII. Der Erfolg der Conquista und ihre Resultat: Universalisierung des Geldmaßstabes
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Vorwort (1996)
Zum 500. Jahrestag der «Entdeckung Amerikas» im Jahr 1992 sind Bücher und Materialsammlungen
aller Art erschienen, die sich hauptsächlich mit der Frage, was dieser «epochale Vorgang» für uns
heute und in der Zukunft bedeutet, beschäftigt haben. Die triumphalen Kolumbusfeiern diesseits und
jenseits des Atlantiks haben sich vor allen Dingen mit der welthistorischen Rolle und der zivilisatorischen Tragweite dieser Eroberung beschäftigt, ohne dass man besonders auf den den Preis dieses
«Fortschrittes» eingehen wollte. Die kritischen Stimmen der indigenen Nachfahren, die daran erinnern
wollten, dass diese Entdeckung auch ein globales Massaker waren, sind nur höchst widerwillig angehört und an die Seite geschoben worden, damit das Medienereignis «Entdeckung einer neuen Welt»
ungestört über die multimediale Bühne gehen konnte.
Nach Erreichen des Verfalldatums im Jahre 1993 war das Thema genauso schnell out, wie es vorher
wegen des runden Zeitpunktes in die Hitliste der interessanten Themen gepuscht worden war.
Seitdem ist Lateinamerika nicht mehr so «interessant» und über die Armut in diesem Kontinent wird
man höchstens noch in kleinen Nebenberichten informiert. Der aufmerksame Zeitungsleser konnte im
Februar 1996 in einer großen Tageszeitung folgenden Satz finden, in dem ein Experte der UNO sich
zur Situation dort äußerte: «Im Jahre 2000 werden 7 von 10 Lateinamerikanern in absoluter Armut leben». Warum das Elend in diesem Erdenwinkel so dauerhaft ist und mit Sicherheit im nächsten Millennium fortbestehen wird, diese Frage nachzugehen, gilt im Moment nicht als «in».
In dieser Situation kann es von Nutzen sein, sich jenseits aller eurozentrierten Deutungen einmal mit
den historischen Gründen und Anfängen dieses globalen Elends zu beschäftigen. Diese Schrift ist
eine knappe und übersichtliche Zusammenfassung dessen, was die spanische Conquista war, welche
Zwecke durch sie betrieben wurden, welche Resultate sie gebracht hat und welche Rolle die katholische Kirche in ihr gespielt hat. Und dabei soll dann geklärt werden, wer die Akteure waren, was sie
getan und gelitten haben: die Nutznießer und die Ausgenutzten, die Vordenker und die Nachbeter, die
Kämpfer und die Erschlagenen, die Täter und die Opfer. Mit der Beantwortung dieser Fragen stellt
sich dann von selbst heraus, wie falsch und verlogen die meisten Titel waren, unter die die hier geschilderten Ereignisse im Jahre 1992 von verschiedenen Parteien subsumiert worden sind, wie «Begegnung zweier Welten», «Christianisierung eines Kontinents» oder «Expansion Europas» und es
wird darüber hinaus klar, dass im Zeitalter der globalen Marktwirtschaft die im Kolonialismus grundgelegte Zweckbestimmung dieser Länder, Bereicherungsmittel für die Staaten der ersten Welt zu sein,
unter modernen Bedingungen fortgesetzt wird.
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I. Rechtstitel der kolonialen Eroberung
1. Die Anfänge
Die Reconquista, die zielstrebige Rückeroberung der iberischen Halbinsel durch die christlichen Spanier bis 1492, dem Fall des letzten maurischen Herrschers, wurde mit der Ideologie einer Erneuerung
der christlichen Herrschaft über Land und Leute vorgetragen. Die Expansion der christlichen Reiche
nach Nordafrika galt als selbstverständliche Fortsetzung dieser Reconquista, wobei man darauf verwies, dass diese Reiche lange in westgotisch-christlichem Besitz gewesen waren. Bei den Kanarischen Inseln vertraten die Spanier die Ansicht, sie gehörten wegen ihrer Nähe zum afrikanischen
Festland dazu. Die ersten Rechtstitel traten alle auf als Streben nach Wiederherstellung der alten
spanischen Monarchie .
Portugal, in Rivalität zu Spanien, wollte die Besetzung Nordafrikas und der Kanaren verhindern und
berief sich deshalb auf die geografische Lage und auf seine Verpflichtung zum Krieg gegen die Ungläubigen, um sein Recht auf Nordafrika zu unterstreichen.
Da für die weiteren Eroberungen geschichtliche Rechtfertigungen, die von einem irgendwie gearteten
früheren Besitzverhältnis ausgingen, nicht mehr möglich waren, bemühten sich die Kronjuristen beider
Seiten um allgemeine Grundsätze, mit denen sie ihre rivalisierenden und einander ausschließenden
Interessen gegeneinander rechtlich geltend machen konnten.
Allgemeiner Konsens beim Beginn der Expansion war die Überzeugung, dass die neu entdeckten
Inseln und Länder als "herrenlose Sache" dem gehörten, der sie als erster findet und besetzt. Das Besitz- und Herrschaftsrecht gründete sich hier auf die Priorität der zeitlichen Entdeckung. Dass diese
Länder bewohnt und keinesfalls herrenlos herumlagen, störte die christlichen Eroberer zunächst wenig. Die Neger des tropischen Afrikas und die Guanchen auf den Kanarischen Inseln galten ihnen als
Beweis für die Tatsache, dass es außerhalb des christlichen Abendlandes Gebiete ohne vernünftige
Rechts- und Staatsordnung gab, woraus quasi das Recht entsprang, diese zu berauben, zu versklaven und zu beherrschen. Kolumbus war fest davon überzeugt, dass die von ihm entdeckten Länder
genauso rechtmäßiger Besitz der spanischen Könige seien wie die traditionell geerbten Länder der
Krone.
Zuallererst hatten sich die Portugiesen ihre Rechte auf die westafrikanischen Eroberungen vom Papst
bestätigen lassen. Nikolaus V. ermächtigte sie 1455 durch eine Bulle, die "Länder der Ungläubigen" zu
erobern, die Bewohner zu versklaven und sich ihres Besitzes zu bemächtigen. Wer in diesem Herrschaftsbereich der portugisieschen Krone ohne Erlaubnis eindrang, wurde mit dem Kirchenbann bedroht.
Mit Spanien hatte Portugal im Jahre 1479 im Vertrag von Alcáçovas eine Trennungslinie zwischen
ihren jeweiligen Entdeckungssphären festgelegt. Diese verlief vom Kap Bojador an der afrikanischen
Westküste in Ost-West-Richtung und schloß Kastilien praktisch von weiteren Entdeckungen aus, sofern es nicht nördlich dieser Linie im Westen erfolgreich war. Als Pinzon, einer der Mitkapitäne des Kolumbus, bei der Heimreise im März 1493 witterungsbedingt den Hafen von Lissabon anlaufen musste,
wurde der portugiesische König João II. über die erfolgreiche Fahrt aus erster Hand informiert, was
ihn veranlaßte, unter Berufung auf den Vertrag von Alcáçovas die neuen Gebiete für sich zu reklamieren. Da sich Portugal in Konfliktfällen bezüglich des Vertrages mehrmals seine Rechte vom Papst hatte bestätigen lassen, lag es für die Spanier nahe, dies ebenfalls zu tun. Die Katholischen Könige ließen sich durch den spanischen Borgia-Papst Alexander VI. die von Kolumbus entdeckten und noch zu
entdeckenden Gebiete im westlichen Ozean übertragen und zugleich eine neue, in Nord-SüdRichtung verlaufende Trennungslinie für die jeweiligen Interessenssphären festsetzen. Dies geschah
mit der berühmten Bulle "Inter caetera" vom 3. Mai 1493.
Papst Alexander VI.
Schenkung, Gewährung und Übertragung der Neuen Welt
"Damit Ihr ein so großes Unternehmen mit größerer Bereitschaft und Kühnheit, ausgestattet mit der
Wohltat Unseres apostolischen Segens, anzugreifen vermöget, schenken, gewähren und übertragen
Wir hiermit - aus Unserem eigenen Entschluß, ohne Euren Antrag und ohne das ersuchen irgendeines
anderen zu Euren Gunsten, lediglich aus Unserer eigenen und alleinigen Großmut und sicheren Erkenntnis und aus der Fülle Unserer apostolischen Machtbefugnis, die durch den allmächtigen Gott,
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durch die Vermittlung St. Petri auf Uns übertragen worden ist, sowie auf Grund der Stellvertreterschaft
Jesu Christi auf Erden- an Euch und Eure Erben und Nachfolger, die Könige von Kastilien und León,
für alle Zeiten, für den Fall, dass eine der genannten Inseln durch die von Euch ausgesandten Männer
und Kapitäne gefunden werden sollte, alle aufgefundenen oder aufzufindenden, alle entdeckten oder
zu entdeckenden Inseln und Festländer, mitsamt allen Herrschaften, Städten, Lägern, Plätzen und
Dörfern und allen Rechten.." (Delgado S. 68).
Entgegen dem päpstlichen Bekenntnis wurde diese Bulle auf ausdrücklichen Wunsch der Katholischen Könige oder in vorauseilendem Gehorsam geschrieben, was eigentlich dasselbe ist.
Dieser päpstliche Schiedsspruch wurde von Portugal nicht anerkannt, erst im Vertrag von Tordesillas
im Juni 1494 einigten sich beide Seiten auf einen Kompromiß. Darin ist eine für die Katholischen Könige günstige Revision des Vertrags von Alcáçovas enthalten., welche unter Berufung auf die Papstbulle die Trennungslinie nunmehr 370 Seemeilen westlich der Kapverdischen Inseln in Nord-SüdRichtung fixiert. Der historische Kontext der sogenannten päpstlichen Schenkung liegt also in der Legitimierung der spanischen Gebietsansprüche gegenüber der Portugiesischen Krone, die anfänglichen
staatliche Rechtstitel lauteten: erste Entdeckung und Besitznahme, päpstliche Verleihung und Staatsvertrag der beiden ursprünglichen Okkupationsmächte, wobei klar war, dass die Bewohner der eroberten Gebiete nicht gefragt wurden, sie galten schlichtweg als Menschenmaterial, über das verfügt wurde.
Alle drei genannten Rechtstitel der Eroberungen sind in der Folgezeit theoretisch angegriffen und und
das ihnen zu Grunde liegende Interesse ist praktisch bestritten worden.
a) Dass die europäische Herrschaft sich auf den Grundsatz der ersten Entdeckung berufen könne,
wurde von spanischen Theologen bestritten, die sich auf die Naturrechtslehre des Thomas von Aquin
beriefen. Demnach entspringt sowohl die Staatsgewalt der eroberten Völker als auch ihr Eigentum der
natürlichen Ordnung und ist deshalb legitim. Deshalb sei es illegitim, die entdeckten Völker ihrer Herrschaft und ihres Besitzes zu berauben (vgl. Las Casas).
b) Die Papstbullen gingen faktisch von der Idee der päpstlichen Weltherrschaft aus, die eine direkte
Gewalt des Papstes auch in weltlichen Dingen behauptete und dem Papst die Oberhohheit über alle
Heidenvölker zuerkannte. Die spanischen Kronjuristen (Palacios Rubios) vertraten die Ansicht, dass
mit den Bullen die Oberhohheit des Papstes über die Heiden auf die spanischen Könige übergegangen sei. Genau dies bestritten die spanischen Theologen mit ihrem Verweis auf Thomas von Aquin,
nach dessen Auffassung Christus kein Weltlicher Herrscher sein wollte. Daraus folgerten sie, dass der
Papst über keine weltlichen Herrschaftsrechte verfüge, keine Autorität über heidnische Völker habe
und daher die fremden Staatsgewalten als naturrechtlich legitim anzusehen seien.
c) Die völkerrechtliche Gültigkeit des spanisch-portugiesischen Vertrages ist besonders von Franzosen, Engländern und Holländern bestritten worden, die den Ausschluß von den neu entdeckten Reichtümern nicht hinnehmen wollten. Gegen die Festlegung exklusiver nationaler Interessenssphären proklamierten sie das Prinzip der Freiheit der Meere und des freien Welthandels.
Auch wenn man dem Papst die weltlichen Gewaltrechte bestritt, so war man sich doch einig, dass er
als Oberhaupt der Kirche das Recht besaß, die Heidenmissionierung zu leiten. Daraus folgerten manche Theologen, dass der Papst dieses Recht an einen christlichen Fürsten delegieren könne und damit auch andere Fürsten von der politischen Inbesitznahme des Landes ausschließen könne; deshalb
sei der König von Kastilien als Oberherr der gesamten neuen Welt anzuerkennen, die Eingeborenen
seien ihm tributpflichtig, damit er die christliche Religion einführen und schützen könne. Diese Position
ist der Ursprung des Patronatsrechtes, durch das das Verhältnis von Staat und Kirche im entstehenden spanischen Weltreich geregelt wurde. Im Zuge der Zentralisierung des spanischen Staates unter
Isabella und Ferdinand wurden seine Grundsätze entwickelt, bei deren Durchführung die Einrichtung
der Inquisition und die Vertreibung aller spanischen Juden eine Schlüsselrolle spielten.
2. Die Entstehung des Patronatsrechtes vor 1492 im Zeichen von
Inquisition und Judenverfolgung
Die Entdeckung und Eroberung Amerikas erfolgten unter staatlicher Leitung und entsprangen nicht
kirchlicher Initiative. Der Missionsgedanke, mit dem die Bulle argumentierte, spielte zuerst eine unbedeutende Rolle. Kolumbus nahm zwar auf seiner zweiten Fahrt einen päpstlichen Vikar in Begleitung
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von 12 Priester mit, aber von der Tätigkeit der Mönche ist kaum etwas überliefert. Im Vordergrund
stand eindeutig die Kalkulation mit einem lohnenden wirtschaftlichen Ertrag durch den Aufbau eines
für Spanien exklusiv nutzbaren, transatlantischen Handels.
Mit dem Übergang von der Handels- zur Siedlungskolonisation gewann die Idee einer auch religiösen
Sendung bei der Organisation der neuen Gebiete samt ihren Völkerschaften an Bedeutung; die Christianisierung wurde zu einem wichtigen Instrument bei der Eingliederung der Indios in die spanischabendländische Zivilisation. Der spanische Staat richtete in diesem Prozeß die katholische Kirche als
nützliches Mittel für seine Ambitionen her und diese ließ sich umgekehrt willig dafür gebrauchen, ohne
dass es Versuche größerer Gegnerschaft gegeben hatte. Und dabei griff der spanische Staat auf Verfahren zurück, die sich schon vor 1492 als geeignet für die Stärkung der zentralen Macht des Königtum erwiesen hatten.
Es war, von Isabella und Ferdinand forciert, spanische Staatsräson, dass die katholische Religion eine
Schlüsselrolle bei der Schaffung eines homogenen Staatsvolkes und einer schlagkräftigen und souveränen Staatsmacht spielen sollte. Die fanatische Frömmigkeit der Katholischen Könige galt dabei weder der allumfassenden Idee des Katholizismus noch dem Primat des Papstes. Die Könige und nicht
der Papst besetzten die Priester-, Lehr- und Bischöfsämter, sie duldeten keine von Rom bestimmen
Würdenträger. Dabei waren sie weder aufgeklärte Despoten, die die Religion als Betrug für das Volk
bewußt förderten noch waren sie Staatsheiden, die sich um den Glauben ihrer Untertanen nicht kümmerten. Ebenso wie die Gewalt galt ihnen die Religion gleichermaßen als Fundament des Staates.
Die Art und Weise der Einführung der Inquisition 1478 und die Behandlung der spanischen Juden
zeigt dies deutlich. Nach dem Regierungsantritt Ferdinands und Isabellas versuchte Papst Sixtus IV.
wie sein Vorgänger, die Inquisition in Spanien einzuführen, stieß aber auf taube Ohren, da sich die
neuen Herrscher nicht durch päpstliche Legaten in das Land hineinregieren lassen wollten. Den Anstoß zu ihrer Einführung gab dann aber eine "Gefahr", die in der spanischen Öffentlichkeit zunehmend
als Problem der ganzen Gesellschaft angesehen wurde: die konvertierten Juden. Im Gegensatz zum
übrigen christlichen Abendland hatten im Mittelalter die Juden eine bedeutende Rolle im Gesamtleben
der entstehenden spanischen Nation gespielt. Drei Jahrhunderte lang unterstützten sie die Krone
gegen alle Kräfte, die sich dem Absolutismus entgegenstellten. Die jüdischen Hofwürdenträger gehörten fast zur ungeschriebenen kastilianischen Verfassung. Die bedeutensten kastilianischen Monarchen hatten immer auch jüdische Erzieher, Berater und Minister. Diese meist reichen Juden förderten
bewußt den staatsbildenden Prozeß; kulturell spielten sie eine große Rolle, die für das Abendland so
wichtige Berührung der christlichen mit der arabischen Welt fand durch die Juden statt. Die hervorragenden Universitäten in Cordoba und Toledo wirkten unter christlicher Herrschaft von Juden geleitet
weiter. Alles, was die Juden auf dem Gebiet der Chemie, der Astrologie, der Mathematik, der Medizin
gemeinsam mit den Arabern erarbeitet hatten, gaben sie weiter. Die Wissenschaft war förmlich ihr
Monopol, sie verfügten über das gesamte überlieferte medizinische Wissen der damaligen Zeit. Alle
Hausärzte der Granden, Könige und Erzbischöfe waren Juden.
Dies galt jedoch nur für die Politik der Krone. Die Städte hatten immer schon die antijüdische Tendenz, die Juden in ihre Ghettos, den Juderien möglichst abzukapseln und ihnen so wenig wie möglich
Rechte zu gewähren bzw. sie möglichst weitgehend einzuschränken. Von 1309 an kommt es zu immer weiteren Verschärfungen der Gesetzgebung gegen die Juden. Propagiert wird der "guerra sacra
contra los gudios", der heilige Krieg gegen die Juden, was zu Folge hatte, dass der Handel erschüttert
wurde und nach dem Verschwinden ihrer vornehmsten Träger, die Einnahmen der Krone, der Granden und der Kirche, die zum großen Teil auf der Besteuerung der Juden beruhte, zurückging. Reaktion auf diese massive Judenfeindlichkeit war die Massenkonversion und dies natürlich nicht, weil die
katholische Religion eine starke Anziehungskraft besessen hätte, sondern weil das ganze äußere Leben und alle Sphären der praktischen Betätigung exklusiv von Christen bestimmt wurden.
Diese getauften, von den nichtkonvertierten Juden "Fronknechte des Christentums" genannt, hießen
in der spanischen Gesellschaft "Conversos" -Bekehrte- und wurden als so etwas wie lebendige Trophäen der kämpfenden Kirche betrachtet. Es galt als Ehre und andachtsvolles Werk, bei der Taufe
eines Juden Paten gestanden zu haben. Jeder Bischof, jeder Grande, jede Dame und jeder Hidalgo
rechneten sich einen Conversos in ihrer persönlichen Bekanntschaft zur Ehre an. Die spanische Gesellschaft, die nicht immer reichen aragonischen und kastilianischen Granden vermischten sich durch
Heirat mit den Konvertiten, so dass nach vier Jahrzehnten schon fast jeder Aristokrat jüdische Verwandte hatte. Das Basler Konzil pries Ehen mit Übergetretenen als das sicherste Mittel zur Erhaltung
des Glaubens. In dieser günstigen Atmosphäre drangen die neu Getauften nun sehr schnell in viele
Stellen ein. Vor allem besetzten sie die Magistratsstellen der autonomen Städte, die ihnen vor der
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Taufe ausnahmslos verschlossen gewesen waren, erwarben herrschaftliche Lehen und eroberten die
wichtigsten Posten in der Armee. Sie erklommen auch ziemlich schnell die Leiter der kirchlichen Hirarchie und wurden Erzbischöfe und Bischöfe, verwalteten das Vermögen der Klöster und das der reichsten Bistümer.
Je zahlreicher die christlichen Spanier Medizin und Naturwissenschaft, Sprachforschung und Literatur
betrieben, besonders aber je öfter der christliche Nachwuchs die sonst nur ihnen allein reservierten
Stellungen und Pfründen von Conversos besetzt fand, umso gewaltiger wurde der Haß. Die Neuchristen hatten nicht nur neue Ämter erobert, sie hatten auch ihre alten behalten, sie bleiben weiterhin Armeelieferanten, Steuerpächter und Bankiers. In diesem Moment wurde das Scheinchristentum der
konvertierten Juden zum zentralen Punkt des Interesses an Denunziation, denn in der Tat hatten viele
der konvertierten Juden ihre religiösen Bräuche beibehalten und sich nur äußerlich aus Zwang akkomodiert. Die Bekehrten hießen plötzlich "Marranen", was unverblümt "Niederträchtige, Verdammte,
Schweine" heißt. Von diesem Zeitpunkt an galten die Juden des Katholizismus als "Problem", die allgemeine Parole hieß: heraus mit den Getauften aus ihren Stellungen. Ab 1470 erfolgt die offene Agitation von Franziskanern und Dominikanern, das Volk wurde aufgefordert, das Land von der "Verunreinigung" durch offene und heimliche Juden zu befreien. Zu der landläufigen Meinung, das Christentum der Conversos sei nicht echt, kam die Gier nach ihrem Gut. Die Realisierung dieses Wunsches
war jedoch rechtlich nicht so einfach wie die Durchführung eines Pogromes, denn die Conversos waren schon längst mit dem Adel verschwägert und die königliche Autorität schützte sie. Innerhalb der
spanischen Gesellschaft entstand daher eine Spaltung - für oder gegen die Marranen und beinahe jede Stadt hat einen Geheimbund gegen die Marranen,
Von der königlichen Seite wurde diese Marranengefahr lange nicht so schlimm eingeschätzt, wie es
die Vertreter der Kirche gerne gesehen hätten. Erst die unermüdliche Propagierung der Inquisition
auch als ein gutes Instrument zur Stärkung der königlichen Macht durch den Kardinal Mendoza aus
Sevilla und durch den Beichtvater der Königin, Tomas Torquemada änderte dies. Von der Kirche ging
in Spanien der Impuls aus, dass es notwenig sei, der "Marranengefahr" prinzipiell entgegenzutreten.
Und der König nutzte die Verfahren der Inquisition, um die schon seit längerem beklagten Hindernisse
für die Entfaltung des staatlichen Machtmonopols zu beseitigen: die Granden mit ihren Beziehungen
zu den Marranen, die Selbständigkeit der Provinzen, die sich oft genug nicht um das königliche Recht
kümmerten und die Städte, die ihre Privilegien zäh verteidigten. Die Katholischen Könige beantragten
also die entsprechende Bulle beim Papst, wobei sie zugleich klarstellten, dass es in Spanien nur eine
Inquisition unter staatlicher Kontrolle geben würde. D.h. Während in anderen Ländern die Inquisition
als Ausfluß der päpstlichen Obergewalt unabhängig von der jeweiligen Staats- oder Fürstenhoheit
war, war sie in Spanien Staatsache: die eingezogenen Güter der Verurteilten fielen dem königlichen
Fiskus anheim. Und dies war der Hauptgegenstand der Verhandlungen mit Rom gewesen, da der
Reichtum der Converversos beträchtlich war. Eine weitere Besonderheit dieser erwirkten Bulle, die
das Datum des 1. November 1478 trägt, war das unbeschränkte Ernennungsrecht der Inquisitoren
durch die Krone und die Übergehung der Bischöfe bei der Urteilsfällung.
Der erste Auftritt der neu gegründeten Inquisition fand in Sevilla Ende 1480 statt, eine aufgedeckte
Verschwörung der Conversos, die sich mit Waffengewalt wehren wollen, gab den Anlaß zur Verhaftung aller reichen und angesehenen Neuchristen, so dass schon im Februar 1481 das erste Autodafé
stattfinden konnte. Der Zwang zur Denunziation, den die Inquisitionsbehörde mit dem Angebot einer
Gnadenfrist für diejenigen kombinierte, die geständig waren, erwies sich als ergiebigste Quelle von
Anzeigen, so dass in kurzer Zeit alle Verzweigungen des noch bestehenden Judentums klargelegt
wurden und im ganzen Land die Conversos bloßgestellt werden konnten. Krönung dieser aus staatspolitischen Gründen durchgeführten ethnischen Säuberung der Nation war dann die offizielle Vertreibung der noch verbliebenen spanischen Juden und Mauren 1492, deren geraubtes Vermögen in spanische Hände überging.
Das Inquisitionsgericht hatte aber nicht nur über dem Judentum und dem Islam verhaftet gebliebene
Conversos und über alle nur ausdenkbaren Formen der Blasphemie und Häresie zu urteilen, seine
Jurisdikation erstreckte sich auch über ein Dutzend rein weltlicher Vergehen: z. b. über Schmuggler,
Wucherer und Menschen, die der Polygamie, Bigamie und Sodomie frönten. Der ehrgeizige spanische
König besaß damit ein sehr mächtiges Gericht, noch bevor er über die absolute Macht verfügte und
gerade dieses Tribunal sollte ihm dazu verhelfen, diese absolute Macht zu schaffen. Und die Mittel
dieser Macht bzw. die Grundsätze ihrer Ausübung erwiesen ihre volle Wucht erst in der Anwendung
auf die neuentdeckten Gebiete in Amerika.
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3. Das Patronatsrecht in den neu entdeckten Ländern
Die Stellung der Kirche bei der Eroberung Lateinamerikas
Die Katholischen Könige begründeten ihren Anspruch auf das Patronatsrecht in den neuen Ländern
mit ihren alten Verdiensten im Kampf gegen die Ungläubigen und die Verbreitung des christlichen
Glaubens. Schon während des Feldzuges gegen das letzte auf der iberischen Halbinsel noch verbliebene arabische Reich Granada erwirkten sie vom Papst eine Bulle, die ihnen in jenem Reich das Vorschlagsrecht für die Besetzung der Bischofsstühle und die Verleihung aller kirchlichen Pfründen gewährte. Der Papst trat an den König die Steuern ab, die die nach und nach bekehrten Mauren an die
Kirche zu entrichten hatten. Nach diesem Vorbild sollte auch die Schutzherrschaft über die neue Kirche in Übersee gestaltet werden.
1501 trat auf Drängen Ferdinands der Papst den Kirchenzehnten auch aller Eingeborenen und Bewohnern der neuen Länder dem spanischen Staat ab, während jener sich verpflichtete, für den Bau
von Kirchen und eine angemessene Dotierung zu sorgen. Mit der Erhebung und Verteilung dieses
Kirchenzehnten verfügte die Krone unmittelbar über ein kirchliches Eigentum. Königliche Beamte zogen die Beträge nach festgelegten Richtlinien ein und kontrollierten die Versteigerung. Aufgeteilt wurde wie folgt: Ein Viertel erhielt der Bischof und ein weiteres Viertel gehörte dem Domkapitel. Die andere Hälfte wurde in neun Teile aufgeteilt. Vier Neuntel waren zur Besoldung der Pfarrer und ihrer Helfer
bestimmt. Drei Neuntel entfielen zu gleichen Teilen auf Bau und Ausstattung der Kirchen und auf die
Hospitäler. Die übrigen zwei Neuntel flossen in die Kasse der Krone.
1505 forderte Ferdinand auf ewige Zeiten für sich und seine Nachfolger das Patronatsrecht und erhielt
es. Damit hatte der spanische Staat in allen praktischen kirchlichen Fragen die Oberaufsicht. Er erließ
Verordnungen für Geistliche (Z.B. Prüfung aller Priester, die nach Amerika geschickt wurden), nahm
die kirchlichen Einteilungen vor, setzte die Priester in ihre Ämter ein und legte Ihre Funktionen fest.
Die Bischöfe mussten vor ihrem Amtsantritt zuerst dem König einen Treueeid leisten, wie es schon
zuvor in Kastilien eingeführt worden war. Der Eid enthielt das Versprechen, jederzeit und in jeder Hinsicht das königliche Patronat gewissenhaft zu wahren und auszuüben, den Gang der königlichen Gerichtsbarkeit und die Einziehung der königlichen Abgaben nicht zu behindern und die ihm obliegenden
Ernennungen und Einrichtungen durchzuführen. Die Bischöfe erhielten damit den Charakter von
Staatsbeamten und wurden selbstverständlich mit vielen weltlichen Aufgaben betraut. Karl V., dem es
sehr auf die Reinheit der kirchlichen Lehre ankam, machte den neu gegründeten Indienrat zur obersten staatlichen Behörde auch für die religiös-theologischen Angelegenheiten und führte 1538 das kaiserliche Plazet ein, wonach päpstliche Erlasse nur nach Prüfung ihres Inhalts durch staatliche Organe
veröffentlicht werden durften. Die Päpste bemühten sich in der Folgezeit um Formen der unmittelbaren Intervention in kirchlichen Angelegenheiten in Form einer Nuntiatur für das spanische Amerika,
was in jeder Form von der spanischen Krone abgelehnt wurde. Innerhalb dieses durch den spanischen Staat fest kontrollierten Rahmens entwickelte sich die Kirche Lateinamerikas mit ihren durchaus
verschiedenen Untergruppierungen und auch teilweise verschiedenen, sogar gegensätzlichen Zielsetzungen.
So gab es nicht die Haltung der Kirche zum Vorgang der Conquista, sondern verschiedene innerkirchliche Fraktionen, die sich im Verlauf der Eroberung herausbildeten. Am Anfang ganz auf der Seite des
Staates und seiner Expansion findet sie sich später auf der Seite der Encomenderos, deren brutales
Vorgehen sie seelsorgerisch betreut, wieder. Und es war nicht selten, dass sich Priester entschlossen,
gegen die Sklavenhalter und auch gegen den Staat Stellung zu beziehen und sich dem Schicksal der
unterdrückten Indios zu widmen. Innerhalb der gemeinsamen Institution Kirche und im gemeinsamen
Glauben bildeten sich regelmäßige Parteien mit ihren jeweiligen Aktivisten, Propagandisten und Intellektuellen, die sich mitunter auf das Heftigste befeindschafteten. Im allgemeinen lassen sich drei innerkirchliche Gruppierungen unterscheiden.
a). Die kolonialistische Fraktion
Sie verteidigte die Interessen der Encomenderos und ordnete das Prinzip der Evangelisierung dem
Prinzip des Krieges unter. Mit der Herausbildung der Encomenderos zur herrschenden Klasse kommt
es im Bereich der ideologischen Rechtfertigung hier zu einer ausformulierten "Theologie der Sklaverei", die im wesentlichen folgende vier Argumente ausführte:
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Das Argument der "natürlichen Unterlegenheit" der Indianer. Hauptvertreter dieser Thesen war der
Priester Tomás Ortiz, ein Dominikaner, der an dem gescheiterten friedlichen Missionsexperiment in
Venezuela teilgenommen hatte und nach seiner Rückkehr in Spanien eine Schmähschrift schrieb, in
der er die Indianer zu Untermenschen erklärte. Die Kirche konnte die Argumente von Ortiz nicht akzeptieren, denn wären die Indianer als Untermenschen definiert worden, so hätten sie auch nicht
evangelisiert werden können.
Das Argument der "Bestrafung der Sünde". Solche Positionen wurden hauptsächlich von den Chronisten López de Gomara und Fernández de Oviedo verteidigt. Nach ihrer Meinung waren die Indianer
vieler Sünden schuldig, darunter als gravierenste Götzendienerei und ein sexuelles Verhalten, das mit
den rigiden mittelalterlichen Normen Spaniens nicht übereinstimmte. Nach der Logik dieses Arguments waren die "Conquistadores" nach Amerika gekommen, um die Rache Gottes zu vollstrecken.
Das Argument der "ungerechten Herrschaft". Diese Position wurde von dem Publizisten Pedro Cieza
de León und vom Vizekönig von Peru, Francisco de Toledo, verteidigt. Nach dieser Version lebten die
Indianer vor der Ankunft der Spanier unter tyrannischen Zuständen. Die zynische Ableitung dieses Arguments war, dass die "Conquistadores" als nichts geringeres denn als "Befreier" betrachtet werden
mussten.
Das Argument des "notwendigen Übels". Wegen ihrer Einfachheit erreichte diese Version die höchste
Resonanz. Nach diesem Argument waren sowohl der Krieg wie die Sklaverei bedauerliche Realitäten,
die aber in Kauf genommen werden mussten, wenn Spanien nicht auf die Evangelisierung der Eingeborenen verzichten wollte. Wahr ist, dass dieses Argument keinen theologischen Status besaß und
nur ein isoliertes Stück im Rahmen des Versuches der ideologischen Legitimation des Krieges war.
Juan Ginés Sepúlveda - Hoftheologe
Der einzige, der sich intensiv bemühte, einen theologisch-literarischen Diskurs gegen die Indianer im
Detail zu erarbeiten, war Juan Ginés de Sepúlveda (1490-1573), gegen den Las Casas besonders
heftig polemisierte. Sepúlveda versuchte eine Synthese zwischen Fragmenten des Alten Testamentes, insbesondere jenen, die sich auf den gerechten Krieg bezogen und der aristotelischen Philosophie, vor allem hinsichtlich der Begründung der "natürlichen Ungleichheiten".
Die konsequenteste Begründung seines Standpunktes findet sich in der Schrift "Über die gerechten
Gründe des Krieges gegen die Indios (1544/45). Dabei orientiert sich Sepulveda in seiner Legitimation
der Eroberungskriege an der alttestamentlichen Exodus-Erzählung, aus der er das Recht und die
Pflicht zur Abschaffung des Kannibalismus und Götzendienstes, der Menschenopfer und der Sodomie
ableitet. Und die sich aus der päpstlichen Schenkung ergebende Berechtigung und Verpflichtung zur
notfalls kriegerischen Inbesitznahme jener Länder bekräftigte für ihn diesen Auftrag nur noch. Nicht
nur Sepulveda, sondern etliche andere Apologeten der Conquista beziehen sich in dieser Zeit gerne
auf die Stellen des Exodusberichtes, in denen ein intolerantes Erwählungsbewußtsein im Sinne des
eifersüchtigen, Gewalt fordernden Jahwe zum Ausdruck kommt. Schon die Rückeroberung Granadas
und die Vertreibung der Juden stand im Zeichen dieser zum Nationaldogma erhobenen ursprünglich
religiösen Stammesmoral eines Nomadenvolkes. In Exodus 34, 11-14 heißt es.
"Halte dich an das, was ich dir heute auftrage. Ich werde die Amoriter, Kanaaniter, Hetiter, Perisiter,
Hiwiter und Jebusiter vor dir vertreiben. Du hüte dich aber, mit den Bewohnern des Landes, in das du
kommst, einen Bund zu schließen; sie könnten dir sonst, wenn sie in deiner Mitte leben, zu einer Falle
werden. Ihre Altäre sollt ihr vielmehr niederreißen, ihre Steinmale zerschlagen, ihre Kultpfähle umhauen. Du darfst dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. denn Jahwe trägt den Namen der Eifersüchtige; ein eifersüchtiger Gott ist er."
Die "wunderbare" Entdeckung Amerikas trug letzlich auch ihren Teil dazu bei, dass Spaniens Hoftheologen fortan ihre Heimat als das Israel des Neuen Testamentes betrachteten. So stützte sich die Begründung des rechtmäßigen Anspruchs der spanischen Krone auf die Landnahme-Theologie des
Exodusberichtes und der Umgang der meisten Christen mit den neugefundenen Menschen und Göttern orientierte sich weniger an Jesus von Nazareth und mehr an Josua, dem Krieger im Auftrag Jahwes.
Den biblischen Argumenten stellt Sepulveda Aristoteles an die Seite, mit dessen Hilfe das pseudomessianische Sendungsbewußtsein der spanischen Monarchie durch Argumente des Naturrecht flan- 11 -
kiert werden sollte, so dass die Conquista nicht nur als göttliches Gebot, sondern auch als natürliches
Gesetz begriffen werden konnte. Viele Seiten widmet Sepulveda der Beweisführung der naturgegebenen Ungleichheit der Menschen, woraus folge, dass die Spanier nicht nur die Israeliten des Neuen
Testamentes seien, sondern auch in Tugend und Sitten, Theologie, Philosophie, Astrologie, Charakterstärke, Menschlichkeit, Gerechtigkeitssinn und Religion die Griechen der Renaissance, die kultiviertesten Träger der abendländischen Zivilisation, also die Übermenschen des 16. Jahrhunderts. Die Indios galten -ähnlich den aristotelischen Barbaren- als quasi Menschenaffen (Homunculi), in denen
sich wenig von der allgemeinen Menschennatur finde und die kaum eine erwähnenswerte Kulturleistung zu Stande gebracht hätten. Sie müssen kriegerisch unterworfen und in die abendländische Zivilisation eingegliedert werden. Wenn Sepulveda sich auf das Neue Testament bezog, dann in der Art,
dass er das christliche Liebesgebot konsequent im Lichte des Exodusberichtes und der Argumente
des Aristoteles in eine Zwangsbeglückung durch die spanisch-christliche Zivilisation umdeutete. Sepulveda war der herausragendste Vertreter dieser kolonialen Herrenmoral eines aristotelisch gewendeten Christentums.
In Spanien selbst ist die Deutung der Conquista nach dem Schema der israelitischen Landnahme trotz
aller späteren akademischen Kritik immer populär gewesen und bildete das Fundament der einfachen,
christlich verbrämten Eroberermoral. Im Jahre 1566 veröffentlichte der Bischof Diego de Landa einen
Bericht über die Schrecken des Krieges bei der Eroberung der Mayas und er schließt die Schilderungen mit der Feststellung: "Die Spanier rechtfertigten sich damit, dass sie sagten, weil sie wenige wären, könnten sie so viele Menschen nicht unterwerfen, ohne sie mit schrecklichen Strafen einzuschüchtern, und als Beispiel führen sie die alte Geschichte vom Zug der Hebräer ins gelobte Land an,
bei dem auf Gottes Geheiß große Grausamkeiten begangen wurden." (Delgado, S.33)
Ein Dokument ganz aus dem Geiste dieser Moral war das Requerimiento, eine juristische Farce zur
Herstellung eines einwandfreien Rechtstitels der Eroberung.
Das Requerimiento oder die Herstellung eines Rechtstitels durch eine Farce
Das Requerimiento war eine Aufforderung zur bedingungslosen Kapitulation und Unterwerfung der
amerikanischen Völker unter die spanischen Eroberer, welche die Coquistadoren bzw. die sie begleitenden Missionare als formales Requisit gewalttätiger Landnahme und Sklaverei vor den Indios verlesen sollten. Lehnten diese das Kapitulationsultimatum ab - häufig einfach deshalb, weil sie weder
die Sprache noch die theologischen Sophistereien der Spanier verstanden - dann wurden sie für vogelfrei erklärt und zum Opfer terroristischer Unterwerfung. Diese, auf den Alexandrinischen Bullen und
dem mittelalterlichen Prinzip kirchlicher Weltherrschaft beruhende pseudo-juristische Formel wurde in
den ersten Jahren der Conquista, wenn überhaupt, nur verbal präsentiert. Im Jahre 1512 verfasste der
spanische Kronjurist Juan López de Palacios Rubios eine schriftliche Version der Kapitulationsforderung, die der Indienrat genehmigte und den "Eingeborenen" zu verlesen war, damit sie freiwillig zu
Vasallen des spanischen Königs würden. 1542-43 schließlich wurde an Stelle des Requerimiento eine
Briefbotschaft entwickelt, welche die terroristische Eroberung durch eine Art freiwilliges Lehnsverhältnis ersetzen sollte. Doch an der Vae-victis-Praxis der Conquista änderten diese pseudo-juristischen
Rechtfertigungsklausel, die häufig von ihren eigenen Verfassern nicht ernst genommen wurden, -wie
wir beispielseise aus einer Aufzeichnung Bartolomé de Las Casas über ein Gespräch mit Palacios
Rubios wissen - nichts. Und dass die Soldaten die Praxis des Requerimiento selbst lächerlich fanden,
erzählt Fernández de Oviedo: "In einem von den Bewohnern fluchtartig verlassenen Dorf sagte der
Notar Oviedo zu seinem Hauptmann: ´Herr, ich habe den Eindruck, diese Indianer wollen die Theologie dieses Requerimiento nicht anhören, noch habt Ihr jemand, der es ihnen erklärt. Euer Gnaden befehle daher, es aufzubewahren, bis wir einen dieser Indianer in einen Käfig stecken können, damit er
es langsam lerne und der Bischof es ihm auslegen kann. ´Ich gab ihm das Requerimiento zurück, er
nahm es und lachte schallend, und mit ihm alle, die es gehört hatten. " (Delgado S. 77)
Mit der Unterwerfung der großen altamerikanischen Reiche nach der Requerimiento-Methode begann
in Spanien eine großangelegte Debatte über deren Rechtmäßigkeit, die jedoch nichts anderes war als
ein nachträglicher akademischer Streit, nachdem durch Cortes, Pizarro und die anderen Conquistadoren vollendete Tatsachen geschaffen worden waren. Juan Ginés de Sepúlveda, Francisco de Vitoria
und Bartolomé de Las Casas stehen hier für drei verschiedene Grundpositionen in der Deutung des
Verhältnisses von Kirche und Staat während der Conquista.
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Das Requerimiento
Zu Anfang des Textes wird erklärt, dass dem Papst die Oberhoheit über alle Menschen und Reiche
von Gott übertragen worden sei und dass der Papst seinerseits durch Schenkung den König von Spanien zum rechtmäßigen Herrscher von Westindien gemacht habe. Dann folgt die Kapitulationsaufforderung:
"...Deswegen bitten und ersuchen wir euch nach bestem Vermögen, dass ihr auf unsere Rede hört
und eine angemessene Weile darüber beratet, dass ihr die Kirche als Oberherrn der ganzen Welt und
in ihrem Namen den Hohenpriester, Papst genannt, sowie an seiner Statt Seine Majestät als Herrn
und König dieser Inseln und dieses Festlandes kraft der erwähnten Schenkung anerkennt und euch
einverstanden erklärt, dass die hier anwesenden Ordensbrüder euch das Gesagte erklären und verkünden. Handelt ihr danach, dann tut ihr recht und erfüllt eure Pflicht; dann werden seine Majestät und
ich in Ihrem Namen euch mit Liebe und Güte behandeln, euch eure Frauen und Kinder frei und ohne
Dienstbarkeit belassen, damit ihr über sie und über euch selbst nach eurem Belieben und Gutdünken
verfügen könnt. Man wird euch in diesem Falle nicht zwingen, Christen zu werden; es sei denn, dass
ihr, in der Wahrheit unterwiesen, selbst den Wunsch habt, euch zu unserem heiligen katholischen
Glauben zu bekennen, wie es fast alle Bewohner der anderen Inseln getan haben. Darüber hinaus
wird seine Majestät euch viele Privilegien und Vergünstigungen geben und euch viele Gnaden erweisen.
Wenn ihr dies aber nicht tut und böswillig zögert, dann werde ich, das versichern wir euch, mit Gottes
Hilfe gewaltsam gegen euch vorgehen, euch überall und auf alle nur mögliche Weise mit Krieg überziehen, euch unter das Joch und unter den Gehorsam der Kirche und seiner Majestät beugen, eure
Frauen und Kinder zu Sklaven machen, sie verkaufen und über sie nach dem Befehl seiner Majestät
verfügen. Wir werden euch euer Eigentum nehmen, euch schädigen und euch Übles antun, soviel wir
nur können, und euch als Vasallen behandeln, die ihrem Herrn nicht gehorsam und ergeben, sondern
widerspenstig und aufsässig sind. Wir bezeugen feierlich, dass das Blutvergießen und die Schäden,
die daraus erwachsen, allein euch zur Last fallen, nicht seiner Majestät, nicht mir und nicht diesen Rittern, die mit mir gekommen sind. Alles, was ich euch hier gesagt und aufgefordert habe, bitte ich den
Notar schriftlich zu beurkunden." (Delgado S.72)
Das Gutachten von Yucay
Diese Schrift aus dem Jahre 1571 stammt von dem Dominikaner Garcia de Toledo, einem Vetter des
Vizekönigs von Peru Francisco de Toledo. Schon im Titel ist das Programm angekündigt, es soll um
die Legitimierung spanischer Herrschaft gehen und die Position des "Verteidigers der Indianer" Las
Casas soll widerlegt werden. "Abschrift eines Briefes..., in dem die richtige und rechtmäßige Herrschaft der Spanischen Könige über Peru behandelt und die Meinung von P. Fr. Bartolomé de Las Casas widerlegt wird." (Die folgenden Zitate aus: Gutièrrez, Gott oder das Gold)
Hatte Las Casas in der Gier nach Gold den Grund für die universale Zerstörung Westindiens gesehen
und dieses Streben als Götzendienst bezeichnet, so entwirft der Verfasser des Gutachtens, Garcia de
Toledo, im Auftrag des Vizekönigs von Peru gerade umgekehrt eine Theologie des Goldes als Heilsvermittlung, bzw. eine Theologie der Heilsvermittlung durch das Gold, eine Soteriologie des Goldes,
die sowohl die Ansprüche der Krone auf das Land ins Recht setzt als auch das Interesse der Eroberer
und Encomiendabesitzer an der Ausbeutung der Reichtümer garantiert. Er will zu Anfang darlegen,
"wie gut und notwendig es ist, die Gebirge von Gold und Silber aufzubrechen, um Bergwerke anzulegen....bis heute hat man das eher als Blendwerk des Teufels betrachtet denn als begründete Sache
und Wahrheit."
Im zeitlichen Zusammenfall von Rückeroberung der spanischen Halbinsel (1492 der Fall Granadas)
und Entdeckung Amerikas sieht der Verfasser einen deutlichen Hinweis auf die eigentlichen Intentionen Gottes, dessen Stellvertreter demnach den höchsten Rechtstitel auf diese Länder verliehen habe,
die man besitzen könne.
"Und als Zeichen dafür, und damit wir es klar verständen, gab er sie in demselben Jahr, in dem sie
damit fertig wurden, die Reiche Spaniens seiner göttlichen Majestät zurückzugeben, und damit wir
ganz klar verständen, es sei denn wir wären blind, gab Gott sie unter dem höchsten Titel, den christli-
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che Reiche überhaupt besitzen; er gab sie ihnen nicht mit Waffengewalt, sondern durch die Hand seines Stellvertreters auf Erden."
Für Toledo ist die Eroberung der Reichtümer Perus ein heiliger Bund Gottes mit der spanischen Nation, um gegen die Feinde des Glaubens gewappnet zu sein und er kann sich nicht genug darüber
wundern, dass man das noch nicht deutlich genug sieht. Noch 40 Jahre nach der Eroberung
"hat man für das Unternehmen der Gold-, Silber- und Quecksilberminen weder eine Rechtfertigung
gesehen noch gefunden; es ist unglaublich, dass man bis in diese Zeiten nicht sieht, dass der König mit göttlichem Geist und besonderer Bewegung durch Gott, zusammen mit der unseres heiligsten Vaters, der so voll des Heiligen Geistes ist, dass seine Werke es nur so verkünden, diesen heiligen Bund
gegen die Feinde unseres katholischen Glaubens bestimmt hat."
Im Heilsplan Gottes spielt das Gold die Rolle, den Kampf gegen die Ungläubigen zu bezahlen (1571
Schlacht bei Lepanto, Kampf gegen die Türken) und ist darüber hinaus so reichlich vorhanden, dass
es auch noch im Land selbst Gutes tut. Es sei
"ein wunderbares Ding, dass -kaum hat man mit den Bergwerken begonnen- der Reichtum, den man
entdeckt, so groß ist, dass man nur überrascht und verwundert sein kann. Aus den Minen holt seine
Hoheit dank ihrer zutiefst katholischen und freiheitlichen Bestimmung so viel Gold und Silber, dass
nicht nur die Eroberung des Türken nicht alles verbraucht, sondern dass sie auch noch diesen Reichen, aus denen das alles geholt wirde, große Gunsterweise zuteil werden ...können."
Las Casas hatte die Ausbeutung der Minen für Raub am Eigentum der Ureinwohner gehalten und diesen den Rat gegeben, ihnen bekannte Schürfstellen geheim zu halten. Dass die ursprünglichen Bewohner dieser Länder auch die rechtmäßigen Eigentümer der Minen und der übrigen Reichtümer sein
sollen, hält Toledo für völlig absurd, wenn er darauf hinweist, wie unendlich viehisch und dumm diese
Bewohner seien. Das in Rechnung gestellt, fragt er :
"wer will denn sagen, Gott habe diese solchermaßen in ihren Seelen erbärmlichen und gottverlassenen Indianer, die überdies völlig ungeschickt, ja Tiere sind, in dermaßen große Reiche, Täler und herrliche Länder, voller Reichtümer an Bergwerken von Gold, Silber und vielen anderen Metallen, gesetzt?"
So etwas können nur Verrückte behaupten. Trotzdem bleibt noch die Frage bestehen, warum ausgerechnet die größten Reichtümer sich bei den gottlosesten und dümmsten Leuten finden. Und hier bemüht der Verfasser des Gutachtens völlig unbiblisch ein Gleichnis aus der gewöhnlichen Heiratspraxis, um den Minen ihren Platz in der Heilsökonomie Gottes zuzusprechen und sie damit praktisch selig
zu sprechen. Gott habe sich
"diesen elenden Heiden, aber auch uns gegenüber wie ein Vater erwiesen, der zwei Töchter hat: eine
herrlich weiße, ausgesprochen zurückhaltende, voller Grazie und Anmut, und die andere, schrecklich
häßlich, triefäugig, albern und viehisch-dumm. Wenn es daran geht, die erste zu verheiraten, bedarf
es keiner Mitgift. Er setzt sie einfach in den Palast, wo die Herren ein- und ausgehen- um die Wette,
wer mit ihr heiraten würde. Doch bei der häßlichen, plumpen, dummen und unbeholfenen ist es damit
nicht getan, vielmehr muss er ihr eine große Mitgift geben: eine Menge Edelsteine, reiche, aufwendige
und teure Kleider und bei dem allem möge Gott helfen... Genau dasselbe hat Gott mit diesen und uns
getan. Alle waren wir Ungläubige, dieses Europa, dieses Asien, aber, auf der Ebene der Natur, gab es
große Schönheit, viel Wissenschaften, Zurückhaltung... Infolgedessen war es ein leichtes, dass die
Apostel und apostolischen Männer diese Seelen aufgrund des Glaubens an die Taufe mit Jesus
Christus verheiraten konnten. Aber diese Nationen, diese Geschöpfe, gehörten Gott und waren für die
Glückseligkeit bestimmt und waren der Eheschließung mit Jesus Christus fähig; jedoch waren sie häßlich, grob, albern, ungeschickt und triefäugig, und es brauchte eine große Mitgift."
Das Gold ist also deshalb so reichlich vorhanden, damit das Evangelium auch zu diesen Menschen
kommen kann.
"Und so gab er ihnen die Gebirge von Gold und Silber, fruchtbare und herrliche Länder, damit es in
diesem Dorf Menschen gebe, die um Gottes willen kommen wollten, das Evangelium zu predigen, sie
zu taufen und diese Seelen mit Jesus zu vermählen...Also sage ich von diesen Indianern, dass eines
der Mittel ihrer Vorherbestimmung und Erlösung diese Minen, Schätze und Reichtümer waren; denn
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wir sehen klar, dass dorthin, wo es sie nicht gibt, das Evangelium im Fluge und um die Wette kommt,
während dort, wo es sie nicht gibt, sondern nur Arme, dies ein Mittel der Zurückweisung ist, denn
dorthin kommt das Evangelium niemals, wie die Erfahrung ja ausgiebig lehrt, weil in ein Land ohne
Mitgift an Gold und Silber auch kein Soldat oder Heerführer gehen will und auch kein Verkünder des
Evangeliums."
Damit erreicht der Autor eine bemerkenswerte Uminterpretation der Botschaft Jesu. Nicht mehr Gott
oder der Mammon ist die Frage, sondern das Gold ist die beste Methode, die Frohe Botschaft der Erlösung zu verbreiten. Seine Schlußfolgerung heißt damit: Wo Gold ist, da ist Gott und selig sind die
Armen, weil sie reich an (Boden-) Schätzen sind.
b). Die staatliche Fraktion
Sie stellte sich gegen die außerordentliche Macht der Encomenderos und verfocht eine Stärkung der
Zentralgewalt, ohne dabei auf die unterworfenen Indios viel Rücksicht zu nehmen. Diese Position
wurde von Francisco de Vitoria (1492-1546) vertreten, einem der gebildetsten Scholastiker des 16.
Jahrhunderts. Vitoria kritisiert den päpstlichen Machtanspruch: der Papst sei nicht Herr der irdischen
Welt und besitze folglich auch keine weltliche Gewalt weder über die Indios noch über andere Ungläubige, die er an einen weltlichen Herrscher übertragen könne. Dabei hatte Vitoria jedoch nicht vor,
die Rechtmäßigkeit der spanischen Präsenz generell in Abrede zu stellen, sondern ihm schwebten
andere Rechtfertigungen für eine spanisch europäische Eroberung vor.
Ausgehend vom naturrechtlichen Vernunftpostulat, dass am Anfang der Welt, als alle Dinge allen gemeinsam waren, es jedem erlaubt gewesen sei, überall hinzugehen und sich dort niederzulassen, und
dass seitdem das ganze Menschengeschlecht eine Art universaler Staatenrepublik bilde, folgert er
vier allgemeine Migrations-Grundrechte:




Einwanderung- und Niederlassungsrecht
Handelsrecht
Nutzungsrecht
Einbürgerungsrecht
Sein Plädoyer für freie Ein- und Auswanderung, den freien Handel, die freie Ausbeutung der Naturschätze und das Einbürgerungsrecht kraft Geburt im Einwanderungsland spiegelt deutlich das europäische Lebensideal im Zeitalter des Merkantilismus wieder. Seine eingeräumten Einschränkungen das alles könne nur in dem Maße legitim sein, wie den ursprünglich Einheimischen dadurch keine
Nachteile oder kein Schaden erwachsen- haben den Mangel, dass nicht klar ist, nach welchen Maßstäben dieser Schaden beurteilt wird. Bestimmen die Einheimischen nach ihren Kriterien oder die einwanderungswilligen Christen nach den ihrigen?
Für das Christentum postuliert Vitoria ein allgemeines Missionsrecht aller Christen, die für ihre Religion werben dürften und ein besonderes Recht der Spanier zur Förderung der Mission in Westindien.
Der Papst als Inhaber der absoluten geistlichen Gewalt könne für das Wohl der christlichen Mission
bestimmte christliche Herrscher exklusiv mit einem geographischen Missionsgebiet betrauen und damit alle anderen christlichen Herrscher vom allgemeinen Grundrecht auf Handel und Wandel in jenen
Ländern ausschließen.
Reagierten die missionierten Indios auf die anfängliche friedliche Überzeugungsarbeit mit Gewalt,
dürften die Spanier die notwendigen Verteidigungsarbeiten ergreifen. Hätten sie vergeblich versucht,
in Sicherheit und Frieden mit den Indios auszukommen, so sei es als ultima ratio gerechtfertigt, mittels
eines gerechten Krieges ihre Städte zu besetzen und sie selbst zu unterwerfen. Vitoria betonte aber
immer, dass die Indios weder ihres Eigentums beraubt noch zur Annahme des Christentums gezwungen werden dürften.
Vitoria ersetzte damit das Eroberungsrecht nach der Requerimiento-Methode durch ein Interventionsrecht, indem er die Bestimmungen des römisch-griechischen Ius Gentium mit der scholastischen
Theologie koppelte, den Bedürfnissen des florierenden Welthandels anpaßte und der ausgeübten
staatlichen Gewalt eine modernere Legitimation anbot.
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c). Die Position der Indioverteidiger
Es war die Dominikanergemeinschaft von Santo Domingo unter Antonio Montesino und Pedro de
Córdoba, die sich 1511 als erste geschlossen zu einem prinzipiellen Angriff auf das Kolonialsystem
entschloß. Sie erklärte offensiv die Unvereinbarkeit christlichen Handelns mit der Praxis kolonialer
Ausbeutung.
Hauptvertreter dieser Position ist dann der Dominikaner Bartolomé de Las Casas (1484-1566) geworden. Las Casas war kein Revolutionär gegen die staatliche und kirchliche Ordnung, er erkannte die
Rahmenbedingungen der damaligen Zeit grundsätzlich an und wollte innerhalb dieser Ordnung erreichen, dass die Behandlung der Indios und der auch ihm notwendig erscheinende Christianisierungsprozeß allein in Übereinstimmung mit dem Beispiel Jesu Christi und der Apostel geschehen solle. Die
päpstliche Schenkung, die er akzeptiert, bedeutet für ihn aber, dass die Missionierung allein mit friedlicher Überzeugungsarbeit vor sich gehen dürfe und dass zum Wohl der christlichen Religion die heidnischen Herrscher, deren Gewalt laut Naturrecht legitim sei, lediglich der subsidiären Oberhohheit
eines katholischen Königs unterstellt werden dürften. Würden die Indios den christlichen Glauben
freiwillig annehmen, so seien sie von da an als gleichberechtigter Bestandteil des gesamten Staatsvolkes und nicht als koloniales Volk zu betrachten. Was Las Casas vorschwebte, war eine Art spanisches Kaisertum, das sich mit der formellen tributpflichtigen Anerkennung durch legitime Herrscher
der Indios zufriedengibt, seine Präsenz auf die dafür notwendige Ordnungsmacht beschränkt, Conquistadoren in Spanien zurückhält und die Verbreitung christlicher Religion weitgehend der Kirche
überLÄSST. (Vgl. Kapitel V)
Bei allen seinen Versuchen, eine Änderung der königlichen Politik zu erreichen, war er nicht so naiv,
als dass er nicht gewußt hätte, welchen Gründen sich die Ausbeutung der Indios verdankt. Deshalb
entschloß er sich später als Publizist dazu, für eine europäische Öffentlichkeit die Greueltaten der
spanischen Inquisition in seiner Brevísima Relación anzuprangern, zu einem Zeitpunkt, als er schon
innerlich davon überzeugt war, dass nicht seine Landsleute, sondern die Indios selbst das von der
Vorsehung auserwählte Volk des 16. Jahrhunderts zum Wohle von Kirche und Menschheit waren. Er
lieferte jedoch damit nur den mit seiner Heimat rivalisierenden europäischen Nationen die Argumente,
mit denen diese ihr eigenes Interesse, an der Ausbeutung der neuentdeckten Schätze beteiligt zu
sein, heuchlerisch einkleiden konnten und den spanischen Hegemonialanspruch im Namen der Abschaffung von "unmenschlicher" Grausamkeit in Frage stellten. Deren Praxis unterschied sich im Prinzip nicht sehr von den spanischen Methoden und die Art ihrer ideologischen Rechtfertigung noch weniger, was ein Beispiel belegen soll. Im Jahre 1640 soll eine puritanische Versammlung in NeuEngland folgende Beschlüsse verabschiedet haben: 1. Die Erde ist des Herrn; 2. der Herr kann die
Erde oder einen Teil davon seinem auserwählten Volk schenken; 3. wir sind sein auserwähltes Volk.
In Las Casas´ Überzeugung, dass das Evangelium mit kolonialer Eroberung oder gewaltsamer Intervention jedweder Art unverträglich sei, überwand er stückweise sowohl den aristotelischabendländischen Eurozentrismus als auch das staatlich benutzte Sendungsbewußtsein der altisraelitischen Exoduserzählung.
Die päpstliche Bulle "Sublimis Deus"
"Sind Indianer Menschen?"
Die päpstliche Bulle "Sublimis Deus " von 1537
Indios galten bei den spanischen Eroberern nicht als vollgültige Menschen. Es wurde bestritten, dass
sie "vernunftbegabt" seien. Man bezeichnete sie als "Tiere in menschlicher Gestalt". Es wurde bezweifelt, dass sie fähig seien, den christlichen Glauben anzunehmen. Gegen diesen Standpunkt reichten
Franziskaner und Dominikaner laufend Berichte ein, die die Indios vor derart ungerechtfertigter Kritik
schützen wollten. Ein Brief von acht in Mexico tätigen Franziskanern von 1533 warnt davor, Leuten
Glauben zu schenken, "die sich nicht die Mühe des Erlernens der Sprache auf sich nehmen wollen
und nicht den Eifer aufbrachten, diese Mauer abzutragen, um in ihre (der Indios) Herzen einzudringen
und selber die wunderbaren Gaben, die Gott in ihrem Inneren bewirkt, zu sehen und abzuleuchten."
(Delgado S.152)
Der Streit um die Menschwürde und Glaubensfähigkeit der Indios, der quer durch die verschiedenen
Ordensgemeinschaften und Laiengruppen verlief, erreichte Mitte der dreißiger Jahre den Höhepunkt,
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als einige Dominikaner angesichts der schlimmen Lage der Indios vorhatten, sich -unter Umgehungdes Patronatsrechtes der Krone- direkt an den Papst zu wenden. Den Ausschlag scheint ein Brief des
Dominikaners Julián Garcés, des ersten Bischofs von Tlaxcala (Mexico) an Paul III. gegeben zu haben, in dem er darum bittet, dass ein für allemal und von höchster Stelle formuliert werden solle, was
in dieser Streitfrage die offizielle Lehrmeinung der Kirche sei. Paul III.. erLÄSST daraufhin die Bulle
"Sublimis Deus", die eine entscheidende Wende in der Indiofrage herbeiführte.
Sie besteht aus drei Teilen. Der erste enthält eine einfache allgemeine Darstellung des menschlichen
Wesens, die Darlegung seiner göttlichen Bestimmung durch Jeusu Christus und die Betonung der daraus folgenden Universalität des christlichen Missionsauftrages.
Teil zwei behandelt den Teufel als einen Feind der Menschheit und alles Guten, der, um die Zerstörung des Menschen zu erreichen, seinen Anhängern die Überzeugung eingebe, dass die Indios wie
Tiere behandelt werden dürften, zum Dienen geschaffen und unfähig seien, den katholischen Glauben
zu empfangen.
Teil drei leitet die sich daraus ergebenden Postulate ab:
"Deshalb bestimmen und erklären wir, dass die genannten Indios und alle anderen Völker, die von
jetzt an den Christen bekannt werden, auch wenn sie außerhalb des Glaubens an Jesus Christus
sind, auf keine Weise ihrer Freiheit oder der Herrschaft über ihre Güter beraubt werden dürfen und erlaubterweise von ihrer Freiheit und ihrem Besitz Gebrauch machen können, und dass man sie auf
keinerlei Weise zu Sklaven machen darf. Alles, was im Gegensatz hierzu getan wird, ist null und nichtig. Wir bestimmen und erklären ferner, dass die genannten Indios zum Glauben an Jesus Christus
gerufen werden sollen durch die Predigt des Wortes Gottes und das Beispiel eines guten und heiligmäßigen Lebens." (Deldago S. 151)
Zu der Bulle "Sublimis Deus" gehörte auch das Breve "Pastorale officium", es enthielt den Auftrag, mit
Kirchenstrafen bis hin zur Exkommunikation, die Einhaltung und Durchführung der Bulle zu überwachen.
Der spanische König verlangte sofort eine Rücknahme dieser Bulle und ihrer Ausführungsbestimmungen. Papst Paul III. nahm letztere zwar offiziell zurück, wollte aber die allgemeinen Aussagen über die
menschliche Natur nicht angetastet sehen. Bernardo de Minaya, der die päpstlichen Aussagen an der
Krone vorbei nach Amerika gebracht hatte, bekam für seine Eigenmächtigkeit 2 Jahre schwere Kerkerhaft.
In der Praxis hat diese Bulle an der Behandlung der Indios nicht viel geändert, sie stärkte jedoch offiziell die Position der Indioverteidiger, spielte eine große Rolle bei der Diskussion um die Abschaffung
des Encomienda-Systems und diskreditierte alle diejenigen, die ihre Apologie der spanischen Unterdrückung mit einer angeblich natürlichen Minderwertigkeit der Indios begründeten. Als Reaktion auf
diese Initiative am Staat vorbei erließ Karl V. 1538 die Vorschrift, dass päpstliche Erlasse nur nach
Prüfung ihres Inhaltes durch staatliche Organe veröffentlicht werden dürften. Wenn Bedenken gegen
den Inhalt bestünden, seien die Erlasse an den Papst zurückzugeben mit der Bitte, sie nach besserer
Information aufzuheben oder abzuändern. Und 1539 wurde verfügt, dass Bischöfe, falls sie sich an
den Papst wenden wollten, ihre Eingabe an den königlichen Hof zu schicken hätten, der sie nach Begutachtung als königliches Gesuch weiterleiten würde.
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II. Die altamerikanischen Kulturen
1. Die Besiedlung Amerikas
Die Karavellen des Kolumbus waren am 12. Oktober 1492 an der Küste eines Kontinents gelandet,
der schon eine reiche Kulturgeschichte vorweisen konnte. Den Norden des Kontinents besiedelten die
Vorfahren der Eskimos; sie lebten überwiegend vom Fischfang und hatten überhaupt eine recht einfache Lebensweise. Die im Gebiet der heutigen USA lebenden Ureinwohner gehörten verschiedenen
Stämmen mit unterschiedlicher Kultur und Sprache an. Während die Küstenbewohner überwiegend
von den natürlichen Erträgen des Meeres lebten, betrieben die Gebirgsbewohner vornehmlich Ackerbau; die Maispflanze wurde hier zum Beispiel kultiviert. Die 'Indianerstämme' im südlichen Nordamerika waren in ihrer Kultur und Sozialordnung schon wesentlich stärker von mittelamerikanischen Einflüssen geprägt. Dort kam es zur Entwicklung einiger bedeutender Hochkulturen.
Die erste, sogenannte 'präklassische Periode' ist zwischen 1500 v. Chr. und 200 n.Chr. anzusetzen.
Mexico und das nördliche Andengebiet bildeten das Zentrum in dieser Zeit. Die bedeutendste Kultur
dieser Periode war die der Olmeken. Sie waren die Erfinder der ersten Hieroglyphenschrift Mittelamerikas und besaßen außerordentliche astronomische und mathematische Kenntnisse. Sie bauten die
ersten Pyramiden der Region, Steinskulpturen und Ruinen olmekischer Kultstätten sind bis heute erhalten geblieben.
Die Zivilisationen, die sich auf diesem Kontinent entwickelten, blieben jedoch weitgehend voneinander
getrennt, oder ihr gegenseitiger Verkehr und Austausch waren ziemlich gering.
In Mittelamerika selbst spielten besonders die Azteken ein wichtige Rolle; ungefähr im heutigen Mexico befanden sich ihre Ansiedlungen. Weiter südlich - in der Gegend von Guatemala und Honduraslebten die Maya. Ihre Blütezeit begann um 500 n. Chr.
Einwanderungsland Amerika
Es fällt auf, dass auf dem amerikanischen Kontinent bis heute kein einziger Urmensch gefunden worden ist. Amerika scheint schon immer ein "Einwanderungsland" gewesen zu sein. Im allgemeinen
nimmt man an, dass die ersten Bewohner spätestens kurz nach der letzten Eiszeit über die Beringstraße, die damals noch eine Landverbindung war, den amerikanischen Kontinent besiedelt haben. Ab
8000 v. Chr. erfolgten keine weiteren Einwanderungen mehr und die soziale und kulturelle Entwicklung dieses Erdteils vollzog sich ohne größere äußere Einflüsse.
2. Die Taino
Die Spanier hatten ihren ersten Kontakt mit amerikanischen Eingeborenen, die keiner entwickelten
Hochkultur angehörten, auf den Inseln des Karibischen Meeres. Sie trafen auf den großen Antillen die
Taino, die der Völkerfamilie der Arawaken angehörten und vom südamerikanischen Festland her die
Inseln in Besitz genommen hatten. Die Taino lebten auf der Stufe einer primitiven Pflanzerkultur, zeigten aber bereits Ansätze zur Entwicklung einer Hochkultur. Der Anbau der Baumwolle lieferte ihnen
den Rohstoff für die Herstellung von Geweben; Gold verarbeiteten sie zu Schmuckstücken und aus
Stein und Holz schufen sie Kunstwerke. Körperbau und Gesichtszüge der Taino machten auf die
Europäer einen angenehmen Eindruck. Kolumbus schildert sie als gut gewachsene, hübsche Menschen und stellt mit Überraschung fest, dass sie kein krauses Haar und keine schwärzliche Hautfarbe
haben. Offenbar hatten die Spanier fremde, exotische Wesen erwartet, wie sie sie von Afrika her
kannten. Wie überhaupt die Erwartungen, in denen sich Angst vor dem Unbekannten und europäisches Überlegenheitsgefühl vermischten, eine bedeutende Rolle spielten bei der Beschreibung der
Menschen, denen die Spanier begegneten. Die Taino waren nach den Schilderungen des Kolumbus
eine friedliche Menschenart. Er rühmte die Gutmütigkeit und gesittete Lebensart dieser Eingeborenen.
Sie näherten sich den fremden Spaniern ohne Argwohn und tauschten, was sie besaßen, bereitwillig
für irgendwelche Kleinigkeiten aus. Kolumbus schrieb an die Katholischen Könige: "Es sind Menschen
von Liebe und ohne Habgier. Ich glaube, dass es in der Welt kein besseres Volk noch besseres Land
gibt; sie lieben ihren Nächsten wie sich selbst, sie haben die lieblichste Sprache der Welt und sind
sanfmütig und immer lachend." (Kirk,124)
Mythos "Edler Wilder"
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Diejenigen Stämme der Eingeborenen, die den Spaniern keinen Widerstand entgegensetzten, bereitwillig Nahrungsmittel herbeibrachten und gegen wertlosen Plunder den Spaniern ihr Gold überließen,
waren das Material für die europäische Sichtweise, dass es sich bei diesem Menschenschlag um rein
gute und edle Wilde (sie gingen noch nackt einher, wie sie geschaffen worden waren, was den Europäern als Zustand der paradiesischen Unschuld erschien) handeln müsse. Kolumbus, der sie nicht
verstand, lobte den Liebreiz ihrer Sprache und hielt sie, weil sie nicht so versessen auf Gold waren
wie die Spanier, gleich für eine Verkörperung von Sanftmut und Liebe. Er hebt an ihnen besonders
hervor, dass sie sich sehr gut zu Untertanen des spanischen Königs machen lassen würden. Das Lob
des guten Wilden war nichts anderes als eine irreale Vorstellung der Europäer. Ihren Willen zur
Unterwerfung fremder Menschen versöhnten sie mit dem Wunsch, die Eroberten sollten praktisch
selbst einer Unterwerfung zustimmen, im dem Bild vom "Edlen Wilden", der alle christlichen Tugenden, die man ihm beibringen will, schon besitze und eigentlich nur über den wahren, über ihn thronenden Herrn im Himmel und auf Erden belehrt werden wolle.
Eine besondere geistesgeschichtliche Rolle hat der "Edle Wilde" in der französischen Aufklärung im
18. Jahrhundert gespielt, als sein Vorbild in der Wirklichkeit schon sehr dezimiert war. Die philosophischen Aufklärer wie Diderot und Voltaire zitierten das Bild vom "Edlen Wilden" gerne, um an ihm darzulegen, dass der Mensch durchaus zu moralischen Werten wie Liebe und Hingabe fähig sei, auch
ohne von einer Kirche zu diesen Tugenden angeleitet worden zu sein. Sie wollten an ihm beweisen,
dass zur Förderung der öffentlichen Moral allein die natürlichen ethischen Anlagen der Menschheit
hinreichend, aber keine besonderen göttlichen Gebote notwendig seien. Als Kirchenkritiker benutzten
sie den "Edlen Wilden" als ihren Kronzeugen für den Beweis der Überflüssigkeit aller organisierten
Kirchen.
Die moderne Fassung des "Edlen Wilden" ist eine Schöpfung der weltweit populär gewordenen Ökologiebewegung. An den letzten noch verbliebenen Ureinwohnern verschiedenster Weltgegenden und
ihrer früheren Existenz bebildert und lobt man Formen des menschlichen Lebens, das sich noch im
Einklang mit der Natur vollzogen und das natürliche Gleichgewicht des Lebenskreislaufs nicht zerstört
habe. Diese Kritiker des 20. Jahrhunderts kritisieren die Resultate der weltweiten Zerstörung menschlicher Lebensbedingungen als Verstoß gegen eine Lebensform, in der Mensch und Natur sich noch in
einer Harmonie befunden hätten. Der Häuptling Seattle ist heute der Kronzeuge für die Schädlichkeit
modernen Wirtschaftens, bei dem es nur ums Geld gehe, was man ja bekanntlich nicht essen könne.
An ihm wollen Ökologen heute ihre Überzeugung demonstrieren, dass es auf die Achtung der Natur
ankomme, wenn man eine menschliche Welt schaffen wolle. Die bei den Ureinwohnern Altamerikas
zu beobachtende Naturverehrung ist jedoch keine wissensmäßig gewählte Haltung, um die Natur zu
schonen, sondern der religiöse Ausdruck ihrer unbegriffenen Naturabhängigkeit. In dieser Abhängigkeit von vorgefundenen Naturbedingungen, in denen sie sich einrichten mussten, verfügten sie gar
nicht über die Mittel, die sie umgebende Natur so unbrauchbar zu machen, wie das die modernen "Zivilisationen" zu Stande gebracht haben. Als Vorbild ist ihre Haltung schlecht tauglich in einer Zeit, in
der es -wenn überhaupt- um die Frage einer vernünftigen oder zerstörerischen Naturbeherrschung
geht.
3. Die Kariben
Auf der zweiten Reise des Kolumbus ist gleich am Anfang die Rede von den sogenannten "Cannabili".
"Diese Inseln werden von den Canabilli bewohnt, einer wilden, ungezähmten Rasse, die sich von
Menschenfleisch ernährt. Es wäre nicht falsch, sie als Anthropophagie zu bezeichnen. Um sich mit
Fleisch zu versorgen, führen sie endlose Kriege gegen gutmütige und ängstliche Indianer; diese sind
ihre Beute und das Ziel ihrer Jagd. Sie gehen grausam gegen die Indianer vor, plündern und peinigen
sie ohne Erbarmen." (Kirk 158) Diese Indianer werden auch als Canibales, Canibas oder am häufigsten als Caribas bezeichnet, von ihnen leiten alle europäischen Sprachen das Wort "Kannibalismus" ab
- Auch die ersten mutmaßlichen Fälle von "Kannibalismus" werden mit ihnen in Verbindung gebracht.
Die von den Tainos so genannten Caribas oder Kariben bezeichneten sich selbst als Kalinas. Sie waren Neuankömmlinge auf dem später nach ihnen benannten Meer, der Karibik, und seinen Inseln; erst
Anfang der 15. Jahrhunderts waren sie in das Gebiet gekommen und hatten die Kleinen Antillen von
Grenada bis nach Guadeloupe erobert und sich mit den dort schon ansässigen Bewohnern vermischt.
Entgegen den bis heute gängigen Erklärungen waren sie weder wild noch kriegerisch, und sie waren
auch keine Kannibalen.
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Mythos "Böser Wilder"
Die Mythen, die sich um die Kariben ranken, entspringen fast ausschließlich der Phantasie des Kolumbus, der die Indianer nach der Regel einteilte: Wenn die Menschen auf einer Insel unterwürfig oder
zumindest nicht feindselig waren, wurden sie den Tainos oder guten Indianern zugeordnet, empfand
man sie aber als feindlich gesinnt oder zumindest abwehrend, so wurden sie als kriegerische Kariben,
als böse Indianer bezeichnet. Das Verständnis der Europäer für die Inselbevölkerung bewegte sich zu
dieser Zeit im großen und ganzen auf dieser Ebene. Die Vorstellung von den wilden und feindseligen
Kariben war nie mehr als ein Wahn, den man umso mehr pflegte, als man bei der Eroberung mit
einem wachsenden Widerstand von Seiten der Indianer konfrontiert wurde und die eigene Grausamkeit damit rechtfertigte, dass man sie als kriegsbedingte Notwendigkeit bei der Unterwerfung von
'Untermenschen' darstellte. Das hört sich dann so an:"
"Die Indios auf dem Festland essen Menschenfleisch. Sie sind mehr als irgendein anderes Volk unzüchtig. Gerechtikeit gibt es bei ihnen nicht. Sie sind unbeständig, glauben nicht an die Vorsehung,
sind undankbar und umstürzlerisch. Sie sind gewalttätig und verschlimmern dadurch noch die ihnen
angeborenen Fehler. Bei ihnen gibt es keinen Gehorsam, keine Zuvorkommenheit der Jüngeren
gegenüber den Alten, der Söhne gegenüber den Vätern. Lehren wollen sie nicht annehmen. Bestrafungen nützen bei ihnen nichts. Verräterisch, grausam und rachsüchtig, wie sie nun einmal sind, kennen sie keine Verzeihung. als Gegner der Religion, als Faulenzer, Diebe, gemeine und verdorbene
Menschen ohne Urteilskraft beachten sie weder Verträge noch Gesetze. Mit Schwachen haben sie
kein Mitleid. Ich kann versichern, dass Gott kein Volk je erschaffen hat, das mehr mit scheußlichen
Lastern behaftet ist als dieses, ohne irgendeine Beigabe von Güte und Gesittung." (Tomas Ortiz, Dominikaner) (Delgado S. 150)
Ebenso handelt es sich beim "Kannibalismus" dieser Indianer um einen Mythos der Europäer. Es gibt
dafür keinerlei stichhaltige Beweise. Berichte von Menschenfressern gehörten in das Standardrepertoire aller volkstümlichen Reiseberichte, die in Europa zirkulierten, so dass jeder gebildete Mensch darauf gefaßt war, sie an einen solchen Ort anzutreffen; das geringste Anzeichen konnte als Beweis für
ihre Existenz gelten. Die Kannibalismuslegende bot die Möglichkeit zur Rechtfertigung der Versklavung und Verschleppung von Menschen, die man selbst zu den Tieren rechnete. Kolumbus selbst
entwickelte seit der 2. Reise die Idee zur Versklavung der Inselbevölkerung in dem Moment, als sich
die Hoffnungen auf große und leicht zu bergende Goldfunde als Illusion erwiesen und andere Möglichkeiten, sich Reichtum anzueignen, erwogen wurden. Jeder Inselbewohner wurde fortan als Karibe
betrachtet und konnte versklavt werden.
4. Die Maya
Die Maya lebten im Südosten des heutigen Mexico, genauer: auf der Halbinsel Yucatan, in Belize und
Guatemala. Während die Eingeborenen der Karibischen Inseln in dörflichen Siedlungen lebten, war es
auf dem Festland zur Entstehung von Stadtkulturen gekommen. Die Spanier trafen zu ihrem großen
Erstaunen auf volkreiche Städte mit Steinhäusern, hohe Tempelbauten und gepflasterten Straßen.
Bedingt durch ein geschickt geplantes und effizient funktionierendes Bewässerungssystem konnten
Lebensmittel in überaus großer Fülle produziert werden. Der überschüssige Anbau von Nahrungspflanzen, vor allem von Mais, erlaubte die Entwicklung einer städtischen Bevölkerung, die sich den
verschiedenen Handwerken, dem Handel und anderen Berufen widmen konnte.
Es gab in den Mayastädten zur Zeit der europäischen Eroberung eine differenzierte, hierarchisch geordnete Gesellschaft, deren oberste Schicht ein Geburtsadel und die Priesterschaft bildeten und deren
unterste Stufe von den Sklaven eingenommen wurde, die durch Kriegsgefangenschaft und Vergehen
unfrei und verkäuflich geworden waren. Die Verwendung von Metall kannte man in dieser Stadtkultur
noch nicht. Werkzeuge und Waffen wurden aus Stein und Holz hergestellt. Neben einer entwickelten
Schriftsprache gab es auch ein eigenes Zahlensystem der Maya.
Astronomie und Mathematik
bei den Maya
Die Rechenkunst und astronomische Beobachtungen mit dem bloßen Auge dienten den Maya für die
Aufstellung ihrer Kalender und für die Zeitrechnung.Ihre Priester errechneten das astronomische Jahr
mit 365,2420 Tagen, kamen also der heutigen Berechnung von 365,2422 Tagen näher als der Gregorianische Kalender mit 365,2425 Tagen.
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Die Religion der Maya kannte eine Vielzahl von Haupt- und Sondergöttern, deren Geneigtheit und Hilfe man sich durch Gebete, Kasteiungen und Tänze, aber auch durch die Darbringung von Menschenopfern zu sichern suchte. Die Priesterschaft gewann insbesondere durch die von ihr geübte Wahrsagekunst eine großen Einfluss auf das gesellschaftliche Leben.
Diese Mayakultur war nicht mehr diejenige, auf die die Spanier trafen, als sie sich anschickten, die
von ihnen entdeckten Länder zu erobern. Innere soziale Konflikte und militärische Bedrohungen von
außen hatten zu einem Auseinanderbrechen des Reiches geführt. Ende des 15. Jahrhunderts schließlich zerfiel die Mayakultur.
5. Die Azteken
Geografisch benachbart, aber zeitlich wesentlich jünger war die Herschaft der Mexica. Unter dem
Namen 'Azteken' sind sie weithin bekannt und berühmt geworden. Die Sprache der Mexica war das
Nahuatl. Mitte des 15. Jhdt. hatte sich die Stadt Tenochtitlan auf dem Texcocosee -dort, wo heute die
Millionenmetropole Mexico-Stadt liegt- von der Herrschaft der bis dahin mächtigen Tapaneken befreit.
Unter den Königen Moctezuma I. und seinen Nachfolgern, vor allen Dingen Moctezuma II., gelang den
Mexica nach und nach die Eroberung des gesamten Umlandes: Vom Pazifik bis zum Atlantik nordwestlich des heutigen Guatemala reichte das aztekische Herrschaftsgebiet.
Politisch betrachtet war das Aztekenreich als zentralistisch ausgerichteter Militärstaat organisiert. Die
im Zuge der Expansion unterworfenen Völker behielten in der Regel zwar den Status unabhängiger
Staaten, doch wurden sie zu regelmäßigen Tributzahlungen an Tenochtitlan und seine Herrscher gezwungen. Nach und nach entwickelte sich ein regelrechtes 'Plünderungssystem' gegenüber den eroberten Völkern.
Im Inneren beruhte das Aztekenreich auf einer feudalherrschaftlichen Ordnung. Während die unfreien
Untertanen den Landbesitz des Adels zu bearbeiten hatten, wurde der Adel streng in die Hierarchie
des Hofes eingebunden. Sämtliche politischen Angelegenheiten von Rang mussten im Palast geregelt
werden, so dass jedwede adeligen Absonderungstendenzen schon im Keim erstickt wurden. Der niedere Adel hingegen wurde vom Hof verbannt. Ein Teil der unterworfenen Völker wurde durch den
Herrscher verpflichtet, in Tenochtitlan ansässig zu werden oder wenigsten einen nahen Verwandten
ihres Fürsten in die Hauptstadt zu entsenden. Insgesamt ist die Machtpolitik Moctezumas auf einer
scharfen Trennung zwischen den verschiedenen sozialen Schichten der aztekischen Gesellschaft
aufgebaut. Er selbst legte sich in diesem Zusammenhang fast gottähnlichen Charakter zu.
Menschenopfer
Es gibt keine historischen Berichte über die Maya und Azteken, die bei der Schilderung ihrer religiösen Praktiken nicht die Menschenopfer in den Mittelpunkt stellen und darin die Besonderheit dieser
Völker erblicken. Menschenblut und Menschenherzen sollen die Funktion gehabt haben, die Götter zu
besänftigen, es habe eine ausgefeilte Praxis verschiedener Todesarten gegeben und darüber hinaus
sei das Menschenopfer bewußt gegenüber den unterworfenen Völkern als Terrorinstrument eingesetzt
worden, denen das blutige Ritual die Macht der Aztekenherrschaft vor Augen führen sollte. So weit
verbreitet diese Ansicht auch unter Wissenschaftlern bis heute ist, so wenig ist sie begründet, wenn
man sich kritisch mit der Quellenlage beschäftigt. Als klassischer Augenzeugenbericht werden die
Schilderungen des Bernal Diaz del Castillo, einem Soldaten im Troß von Cortes, zitiert, der seine
Chronik über die Eroberung des Aztekenreiches später in Spanien verfaßte.
Wir schauten hinüber zur großen Pyramide... und sahen, wie sie (die Azteken)... unsere Kameraden...
mit Gewalt die Treppen hinaufschleppten und sich anschickten, diese zu opfern... Nachdem sie getanzt hatten, legten sie sie dann rücklings über recht schmale, zur Opferung hergerichtete Steine, und
mit Feuersteinmessern sägten sie ihnen die Brust auf, rissen ihnen das Herz (noch) zuckend heraus
und boten es den Götzen...dar. (Dann) stießen sie die Körper mit den Füßen die Stufen hinunter. Unten warteten weitere blutrünstige Priester, die ihnen Arme und Beine abschnitten und die Gesichter
häuteten. (Diese Häute) gerbten sie wie Handschuhleder. Samt ihren Bärten bewahrten sie sie auf,
um mit ihnen Feste zu feiern, während derer sie ein Gelage veranstalteten und das Fleisch der Geopferten mit Chilmole (einer scharfen Sauce) verschlangen. (Hassler)
Die Glaubwürdigkeit dieses Zeugen ist leicht zu erschüttern. Der Schauplatz dieses geschilderten
Dramas lag vom Beobachtungsstandort, dem Lager der Spanier, etwa sechs bis acht km Luftdistanz
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entfernt, was es unmöglich macht, Augenzeuge diese Vorgänge zu sein. Er hätte sich schon im unmittelbaren Tempelbezirk befinden müssen, um so genau beobachten zu können und genau das war
nachweislich nicht der Fall. Den Azteken war es nämlich gelungen, die angreifenden Spanier zurückzuschlagen, wobei sie fünfzig Spanier gefangennahmen, deren vermeintliche Opferung Bernal Diaz
später so phantasiereich beschreibt.
Der eigentliche "Erfinder" dieser Ritualmordlegende jedoch ist Cortez, der sie 1522 in etwas kürzerer
Fassung an Kaiser Karl V. schreibt. Von diesem Zeitpunkt an sind die Berichte über Menschenopfer
und Kannibalismus feste Topoi in denjenigen apologetischen Schriften, die die Unterwerfung und Ausrottung der Indios dadurch rechtfertigen, dass sie ihnen das Menschsein absprechen. Und auch in den
späteren Schriften der spanischen Missionare und der indianischen Konvertiten, die in proselytischem
Eifer gegen ihre alte Religion wettern, finden sich nur Berichte aus zweiter Hand, also "Geschichten
vom Hörensagen"; eine tatsächliche Opferung eines Menschen ist offenbar niemals von einem Spanier oder einem indianischen Konvertiten beobachtet worden. Auch in den Akten der Inquisitionsprozesse von 1561/65, die der fanatische Franziskaner Diego de Landa leitete (Er gilt als der Hauptinformant in Sachen Maya-Kultur; er ließ als Bischof die Bibliotheken der Maya plündern und große
Teile davon verbrennen) finden sich nur Geständnisse, die den befragten Indios unter der Folter abgepreßt worden sind.
Neben den Schriftquellen existieren jedoch noch archäologische Zeugnisse wie Skulpturen, Fresken,
Malereien und Bilderhandschriften, die sowohl von den Spaniern als auch von den Anthropologen mit
Menschenopfern in Verbindung gebracht wurden, wobei sich beide Seiten gegenseitig in ihrer Überzeugung stützten. Die Spanier bekamen Darstellungen auf Skulpturen und Bilderhandschriften zu sehen und deuteten sie sofort als Darstellung von Menschenopfern und die Anthropologen wiederum
verwendeten die spanischen Berichte für ihre Interpretation, ohne die schriftlichen Zeugnisse der
Spanier groß in Frage zu stellen. Die neuere Forschung zu diesem Thema geht demgegenüber davon
aus, dass es sich bei den Darstellungen von Opferungen und Tötungen von Menschen nicht um Abbildungen tatsächlich praktizierter Rituale handelt, sondern auch um die Versinnbildlichung von Initiationsriten, in dessen Mittelpunkt der mystische Tod steht, handeln kann. Der Kandidat, der in ein neues Leben symbolisch hineingeführt wird, "stirbt" und erneuert sich. Dieser Tod durch Imagination
nimmt oft dramatische Formen an, etwa als "Zerstückelung" oder als "Verschlingen durch ein Ungeheuer". Oder es geht um Götterlegenden, in denen Kampf, Tod und Opferung der beteiligten Protagonisten die beherrschenden Vorstellungen sind. Derartige Erklärungsversuche, die bei der Untersuchung anderer Religionen durchaus bekannt und üblich sind, wurden bei Azteken und Maya nie ernsthaft versucht.
Resultat eines kritischen Quellenstudiums ist es, dass sich institutionalisierte Massen-Menschenopfer
in dem Umfang und der Häufigkeit, wie sie bisher immer behauptet worden sind, historisch nicht
nachweisen lassen. Damit soll allerdings nicht gesagt sein, dass es sie überhaupt nicht gegeben haben könnte. Das eigentlich erklärenswerte Phänomen in diesem Zusammenhang ist jedoch eher die
Tatsache, mit welcher Selbstverständlichkeit sich der Glaube an Massenmorde der Azteken gehalten
hat, trotz aller Ungereimtheiten und Widersprüche in den Quellen.
6. Das Imperium der Inka
Als die Spanier 1532 an der peruanischen Küste landeten, nahm das Reich der Inka eine Fläche von
900.000 qkm ein. Nach den mündlichen Überlieferungen der Inka, die meist ihre offizielle Ideologie
verkünden, reichte ihre Dynastie bis zum Jahr 1200 zurück. Tatsächlich verhielt es sich so, dass die
Inka in ihrer frühen Periode (1200 -1438) eine relativ unbedeutende Gruppe im zentralen Hochland
von Peru darstellten. Ihr Herrschaftsbereich war auf das Hochtal von Cuzco beschränkt, und sie lagen
in ständigem Kampf mit benachbarten Völkern. Die größte Ausdehnung nach vielen Kämpfen und
Gebietserweiterungen war um 1500 erreicht.
Die Ursachen für die raschen Eroberungen der Inka lagen in der speziellen Organisationsstruktur ihrer
Streitkräfte, ihre Überlegenheit beruhte nicht so sehr auf waffentechnischem Gebiet. Die Bewaffnung
bestand aus Keule, Streitaxt, Speer, Schleuder, ferner Helm und Schild als Schutz. Außer einer stehenden Leibwache des Herrschers gab es kein stehendes Heer. Im Kriegsfall jedoch stand durch die
Zwangsrekrutierung der Bauern ein schlagkräftiges und bewegliches Heer zur Verfügung. Das vorzügliche Nachrichtenwesen, die Registrierung der gesamten Bevölkerung garantierten eine kurzfristige
Mobilisierung. Vorratslager entlang der Straßen gewährleisteten eine ausreichende Versorgung der
Truppen. Sollte ein neues Gebiet dem Inkareich einverleibt werden, so begann man nicht sogleich mit
Kampfhandlungen. Es wurden zuerst Abgesandte zu dem betreffenden Herrscher geschickt, die die
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Vorteile einer Unterwerfung unter die Inka aufzeigten. Man brachte Geschenke mit, versprach Rohstoffe und Fertigprodukte einzuführen, also eine Art Wirtschaftshilfe, falls er zustimmen würde. Geschah dies, so galt jenes Gebiet als neue Provinz und der angestammte Herrscher wurde Statthalter
unter der Kontrolle der Inka. War der betreffende Herrscher nicht einverstanden, so wurde das Gebiet
militärisch erobert. Danach verbreiteten sich sowohl die Staatsreligion, der Sonnenkult, als auch die
Staatssprache, das Quechua der Inka, beides Faktoren, die den Integrationsprozeß des Reiches beschleunigten.
An der Spitze des Reiches stand ein Gottkönig, der 'Sapan Inka'; er war unumschränkter Herrscher
über alle Lebewesen. Ihm gehörten der gesamte Boden, das gesamte Vieh und alle Naturschätze.
Dem Inka zur Seite stand eine herrschende Schicht, die grob gesehen aus drei Gruppen bestand: Der
Hochadel von Cuzco oder Angehörige aus dem Hause Inka. Vollkommen in den Händen dieser Elite
befand sich der Verwaltungsapparat des Reiches. Eine Stufe darunter standen die Angehörigen der
nichtköniglichen Sippen von Cuzco. Den niedrigsten Adelsstand bildeten die zur Kollaboration bereiten Fürsten und Herrscher der unterworfenen Völker. Dem Adel gegenüber stand die Masse des einfachen Volkes, das von der Inkaverwaltung perfekt registriert, organisiert und rekrutiert wurde.
Die ökonomische Grundeinheit des Volkes war die dörfliche Lokalgruppe mit gemeinschaftlichem
Landbesitz, die durch gegenseitige Arbeitsverpflichtung, gemeinsamen Besitz von Eigentum, und der
Verehrung eines gemeinsamen Vorfahren charakterisiert war. Zur besseren Organisation der verschiedenen Arbeiten war das Volk in Altersklassen eingeteilt, wobei in jeder dieser Altersklassen
Pflichten und Rechte jedes einzelnen festgehalten waren. Man begann sein Leben als 'Schreiender
Neuer', musste aber schon als Kind und Jüngling seinen Eltern bei der Arbeit helfen. Vom 25. bis zum
50. Lebensjahr galt man als Vollmann und war für den Staat am wertvollsten. Unter der Voraussetzung der Verheiratung hatte man Anrecht auf Grund und Boden und erlangte Stimmrecht im Rat der
Lokalgruppe. Als 'Vollmann' hatte man seiner Steuerpflicht nachzukommen, einerseits durch Arbeit auf
den Staats- und Kirchenfeldern, andererseits durch die 'mita', einen Arbeitsdienst im Staatsinteresse.
Dieser bestand aus Militärdienst, Bergwerksarbeit, Arbeiten an öffentlichen Bauten (Straßen, Brücken,
Festungen, Paläste usw.) und Arbeiten in den Cocapflanzungen (Staatsmonopol). Diesem Rekrutierungsmechanismus konnte sich niemand entziehen.
Die Wirtschaft des Inkareiches beruhte auf dem Bodenbau, wobei die Inka auf Erfahrungen und
Kenntnise früherer Völker zurückgriffen. Das Land gehörte dem Staat, und ein Großteil wurde gemeinschaftlich verwaltet. Auch die Bergwerke, die Cocapflanzungen und der größte Teil der Lamaherden waren Staatseigentum. Alles urbare Land war in drei Kategorien aufgeteilt: Staat, Götter und
Volk. Die Kirchenfelder dienten zum Unterhalt des Klerus, die Staatsfelder versorgten den Adel, die
Beamten, die Kunsthandwerker, die Armee und alle anderen Nichtproduzenten, wie Witwen, Waisen,
Kranke und Gebrechliche. Die Überschüsse der Staatsfelder wurden in Vorratshäuseren gelagert und
dienten als Vorsorge für Unglückfälle, Mißernten, Überschwemmungen usw. In Gemeinschaftsarbeit
wurden vom Volk zuerst die Kirchenfelder, dann die Staatsfelder und zuletzt die eigenen Felder bebaut.
Da die offizielle Religion, die Sonnenverehrung, vom Staat eingesetzt und auch die Priesterschaft vom
Staat erhalten wurde, hatte sie den Charakter einer Staatskirche. Die Sonne 'Inti' galt als der große
Gott und Stammvater des Herrscherhauses. Wesentliches Merkmal der Religion war der Glaube an
und die Verehrung von 'huacas', die man als heilige Orte bezeichnen könnte. Es waren von Geistwesen bewohnte, besonders auffallende Orte in der Natur, wie Berggipfel, Felsblöcke, Quellen oder
Seen, aber auch Tempel und Gräber von historischer und mythologischer Bedeutung. Diese Geistwesen trachtete man durch Gebete und Opfer gnädig zu stimmen. Dabei reichte die Spanne von kleinen
Gaben wie Trank- und Speiseopfern, über die Darbietung von Lamas bis hin zu Menschenopfern.
Letztere konnten nur vom Inkaherrscher selbst und in Krisen und Notzeiten dargebracht werden. Mit
dem Jahres- und Anbauzyklus der Nahrungspflanzen standen die religiösen Feste in Verbindung, die
allmonatlich mit großen Feierlichkeiten abgehalten wurden.
Militär und Straßen
Zu den am meisten bewunderten Leistungen der Inka zählten jene auf dem Gebiet des Verkehrswesens. Ähnlich den Römern benötigten die Inka Straßen vornehmlich für militärische Zwecke. Da die
Inka keine Fahrzeuge mit Rädern kannten, mussten sie ihre Straßen nicht durchgehend pflastern,
auch nicht so breit bauen, keine festen Brücken anlegen und konnten bei steilen Hängen Stufen
schlagen, so dass ihre Straßen schnurgerade verliefen. Die Instandhaltung der Straßen und Brücken
besorgten die Bewohner der umliegenden Dörfer, die dadurch ihre Arbeits- und Steuerpflicht erfüllten.
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7. Gold in Alt-Amerika
Der Wunsch nach Reichtum bildete die Hauptantriebsfeder der spanischen Eroberer, der Konquistadoren. Um in den Besitz dieses Metalls zu gelangen, kannten sie keine Skrupel. Da sie fast alles erbeutete Gold sofort einschmolzen, blieben bis heute nur wenige Stücke altamerikanischer Goldkunst
erhalten. Auch für die Indianer war Gold wegen seiner Seltenheit wertvoll, doch diente es ihnen niemals als Zahlungsmittel oder Grundlage ihres Wirtschaftssystems. Es wurde in erster Linie im religiösen Bereich verwendet.
Der Besitz von Gold war im präkolumbianischen Amerika entweder jedem gestattet oder er galt als
Privileg einer Herrscherschicht. Bei den Inka war Gold ein Kennzeichen hohen gesellschaftlichen
Ranges. Für viele Völker war es aufgrund seiner chemischen Eigenschaften (z.B. seiner Dauerhaftigkeit) Symbol des Unvergänglichen und Langwährenden. Im Sonnenkult der Inka zum Beispiel symbolisierte das Gold die Sonnenfarbe. Sie verarbeiteten Gold zu unterschiedlichsten Formen. Es gibt
Menschen- und Tierdarstellungen als Hohlfiguren und in Massivgold, Zeremonialbecher, Schmucknadeln, Ringe, Halsketten, Diademe und Schmuckstücke, die als Goldbesatz auf die Kleidung hoher
Persönlichkeiten genäht wurden.
8. Die leichten Siege der Europäer
Wenn man die Geschichte der Eroberung Mexicos liest, so entsteht die Frage, warum die durch Cortes Eroberten keinen stärkeren Widerstand geleistet haben. Waren ihnen die Kolonialisierungsabsichten von Cortes nicht bewußt? Die Bewohner der Gebiete, die Cortes zunächst durchquerte, ließen
keinen großen Widerstand erkennen, weil sie bereits von den Azteken erobert und kolonisiert waren
und eine Möglichkeit sahen, die verhaßte Aztekenherrschaft abzuschütteln. Das damalige Mexico war
kein einheitlicher Staat, sondern ein Konglomerat von Völkern, an deren Spitze sich die Azteken befanden. Viele dieser Völker waren mit den Azteken verfeindet, da diese sie mit Waffengewalt unterdrückt hatten, von ihnen hohe Steuern erpreßten und viele von ihnen versklavten. Das Gold und die
Edelsteine, hinter dem die Spanier her waren, wurden zuvor auch schon von den Beamten Moctezumas als Steuern einbehalten. Cortes war deshalb für sie bei weitem nicht der Inbegriff des Schlechten,
sondern erschien ihnen oft als das geringere Übel und, unter Berücksichtigung der gegebenen Verhältnisse, sogar als Befreier, der es ihnen ermöglicht, das Joch einer besonders hassenswerten Tyrannei abzuwerfen. Das Aztekenreich gründete sich auf die Kriegsstärke der Stadt Tenochtitlan, die in
verschiedenen Feldzügen ihre Herrschaft über eine breites Gebiet zwischen Atlantik und Pazifik erkämpft hatte. Cortes gründete seinen Eroberungsplan darauf, dass er sich zuvor des Gehorsams und
der Bündnistreue der Küstenindianer versicherte, um mit ihrer Unterstüzung die zentrale Machtstelle
zu erobern.
Ein wichtiger Faktor war die waffentechnische Überlegenheit der Spanier Die Azteken kannten keine
Metallbearbeitung, und ihre Schwerter und Rüstungen waren von geringem Nutzen. Die Pfeile wogen
die Hakenbüchsen und Kanonen der Spanier nicht auf. Die Spanier waren auch bedeutend beweglicher. An Land verfügen sie über Pferde, während die Azteken sich immer zu Fuß bewegten. Schließlich leiteten die Spanier, ohne es zu wissen, den bakteriologischen Krieg ein, denn sie brachten die
Pocken mit, die für die gegnerischen Armeen verheerende Folgen hatten.
9. Die Rolle der Krankheiten
Es ist bekannt, dass die Europäer eine Reihe von Krankheiten einschleppten, die für die in Amerika
ansässige Bevölkerung tödlich waren. Dazu zählten: Pocken, Beulenpest, Masern, Cholera, Typhus,
Rippenfellentzündung, Scharlach, Diphterie, Keuchhusten, Grippe, Gonorrhöe, Lungenentzündung,
Malaria, Gelbfieber, Ruhr und Alkoholismus. Ein Grund für die besondere Anfälligkeit der indianischen
Bevölkerung nicht nur in der Karibik für alle möglichen Krankheiten ist die Tatsache gewesen, dass es
auf dem amerikanischen Kontinent vorher so gut wie keine gefährlichen Krankheitserreger gab. Man
nimmt an, dass bei der mutmaßlichen Überquerung der Beringstraße durch die indianischen Ureinwohner Jahrtausende zuvor die meisten menschlichen Krankheitskeime mit wenigen Ausnahmen
durch die extreme Kälte abgetötet wurden, und da sich auf den Kontinenten vor dieser Zeit offensichtlich keine anderen leicht übertragbaren Seuchen entwickelt hatten, erfreuten sich die Indianer im allgemeinen einer bemerkenswert guten Gesundheit. Krankheiten waren keine häufige Todesursache,
ehe die Europäer kamen. Zusammen mit den durch Massaker und durch die Zwangsarbeit verursachten Todesfälle geht man heute von einer Dezimierung der Bevölkerung Altamerikas um 90% (60-70
Mio) in den ersten 100 Jahren der Conquista aus.
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III. Edelmetalle und Handelsartikel
1. Kolumbus und die Suche nach Reichtum
Hinter den spanischen "Entdeckungsreisen" stand, entgegen einer allgemein verbreiteten Ansicht,
nicht die Idee zu beweisen, dass die Erde rund sei; dies war bei den gebildeten Leuten der damaligen
Zeit nicht mehr strittig. Tatsächlich war das ursprüngliche Ziel der Reisen gewesen, einen Seeweg
nach Indien zu finden, um so das arabische und portugiesische Handelsmonopol auf exotische Waren, mit denen sich viel Geld machen ließ, umgehen zu können. Allgemein ausgedrückt, bestand der
eigentliche Zweck aller Expeditionen im Erwerb von Reichtum, indem man sich fremde Länder unterwarf und sie dem Herrschaftsbereich des Abendlandes einverleibte. Anschauungsmaterial dafür lieferten in Europa die italienischen Städte Genua und Venedig, die gezeigt hatten, zu welchem Reichtum
es eine Stadt durch den Handel mit fremden, exotischen Regionen und seltenen Luxuswaren bringen
konnte.
Kolumbus selbst berichtet in seinem Bordbuch, dass es die Suche nach Gold gewesen sei, die ihn
immer weiter segeln ließ. Er war von vorneherein der Überzeugung, dass ihm die Entdeckung großer
Goldfunde unmittelbar bevorstünde. Jedes Stückchen Gold, das er an einem Taino entdeckte, war für
ihn der Beweis, dass er nahe davor war, die Quelle des Goldes selbst zu entdecken. Schon sein Verhalten in den ersten Tagen vermitteln den Eindruck, dass er von dem Gedanken an Gold wirklich besessen war. Gold ist die Konstante des Bordbuches, das immer wiederkehrende Ziel, das er an manchen Tagen kaum aus seinen Gedanken verbannen konnte. Und unter diesem Gesichtspunkt des
Reichtums betrachtet er auch die Natur. Er hält sich nicht lange mit detaillierten Naturbeschreibungen
auf, sondern bemerkt meistens nur sehr kurz, dass diese Pracht und Fülle unbeschreiblich sei, um
dann gleich dazu überzugehen, den Nutzen all dieser Sachen zu erörtern. Für ihn bestand die Natur
aus allen möglichen Schätzen: Aloe, Mastixbäumen, Gewürzen, Zimt, Muskatnuß, Farbstoffen und
Arzneien oder Gold, Silber und Perlen. Ganz gleich, was es war, solange man es in Europa verkaufen
konnte, war es interessant.
Die Ausbeute bei der ersten Fahrt war zwar lange nicht so groß, wie er erhofft hatte, seine optimistischen Berichte über sicher vorhandene Goldvorkommen jedoch, bei denen zweifelos der Wunsch der
Vater des Gedankens war, wurden von den Teilnehmern der zweiten Reise bereits für bare Münze
genommen. Nachrichten von aufgefundenen Goldkörnern und Goldklumpen auf der Insel Espanola
riefen ziemlich schnell einen wahren Goldsucheransturm hervor. Scharen von Auswanderern, die
1502 mit der großen Flotte des Gouverneurs Ovando auf der Insel eingetroffen waren, begaben sich
sogleich in die angeblichen Goldgegenden, getragen von der Vorstellung, man könne dort das Gold
sozusagen mit den Händen auflesen. In den Minengebieten angekommen, mussten sie -wie Las Casas schreibt- einsehen, dass man das Gold nicht wie Früchte von den Bäumen pflücken konnte, sondern dass es erst durch Arbeit zu verfügbarem Reichtum gemacht werden musste. Da die Ankömmlinge jedoch keine Kenntnis von der Lage der Erzadern und auch sonst keinerlei Erfahrung in der
Goldgewinnung hatten, begannen sie auf`s Geratewohl zu graben und fingen sogar an, den Sand zu
waschen, ohne überhaupt zunächst auf Gold zu stoßen. Diese Mißerfolge führten sehr schnell dazu,
dass man Dörfer zu plündern und das Gold zu rauben begann, das den Tainos gehörte. Schon seit
Jahrhunderten hatten die Bewohner Altamerikas das von ihnen gewonnene Gold zu Schmuck und
Kultgegenständen verarbeitet; innerhalb kürzester Zeit ging auf diese Weise der größte Teil davon in
den Besitz der Spanier über.
Weiteres Gold konnte nur durch Arbeit gewonnen werden. Diesem Umstand trug das 1495 eingerichtete Abgabensystem Rechnung. Es war eine einfache und brutale Methode, um die Goldgier der Spanier zu befriedigen. Gleichzeitig bewahrte es sie davor, selbst mit Hand anlegen zu müssen. Jeder
Taino über 14 Jahre musste alle drei Monate eine Falkenglocke voll Gold - das ist etwas mehr als ein
Fingerhut - (oder 25 Pfund gesponnene Baumwolle in Gebieten, wo es kein Gold gab) an die Spanier
abliefern. Als Beweis für geleistete Abgaben musste ein Zeichen um den Hals getragen werden. Wer
nicht bezahlte, wurde bestraft (durch Abhacken der Hände, wie Las Casas berichtet).
Das einfachste Verfahren war die Goldwäscherei aus dem Flußsand, die in primitiver Weise bereits
von den Indios betrieben worden war. Die Spanier ließen die Indianer goldhaltigen Schlamm in Holztröge füllen und durch fließendes Wasser den Sand wegspülen. Mitunter lenkte man den Fluß durch
künstliche Dämme ab, um auch das Erdreich der Umgebung auswaschen zu können. Man ging je- 25 -
doch sehr schnell dazu über, Gold und Silber im Bergbau zu erschließen. Wo eine Erzader zutage
trat, deckte man sie weiter auf oder verfolgte sie unterirdisch in den Berg hinein. Die Anlage der Stollen orientierte sich dabei nur an den Windungen der Erzadern; auf die Sicherheit der Arbeiter wurde
keine Rücksicht genommen. Der brutale Verschleiß der Indios bei dieser Arbeit trug wesentlich zu
ihrer raschen Dezimierung bei.
2. Reichtum ohne eigene Arbeit
Encomienda und Mita
Als Hernan Cortez, der spätere Eroberer Mexicos, 1504 nach Espanola kam, sagte er:
"Ich bin gekommen, um Gold anzuhäufen, und nicht, um den Boden zu beackern wie ein Bauer." Damit sprach er offen das Prinzip der Kolonialisierung der neuentdeckten Länder aus. Die spanischen
Eroberer waren mit der Absicht und dem festen Willen gekommen, es ohne eigene Arbeit zu Reichtum
zu bringen, was sich in dem Wunsche ausdrückte, man möge so viel Gold finden, dass man für den
Rest des Lebens ausgesorgt habe.
Das Gold als Verkörperung von Reichtum schlechthin war für sie gleichbedeutend mit Geld und ermöglichte ihnen damit die Verfügung über konkreten Reichtum, d.h. über alle Dinge, die sich käuflich
erwerben ließen. So bestand die erste Phase der Eroberung folgerichtig darin, dass die Conquistadoren das Gold raubten, das die einheimische Bevölkerung bereits besaß. Als es nichts mehr zu rauben
gab, ging man dazu über, die Bewohner zu versklaven, um sie in den Minen arbeiten zu lassen oder
die Flüsse nach Gold auszuwaschen zu lassen. Auf diese Weise produzierten die Indios für ihren
Eigentümer das begehrte Gold, das diesen erlaubte, in den Besitz der begehrten Güter zu gelangen.
Ein zeitgenössischer Chronist berichtet darüber sehr anschaulich:
"Die Insel war sowohl von Spaniern wie von Indianern sehr bevölkert, und es gab auf ihr sehr reiche
Goldminen, aus denen alle Spanier viele Goldpesos gewannen, und alle waren reich und wohlhabend.
Während der besagten Jahre lief eine sehr große Zahl von Schiffen mit sehr reichen Kaufleuten die
Insel an, die alle Sorten von Seiden, reiche und sehr feine Tücher, weiße Wäsche aller Art, Schuhwerk und für die Goldwäschereien benötigtes Werkzeug, Weine, Mehl, Öl mitbrachten und zu ihren
Faktoreien schickten." (Kirk, S. 218)
Für die Indianer war damit das-gewaltsame-sich-zu-Tode-Arbeiten die Regel. Ohne Rücksicht auf Verluste und mit unglaublicher Brutalität zwangen die spanischen Grundbesitzer die Bevölkerung dazu,
sich ausschließlich auf die Produktion des Goldes zu werfen. Das war der einzige Zweck, den sie
kannten. Las Casas berichtet darüber folgendermaßen:
"Jemandem, der auf dieser Insel (Kuba) in ein gewisses königliches Amt eingesetzt wurde, waren als
Anteil dreihundert Indianer zugefallen, von welchen nach drei Monaten wegen übermäßiger Arbeit in
den Gruben zweihundertsiebzig umgekommen sind, so dass nur dreißig verblieben, das ist nur der
zehnte Teil; als er aber neuerlich dreihundert bekam, er sie auf dieselbe Weise plagte, und mit dem
Leben aller, die ihm gegeben wurden, nahm es kein Ende so lange, bis der Tyrann mit dem Leib der
Natur und mit der Seele dem Teufel bezahlt hatte. In der Zeit von drei oder vier Monaten - und ich bin
dabei gewesen- starben über sieben Tausende Kinder Hungers, ihrer Eltern beraubt, die in den Gruben arbeiteten. Und viel anderes Schreckliches habe ich gesehen." (Las Casas S. 28)
Diese Form der Zwangsarbeit und der Rekrutierung der Arbeitskräfte für Haus-, Feld- und Bergwerksarbeiten ist unter dem Namen "Encomienda" bekannt und berüchtigt geworden. Als Belohnung für die
Strapazen der Conquista bekam jeder Beteiligte eine Anzahl von indianischen Sklaven "anvertraut"
(span.: encomendar), die für ihn arbeiten mussten, während er im Gegenzug dafür zuständig sein sollte, dass sie im christlichen Glauben unterrichtet würden. In der Praxis war diese Fürsorgepflicht nichts
anderes als ein Vorwand für die rücksichtslose Ausbeutung der Indios. Die Zuteilungen der Arbeitskräfte wurden Repartimientos genannt; sie wurden auch dazu benutzt, um königliche Beamte zu besolden oder ihre Gehälter zu erhöhen, wobei dem einzelnen Beamten bis zu 200 Indios ja nach Rang
und sozialer Stellung zugeteilt wurden. Hofleute verschafften sich eine Nebeneinnahme durch die Zuweisung einer bestimmten Zahl von Indios, deren Arbeitserträge nach Spanien überwiesen wurde.
Z.B. besaßen ein Sekretär des Königs ein Repartimiento auf Haiti von 800 Sklaven und der Bischof
Fonseca eines von 300 Sklaven. Und nicht zuletzt die Krone selbst teilte sich für die Arbeit auf ihren
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Gütern und in den Bergwerken Indios als Sklaven zu. Die Folge dieses Systems, spanische Siedler
mit Arbeitskräften zu versorgen, war ein Massensterben unter den Indios. Die Bevölkerung Hispaniolas reduzierte sich auf diese Weise innerhalb von 20 Jahren von 4 Mio. auf 30 000 Menschen.
Eine andere Heranziehung zur Zwangsarbeit war die "Mita", bei den Inka und Azteken eine Form der
Arbeit für den Staat. Bestimmte öffentliche Arbeiten wie Straßenbau, Transporte und Ackerbau für die
Staatspitze waren eine Verpflichtung für die kleineren Dorf- und Stadtgemeinden. Die Spanier übernahmen diese Form der Verpflichtung, vor allem im Bergbau zur Gewinnung von Edelmetallen, und
sie lief bei ihnen darauf hinaus, dass die Indios zu fast ganzjähriger Arbeit in den Minen verdammt
wurden. Ein zeitgenössischer Chronist schrieb über die Arbeit im Silberberg von Potosì dazu: "Es ist
kein Silber, das man nach Spanien bringt, sondern der Schweiß und das Blut der Indios. In den Gesteinsmühlen von Potosì werden mehr Indios als Metall gemahlen, und jeder Silberpeso, der geprägt
wird, kostet zehn tote Indios in den Kavernen des Berges." Das System war so grausam, dass Familien geschlossen Selbstmord begingen und die Bevölkerung ganzer Dörfer aus Angst vor der Mita
flüchteten.
3. Gold in Altamerika- Gold in Spanien. Zwei Prinzipien des Reichtums treffen aufeinander
Auch in den Gesellschaften Altamerikas stellte Gold etwas sehr Wertvolles dar. Wegen seiner chemischen Eigenschaften, d.h. wegen seiner Beständigkeit, galt es als Symbol des unvergänglichen Sonnengottes und wurde in den Hochkulturen vorwiegend zu Kultgegenständen verarbeitet. Die Schätze,
die z.B. die Azteken unterworfenen Stämmen abgenommen hatten, dienten der Ausstattung der Herrscher mit Glanz und Prunk, also rein repräsentativen Zwecken. Darüber hinaus wurde das Gold zu
Schmuckstücken verarbeitet. Es war aber in der Regel kein Geld, d.h.Zahlungsmittel, mit dem sich
andere Gebrauchsgegenstände erwerben ließen.
Ganz anders dagegen in Europa. Hier war Gold das universale Zahlungsmittel und damit Reichtum
schlechthin. Mit ihm konnte man sich tatsächlich in den Besitz aller Dinge bringen, die es zu kaufen
gab. Die von allen Chronisten berichtete "Goldgier" der spanischen Konquistadoren war nur der Ausdruck der Tatsache, dass die Eroberer dieses europäische Prinzip praktizierten: Da der Besitz von
Geld jedem konkreten Besitz voranging, hing folglich alles davon ab, in ausreichendem Maß darüber
zu verfügen. Als Eroberer, die reich werden wollten, unterwarfen die Conquistadoren alles diesem
Zweck: Gold musste her und zwar möglichst viel, koste es, was es wolle. In den neu entdeckten Weltgegenden wurde alles -Land und Leute- nur unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, und alles wurde
dann im Zuge der kolonialen Eroberung nach diesem Kriterium behandelt und neu sortiert: der Boden,
die Ernten, die Menschen und das Vieh. Von da an hatte nur noch das eine Existenzberechtigung,
was dazu diente, Geld=Gold zu verdienen.
4. Vom Gold zur Kolonialware
Der Wille, reich zu werden, ließ die Spanier sehr schnell entdecken, dass sich bei ausbleibenden
Goldfunden auch Geschäfte mit anderen Rohstoffen oder auch Waren machen ließen, die auf dem
europäischen Markt sehr begehrt waren. Schon seit 1485 hatte Portugal einen Markt für Sklaven aus
Afrika etabliert. Und es war Kolumbus selbst, der als Ersatz für das ersehnte Gold 500 Tainos zu
Sklaven machte, indem er sie auf die nach Spanien zurückfahrenden Schiffe packte und in Europa
verkaufte, sehr zum Unwillen der Königin Isabella, die es verbot, ihre Untertanen gegen Geld zu verhökern. Desweiteren hatte man Perlen im Visier, die in den altamerikanischen Gesellschaften neben
Gold und Silber eine wichtige Rolle in der Repräsentation der Aristokratie spielten. Zucker - in Europa
bis dato ein seltener und teurer Luxusartikel - gehörte zu den ersten Dingen, die in großem Maßstab
für die europäischen Märkte angebaut wurde. Genußmittel wie Kakao und Tabak, die aus Amerika
neu nach Europa eingeführt wurden, ließen ebenfalls einen Markt entstehen, der sich durch hohe Gewinne auszeichnete.
5. Perlenfischerei
Bereits Kolumbus hatte auf seiner dritten Reise an der Küste von Cumanà im Tauschhandel mit den
Eingeborenen einige Perlen erworben. Die Kunde von den Perlenfunden erregte in Spanien Aufsehen
und veranlaßte Sevillaner Kaufleute zur Ausrüstung von Expeditionen für den Perlenhandel. Man erzählte sich von dem Perlenreichtum der neuen Welt Wunderdinge. Dann aber bemächtigten sich die
Bewohner von Santo Domingo dieses Geschäftes und machten durch königliche Lizenzen für einige
Jahrzehnte die Ausbeutung der Perlenvorkommen zu ihrer Domäne, indem sie die Perlen zunächst im
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Tauschhandel erwarben, ab 1515 jedoch die Perlenfischerei mit Hilfe von Indianern und Negersklaven
betrieben.
Die Perlenfischer tauchten an einem Seil befestigt und mit einem Stein beschwert für 50-80 Sekunden
in die Meerestiefe, rissen oder schnitten die Perlmuscheln vom Boden ab und sammelten sie in umgebundene Körbe. Sie wiederholten das Tauchen hintereinander etwa alle zwei Minuten bis zur Ermüdung. Es war eine absolut mörderische Tätigkeit. Abgesehen von den Angriffen der Meerestiere erlagen die Taucher den durch den starken Wechsel des Luftdrucks hervorgerufenen Schädigungen der
Lunge. Die Beschreibung von Las Casas ist sicher die eindringlichste:
"Fast alle können diese abscheuliche Lebensart (Perlenfischerei) nur wenige Tage ertragen. Denn es
ist schlechterdings unmöglich, dass Menschen, die ohne Atem zu schöpfen unter Wasser arbeiten
müssen, lange leben können. Ihr Körper wird unaufhörlich von Kälte durchdrungen, ihre Brust wird
vom häufigen Zurückhalten des Atems zusammengepreßt, mithin bekommen sie Blutspeien und
Durchfall und sterben daran. Ihr Haar, das von Natur schwarz ist, bekommt eine ganz andere Farbe
und wird brandrot, wie das Fell der Meerwölfe. Auf ihrem Rücken schlägt Salpeter aus; kurz, sie sehen
wie Ungeheuer in Menschengestalt aus, oder doch wenigstens wie Menschen von einer ganz anderen
Art. Durch diese unerträgliche Arbeit und wahre Höllenqual richteten die Spanier die sämtlichen Bewohner dieser Insel hin." (Las Casas, S. 28)
Als sich eine Erschöpfung der Perlmuschelbestände bemerkbar machte, begann die Erschließung der
Perlmuscheln des venezolanischen Festlandes. Zu Ende des 16. Jahrhunderts betrug das jährliche
Fünftel, das dem König aus den Erträgen der Perlenfischerei in Venezuela zustand, 100 000 Dukaten.
6. Die Herrschaft des Zuckers
Zucker war in Europa bis ins 15. Jahrhundert ein Luxusartikel, er wurde in den Apotheken verkauft
und man wog ihn grammweise. Er fand sich manchmal sogar im Brautschatz von Königinnen als Teil
der Mitgift. Schon die Portugiesen hatten begonnen, in größerem Umfang diese begehrte Ware zu
produzieren. Durch Heinrich den Seefahrer wurde Madeira zur ersten atlantischen Zuckerinsel, und
von Madeira gelangte das Zuckerrohr auf die Kanarischen Inseln, die als die Zuckerinseln in Europa
bekannt wurden. Von den Kanaren nahm Christoph Kolumbus 1493 Zuckerrohrstecklinge auf die Insel
Hispaniola mit, die dort sehr gut gediehen. Als die Goldgewinnung ab 1510 langsam zurückging,
wandten sich die Kolonisten stärker der Kultivierung des Zuckerrohrs zu. Um 1545 gab es bereits
zahlreiche Zuckerrohrmühlen. Die Zuckerrohrproduktion wurde auf Großplantagen durchgeführt, auf
der bis zu 500 Personen lebten; zu dieser harten Arbeit in den Zuckermühlen wurden ausschließlich
importierte Negersklaven verwendet. Die Plantagenbesitzer erlangten dadurch die Stellung einer Einflussreichen Herrenschicht in der kolonialen Gesellschaft und machten bei den steigenden Zuckerpreisen in Europa ein gutes Geschäft. Ihre hohe Nachfrage nach afrikanischen Sklaven kurbelte das
Sklavengeschäft erst so richtig an, das ab 1520 einen ungeheuren Aufschwung nahm und durch das
Afrika von europäischen Händlern als Gehege zum Einfangen schwarzer Arbeitskraft erschlossen
wurde. Die Zuckerproduktion war neben dem Bergbau das zweite Fundament der Wirtschaft in den
Kolonialgebieten, und führte dort, weil sie in großem Maßstab als Monokultur betrieben wurden, zu
einer fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Fruchtbarkeit des Bodens und einer zunehmenden
Verwüstung des Waldes, der den Plantagen weichen musste. Die gesamten karibischen Inseln wurden so der Herrschaft des Zuckers unterworfen und der Boden dadurch mehr und mehr ruiniert.
7. Die Landwirtschaft richtet sich nach den Bergbauzentren
Der Bergbau selbst hatte außerordentlich große Bedeutung für die Entwicklung der Landwirtschaft.
Wo der Glaube an reiche Gold- und Silberschätzen schwand oder sich die Edelmetallvorkommen
mehr oder weniger rasch erschöpften, waren die Konquistadoren und ersten Siedler gezwungen, sich
auf der Basis von Ackerbau und Viehzucht eine Existenz zu sichern. Wenn aber erneut reichhaltige
Gold- und Silberminen entdeckt wurden, führte dies rasch zu einer Bevölkerungskonzentration und zu
einem großen Bedarf an Lebensmitteln in den Minendistrikten. Sobald sich die Nachrichten von neuen
Minenfunden verbreiteten, setzten sich Viehzüchter in großer Zahl mit ihren Herden und ihrem Kleinvieh in Richtung auf die betreffenden Regionen in Bewegung. Da sich die Lagerstätten der Mineralien
häufig in trockenen Zonen oder rauhen Gebirgsgegenden befanden, profitierte die Landwirtschaft,
insbesondere die Viehzucht, oft in weiter Umgebung von der verstärkten Nachfrage. Die harte Arbeit
in den Bergwerken erforderte vor allem eine kräftige Fleischnahrung. Auch fanden z.B. die Rinderhäute eine vielfältige Verwendung im Bergwerksbetrieb; ebenso benötigte man viele Zugtiere. So ist die
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enge Verbindung von Bergbau und Viehzucht eine typische Erscheinung der spanischen Kolonisation.
Die Besitzer von Ackerländereien und Viehherden machten bei den hohen Preisen für ihre Produkte
gute Geschäfte und zogen einen erheblichen Teil des gewonnenen Goldes und Silbers in ihre Taschen. Ein besonderes Beispiel für diese Verhältnisse ist die Silberstadt Potosí. Dort hatte man, 2000
km von Lima entfernt, einen silberhaltigen Berg entdeckt. Schon 30 Jahre nach seiner Gründung zählte Potosì mehr als 120 000 Einwohner und um 1650 waren es zwischen 160 000 und 200 000. Damit
war es nicht nur die größte Stadt der damals bekannten Welt, größer noch als London, Sevilla und Paris, sondern es war lange auch eine der wichtigsten, reichsten und teuersten. Die erste Silberladung
verließ Potosì im Jahre 1549 und im 17. Jahrhundert rechnet ein Historiker aus, dass man mit dem bis
dahin geförderten Silber vom Gipfel in Potosì eine Brücke übers Meer bis zum Portal des königlichen
Palastes in Sevilla hätte bauen können: 10 000 km lang, 14 Ellen breit und vier Daumen dick. Das war
soviel, dass es dreimal die damaligen Währungsreserven Europas übertraf. Die Hälfte des in der Welt
produzierten Silbers kam seinerzeit aus Potosì. Diese Silberproduktion von Potosí war der Anlaß zur
Entstehung eines agrarischen Großraumes, der vom Pazifik bis zum Atlantik reichte und vom Geschäft mit dem Silber lebte.
8. Der Nutzen und die Nutznießer der Conquista
Da der spanische Staat in Europa zunehmend Geld brauchte für seine dominante Machtpolitik und
seine militärische Aufrüstung, versuchte er von Anfang an, sich durch Monopole den Hauptanteil aus
den Gewinnen der Eroberung Amerikas zu sichern. Alle Einnahmen der ersten Kolumbusreise sollten,
bis auf einen Anteil für Kolumbus selbst, der Krone gehören und die ersten Niederlassungen entstanden auch als staatliche Handelsfaktoreien, die durch besoldete Angestellte verwaltet wurden. Die Privatwirtschaft sollte ausgeschaltet werden. Da aber die Eroberungsexpeditionen von Spanien aus privat finanziert wurden und der Staat sich an der Ausrüstung nicht beteiligte, war dieser Monopolanspruch praktisch nicht aufrecht zu erhalten. Die spätere Regelung sah vor, dass die spanischen Auswanderer ein Drittel des durch Bergbau und Auswaschen gewonnenen Goldes behalten durften, der
Rest musste an die staatlichen Behörden abgegeben werden. Der Erwerb von Gold im Tauschhandel
blieb Monopol des Staates. Darüber hinaus beanspruchte er ein Zehntel des gesamten Handelsgewinnes. Die Gewinnung bestimmter Rohstoffe (Tropenholz, Tabak, Erze) wurden zum Monopol erklärt
und der Staat vergab Lizenzen an Privatleute und Gesellschaften gegen entsprechende Abgaben.
In dieser Form sicherte Spanien in wachsendem Maße seine Finanzkraft, die es ihm erlaubte, in
Europa eine schlagkräftige Macht aufzubauen. Durch die Edelmetalle aus Amerika wurde der spanische Staat größter Abnehmer von Waren in Europa. Insofern waren weitere Nutznießer des amerikanischen Goldes und Silbers diejenigen, die als Finanziers und Unternehmer in Europa die Geschäfte
mit Spanien machten und das spanische Gold für ihre Leistungen kassierten.
Für die einzelnen Conquistadoren haben sich die Verbrechen und Grausamkeiten beim Goldraub in
finanzieller Hinsicht sicher nicht gelohnt. Die meisten von ihnen starben, bevor sie die "Früchte ihrer
Arbeit" genießen konnten. Die Sterblichkeit betrug ungefähr fünfzig Prozent und stieg weiter an, je
mehr man nach Süden vordrang. Bei der Eroberung des heutigen Kolumbien hatte sie achtzig Prozent
erreicht. Schlangen, Moskitos, Hautparasiten, Raubtiere sowie Ruhr und Skorbut auf den Schiffen waren die Hauptursachen dafür. Was die tägliche Versorgung betraf, lebten die Eroberer üblicherweise
von gestohlenen Lebensmitteln. In den Häfen aber, wo sie europäische Waren kaufen wollten, mussten diejenigen, die keine Sklaven zum Tauschen anbieten konnten, und das waren die meisten, mit
Gold bezahlen - und zwar zu Monopolpreisen, so dass vielen letztlich kaum etwas übrig blieb. Der in
Europa gültige Wert des Goldes kam für seinen Besitzer nur dann zum Tragen, wenn er es mit sich in
die Heimat bringen konnte. Gelang es tatsächlich, einen Hafen zu erreichen und die Überfahrt unbeschadet zu überstehen, konnte ein Rückkehrer in Spanien mit zehn Kilogramm Gold bis zu seinem
Tode ein luxuriöses Leben führen.
Diese Soldaten der Conquista, die für sich den geringsten Nutzen aus ihren Eroberungen zogen, waren -historisch gesehen- die gewalttätigen Vorboten und Wegbereiter der systematischen Kolonisierung, durch die sich die spanischen Kolonisten und Grundbesitzer des gesamten Landes bemächtigten und die ursprüngliche Bevölkerung enteigneten und versklavten. Das Prinzip der Conquistadoren,
möglichst viel Gold zu besitzen, wurde so fortgesetzt von den Kolonisten durch ihr Bemühen, möglichst alles zu Geld zu machen. Dieser Maßstab legte dann praktisch fest, das nur das als nützlich
galt, was der Vermehrung von Geld diente. Der "Nutzen" der Conquista bestand also darin, in den
neuentdeckten Ländern das Geld zum Mittelpunkt der gesamten Existenz und den Dienst am Geld
zum Dreh- und Angelpunkt des Lebens und Überlebens gemacht zu haben. Das war die eigentlich
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"zivilisatorische" Leistung der Europäer in den von ihnen "entdeckten" Ländern, deren Ergebnisse bis
heute fortdauern.
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IV. Afrika und der Sklavenhandel
1. Die Anfänge der europäischen Suche nach Reichtum
Schon ab 1400 bekämpften die Portugiesen arabische Stellungen in Nordafrika, um deren Monopol
sowohl im Mittelmeerhandel als auch im Goldhandel mit Westafrika zu brechen. Die portugiesischen
Anstrengungen, auf dem Seeweg zur Guineaküste zu gelangen und durch die Umrundung Afrikas den
Kontakt nach Indien herzustellen, waren nichts anderes als der Versuch, den arabischen Zwischenhandel auszuschalten. 1419 errichtete Portugal deshalb eine Seefahrtsschule, in der alle Pläne für die
folgenden Vorstöße an die afrikanische Küste ausgearbeitet wurden. Bei ihren Erkundungs- und Eroberungsfahrten brachten die Portugiesen vor allem Sklaven, Elfenbein und Gold heim. Der 5. Teil
des Gewinns vom Verkauf eines jeden Sklaven war an die Portugiesische Krone abzuführen. Die in
der Folgezeit vom Sklavenhandel ausgehende deformierende Wirkung war verheerend für den afrikanischen Kontinent. Lebte sowohl in Afrika als auch in Europa Ende des 16. Jahrhunderts jeweils ein
gleicher Anteil der Weltbevölkerung von rund 100 Millionen Einwohnern, verschob sich die Relation
bis 1900 in der Weise, dass sich die europäische Bevölkerung ungefähr vervierfachte, während die
Bevölkerung Afrikas in der gleichen Zeitspanne nur um 20 Millionen, also ein Fünftel der Ausgangszahl, zunahm. Afrika erlitt ungeheure Menschenverluste, zumeist durch den Raub der gesündesten
und stärksten jungen Leute. Viele starben bei Kämpfen, den strapazenreichen Märschen der Sklavenkaravanen vom Landesinneren an die Küste, beim Schiffstransport und durch die folgende brutale
Ausbeutung. Nach Schätzungen hat Afrika durch den Sklavenhandel zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert etwa 50 Millionen Menschen verloren, zählt man auch diejenigen mit, die in ihrer Heimat beim
Widerstand gegen die Sklavenhändler starben oder die Überfahrt nach Amerika nicht überlebten. Eine
neue Dimension bekam die Sklavenwirtschaft in europäischer Regie mit dem Ausbau der Plantagenwirtschaft in der 'Neuen Welt'. Mit der Genehmigung durch Kaiser Karl V. im Jahre 1517 setzte der
Handel mit afrikanischen Sklaven nach den europäischen Besitzungen in Nord-, Mittel- und Südamerika offiziell ein und nahm seit der Mitte des 17. Jahrhunderts einen ungeheuren Aufschwung.
Afrika-Europa-Amerika
Ein erfolgreicher Dreieckshandel mit Sklaven, Waffen und Gold
Mit der Entdeckung der neuen Kontinente Amerika und Afrika entstand der berüchtigte Dreieckshandel, in dessen Verlauf vor allem die holländischen,und französischen und danach die britischen Handelskompanien an jedem Umschlagsplatz sich vervielfachende Gewinne erzielten, die zu einem ungeheuren, in die Mutterländer zurückfließenden Reichtum anschwollen. Dieser Dreieckshandel erwies
sich als besonders lukrativ, weil bei ihm die Schiffe auf allen Routen voll ausgelastet waren. Gegen
Flinten, Schnaps und Kattun aus Europa wurden in Afrika -zunächst äußerst billig- Sklaven eingetauscht. Diese wiederum transportierte man auf die Westindischen Inseln oder in andere Teile Amerikas. Zunächst erhielt man für die Sklaven Gold und Silber, später interessierten mehr die Plantagenprodukte Zucker einschließlich Rum, Baumwolle, Kaffee und Tabak als Gegenwert. Hatte der Handel
mit Gewürzen und Pfeffer noch den Zweck, einen kleinen Vorrat zu horten und ihn dann zu Monopolpreisen zu verkaufen, so wurde nun beispielsweise die Baumwolle mit dem Zweck produziert, billigen
Rohstoff für Englands Textilindustrie zu liefern.
Wie lange lebt ein Sklave? Eine Sache von Angebot und Nachfrage
Die Vernutzung von Sklaven richtete sich streng nach Angebot und Nachfrage. Kostenrechnungen
amerikanischer Sklavenwirtschaft gingen davon aus, dass die Zufuhr neuer frischer Arbeitskräfte nach
3-4 Jahren billiger war als die gute Versorgung der bereits im Besitz befindlichen Sklaven über diesen
Zeitraum hinaus. Deshalb wurde maximale Arbeitsleistung bei geringster Versorgung aus den rechtlosen Menschen herausgepreßt.
2. Ohne Arbeit(er) kein Reichtum
Kolumbus und die ihm nachfolgenden Conquistadoren der "Neuen" Welt waren nicht zum Arbeiten auf
den amerikanischen Kontinent und die ihm vorgelagerten Karibischen Inseln gekommen. Die Suche
nach Reichtum, vor allem in seiner konzentriertesten Form, dem Gold, hatte sie über den Ozean getrieben. Zwar gab es einiges Gold bei den Ureinwohnern zu rauben, jedoch war sehr schnell klar, dass
das sich in den Minen befindliche Gold nur durch harte Arbeit zu verfügbarem Reichtum werden konnte. Das erforderte aber die Verfügung über fähige Arbeiter in großer Anzahl. Die Sicherstellung aus- 31 -
reichender Arbeitskräfte wurde damit zum dringlichen Problem derer, die nach Amerika gekommen
waren, um ohne Arbeit ihr Glück zu machen und ihren Wohlstand zu mehren. Ein Chronist sagte dazu: "Obwohl fast die meisten Spanier als Müßiggänger anzusehen sind, da sie keiner Beschäftigung
nachgehen, tragen sie Soldatenuniformen und nennen sich auch so und behaupten, sie seien Offiziere und nicht zur Arbeit geboren, und man wird sie nicht ohne Risiko zu Arbeit zwingen können, denn
sie sind sehr viele und die Territorien sind sehr ausgedehnt." (Alle Zitate aus Martin,P.)
Die Minen- und Plantagenbesitzer konnten ihren Arbeitskräftebedarf nur mit der Verwendung leibeigener und versklavter Menschen befriedigen. Hautfarbe und Herkunft der Zwangsarbeiter waren den
frühen Unternehmern dabei lange Zeit vollkommen gleichgültig, ebenso die Form der Arbeitspflicht.
Ob Leibeigenschaft, Sklaverei oder von der Justiz angeordnete Zwangsarbeit, wen kümmerte es? Die
Hauptsache war, dass man eine Maximum an Leistung aus den Arbeitern pressen konnte. Neben den
amerikanischen Ureinwohnern (Indios) beschäftigte man gefangene Mauren aus Nordafrika, Schwarze aus den südlichen Teilen Afrikas ebenso wir Malaien und versklavte europäische Bauern. Da die
eingeborenen "Indios" vor allem im karibischen Raum den Anforderungen der Zwangsarbeit nicht gewachsen waren und zu Hunderttausenden starben, bot der Import von Negersklaven, der seit langem
nach Europa praktiziert wurde, einen willkommenen Ausweg, zumal man bereits beste Handelsbeziehungen zu den Sklavenküsten Afrikas unterhielt. So wurde die Ausrottung, Versklavung und Vergrabung der eingeborenen amerikanischen Bevölkerung in die Bergwerke der Beginn der Verwandlung Afrikas in ein Gehege zur Handelsjagd auf Schwarze. Wo die eingeborene Bevölkerung starb,
suchte man Ersatz in den piezas de ebano (Ebenholzstückchen) aus Afrika, auch genannt 'das
schwarze Elfenbein'.
3. Afrika: Vagina gentium
Gold und Silbererze blieben nicht lange der hauptsächliche Grund für die Verwendung von Sklavenarbeit. Die Erzeugung der meisten tropischen Agrarprodukte, vor allem des Zuckers, war extrem
arbeitsintensiv und verlangte ein riesiges Heer von Arbeitskräften. Damit wurden die Plantagenbesitzer zu den größten Nachfragern nach afrikanischen Negersklaven. Ein Chronist sagt dazu: "Früher,
bevor es Zuckermühlen gab, waren wir auf dieser Insel der Ansicht, dass die Neger, wenn sie nicht
gehenkt würden, niemals stürben, denn man hatte niemals einen Neger an einer Krankheit sterben
sehen, sicherlich deswegen, weil dieses Land den Negern so wie auch den Orangenbäumen gemäßer
ist als ihr Guinea; aber nachdem sie in die Zuckermühlen gesteckt wurden, erkrankten und starben sie
an den schweren Arbeiten, die man ihnen aufbürdete, und an den Getränken, die sie aus Rohrzucker
herstellen und trinken; und auf diese Weise sterben täglich viele von ihnen."
Neben Spanien betrachten zunehmend auch die europäischen Staaten Frankreich, England und Holland Afrika als ihr Jagd- und Geschäftsgebiet. Sie untergruben die spanische Monopolstellung in der
Karibik und legten ihrerseits Niederlassungen und Zuckerplantagen an. Kuba wurde dabei ihr Hauptumschlagsplatz für die sogenannten westindischen Inseln. Seinen Höhepunkt erreichte das Kombinationsgeschaft mit Sklaven und Zucker im 17. Jahrhundert. In den dreieinhalb Jahrhunderten des Sklavenraubs bis zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei in Amerika wurden etwa zehn Millionen Afrikaner gewaltsam in die neu entdeckte Welt verschleppt. In Bergwerken, auf Plantagen, in Transport
und Verkehr, in der Hauswirtschaft ihrer weißen Herren, ja praktisch in allen Bereichen des wirtschaftlichen Lebens erarbeiteten sie den ungeheuren Reichtum anderer. Man sprach von Afrika als der Vagina gentium, der Gebärmutter der Völker. Es ist die bittere Wahrheit: zu Millionen hat Afrika Menschen hervorgebracht, die für einen anderen Weltteil bestimmt wurden - als Exportgut nach Amerika.
4. Störrische Neger
Je größer der Umfang der Sklavenjagd wurde, um so schwieriger wurde es, Sklaven in Küstennähe zu
fangen. Die Sklavenjäger waren gezwungen, sich in das Innere des Landes zu wagen, um ihre Opfer
zu finden. Hatten sie ihr Ziel erreicht, standen sie vor der schwierigen Aufgabe, ihre Beute ohne Verluste an die Küste zu schaffen. Unter schwerer Bewachung und gefesselt wurden die Sklaven in ihre
traurige Zukunft geführt. Damit keiner entlaufen konnte, hatte der Händler jeweils den rechten Arm
des Sklaven mit einer eisernen Krampe an einem schweren Holzklotz befestigt, den er auf Kopf und
Schulter mitschleppen musste. Frauen und Kindern war gewöhnlich der rechte Arm an den Leib gefesselt. Hatte der Sklaventreck die Küste erreicht, sammelte man die Sklaven in sogenannten Faktoreien, und bewachte sie so lange, bis genügend "Material" für ein Transportschiff vorhanden war. In
der Mitte der Faktorei befand sich das Sklavengehege, eine Art Palisadenfestung innerhalb des umzäunten Gebietes. In ihrer Mitte stand eine längliche Hütte, um die Sklaven vor Sonne und Regen zu
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schützen. Die männlichen Sklaven wurden in regelmäßigen Abständen an eine Kette angeschlossen,
während die Frauen und Kinder innerhalb der Umzäunung frei herumlaufen konnten.
Bevor sie auf das Schiff gebracht wurde, kamen Schiffsärzte und untersuchten jeden einzelnen gründlich. Nachdem die Untauglichen ausgesondert waren, wurde jedem von denen, die für gut befunden
waren, auf der Brust mit Hilfe einer glühendheißen Eisenstange ein Zeichen der jeweiligen Handelsgesellschaft angebracht. Hatte man genügend transportfähige Sklaven zusammengebracht, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf den unverzüglichen Verkauf und die anschließende Übergabe der
menschlichen Waren an die Sklavenkapitäne, die von Zeit zu Zeit vor der Küste erschienen.
Dann folgte der kritische Augenblick der Einschiffung. Viele der aus dem Landesinneren stammenden
Afrikaner kannten das Meer nicht und waren schon erschreckt durch die tosende Brandung. Sie wehrten sich mit allen Kräften, das Land zu verlassen und in die Boote zu steigen. Manche versuchten,
sich mit ihren Ketten selbst zu erwürgen. Durch die Schiffsbesatzung wurden sie dann in die großen
Kanus geprügelt, gestoßen, gezerrt und getragen. Ein Kapitän berichtet dazu: "Die Neger sind so störrisch und so sehr dagegen, ihr eigenes Land zu verlassen, dass sie sich oft aus den Kanus, Booten
und Schiffen ins Meer gestürzt und unter Wasser gehalten haben, bis sie ertrunken waren, um zu
vermeiden, dass sie von unseren Booten, die sie verfolgten, aufgefischt und gerettet wurden; haben
sie doch eine schrecklichere Vorstellung von ihrem Ziel als wir von der Hölle haben, obgleich sie dort
in Wirklichkeit viel besser als in ihrem eigenen Leben leben. Aber 'Home ist home'."
5. Schreckliche Entschlossenheit
Ein verzweifeltes Mittel des Aufbegehrens gegen die Sklaverei war der Selbstmord. Häufig legten gefangene Afrikaner schon auf dem Marsch an die Küste Hand an sich. An Bord trugen die katastrophalen Lebensbedingungen zu einer sprunghaften Erhöhung der Selbstmordrate bei. "Viele unglückliche
Kreaturen ergriffen die erste Gelegenheit, um sich über Bord zu stürzen und auf diese Weise ein unerträgliches Leben zu beenden." Die Schiffe mussten schließlich mit besonderen Vorrichtungen versehen werden, um die Sklaven daran zu hindern, über Bord zu springen.
Eine weit verbreitete Methode des Selbstmords war der Hungerstreik. Ein französischer Handelsagent
berichtete, "dass viele der Sklaven, die wir von Guinea nach Amerika transportieren, von der Meinung
besessen sind, dass sie wie Schafe zum Schlachten gebracht werden und dass die Europäer ihr
Fleisch lieben; diese Vorstellung wird bei einigen so beherrschend, dass sie in eine tiefe Melancholie
und Verzweiflung verfallen und jegliche Nahrung verweigern, obwohl sie niemals so sehr genötigt und
sogar geschlagen wurden, um sie zu zwingen, etwas Nahrung zu sich zu nehmen; all dessen ungeachtet pflegen sie sich zu Tode zu hungern." Wo Peitsche und Quälereien versagten, hatte man ein
bestialisches Instrument namens "speculum oris" zur Hand, eine Art Mundöffner. Es handelte sich um
ein Gerät, das sich mittels zweier Stile wie eine Zange öffnen ließ. Dem Opfer wurde zunächst die Nase zugehalten, dass es zum Atmen kurz den Mund öffnen musste. In diesem Augenblick schob man
ihm blitzschnell das "speculum oris" zwischen die Zähne. Man konnte nunmehr seinen Mund gewaltsam öffnen und ihm flüssige Nahrung einflößen. Die Sklavenrevolten während der Überfahrt nahmen
eine wüste Brutalität an, von deren Schrecken die Bordbücher berichten. Im allgemeinen scheiterten
sie, endeten aber stets mit einigen Toten. Es geschah nicht selten, dass mehrere Männer lebend ins
Meer geworfen wurden. Im Bordbuch eines französischen Offiziers liest man : "Gestern um 8 Uhr
banden wir die Neger, die die meiste Schuld trugen, an allen vier Gliedern bäuchlings auf Deck fest
und ließen sie auspeitschen. Dann prügelten wir ihre Gesäße, um ihnen ihre Vergehen recht fühlbar
zu machen. Nachdem ihre Hintern blutig geschlagen waren, streuten wir Schießpulver in die Wunden,
träufelten eine Mischung aus Zitronensaft, Salzlake und gestoßenem Pfeffer hinein und kneteten die
Hinterbacken tüchtig durch, damit kein Wundbrand entstünde, aber auch damit der Schmerz umso
empfindlicher sei. Den Anführer haben wir in Eisen gelegt und mit Handschellen gefesselt. so mag er
dann verschmachten und sterben."
6. Loose-packers und tight-packers
An Bord des Sklaventransporters wurden die Gefangenen noch einmal untersucht und es wurde
streng darauf geachtet, dass sie keine ansteckenden Krankheiten hatten, um nicht die gesamte Ladung während der Überfahrt zu 'verderben'. Dann wurde die gesamte Ladung unter Deck eingeschlossen. Die Frage, in welchem Verhältnis zur Größe des Schiffes die Zahl der an Bord genommenen Sklaven zu stehen hätte, gab Anlaß zu einem regelrechten Meinungsstreit unter den Kapitänen,
wo es ausschließlich um Rentabilitätserwägungen ging. Die loose-packers argumentierten, dass, in- 33 -
dem sie den Sklaven ein wenig mehr Raum gäben- sie die Todesrate unter ihnen senkten und in
Westindien eine besseren Preis für jeden Sklaven erzielten. Die tight-packers entgegneten, dass- obwohl der Verlust an Leben auf jeder ihrer Reise größter sein mochte- so doch auch die Nettoerträge
einer größeren Ladung größer wären. Wenn viele der Überlebenden schwach und abgezehrt wären,
dann könnten sie in einem westindischen Sklavenhof wieder gemästet werden, bevor man sie zum
Verkauf böte. In der Tat fütterten die Sklavenhändler nach der Ankunft die Sklaven wieder heraus, ließen sie baden und sich erholen und ihre Geschwüre ausheilen. Hatte man sie auf diese Weise aufgefrischt, waren sie fertig zum Verkauf an die Grundbesitzer.
Bei den tight-packers wurden die Sklaven auf so engem Raum gelagert, dass sie noch nicht einmal
ganz aufrecht sitzen konnten. Sie wurden nebeneinander in zwei Reihen auf jeder Seite des Schiffes
gelegt. In dem schmalen Zwischenraum zwischen ihren Köpfen wurden andere Sklaven in Längsrichtung untergebracht. Auf diese Weise war das Schiff sozusagen zum Platzen gefüllt. Die zur Schiffsbesatzung gehörenden Zimmerleute sicherten die Pferche der Sklaven, und die Ladeluken wurden durch
Vorhängeschlösser und Eisenroste abgesichert, während man die Bullaugen versperrte. Die Männer
waren von den Frauen durch nagelgespickte Holzwände getrennt. Die Situation der unter solchen Bedingungen auf engstem Raum eingepferchten Menschen wurde schon nach kürzester Zeit unerträglich. Unzureichende Ventilation, mangelnde Gelegenheit zu jeder entspannenden Bewegung, katastrophale hygienische Verhältnisse und alles in der feuchten tropischen Klimazone der westafrikanischen Küste, all dies trieb die Todesrate unter den Skalven in furchtbare Höhen. Die häufigsten
Krankheiten an Bord waren Skorbut, Ruhr und eine "Pian" genannte Hautentzündung. Unter Deck
herrschte die Hölle: "Die Hitze ist dann so groß, dass der Wundarzt nur völlig nackt darin einige Minuten sich aufhalten kann. Der Boden war auf das scheußlichste mit dem den Kranken abgegangenen
Blut und Schleim bedeckt, er glich einem Schlachthaus. Der pestilenzialische Geruch warf eine große
Zahl der unglücklichen, noch nicht infizierten Neger in Ohnmacht. Männer, welche abends völlig gesund in das untere Verdeck hinabstiegen, zog man morgens als Leichen hervor. Eine grauenvolle
Szene gewährt sodann die Sklavenkammer. Auf dem scheußlich gefärbten Boden schleppen sich die
aneinander Gefesselten gleichsam zu den Ausleerungsgefäßen hin; die durch ihre Eisen Verwundeten schreien; die Wahnsinnigen toben; die stiller Leidenen winseln; die Sterbenden röcheln und die
diesen Angeschmiedeten macht der kadaveröse Geruch ihres verscheidenden Mitbruders wahnsinnig."
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V. Der Verteidiger der Indianer - Bartolomé de Las Casas
1. Vom Eroberer zum Anwalt der Indios
Bartolomé de Las Casas wurde 1484 in Sevilla als Sohn eines Kaufmanns geboren, der 1492 an der
Entdeckung und Eroberung Amerikas durch Kolumbus beteiligt war. Nach einem kurzem Jura- und
Theologiestudium an der Universität in Salamanca ließ er sich 1502, noch nicht ganz achtzehn Jahre
alt, als Eroberer für die neuentdeckten Länder anwerben. Er nahm an Feldzügen zur "Befriedung von
Indianern" auf Hispaniola teil und erhielt zur Belohnung eine Encomienda zugeteilt. Nachdem er
1506/07 auf einer Romreise zum Priester geweiht worden war, führte er das Leben eines Grundbesitzers, der sich um die Verwaltung und Vermehrung seines Besitzes kümmerte und darüber hinaus mit
den Aufgaben eines Priesters betraut war. Las Casas war ein in der damaligen Zeit nicht untypischer
Priester, Eroberer und Grundbesitzer. Das Sklavendasein der Indianer berührte ihn zunächst offenbar
wenig, auch wenn er sich mit ihrer Kultur beschäftigte und mehrer Indianerdialekte sprach.
An der Eroberung Kubas nahm er als Feldkaplan teil und wurde Zeuge einiger Massaker, die die spanischen Conquistadoren anrichteten bei ihrem Versuch, die Inselbevölkerung zu unterwerfen und
unter sich aufzuteilen. Als Belohnung erhielt er zusammen mit einem anderen Spanier ein großes Dorf
mit Goldminen und einer großen Anzahl von Indios, in dem er eine einträgliche Gruben- und Plantagenwirtschaft betrieb. Im Rückblick schreibt er dazu: "Mit ihnen baute der Kleriker (Las Casas) einen
landwirtschaftlichen Betrieb auf, und andere schickte er in die Goldminen. Darauf verwandte er mehr
Sorgfalt als darauf, die Indios im Glauben zu unterweisen, was eigentlich seines Amtes gewesen wäre. Doch in dieser Hinsicht war er damals genauso blind wie jene, die er als Pfarrkinder hatte."(Delgado, S. 114)
Kritik am Encomienda-System hatten schon seit 1511 die Dominikaner in Hispaniola geäußert; sie
predigten, dass jeder Encomendero im Stand der Todsünde lebe, bis er nicht seine ihm zugeteilten
Indios freigelassen habe. Als Las Casas 1514 gebeten wurde, die Pfingstpredigt zu halten, entschied
er sich, angeregt durch eine Stelle aus dem Buch Jesus Sirach und schon beEinflusst vom Gedankengut der Dominikaner, sich dieser Kritik anzuschließen und gegen die brutale Unterwerfungs- und
Kolonialisierungspolitik der Spanier anzutreten.
Er verzichtete öffentlich auf seinen ertragreichen Grundbesitz und entließ die indianischen Zwangsarbeiter. In seiner Predigt kritisierte er theologisch die Praxis der Spanier als großes Unrecht und
schwerste Sünde und forderte sie auf, seinem Beispiel zu folgen. Es gelte, sich zu entscheiden zwischen Gold oder Evangelium, Mammon oder Gott, beides zusammen sei nicht möglich.
Von diesem Moment an machte Las Casas gemeinsame Sache mit den Dominikanern. Als Weltpriester teilte er ihre Missionierungsideale und unterstützt ihren Plan, zuerst nach Spanien zu fahren, um
am königlichen Hof eine grundlegende Änderung der spanischen Kolonialpolitik zu erreichen. Der in
den "Leyes de Burgos" (1512) festgelegte Rechtsschutz, der in der Praxis sowieso nicht eingehalten
wurde, ging ihnen nicht weit genug.
Er fuhr 1515 nach Spanien, wandte sich an den königlichen Hof und gewann nach dem plötzlichen
Tod Ferdinands im Jahre 1516 den Einflussreichen Kardinal Cicneros, der zu dieser Zeit die Amtsgeschäfte der Krone führte, für eine Reform der Indianergesetzgebung. Das Ziel von Las Casas war es,
die vollständige Freiheit der unterworfenen Indios sicherzustellen und gesetzlich zu verankern. So weit
wollte Cisneros jedoch nicht gehen, er wollte das Schutzverhältnis zwischen der spanischen Krone
und den amerikanischen Ureinwohnern erhalten, die Indios sollten zu Abgaben an die Krone verpflichtet bleiben und weiterhin von den spanischen Verwaltern und Geistlichen zu Arbeitsleistungen in den
Bergwerken und in der Landwirtschaft herangezogen werden.
Noch 1516 wurde eine Institution geschaffen, die für Las Casas zum Lebensinhalt werden sollte, und
sie wurde für ihn geschaffen. Man ernannte ihn zum "universalen Prokurator aller Indios in Westindien". Er erhielt damit das Amt, die Vermittlungsinstanz zwischen spanischen Interessen und den Bedürfnissen der unterworfenen Indios zu sein. Es war dabei seine Aufgabe, einen Reformvorschlag für
eine künftige neue Gesetzgebung auszuarbeiten. Dass von jetzt an nicht nur Spanier durch einen
Prokurator vor dem König oder dem Indienrat vertreten werden konnten, stellte die Provokation für all
diejenigen dar, die die Indios für "Sklaven von Natur" und "Tiere" hielten. Dem Schutz der Indios widmete er die nächsten 50 Jahre seines Lebens und er verstand seine Tätigkeit immer als Kampf dafür,
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dass die Indios als freie Untertanen der spanischen Krone anerkannt und dass alle Formen der
Zwangsarbeit und Unterdrückung beseitigt würden.
Die Neuregelung der Gesetze zog sich jedoch ein Vierteljahrhundert hin, wurde immer wieder hintertrieben und verzögert. Nach einem mißglückten friedlichen Kolonisierungsversuch in Venezuela -sein
Projekt scheiterte daran, dass im ihm zugewiesenen Missionsgebiet andere Spanier anfingen, Indios
als Sklaven einzufangen, woraufhin die überfallenen Stämme sich wehrten und ihrerseits einige Missionare umbrachten und Strafexpeditionen gegen Spanier veranstalteten,- trat er 1522 er in den Dominikanerorden ein und zog sich für fast 10 Jahre ins Kloster von Santo-Domingo zurück. Dort begann
er mit der Abfassung seiner umfassenden theologischen, historischen und juristischen Werke, schrieb
eine großangelegte "Geschichte der Westindischen Länder" und verfaßte Plädoyers für die einzig
wahre und zulässige Methode der Missionierung, deren zentrale Überlegung er so formulierte: "Nur
eine Art, die Menschen zur wahren Religion zu führen, ist von der göttlichen Vorsehung für die ganze
Welt und für alle Zeiten festgesetzt, nämlich die Einsicht, die, durch Gründe erzeugt, den Willen sanft
anlockt und mahnt. Diese Art muss allen Menschen der Welt entsprechen, ohne Rücksicht auf die
verschiedenen Sekten, Irrtümer und Sittenverderbnisse." (Delgado, S. 114)
Nach einem kurzen Spanienaufenthalt ging er Anfang der 30er Jahre wieder nach Amerika zurück,
musste jedoch 1539 zurückkehren, da er des Hochverrates angeklagt war. Er hatte vor Soldaten einer
Expedition gepredigt, deren Hauptziel der Sklavenfang war und erreicht, dass der Großteil der einfachen Soldaten ihre Teilnahme verweigerten. Das Verfahren war kurz und Las Casas wurde freigesprochen. Vier Jahre hielt er sich in Spanien auf und verfaßte 1541 seinen berühmten "Kurzgefaßten
Bericht von der Verwüstung der westindischen Länder", eine Darstellung der spanischen Greueltaten
in den ersten vier Jahrzehnten der Conquista, die in ganz Europa bekannt werden sollte. 1542 traten
dann die neuen Indianergesetze in Kraft, durch die alle Indianer zu "freien Untertanen" erklärt wurden
und das System der Encomienda abgeschaft wurde. Alle Sklaven sollten sofort freigelassen werden.
Die Gesetze wurden jedoch faktisch mißachtet und unter dem Druck der gesamten kolonialen Instanzen -Encomenderos, Klerus, Militär, Verwaltung und Justiz- widerrief Karl V. sie 35 Monate nach ihrer
Unterzeichnung. Mit diesem Datum war für knapp 200 weitere Jahre die Ausbeutung und Vernichtung
der lateinamerikanischen Bevölkerung mit Hilfe des Encomienda-Systems festgeschrieben.
Die beiden letzen Jahrzehnte seines Lebens verbrachte Las Casas in Spanien. Höhepunkt war 1550
die öffentliche Disputation des Sechsundsiebzigjährigen mit dem Humanisten Sepúlveda, dem Vertreter der Kolonistenpartei, der die Unterwerfung der Indios als rechtmäßig dazustellen versuchte. Las
Casas siegte mit seinen Argumenten, was aber praktisch keine Bedeutung für die Indianer hatte.Bartolomé de Las Casas starb am 18. Juli 1566 im Alter von 82 Jahren in Madrid.
2. Die Missionierung der Dominikaner und ihre Interpretation des Evangeliums
Zwar sollte laut Gesetz zum Encomienda-System die religiöse Unterweisung dazugehören, aber diese
Form der Laienmissionierung hat praktisch nicht stattgefunden, dazu waren die spanischen Siedler
vielzusehr mit der Ausbeutung der Indios beschäftigt. Erst mit der Entsendung von Dominikanern und
Franziskanern ab 1510 beginnt eine systematische Missionierung; auf Hispaniola wurden die ersten
Niederlassungen gegründet; sie standen unter königlichem Schutz und wurden von der "Casa de la
Contratacion" in Sevilla finanziert, so dass die Missionare ziemlich schnell über Mittel verfügten, mit
dem Bau eines Klosters beginnen zu können.
Angesichts der Tatsache, dass das System der Encomienda nichts anderes war als die rücksichtslose
Ruinierung der Indios durch übermäßige Zwangsarbeit, entschloß sich eine Gruppe von Dominikanern
zu einem grundsätzlichen Angriff auf das Encomienda-System, der zentralen Hauptstütze der gesamten spanischen Kolonialstruktur. Stellvertretend sollte der Fray Antonio Montesino eine von ihnen gemeinsam verfaßte Predigt öffentlich vortragen, in dem das den Indios zugefügte Unrecht angeprangert
wurde. Gezielt hatte man die gesamte Spitze der spanischen Administration von Santo Domingo für
den 4. Adventssonntag des Jahres 1511 in die Hauptkirche eingeladen mit der Ankündigung, ein
Thema von allergrößter Wichtigkeit solle vorgetragen werden. Die zentrale Stelle dieser Predigt lautete:
"Allesamt befindet ihr Euch im Stande der Todsünde. Darin lebt und sterbt ihr, wegen der Grausamkeit
und der Tyrannei, die ihr gegenüber diesen unschuldigen Menschen walten lasst. Sagt doch: Mit welchem Recht und mit welcher Gerechtigkeit haltet ihr diese Indianer in solch einer grausamen und
schrecklichen Sklaverei? Mit welcher Berechtigung habt ihr dermaßen verabscheuungswürdige Kriege
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gegen diese Menschen geführt, die in ihren -einzig endlosen- Ländern still und friedlich lebten? Wieso
haltet ihr sie solchermaßen unterdrückt und ermüdet, ohne ihnen zu essen zu geben und ihnen ihre
Krankheiten zu heilen, die sie sich bei den von euch auferlegten übermäßigen Arbeiten zuziehen,
wenn sie euch nicht sterben oder, besser gesagt, ihr sie nicht umbringt, weil ihr sie Tag für Tag Gold
schürfen und ausbeuten laßt? Und kümmert ihr euch auch darum, dass ihnen jemand die Lehre beibringt und sie ihren Gott und Schöpfer kennenlernen, dass sie getauft werden, die Messe hören und
die Feiertage und Sonntage halten können? Sind denn diese keine Menschen? Haben sie denn keine
vernunftbegabten Seelen? Habt ihr denn nicht die Pflicht, sie zu lieben wie euch selbst? Ihr versteht
das nicht? Habt ihr denn kein Gespür? Seid ihr denn in einen dermaßen tiefen, lethargischen Schlaf
gefallen? Seid sicher: In dem Zustand, in dem ihr euch befindet, könnt ihr nicht mehr gerettet werden
als die Mauren und Türken, denen ja der Glaube an Jesus Christus abgeht und die auch nicht glauben
wollen." (Gutièrrez, 33)
Die Empörung der Zuhörer war groß. Man verlangte einen öffentlichen Widerruf, aber in der Predigt
am folgenden Sonntag verschärfte Montesino die Kritik nochmals: allen Encomenderos sollte in Zukunft die sakramentale Lossprechung in der Beichte verweigert werden. Daraufhin entsandten die
spanischen Kolonisten eine Protestdelegation an den königlichen Hof von Spanien, um eine sofortige
Abberufung der Dominikaner zu erreichen, woraufhin die Dominikaner selbst auch eine Delegation
schickten, um in Spanien ihre Sache selbst vertreten zu können. In diesen Bemühungen stößt dann
später Las Casas zu ihnen.
3. Las Casas als Vorläufer einer "Theologie der Befreiung"
Eine theologische Kritik an der Ausbeutung
Las Casas hatte für seine Pfingstpredigt 1514 einen Text aus Jesus Sirach gewählt, dessen Inhalt er
direkt auf seine Situation in "Westindien" anwandte.
Ein Brandopfer von unrechtem Gut ist eine befleckte Gabe,
Opfer der Bösen gefallen Gott nicht.
Kein Gefallen hat der Höchste an der Gaben der Sünder,
auch für eine Menge Brandopfer vergibt er die Sünden nicht.
Man schlachtet den Sohn vor den Augen des Vaters,
wenn man ein Opfer darbringt vom Gut der Armen.
Kärgliches Brot ist der Lebensunterhalt der Armen,
wer es ihnen vorenthält, ist ein Mörder.
Das mit Schweiß verdiente Brot wegnehmen
ist gleich seinen Nächsten umbringen.
Den Nächsten mordet, wer ihm den Unterhalt nimmt,
Blut vergießt, wer dem Arbeiter den Lohn vorenthält.
Jesus Sirach 34, 24-27
Es wurde ihm, wie er später schrieb, plötzlich deutlich, dass dieser Text mit seiner eindeutigen Opferkritik die ökonomische Praxis traf, die die Grundlage seines eigenen Lebens als Encomendero bildete.
Der ausgeraubte Arme ist niemand anderer als der amerikansche Ureinwohner, von den Europäern
Indio genannt, der auf der Farm des Spaniers arbeitet. Und der Sünder, dessen Opfer Gott nicht annimmt, ist niemand anderer als der Encomendero und Priester Las Casas selbst. Und ihm wurde klar:
das Brot, das er als Priester Gott in der Meßfeier als Opfergabe anbietet, ist den Indios geraubt, ist
das den Armen genommene Leben. Solch ein Opfer wird Gott niemals annehmen. Diese Reflexionen
sind für ihn der Beginn einer grundsätzlichen Um- und Neubewertung der spanischen Kolonialpolitik.
die er selbst so zusammenfaßt. "Nachdem er einige Tage lang über diese Überlegung nachdachte,
wurde er täglich mehr überzeugt, was er bezüglich des Rechts darüber las und in der Wirklichkeit sah.
Er entschied bei sich, von dieser Wahrheit überzeugt, dass all das, was mit den Indios in diesen Indischen Inseln geschah, ungerecht und tyrannisch sei." (Gutièrrez, S. 173)
In den folgenden Jahren galt seine Mühe dem detaillierten Nachweis dieser Wahrheit und dafür stritt
er unermüdlich: dass letztlich die spanische Herrschaft und das Encomienda-System unrechtmäßig
seien und weder mit dem Naturrecht noch mit den Aussagen der Bibel übereinstimmten.
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Dabei sind es zwei Gesichtspunkte, die immer wieder auftauchen und den Kern seiner theologischen
Kritik am Kolonialismus ausmachen: das ursächliche Verhältnis zwischen Gold und Tod in Westindien
und die Praxis der sogenannten Christen als ein Götzendienst um das Gold.
a) Für Las Casas war der einzige Zweck derer, die nach Westindien gekommen sind, der, Geld zu
machen. Weder würden sie sich um eine Missionierung kümmern, noch rühre sie das Wegsterben der
Indios, welches der Preis dafür sei, an möglichst viel Gold zu kommen. In ihrer Goldgier gelte ihnen
ein Menschenleben nichts. Resultat des Wirkens dieser "habgierigen und räuberischen Menschen",
die Las Casas auch als den Abschaum Spaniens bezeichnet, sei eine allumfassende Zerstörung, der
vorzeitige Tod der Indios, die Vernichtung ihrer eigenständigen Kulturen und die Verwüstung der natürlichen Lebensgrundlagen. Gold und Tod, Habgier und Zerstörung sind für ihn die korrelativen Interpretationsschemata, mit denen er die Resultate des Kolonialismus kritisiert: die Geilheit nach Gold sei
der Hauptgrund für den Tod der Indios, Gier nach Gold und das Leben der Indios schlössen sich aus.
b) Diese Habgier charakterisiert er als im Prinzip unersättlich und als nicht zufriedenzustellen. Sie sei
sogar ärger als die "Begehrlichkeit des Fleisches, weil ja die Sucht und die Gier nach Geld länger vorhält und beständiger als fleischliche Geilheit. ja bleibend ist." ((Gutièrrez, S.192) Der Habsüchtige
schrecke vor nichts zurück, das Gold sei zum Herrn seines Lebens geworden. "Und er ist Gefangener
und Sklave des Geldes, muss tun, was sein Herr ihm befiehlt, und läuft immerzu besorgt und angespannt herum und fragt sich ständig, wie er ihm gefallen und entsprechen könne, weil er ja alles von
seinem Rat erwartet, alles Gute für sich und die Erfüllung seiner Wünsche und sein ganzes Glück."
(Gutièrrez; S.192) Diese "Sklaven ihrer eigenen Habsucht" wie er sie nennt, seien vollständig dem
Gold verfallen und gingen dafür über Leichen. Insofern sei das Gold der eigentliche Gott derer, die die
Indios mißhandelten und ihre Habsucht sei ein einziger Götzendienst, wie er im Kolosserbrief schon
von Paulus gebrandmarkt worden sei. Darüber hinaus empört sich Las Casas darüber, dass diese
Idolatrie daher komme, als sei sie ein Dienst am wahren Gott. Die Encomiendabesitzer, die nicht die
geringste Ahnung vom christlichen Glauben hätten, gäben vor, den wahren Gott zu verkünden, während es ihnen um nichts anderes gehe, als ihr götzendienerisches Verhalten zu kaschieren. "Um eine
brutal grausame und bitterböse Tyrannei zu vergolden, die auf so vielen Völkern und Menschen lastet,
nur um die Habgier der Menschen zu befriedigen und ihnen Gold zu verschaffen, nimmt sie sich den
Titel der Lehrmeisterin des Glaubens, obwohl sie ihn nicht einmal selbst kennt, und mit ihm geben sie
die Unschuldigen hin, damit sie aus ihrem Blute die Reichtümer ziehen, die sie für ihren Gott halten."
(Gutièrrez,S. 193) Es komme deshalb darauf an, das Encomienda-System ohne Wenn und Aber abzuschaffen, da es die institutionalisierte Habgier nach Gold sei und theologisch gesehen einen einzigen Götzendienst darstelle, der selbst eine schwerwiegende Todsünde sei.
Die unbeschreibliche Armut und Erniedrigung der Indios auf Grund der Zwangsarbeit vergleicht Las
Casas dann mit der Situation Christi und entdeckt im armen Indio den gekreuzigten Christus. "Ich hinterlasse in Westindien Jesus Christus, unseren Gott, gegeißelt und bedrängt, geohrfeigt und gekreuzigt, und zwar nicht einmal, sondern Tausende von Male, insofern die Spanier die Menschen dort niedermachen und zerstören und ihnen den Raum zu Umkehr und Buße stehlen und ihnen das Leben
vor der Zeit nehmen. So sterben sie ohne Glauben und ohne Sakramente." (Gutièrrez, S.208) Diese
Identifizierung des Armen mit Christus bedeutet für Las Casas, dass die Unterdrückung der Armen
eine "Lästerung des Namens Christi" darstellt und bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, dass derjenige, der Christus liebt, sich auch zwangsläufig für die Befreiung der Indios einsetzen müsse und
verhindern müsse, dass das Encomienda-Regime sie vorzeitig töte.
Diese theologische Kritik ökonomischer Ausbeutung ist neben seinen naturrechtlichen Argumenten
die Leitlinie für seinen Kampf gegen die spanische Kolonialherrschaft gewesen.
4. Der "Kurze Bericht"
Der "Kurze Bericht von der Zerstörung der Westindischen Länder" ist eine knappe Übersicht über die
Vorgänge, die sich in den ersten Jahren der spanischen Conquista ereignet haben. Las Casas faßt in
dieser Schrift die historischen Foschungsergebnisse und Erfahrungen zusammen, die er an einer anderer Stelle, in seiner Chronik und in den theologischen Traktaten, im Detail dargestellt hat. Er schlägt
hier im Unterschied zu den Chroniken einen nahezu prophetisch-apokalyptischen Ton an, wenn er
ausmalt, dass Gott ganz Spanien wegen seiner Verbrechen an den Indios strafen und vielleicht sogar
vernichten werde.
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Und so wie in der "Geheimen Offenbarung des Johannes" Christus die Namen derer, die verworfen
sind, aus dem Buch des Lebens austilgt, so verfährt Las Casas mit den Eroberern. In dieser Schrift
haben die Indios, die Mönche und auch die Herrscher Namen, die Conquistadoren aber nicht. "Ihr
Gedächtnis ist nunmehr von der Oberfläche der Erde vertilgt, als hätten sie nie unter die Zahl der Lebendigen gehört " (Las Casas, 119) bemerkt er dazu.
Der Buchdruck machte den "Kurzen Bericht" sehr schnell in ganz Europa bekannt. Die erste Veröffentlichung im Ausland erfolgt schon 1579 in Paris, danach folgen, im Verlauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte Auflagen in London, Amsterdam, Venedig, Brüssel, Philadelphia, New York, Havanna, Lima
und Mexico.
Im Zeichen der Rivalität zwischen Spanien und England im 16. Jahrhundert diente er als Belegmaterial für die antispanische Polemik und die französische Aufklärung benutzte später die von Las Casas
dargestellten Greueltaten von spanischen Christen als Beweis für die Antihumanität christlicher Religiösität. Zu einer dritten Welle von Nachdrucken kam es zwischen 1810 und 1830 in Lateinamerika,
wo der Bericht damals direkt Einfluss auf die Führer der Unabhängigkeitskriege gegen die spanische
Kolonialmacht gewann. Simon Bolivar hat Las Casas außerordentlich geschätzt. Und noch im spanisch-amerikanischen Krieg von 1899, in dem sich die Vereinigten Staaten von Amerika die Kontrolle
über den karibischen Raum und die Philippinen sicherten, musste Las Casas als Kronzeuge gegen
die Spanier herhalten. Immer sind seine Darstellungen von spanischen Nationalisten, die die Untaten
ihrer Nationen für nicht wahr halten wollen, als Ärgernis und Schlimmeres empfunden worden. Noch
im 20. Jahrhundert bezeichnen ihn spanische Historiker als "Geisteskranken", als "Anarchisten" oder
"Marxisten", als "gemeingefährlichen Demagogen" oder gar als einen "vom Teufel besessenen
Gleichmacher".
Abschnitte aus dem "Kurzgefaßten Bericht über die Zerstörung der Westindischen Länder"
(Auszüge) Geschrieben 1541.
Goldgier
Die sogenannten Christen wählten zwei ganz untrügliche Mittel, diese bejammernswürdigen Nationen
auszurotten und sie gänzlich von der Oberfläche der Erde zu vertilgen. Fürs erste bekriegten sie dieselben auf die ungerechteste, grausamste, blutgierigste Art; und zweitens brachten sie alle diejenigen
ums Leben, von denen sie fürchteten, dass sie nach Freiheit seufzen, danach schmachten, nur daran
denken, oder den Martern, welche sie erdulden mussten, entspringen möchten. So verfuhren sie mit
all den Großen des Landes, und allen frei geborenen Untertanen; im Kriege aber ließen sie überhaupt
nur Frauen und Kinder am Leben. Sie bürdeten denselben die härtesten, schwersten, drückensten
Lasten auf, die nicht einmal Vieh ertragen kann, geschweige denn Menschen. Die einzige und wahre
Grundursache, warum die Christen eine so ungeheure Menge schuldloser Menschen ermordeten und
zugrunde richteten, war bloß diese, dass sie ihr Gold in ihre Gewalt zu bekommen suchten. Sie
wünschten nämlich, in wenigen Tagen sich mit ihren Schätzen zu bereichern, und sodann sich ungleich höher empor zu schwingen, als es ihr Stand und ihre Verhältnisse erlaubten. Es geschah, ich
muss es nur sagen, weil sie einen so unersättlichen Geiz und Stolz besaßen, dass ihresgleichen in
der ganzen Welt wohl schwerlich zu finden ist. Es geschah, weil sie in diesen reichen und fruchtbaren
Ländern sich festzusetzen wünschten, und weil die Bewohner derselben so demütig, so geduldig, so
leicht zu unterjochen waren. In der Tat, sie achteten und schonten sie weit weniger als ihr Vieh, sie
achteten sie nicht höher, ja noch weit geringer als den Kot auf den Straßen.
Tod durch Arbeit und Unterernährung
Die Männer schickten sie in die Bergwerke, um nach Gold zu graben, welches ein fast unerträgliche
Arbeit ist. Die Frauen aber schickten sie auf ihre sogenannten Stationen oder Meiereien, wo sie den
Feldbau besorgen mussten; eine Arbeit, die sich nur für starke und rüstige Männer gehört. Diesen wie
jenen gaben sie nichts anderes zu essen als Kräuter und dergleichen Sachen, die keine Kraft haben.
Säugenden Müttern vertrocknete die Milch in den Brüsten und in kurzer Zeit starben alle kleinen Kinder dahin. Die Männer mussten abgesondert leben, durften nicht den mindesten Umgang mit ihren
Frauen haben; mithin hörte die Fortpflanzung gänzlich auf. Jene kamen vor Arbeit und Hunger in den
Bergwerken um; und diese starben auf die nämliche Art in den Meiereien oder sogenannten Stationen. So wurde die ganze zahlreiche Volksmenge auf dieser Insel vertilgt; und auf solche Weise hätte
man die sämlichen Bewohner der Erde ausrotten können.
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Eine christliche Bekehrung
...Die Spanier beschlossen, einen Caziquen lebendig zu verbrennen. Als er bereits an den Pfahl gebunden war, sagte ein Geistlicher vom Orden des Heiligen Franziskus, ein gottseliger Mann, der sich
dort aufhielt, Verschiedenes von Gott und unserem Glauben, wovon der Cazique noch nie gehört hatte. Der Geistliche suchte sich die wenige Zeit, welche ihm die Henkersknechte verstatteten, so gut als
möglich zunutze zu machen, und versicherte ihm endlich, wenn er dasjenige, was er ihm da sage,
glauben wolle, so werde er in den Himmel kommen, und ewige Freude und Ruhe daselbst genießen;
widrigenfalls aber werde er in der Hölle ewige Qual und Pein leiden müssen. Der Cazique dachte hierüber ein wenig nach, und fragte sodann den Geistlichen, ob denn auch Christen in den Himmel kämen. Allerdings, sagte der Geistliche, kommen alle guten Christen hinein. Sogleich, und ohne weiteres Bedenken, erwiderte der Cazique, dort wolle er nicht hin, sondern lieber in die Hölle, damit er nur
dergleichen grausame Leute nicht mehr sehen, noch da sich aufhalten müsse, wo sie zugegen wären.
So beförderten die Spanier, welche sich nach Indien begaben, die Ehre Gottes und unserer Religion.
Kannibalismus
Wenn dieser Eroberer (Pedro de Alvarado) darauf ausging, einen Ort oder eine Provinz zu überfallen,
so pflegte er gewöhnlich von solchen Indianern, die schon unter seiner Botmäßigkeit standen, so viele
mitzunehmen, als er nur konnte, damit sie die anderen bekriegen mussten. Da er nun oft zehn bis
zwanzig tausend Mann bei sich hatte, denen er nichts zu essen gab; so erlaubte er ihnen, dass sie die
Indianer, welche sie zu Gefangenen machten, verzehren durften.
In seinem Lager hielt er sogar eine öffentliche Schlachtbank, wo Menschenfleisch feil war, und wo in
seiner Gegenwart kleine Kinder geschlachtet und gebraten wurden. Erwachsene Leute wurden oft nur
der Hände und der Füße wegen, welche für Leckerbissen gehalten wurden, ermordet. Als die Bewohner anderer Länder von diesen unmenschichen Verfahren hörten, wußten sie sich vor Furcht und Entsetzen nicht zu bergen.
Perlenfischerei
Fast alle können diese abscheuliche Lebensart (Perlenfischerei) nur wenige Tage ertragen. Denn es
ist schlechterdings unmöglich, dass Menschen, die ohne Atem zu schöpfen unter Wasser arbeiten
müssen, lange leben können. Ihr Körper wird unaufhörlich von Kälte durchdrungen, ihre Brust wird
vom häufigen Zurückhalten des Atems zusammengepreßt, mithin bekommen sie Blutspeien und
Durchfall und sterben daran. Ihr Haar, das von Natur schwarz ist, bekommt eine ganz andere Farbe
und wird brandrot, wie das Fell der Meerwölfe. Auf ihrem Rücken schlägt Salpeter aus; kurz, sie sehen
wie Ungeheuer in Menschengestalt aus, oder doch wenigstens wie Menschen von einer ganz anderen
Art. Durch diese unerträgliche Arbeit und wahre Höllenqual richteten die Spanier die sämtlichen Bewohner dieser Insel hin.
Bluthunde und Indianerjagd
Ich sagte bereits, dass die in Indien befindlichen Spanier blutgierige Hunde halten, die darauf abgerichtet sind, die Indianer zu erwürgen und in Stücke zu reißen. Zur Verpflegung dieser Hunde führen
sie auf ihren Märschen eine Menge Indianer bei sich, die in Ketten gehen und wie ein Herde Schweine
einhergetrieben werden.
Man schlachtet diesselben und bietet Menschenfleisch öffentlich feil. Dann sagt einer zum anderen:
Borge mir doch einmal ein Viertel von einem dieser Schurken, ich werde demnächst auch einen
schlachten; dann geb ich dir`s wieder. Nicht anders, als wenn sie einander ein Viertel von einem
Schwein oder Schaf liehen.
Andere gehen des Morgens mit ihren Hunden auf die Jagd; wenn sie dann um die Tischzeit zurückkommen, und man fragt sie: wie ging`s? so geben sie zur Antwort: Recht gut! Meine Hunde haben
wohl fünfzehn bis zwanzig Schurken auf dem Platz gelassen. Diese und andere teuflische Handlungen sind sogar gerichtlich und durch Prozesse erwiesen, welche diese Tyrannen mit einander führten.
LÄSST sich wohl etwas grausameres, abscheulicheres und unmenschlicheres denken?
Im Namen Gottes und des Königs
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Dieser Gouverneur (Pedro Arias d`Avila) traf die Verfügung, dass die Ortschaften, worin man Gold
gewahr geworden war, und welche sie berauben und plündern wollten, nicht eher überfallen werden
durften, bis sich die Indianer in ihren Wohnungen ganz sicher glaubten. Dann näherten sich diese
unmenschlichen spanischen Räuber einem solchen Orte bei Nachtzeit bis etwa auf eine halbe Meile,
verkündigten oder verlasen jene Befehle noch in der nämlichen Nacht unter sich selbst, und riefen sodann: ihr Caziquen und Indianer dieses auf dem Festland befindlichen Ortes! Wir tun euch hiermit
kund zu wissen, dass es nur Einen Gott, Einen Papst und Einen König von Kastilien gibt, welcher Herr
von diesem Lande ist. Kommt augenblicklich herbei, unterwerft euch ihm usw. Wo nicht, so wisset,
dass wir euch bekriegen, totschlagen, gefangen nehmen werden usw.
Gegen vier Uhr des Morgens, wenn diese Unschuldigen nebst ihren Frauen und Kindern noch schliefen, stürmten sie in den Ort; warfen Feuer in die Häuser, die gewöhnlich nur von Stroh waren; verbrannten Frauen und Kinder lebendig, so dass viele kaum wußten wie ihnen geschah, schlugen tot
was sie wollten, und taten denjenigen, welche sie leben ließen, alle nur erdenklichen Martern an, damit sie entweder noch mehr Gold, als sie daselbst fanden, herbeischaffen, oder andere Ortschaften
angeben sollten, wo dergleichen zu finden sei; brandmarkten die, welche sie übrig ließen, als Sklaven
und suchten sodann, wenn das Feuer getilgt oder erloschen war, das Gold zusammen, welches sich
in den Häusern befunden hatte.
5. Las Casas und die schwarze Legende
Als Las Casas 1541 seinen "Kurzgefaßten Bericht über die Zerstörung der Westindischen Länder"
veröffentlichte, ereiferte man sich weniger über die dargestellten Greueltaten als darüber, dass er mit
seinen Schilderungen die Ehre Spaniens in den Schmutz ziehe. Ein späterer Inquisitor verurteilte das
Buch hauptsächlich wegen der Schändung der spanischen Nationalehre, den Wahrheitsgehalt des
Beschriebenen bestritt er nicht.
"Dieses Buch berichtet von den sehr schrecklichen und grausamen Handlungen, wie sie in der Geschichte anderer Nationen nicht ihresgleichen haben, und schreibt sie den spanischen Soldaten und
Kolonisten zu, die der katholische König entsandt hatte. Nach meiner Ansicht sind solche Berichte
eine Beleidigung für Spanien. Sie müssen deshalb unterbunden werden." (Las Casas, S. 125)
Oberster Zensor der Inquisition 1659
Und dieses Beurteilungsschema ist kennzeichnend für alle weiteren Reaktionen. Spanische Nationalisten dieses Jahrhunderts sprachen dann in der Folge von der "Schwarzen Legende" und meinten
damit, dass es sich bei den Berichten des Las Casas um gezielte antispanische Erfindungen handele.
Dieser Ausdruck "leyenda negra" geht auf das Buch "La leyenda negra y la verdad historica" (Die
schwarze Legende und die geschichtliche Wahrheit) des Spaniers Julian Juderias zurück, der 1916
ein Buch mit diesem Titel veröffentlichte. Es handelte von der antispanischen Propaganda in verschiedenen europäischen Nationen mit den Mitteln der Geschichtsverfälschung. Diese falschen Geschichtsdarstellungen hat es tatsächlich gegeben, um das damalige Spanien gezielt öffentlich zu diffamieren; denn nichts zitieren Nationalisten lieber als die Massaker rivalisierender und feindlicher anderer Nationen, wenn sie sich anschicken, die Interessen ihrer eigenen Nation gewalttätig ins Recht
zu setzen.
Von den spanischen Nationalisten wurde die Argumentation des Buches aber ausschließlich als Möglichkeit gesehen und genutzt, jede unangenehme Wahrheit als "Schwarze Legende" abzutun. In der
festen Überzeugung, dass ihre geliebte Nation nichts falsch gemacht haben könne, betrachteten sie
jede Kritik an den Greueln der spanischen Kolonialherrschaft als böswillige Diffamierung von Feinden.
Das Buch des Las Casas war noch bis in die Franco-Zeit hinein verboten.
Das Holzhammerargument "Schwarze Legende" ist auch 1992 nicht ausgestorben, wenn es darum
geht, unliebsame Ansprüche mit dem Hinweis, historisch sei alles nicht so negativ gewesen, abzuwehren. Im Mai 1992 benutzte ein Historiker bei einer Tagung im Vatikan das Argument der "Schwarzen Legende" dazu, Ansprüche auf Wiedergutmachung, die von etlichen lateinamerikanischen Basisgruppen mit Hinweis auf die zahllosen Brutalitäten der Eroberung erhoben worden sind, abzuschmettern. Für ihn ist das Herumreiten auf der negativen Seite der Conquista ein überholter Standpunkt.
"Die als 'Schwarze Legende' bekannte Negativ-Darstellung der Kolonialisierung Lateinamerikas sei
vom Standpunkt der Geschichtswissenschaft überholt, werde aber in politischer Absicht 500 Jahre
nach der Entdeckung Amerikas wieder neu belebt. Die Legende werde benutzt, um gegenüber dem
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Weltwährungsfond oder der Weltbank einen Wiedergutmachungsanspruch bei der Forderung nach
einem Schuldenerlaß zu begründen." (Münchener Katholische Kirchenzeitung, Nr.12, 1992)
6. Las Casas und die Frage der Negersklaven
In seiner ersten Schrift aus dem Jahre 1516 akzeptiert Las Casas- und darin unterscheidet er sich
nicht von seinen Zeitgenossen- die Versklavung von Schwarzen, er empfiehlt sie sogar als eine Möglichkeit, die Bedingungen der Indios zu verbessern. Da die schwere Minenarbeit die Indios praktisch
unmittelbar umbrachte, sah er im Einsatz von Negersklaven, die im allgemeinen für robuster galten,
einen Weg, die Dezimierung der indianischen Bevölkerung aufzuhalten. Einige Encomenderos hatten,
wie Las Casas später die Sache darstellte, ihm erklärt, sie würden die Indios freilassen, wenn er ihnen
eine Lizenz des Königs verschaffte, um Negersklaven zu importieren. Dies hat er später sehr bereut,
nachdem ihm klar geworden war, dass es keinen grundlegenden Unterschied in der Unterdrückung
von Indios und Schwarzen gebe und beides als gleich ungerecht anzusehen sei. Er schreibt im Rückblick über sich in der dritten Person: "Diesen Rat, den der Kleriker (Las Casas) gegeben hatte, bereute er schon bald und fühlte sich ob seiner Unachtsamkeit schuldig; denn wie er später sah und gewahrte, ist die Gefangennahme der Schwarzen offenbar ebenso ungerecht wie die der Indianer; mithin
war es kein kluges Mittel, zu dem er riet: Schwarze herbeizuschaffen, damit die Indianer befreit werden könnten, wiewohl er voraussetzte, dass ihre Gefangennahme eine gerechte Sache sei." (Neumann, S.91) Seit dieser Äußerung wird fälschlicherweise behauptet, Las Casas sei dafür verantwortlich, dass die ersten schwarzen Sklaven in die Karibik eingeführt worden seien. Das ist nicht richtig.
Der Einsatz von Negersklaven hatte in Europa auf den Latifundien Portugals und Andalusien begonnen. Als man dann Zuckerrohrplantagen auf Madeira und den Kanarischen Inseln anlegte, entstanden
sofort neue Märkte für den Handel mit Negersklaven und dies wiederholte sich, als die Zuckerproduktion auf die Großen Antillen ausgedehnt wurde. Und schon auf den ersten Reisen führten die Spanier
afrikanische Sklaven mit sich und die königliche Verordnung, die den Handel mit schwarzen Sklaven
autorisierte, gab es schon seit 1501.
7. Las Casas und der Ursprung des Mythos vom edlen Wilden(Apologie)
Neben der Gruppe von Schriften, in denen Las Casas eine genaue Chronik der Greueltaten der Spanier in den neuentdeckten Ländern zeichnet, um das öffentliche Gewissen Spaniens wachzurütteln,
stehen die Schriften, in denen er in advokatorischer Absicht eine alternative Anthropologie der altamerikanischen Kulturen entwirft. Der negativen Anthropologie der spanischen Kronjuristen, die in den Indios nur verachtenswürdige Götzendiener, Menschenfresser, Menschenopferer und Sodomiten sehen, setzt er ein positives Gesamtbild entgegen. In dieser "Apologetica Historia" will er mit empirischen Beobachtungen, aber auch mit fragwürdigen Autoritätsargumenten beweisen, dass die Indios in
Religion und Riten, Sitten und Kultur, Politik und Ethik den Spaniern nicht unterlegen sind, vielmehr
diese in vielen Bereichen überragten. Das Ergebnis dieser Darstellung ist jedoch nicht nur eine Korrektur des herrschenden Indiosbildes, sondern ein stark idealisiertes und verzerrtes Bild der altamerikanischen Völker, das schließlich mit der Wirklichkeit so wenig zu tun hatte wie das negative Vorurteil
seiner Gegner. Letztlich läuft die Beurteilung von Las Casas gerade auf die Umkehrung der Aussagen
von Sepúlveda hinaus. Dieser war in seinem nationalen Chauvinismus von der geschichtlichmessianischen Rolle seines Volkes bei der Verbreitung des Christentums überzeugt, während umgekehrt Las Casas in seinem Eifer in den Indios das wahre auserwählte Volk sah, denen gegenüber die
Spanier die ihnen von der Vorsehung zugedachte Rolle verwirkt hätten. Diese Darstellung, unternommen in der Absicht, das europäisch-imperiale Bild vom unmenschlichen Wilden zurückzuweisen,
hat nicht wenig zur Verbreitung des Mythos vom Edlen Wilden beigetragen.
8. Das Testament des "Beschützers der Indianer"
Am Ende seines Lebens ist Las Casas von der Vorstellung gequält, nicht genug für die Indios getan
zu haben, denen er seinen advokatorischen Lebenskampf gewidmet hatte. In einem Memorandum an
den Indienrat und den König faßt er 1565 noch einmal seinen Standpunkt zur Unrechtmäßigkeit der
Conquista zusammen, ein letzter Versuch, das "Rad der Geschichte" anzuhalten.
1. Alle Kriege, die Conquista genannt wurden, sind über die Maßen ungerecht und Sache regelrechter
Tyrannen.
2. Alle Reiche und Herrschaftsgebiete von Westindien halten wir widerrechtlich in Besitz.
3. Die Encomiendas oder Repartimientos von Indios entbehren jeder Rechtsgrundlage und sind in
sich schlecht und ebenso tyrannisch wie die entsprechende Führung.
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4. Alle, die sie zuteilen, begehen eine Todsünde, und welche sie innehaben, befinden sich im Stand
der Todsünde und werden nicht gerettet werden, wenn sie sie nicht aufgeben.
5. Unser Herr und König, den Gott bewahren und mit Erfolg segnen möge, vermag mit all seiner von
Gott verliehenen Macht die Kriege und Raubzüge gegen jene Völker und die besagten Encomiendas
und Repartimientos ebensowenig zu rechtfertigen, wie sich die Kriege und Raubzüge der Türken
gegen die Christen rechtfertigen lassen.
6. Alles Gold und Silber, alle Perlen und Reichtümer, die nach Spanien gelangt und in Westindien
unter den Spaniern in Umlauf sind, wenn deren auch wenig sein mag, sind geraubtes Gut.
7. Wenn sie nicht zurückerstatten, was sie geraubt haben und noch heute durch Conquistas, Repartimientos oder Encomiendas rauben, werden sie nicht gerettet werden können, auch nicht diejenigen,
die davon profitieren.
8. Alle Naturvölker und ein jedes, in das wir in Westindien eingefallen sind, sind in vollem Recht, einen
gerechten Krieg gegen uns zu führen und uns vom Angesicht der Erde zu vertreiben, und dieses
Recht bleibt ihnen bis zum Jüngsten Tag erhalten. (Delgado, S. 165)
Las Casas argumentiert hier naturrechtlich und theologisch: die Conquista ist ein einziger Verstoß
gegen die natürlichen Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, die von den Spaniern als legitim hätten anerkannt werden müssen; und die Taten der Spanier stellen nichts anderes dar als Totsünden,
die das Gericht Gottes über die spanische Nation bringen und ihre Verdammung unvermeidlich machen. In dieser theologischen Perspektive erscheint dann der "gerechte Krieg" gegen alle, die in Westindien eingefallen sind, als Vollstreckung dieses Gottesurteils über ein Volk, das seine eigentliche historische Bestimmung schuldhaft verfehlt hat.
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VI. Die Jesuitenreduktionen in Lateinamerika
1. Die Guarani und Gran Chaco Indios
Die Mündung des Rio de la Plata war 1511/16 von den Spaniern entdeckt worden. In den folgenden
Jahrzehnten zogen sie auf der Suche nach dem Goldland im Innern, das den Gerüchten nach von
einem weißen König regiert wurde, den Fluß aufwärts und gründeten 1537 am Paraguay-Fluß die
Stadt Asuncion. Man traf dort auf zwei Indiostämme, die Gran-Chaco-Indios und die Guarani-Stämme.
Die Stämme der Gran-Chaco waren kriegerische Jäger und Sammler. Sie erwiesen sich während der
ganzen spanischen Kolonialzeit als fast unbesiegbar und kaum assimilierbar. Anders war es mit den
Guarani. Sie standen auf einer etwas höheren Stufe der Zivilisation und trieben bereits Ackerbau in
Wanderwirtschaft. Die an Zahl geringen Spanier vermischten sich von Anfang an mit den Guarani,
was von den Behörden eifrig gefördert wurde. Trotz ihres Namens, der "Krieger" bedeutet, waren die
Guarani im Vergleich mit den wilden Stämmen des Chaco ein friedliches Volk. Sie lebten in Familiengruppen zusammen unter der sehr lockeren Autorität von Kaziken oder Häuptlingen. Der eigentliche
Einfluss lag jedoch nicht bei den Kaziken, sondern bei den Schamanen oder Medizinmännern.
Schon die ersten Conquistadoren berichteten, dass die Guarani ein freundliches Volk seien. Im Unterschied zu den Inkas kannten sie keine Steinbauten. Ihre Wohnungen waren Hütten, die sie im Wald
aus Zweigen und Bambusstangen zusammenfügten. Der Eingang war gewöhnlich so nahe am Boden,
dass man hineinkriechen musste. Ihre bewegliche Habe bestand aus Tongeschirr und Waffen. Die
Guarani bauten Kürbisse, Mandioka und Süßkartoffeln an.. Den hauptsächlichen Lebensunterhalt lieferten jedoch Jagd und Fischfang. Wenn nach fünf oder sechs Jahren ihre Felder ausgelaugt waren,
dann zogen sie weiter. Es kam ihnen vor allem darauf an, ein Gebiet zu suchen, in dem es genug Tiere gab, die sie mit Fallen und Schlingen zu fangen pflegten.
Als die Spanier sich am Paraguay-Fluß endgültig festsetzen wollten, mussten sie zunächst auch mit
den Guarani kämpfen. Sie wurden besiegt und waren von diesem Zeitpunkt an Verbündete der Spanier.
Die neue spanische Kolonie zog viele Einwanderer an, besonders seit Buenos Aires wegen der Angriffe der Indianer zunächst aufgegeben worden war. Asuncion schien als Zwischenstation zu dem
begehrten Goldland im Westen des Landes am geeignetsten zu sein. Ab diesem Zeitpunkt bemühte
man sich um eine landwirtschaftlichen Erschließung der Gegend um Asuncion.. Hier tauchte natürlich
sofort das Problem der Arbeitskräfte auf. Es wurde zunächst über den sogenannten "Freundschaftsdienst" gelöst, der auf dem Bündnis mit den Guarani beruhte. Die Spanier tauschten von den Kaziken
Frauen ein, traten auf diese Weise mit ihnen in ein Verwandtschaftsverhältnis ein und erhielten gleichzeitig die für die Feldarbeit nötigen Kräfte, die bei den Guarani Sache der Frauen war. Diese Praxis
erwies sich bald als ungenügend, nicht zuletzt deshalb, weil die Indios erkannten, dass sie die Ausgebeuteten waren. Schon 1545 kam es zum ersten Aufstand. Einige der Kolonisten setzten dann 1555
durch, dass das System der Encomienda, eine Art Hörigkeitsverhältnis, eingeführt wurde, damit sie
ihre Güter nach Art spanischer Adeliger verwalten konnten. Bis 1555 wurden 100 000 Indios unter 320
spanische Grundbesitzer verteilt. Unter diesen Umständen, die weitere Aufstände hervorriefen, kam
es zu so gut wie keiner Christianisierung.
2. Missionierung ohne Gewalt
Da es bei der Eroberung Amerikas durch die Spanier in erster Linie darum ging, möglichst viel Reichtum an sich zu ziehen, war der Missionsauftrag, auf den sie sich beriefen, ein bloßer Vorwand für ihre
Goldgier. In der Regel war den Eroberern die Christianisierung gleichgültig. Lediglich einzelne Geistliche, Beamte und Missionare widersetzten sich der brutalen Kolonialisierungspolitik und protestierten
gegen die faktische Versklavung der Indios. Der spanische Dominikaner und spätere Bischof Bartolomé de Las Casas war der bekannteste unter ihnen. Eine ernsthafte Missionierung setzte erst ein, als
1575 einige Franziskaner ins Land kamen. Sie zogen als Wanderprediger umher, fingen aber schon
1580 an, die Indios in Reduktionen, d.h. geschlossene Siedlungen zu sammeln. Die ersten Jesuiten
kamen 1588 von Brasilien aus nach Paraguay. 1604 wurde eine eigene Ordensprovinz "Paracuaria"
(Paraguay) errichtet, die mit spanischen Jesuiten besetzt wurde. 1608 waren es 13 und in den zwei
folgenden Jahren kamen 24 weitere hinzu, so dass ein Missionswerk in größerem Stil begonnen werden konnte.
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1603 fand in Asunción eine für die weitere Missionierung richtungsweisende Synode statt, die sich
sowohl gegen die Ausbeutung der Indios wandte als auch erkennen ließ, dass sie in der Trennung der
Indianer von den Spaniern den richtigen Weg sah, eine erfolgreiche Missionierung durchzuführen. Die
Jesuiten waren es dann, die innerhalb des spanischen Kolonialgebietes die Erlaubnis erhielten, ihr
Reduktionssystem zu realisieren.
Sie erreichten sogar eine Änderung der Gesetze am spanischen Hof, die darauf abzielte, die Ruinierung der unterworfenen Indios zu verhindern, indem sie als gleichberechtigte Untertanen anerkannt
werden sollten.. Letzlich waren jedoch alle Verfügungen ziemlich wirkungslos, weil die Conquistadoren und Kolonisten auf ihrem Interesse beharrten, die Indios als rechtloses Material für ihre Bereicherung zu behandeln. So entstand schon bei Las Casas die Idee, die Ureinwohner möglichst ganz von
den Spaniern abzusondern, um sie in von den Conquistadoren getrennten Gebieten (Reduktionen)
ungestört missionieren zu können. Er hatte sich schon sehr früh für eine Trennung der Missionierung
von der Eroberung ausgesprochen und in seinen Augen sogar den praktischen Beweis erbracht, dass
eine friedliche Missionierung selbst bei sehr "kriegerischen" Stämmen möglich sei. Gegen den Widerstand der spanischen Kolonisten ließ er sich ein Gebiet zuweisen -im heutigen Guatemala-, in dem die
Dominikaner für fünfzehn Jahre ungestört arbeiten konnten; erst danach sollten die von den Missionaren betreuten Indios auch Kontakt zu den Spaniern haben. Wegen des außerordentlichen Erfolgs dieser Missionierung nannte Las Casas dieses Gebiet Verapaz, Land des wahren Friedens. Sehr schnell
jedoch drangen die spanischen Kolonisten in dieses Gebiet ein, die Indiostämme wehrten sich und
das Missionsexperiment wurde abgebrochen.
Dieses und andere ähnliche Beispiele zeigen etwas über die Kalkulationen, mit denen die spanische
Krone die Missionierung für ihren Zweck instrumentalisierte. Die Missionare hatten die Aufgabe, in
Grenzregionen aufsässigen bzw. noch nicht beherrschten bzw. unbekannten Stämmen das Christentum und die europäische Zivilisation zu vermitteln, um damit die Conquista mit anderen Mitteln fortzusetzen bzw. sie vorzubereiten. Diese Missionsexperimente waren gedacht als befristete "Schutz- und
Erziehungsgebiete für Eingeborene" und nicht als dauerhafte Reservate mit dem Ziel, die Isolierung
von den europäischen Siedlungsgebieten aufrechtzuerhalten. Was auch immer den jeweiligen Missionaren und Ordensgemeinschaften selbst an idealen Missionsreduktionen vorgeschwebt haben mag,
die zeitliche Befristung ihrer Bemühungen war vom Zweck des spanischen Staates her eine ausgemachte Sache.
Die Jesuiten gründeten im La-Plata-Becken und im Gebiet der Quellflüsse des Amazonas im 17. und
18. Jahrhundert etwa 70 Indio-Siedlungen, in denen schließlich an die 200 000 Indianer friedlich und
in einem beachtlichen Wohlstand lebten. Da die Gründungen durch die Organisation des Jesuitenordens in eim lockeren Verbund zusammengehalten wurden, sprach man vom "Jesuitenstaat in Paraguay". Er bestand über 150 Jahre von den ersten Anfängen im Jahre 1609 bis 1767, dem Jahr, in dem
die Jesuiten aus Südamerika vertrieben wurden.
In dem Gebiet, von dem hier die Rede ist, hatten Franziskaner, Dominikaner und Jesuiten die Missionierung zunächst nach Art von Wanderpredigern versucht. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zogen
einzelne Missionare unter größten Strapazen und Lebensgefahr ins unwegsame Hinterland, um zu
predigen und zu bekehren, was sich bekehren ließ. Nach vollzogener Taufe zogen sie dann weiter.
Doch dieses rasch gepredigte Christentum war rein oberflächlich und verging schnell, weshalb man
nach neuen Methoden suchte. Die Jesuiten erhielten schließlich von der spanischen Regierung die
Erlaubnis, für die Indios eigene Siedlungen fernab von den Städten und Haziendas der Weißen zu errichten. Als 1606 Paraguay als eigene Ordensprovinz der Jesuiten konstituiert wurde, legte man einheitlich ein neues Konzept der Missionierung fest: Alle nicht seßhaften Indios sollten in größeren Siedlungen zusammengeführt (spanisch: reducir) werden, um sie vor den Interessen der Kolonisten zu
schützen und sie zu missionieren. Von Asunción aus erschlossen die Jesuiten ein riesiges Gebiet, das
sich vom Orinoko im Norden bis südlich von Buenos Aires erstreckte. Es bildeten sich dabei mehrere
Schwerpunkte heraus, die jeweils eine größere und kleinere Anzahl von Siedlungen umfaßten. Diese
Gruppierungen lagen oft Hunderte oder gar tausende Kilometer auseinander. Um die Mitte des 18.
Jahrhunderts waren die Reduktionen, besonders die bei den Guaranis, Chiquitos und Mojos prosperierend und voller wirtschaftlicher Aktivität.
Die Reduktionen wurden auch "Missiones" oder "Pueblos" genannt. In ihnen lebten jeweils 1000 bis
4000 Bewohner, die eine Art landwirtschaftlicher Großkommune bildeten. Die Leitung lag bei zwei Jesuiten, daneben bestand eine Selbstverwaltung der Indios nach dem Muster der spanischen Gemeindeordnung Außer der Landwirtschaft und der Verarbeitung ihrer Produkte hatte die gewerbliche Produktion eine große Bedeutung. Die Vielfalt der Handwerke und Künste, die ausgeübt wurden, war er- 45 -
staunlich: Ziegelbrennerei, Weberei, Lederverarbeitung, Holzschnitzerei und Bildhauerei, Glasfabrikation, Glockenguß, Silberverarbeitung, um nur die wichtigsten zu nennen. Es ist bemerkenswert, in
welch kurzer Zeit der Sprung von der Steinzeit ins Barockzeitalter gelang. In wenigen Jahrzehnten
wurden aus den Lehmhütten Steinbauten, entstanden barocke Kirchen, die den europäischen in
nichts nachstanden. Die Indios lernten meisterhaft, mit der europäischen Musik umzugehen, ihre Chöre und Orchester haben oft auch in den Städten der Spanier musiziert.
Der Hauptgrund dieses Erfolgs lag in erster Linie in dem Schutz, den die Jesuiten den Indios bieten
konnten: einmal vor den spanischen Kolonisten, zum anderen auch vor den Portugiesen, die von Brasilien aus Streifzüge nach Westen unternahmen. Darüber hinaus war es von großem Vorteil, dass die
Jesuiten von Anfang an die Sprache der Indios erlernten. Schon bald verfaßten sie Grammatiken und
Wörterbücher der Sprache der Guarani und machten aus seinen vielen Dialekten eine einheitliche
Schriftsprache.
Schwierigkeiten für die Reduktionen gab es eigentlich nur von außen. So von den sogenannten "Paulistas", auch "Bandeirantes" genannt, die von ihrem Zentrum im brasilianischen Sao Paulo aus bestrebt waren, die Grenzen des portugiesischen Kolonialreiches immer mehr nach Westen zu verschieben. Sie unternahmen in großen Banden Streifzüge ins Innere, um Schätze zu suchen und Indianer
als Arbeitskräfte zu fangen. In Brasilien gelten diese "Bandeirantes" heute als heldenhafte Kolonialpioniere, sogar eine Automarke trägt ihren Namen. Für die Reduktionen bildeten sie eine tödliche Bedrohung. Die Jesuiten stellten Indio Truppen auf, die nach europäischem Muster gedrillt waren und
von indianischen Offizieren geführt wurden. Ständig gab es auch Ärger und Streit mit den lokalen Kolonialbehörden in der Nachbarschaft. Diese standen unter dem Einfluss der weißen Kolonisten, denen
der Schutz der Indios durch die Privilegien der Jesuiten ein Dorn im Auge war. Immer wieder wurden
Jesuiten in Madrid denunziert. Die Vorwürfe waren: Zwangsarbeit und Ausbeutung der Indios, geheimer Bergbau und Vorbereitung von Rebellionen gegen die Krone. Eine königliche Kommission nach
der anderen wurde aus Europa geschickt, nur um stets die völlige Haltlosigkeit der Anschuldigungen
festzustellen.
3. Das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem der Reduktionen
Alle Reduktionen waren nach einem einheitlichen Schema errichtet. In einer Beschreibung aus dem
18. Jahrhundert heißt es :"Den Mittelpunkt der ganz regelmäßigen Niederlassungen bildete stets die
Kirche. Auf der einen Seite der Kirche befand sich der Friedhof, auf der anderen das Wohnhaus der
Patres, das zugleich auch die Schule enthielt. Neben diesem erhob sich das Volkshaus mit den Speichern für das öffentliche Gut und mit den Werkstätten der Handwerker. Neben dem Friedhof lag das
Witwenhaus, von dem ein Teil auch als Hospital verwendet wurde. Vor der Kirche war stets ein großer
Platz mit einer Statue angelegt und rings um diesen breiteten sich die einstöckigen Wohnhäuser der
Indianer aus." ( Kraus, Täubl, S. 44) Die Häuser der Indios standen in mehreren Reihen hintereinander, die vordersten umsäumten auf drei Seiten den großen Platz. Die Dächer hatten einen weiten Vorsprung, der von Säulen getragen wurde, so dass man bei Regen trockenen Fußes durch die ganze
Siedlung laufen konnte.
Die Reduktionen lagen meist in der Nähe eines Flusses -wegen der Verkehrsverbindungen, und auf
einer Anhöhe - wegen der Überschwemmungen und der Malaria. In weiterem Umkreis dehnten sich
die Felder: Getreide, Zuckerrohr, Baumwolle, Yerba für den Mate-Tee. Zwischen den Feldern lagen
die Wirtschaftsbetriebe: Ziegelei, Sägewerk, Schlachthaus, Gerberei, Mühlen für Getreide und Zuckerrohr. Wichtigste Nahrungsquelle waren die Rinderherden. Jede Reduktion hatte ihre "Estancia", die
Farm für die Viehzucht, in einer geeigneten Weidegegend, oft Hunderte Kilometer entfernt.
Das Material für die Gebäude war ursprünglich Lehm und Holz gewesen, im Laufe der Zeit baute man
jedoch immer mehr aus Stein, auch die Häuser der Indios. Die Ausmaße der Kirchen entsprachen
denen der größten in Europa, so dass leicht einige tausend Menschen, praktisch die ganze Gemeinde, gleichzeitig am Gottesdienst teilnehmen konnten. Die künstlerische Qualität war auf der Höhe der
damaligen Barockkunst in Europa. Zunächst waren die Indios lediglich Kopisten der aus Europa mitgebrachten Werke, doch bald traten auch dekorative indianische Elemente auf und es entstand ein
sehr eigenständiger Stil. Das Innere der Kirchen war reich an Gemälden, geschnitzten Altären und
Statuen.
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Die Rolle der Jesuiten
Die Leitung der Reduktionen lag in der Hand von zwei Jesuiten, die nicht nur für die Seelsorge, sondern auch für die wirtschaftliche Entwicklung der Siedlung zuständig waren: für die Landwirtschaft, die
Bauten und die Werkstätten.
In einem Brief nach Hause schreibt 1744 der Schweizer P. Martin Schmid aus den ChiquitoReduktionen:
...die Missionare hier sind nicht nur allein Pfarrer, Prediger, Beichtväter und Seelsorger, sondern sie
müssen auch für den Leib ihrer Untergebenen Sorge tragen und für alles, was in einer Stadt, einem
Dorf oder einer Gemeinde nötig ist. Denn ohne dies könnten sie auch nicht für ihre Seelen sorgen. So
sind die Missionare also Ratsherren und Richter, sie sind Doktoren und Ärzte, sie sind Maurer, Tischler und Zimmerleute, sie sind Schmiede, Schlosser, Schuhmacher, Schneider, Müller, Köche, Bäcker,
Hirten, Sennen, Gärtner, Maler, Bildhauer, Drechsler, Wagner, Ziegelbrenner, Hafner, Weber, Gerber,
Wachsbleicher, Kerzenmacher, Zinngießer und was nur für Handwerksleute in einem Staat vonnöten
sind." (Kraus, Täubl S. 143)
Einer der beiden Jesuiten war zugleich Vertreter des spanischen Königs. D.h. die Patres waren zugleich Priester und königliche Beamte. Sie waren die Organisatoren, die entschieden über den Einsatz
der Arbeitskräfte, über die Einführung neuer Technologien und über die Verwendung der erzeugten
Güter, sei es zum Konsum, sei es zur Neuinvestition. Von den Guarani wurde die Rolle der Jesuiten
als eigentlichen Lenker der Wirtschaft hingenommen. Es gab eine Gemeindeverwaltung nach spanischem Muster mit indianischem Bürgermeister und anderen Amtsträgern. Sie wurden von den Kaziken, den traditionellen Sippenhäuptern, aus ihrem Kreis gewählt, wobei die indianische Form der
Großfamilie erhalten blieb.
Durch die Gehorsamsstruktur innerhalb des Jesuitenordens standen die einzelnen Reduktionen in
einem organisatorischen Zusammenhang. Sie bildeten einen autonomen Selbstverwaltungskörper innerhalb des spanischen Kolonialreiches, der durch seine wirtschaftliche Autarkie, durch bestimmte
Hoheitsrechte sowie durch sein Auftreten als Handelspartner eine selbständige Größe darstellte. Aber
trotz ihrer Freiheiten und Sonderrechte blieben die Jesuitenreduktionen den staatlichen Provinzialgouverneuren unterstellt, die als Vertreter des Königs in den Missionen feierlich empfangen wurden und
die Wahlen zum Gemeinderat der Reduktionen bestätigten. Sie bildeteten also keinen Staat im Staate; sie waren weder souverän nach außen, noch übten sie nach innen eine hoheitliche Befehls- und
Zwangsgewalt aus, so dass Bezeichnungen wie "Jesuitenstaat von Paraguay" irreführend sind.
4. Arbeitsteilung und Naturalwirtschaft
Die Erstellung der Bauten, das Betreiben von Landwirtschaft und Viehzucht im Großen sowie die
Ausbildung und Vervollkommnung der Indios in den verschiedensten Handwerken verlangten ein gewisses Maß an Arbeitsdisziplin. Der Tagesablauf war genau geregelt. Die Zeit wurde mit Glockenschlägen von früh bis spät eingeteilt. Gebet und Gottesdienst wechselten mit der Arbeit auf den Feldern oder in den Werkstätten. Essen und Schule hatten ihre Zeit ebenso wie Tanz und Unterhaltung.
Jeder Indio hatte bei den Bauten, auf den Feldern oder in den Werkstätten an drei Tagen der Woche
für die Gemeinschaft zu arbeiten. Die Frauen mussten spinnen, weben oder sticken, der 8-Stunden
Tag war allgemein eingeführt. Der Boden war aufgeteilt in das Land, das den einzelnen Familien für
ihren Unterhalt diente und in das Land, dessen Erzeugnisse für die gemeinsamen Zwecke verwendet
wurden. Dabei gab es weder Geld noch privates Eigentum an Produktionsmitteln. Auch untereinander
lebten die Reduktionen in einem Austausch ohne Geld. Dieses spielte erst beim Außenhandel ein Rolle. Er wurde zentral für alle Reduktionen abgewickelt. Hauptausfuhrprodukt war für die Guaranireduktionen neben Rinderhäuten vor allem Baumwolle und Yerba, der Mate-Tee. Die Ernte wurde jährlich
über Tausende von Kilometern an die Märkte des Andenhochlandes und der Atlantikküste transportiert und dort gemeinsam für alle Reduktionen verkauft. Aus dem Erlös wurden die Steuern an die
spanische Krone und die für die einzelnen Reduktionen notwendigen Importe bezahlt. Diese Art des
Wirtschaftens blieb jedoch auf die Bedarfsdeckung ausgerichtet, Handel wurde nur in dem Umfang
betrieben, wie es für die Konsumtion und zur Investition von Geräten unumgänglich war. Trotz der
zwangsläufig mit der gewerblichen Entwicklung verbundenen Arbeitsteilung bildeten sich unter den
Indios kein Gegensatz zwischen reich und arm aus. Es entstanden keine Klassen oder Personengruppen, die aufgrund wirtschaftlicher Abhängigkeitsverhältnisse Macht über andere erlangten.
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5. Der Messianismus der Guarani
Wie ist der Erfolg der Jesuiten zu erklären? Ein Hauptgrund war sicherlich die Tatsache, dass die Reduktionen den Indianern Schutz boten vor der Versklavung durch die spanischen Conquistadoren, die
an den Indianern als Arbeitskräfte brennend interessiert waren. Demgegenüber stellte die Organisationsstruktur der Jesuitenreduktionen sichtbar klar, dass die Patres persönlich uneigennützig waren
und die wirtschaftlichen Erfolge allein den Indianern, die sie erarbeitet hatten, zu Gute kam. Es kam
allerdings noch dazu, dass die Jesuiten bei gewissen Stämmen, wie den Guarani, eine ganz bestimmte Rolle in der traditionellen Stammesstruktur übernahmen und mit Erfolg ausfüllten, nämlich die Rolle
der neben den Häuptlingen stehenden charismatischen Führer zum Paradies. Zu den religiösen Vorstellungen der Guarani gehörte die Suche nach dem "Paradies", eine Art Schlaraffenland, wo fruchtbares Land und Nahrung im Überfluß vorhanden waren. Für die Guarani bedeutete diese Vorstellung
einer "höchsten Vollkommenheit" das Ziel und Ende allen menschlichen Strebens. Das Paradies der
Guarani, das "Land ohne Übel", ist daher eine Welt, die zugleich wirklich und verwandelt ist, wo das
Leben nach demselben vertrauten Modell weitergeht, aber außerhalb von Zeit und Geschichte, ohne
Elend und Krankheit, ohne Sünden und Ungerechtigkeit und ohne Altern. Die Schamanen waren es
dann, die nach bestimmten Träumen und Visionen die Expeditionen nach dem Land-ohne-Übel in
Bewegung setzten und führten. Ein Jesuit schrieb darüber im 17. Jahrhundert:
"Die Schamanen überreden die Indianer, nicht zu arbeiten, nicht auf die Felder zu gehen und versprechen ihnen, dass die Ernten von allein wachsen werden, dass es nicht zuwenig, sondern zuviel Nahrung in ihren Hütten geben wird, dass die Spaten den Boden alleine umgraben, die Pfeile sich ihre
Besitzer suchen und viele Feinde fangen werden. Sie sagen voraus, dass die Alten wieder jung werden." (Kraus, Täubl, 144)
Die Jesuiten, auch sie "geistliche Männer" boten neben dem "himmlischen" zugleich ein "irdisches
Paradies" an. Und sie konnten ihre Versprechen aufgrund ihrer überlegenen Kenntnisse in der Landwirtschaft und ihrer Organisationskunst auch halten. Auf diese Weise wurden die Jesuiten für die Guarani das, was man heute "agents of change", "Innovatoren" nennen würde, d.h. Persönlichkeiten, auf
deren Wort und Beispiel hin eine Bevölkerung bereit ist, einen Wandel in ihren Lebensgewohnheiten
zu akzeptieren und mitzumachen. Es entstand so eine Symbiose von Indiostämmen mit einer europäischen Ordensgemeinschaft, d.h. die traditionellen Gesellschaftsformen der Guarani wurden dabei
verbunden mit Elementen aus der Lebens- und Wirtschaftsform der europäischen Klostergemeinschaften, die ja meist große Gutsbetriebe mit landwirtschaftlicher und oft auch gewerblicher Erzeugung waren. Diese strikte Rollenverteilung blieb während der ganzen Zeit erhalten, die Jesuiten waren
die Organisatoren und Missionare, die Indios blieben das Objekt ihres Paternalismus; nie wurde ein
Indio zum Priesterstand oder zum Orden zugelassen.
6. Die Bedeutung der Religion und der Musik in den Reduktionen
Die religiöse Unterweisung erfolgte von Anfang an in der Sprache der Indios. Die Jesuiten legten
größtes Gewicht darauf, die Sprachen der Stämme zu lernen, mit denen sie in Kontakt gerieten. Sie
verfaßten Wörterbücher und Grammatiken. Die Bibel und andere Texte wurden übersetzt und erschienen oft sogar gedruckt. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden mehrere Druckereien eingerichtet. Dadurch wurden die Indianersprachen nicht nur erhalten, in einer Reihe von Fällen entstand auch
aus einer Vielfalt von Dialekten einer bis dahin verstreut lebenden Völkerschaft eine einheitliche Sprache. Dies gilt vor allem vom Guarani und vom Chiquito. Das Guarani ist heute neben der spanischen
Amtssprache die eigentliche Landessprache der Republik Paraguay. Es wird fast von der ganzen Bevölkerung verstanden und im Alltag auch gesprochen. So konnte die Unterrichtung in der christlichen
Lehre in einer sehr intensiven Weise erfolgen. Häufige Predigt und eine regelmäßige Christenlehre, in
der die wichtigsten Glaubenslehren aufgesagt, abgefragt und durch ständige Wiederholung eingepaukt wurden, waren die Hauptgestaltungselemente jeden Sonntags.
"Jeden Sonntagmorgen, wenn die Patres beim Gebet versammelt sind, kommen alle Alter und Geschlechter auf dem Platz zusammen, Männer und Frauen, Mädchen und Jungen getrennt, wie gewöhnlich. Wenn die Patres ihr Gebet beschließen, werden die Türen geöffnet und die Frauen betreten
die Kirche durch den dreiteiligen Haupteingang, während die Männer durch die Seiteneingänge eintreten. Die Jungen bleiben im Hof der Patres, die Mädchen gehen zum Friedhof. Mitten in der Kirche,
zwischen Männern und Frauen und mit dem Rücken den letzteren zugewandt, stellen sich vier Indios
mit den hellsten Stimmen auf, alle anderen knien. Die vier stimmen das Vaterunser und die anderen
Gebete an, die von allen wiederholt werden. Im Anschluß daran setzen sich alle, während die vier
stehen bleiben und den Katechismus eröffnen. Zwei von ihnen fragen: "Gibt es Gott?" Darauf antwor- 48 -
ten zwei:"Ja, es gibt ihn." Die zwei fahren fort:"Wie viele Götter gibt es?" Und die beiden anderen antworten:"Nur einen einzigen." Alle antworten dasselbe, und so geschieht es auch mit allem anderen.
Dies geschieht natürlich alles in ihrer eigenen Sprache."
Darüber hinaus wurde am Sonntag die "Buchführung" über die gesamte Gemeinde vorgenommen, die
notwendigen Arbeiten wurden verteilt und die "Abweichler" wurden bestraft.
"Nach der Ansprache zählen die Sekretäre der Siedlung anhand von Listen nach Alter und Geschlecht
alle nach, um zu sehen, ob jemand in der Messe gefehlt hat; sie berichten das dem Pfarrer, und dieser prüft, ob ein Hindernis vorgelegen hat. Wenn sich einer schuldig gemacht hat, so sucht er ihn auf
und bestraft ihn. Die Strafe besteht aus fünfundzwanzig Peitschenhieben. Danach wird die zweite
Messe für die Rekonvaleszenten und diejenigen gelesen, die bei der ersten verhindert waren. Daraufhin werden die Arbeiten für die gesamte Woche verteilt, dann gehen sie zum Essen und danach zum
Ballspiel, ihrem nahezu einzigen Spiel."
Die größte Rolle bei der Vermittlung des Glaubens spielte allerdings die Musik. Jede Siedlung hatte
ihren Chor und ein großes Orchester. Alle im Barock üblichen Instrumente, sogar Orgeln, wurden an
Ort und Stelle hergestellt, die großen Werke der damaligen Barockmusik mit größter Professionalität
aufgeführt.
Begründer der Musiktradition der Chiquitos war der Schweizer Jesuit Martin Schmid gewesen, ein
künstlerisches Universalgenie. Er lebte von 1730-1767 bei den Chiquitos und schrieb in einem Brief
1744:
"Die Obern haben mir befohlen, die Musik in diese Missionen einzuführen und Orgeln und Instrumente
zu bauen, damit die Indianer auch mit Musik ihren Gott und Herrn loben möchten. So habe ich gleich
angefangen, die Indianerbüblein- und -knaben, die ja lesen konnten, in der Singkunst zu unterweisen.
Und was noch mehr ist, ich habe auch allerlei Musikinstrumente verfertigt, ohne dies früher in Europa
gelernt oder auch nur daran gedacht zu haben. Aber die Not und der Mangel an Lehrern haben aus
mir einen Kunstmeister gemacht. Denn alle Dörfer haben jetzt ihre Orgel, viele Geigen und Baßgeigen
aus Zedernholz, Clavicordia, Spinette, Harfen, Trompeten, Schalmeien. Alle habe ich verfertigt und
die Indianerknaben die Instrumente schlagen und zu brauchen gelehrt. Diese Indianerbüblein sind
ausgemachte Musikanten; sie statten alle Tage in den heiligen Messen mit ihrem Singen und Musizieren dem Herrgott das schuldige Dankeslob ab. Ich darf behaupten, dass sie mit ihrer Musik in jeder
Stadt und Kirche zu Eurer großen Verwunderung erscheinen könnten." (Kraus, Täubl, S. 152)
Musik gab es bei jeder Gelegenheit, nicht nur bei den Gottesdiensten, auch auf dem Weg zur Arbeit
und während der Arbeit. Sogar bei der Bestellung der Felder und bei der Ernte waren den Arbeitstrupps Musiker zugeteilt. Der Jahresablauf war mit Festen übersät, die in möglichst großartiger Weise
gefeiert wurden. Paraden, Feuerwerke, Tänze oder Theateraufführungen umrahmten die mehr kultischen Zeremonien, bei denen die feierlichen Hochämter mit Orgel- und Instrumentalmusik sowie riesigen mehrstimmigen Chören im Mittelpunkt standen. Dazu kamen feierliche Prozessionen.
Musik und Tanz hatten schon im früheren Stammesleben der Guarani eine ausgesprochen religiöse
Dimension gehabt. Insofern kamen die Jesuiten ihren Bedürfnissen sehr entgegen und die Musik
konnte bei der Vermittlung neuer Werte und Verhaltensweisen eine hervorragende Rolle spielen.
Wenn alle Lebensäußerungen -Arbeit, Erholung und Feste, Geburt, Heirat und Tod- von kultischen
Handlungen begleitet wurden, so traf sich das mit der bei den Guarani üblichen Ritualisierung jeglichen Tuns. Alle Handlungen hatten eine festgefügte Form, die in Bezug zu dem von den Vorfahren
überkommenen Weltbild stand. Die Missionierung der Jesuiten nahm also weitgehends Rücksicht auf
die Mentalität der Indios. Ihr System verzichtete darauf, die europäischen Maßstäbe der Geldwirtschaft und des Handels, einer Zwei-Klassengesellschaft und der durch sie organisierten massiven
Ausbeutung zum Vorbild zu nehmen.
Der Jesuitenorden
Der Jesuitenorden, 1534 von Ignatius von Loyola, einem Spanier, als katholischer Männerorden gegründet, unterscheidet sich von anderen Orden durch das zusätzliche Gelübde strikten Gehorsams
gegenüber dem Papst. Er ist straff organisiert und die Ausbildung des Nachwuchses ist sehr gründlich
und langwierig (20 Jahre bis zu den endgültigen Gelübden). Die Idee des Ordensgründers war es,
dass ein Jesuit in der Lage sein müsse, jede notwendige Aufgabe perfekt ausführen zu könen. Be- 49 -
sondere Bedeutung gewannen die Jesuiten als Vorkämpfer der Gegenreformation, in der christlichen
Bildungsarbeit (besonders Elitebildung und Fürstenerziehung), in der Mission und in verschiedenen
Wissenschaften. Proteste gegen ihren großen Einfluss führten 1773 zur Aufhebung des Ordens, 1814
wurde er wieder zugelassen und verbreitete sich erneut sehr schnell. Heute (1992) hat er ungefähr 26
000 Mitglieder.
7. Die Reduktionen im Urteil von Zeitgenossen
Von Anfang an übte die "Indianerrepublik" der Guarani eine starke Faszination aus: auf Aufklärer und
Sozialisten, Dichter und Historiker, Gläubige und Ungläubige. Für sie waren die Reduktionen ein Beweis für die Möglichkeit und Notwendigkeit einer "besseren Gesellschaft", für die sie in Europa gegen
den Feudalismus eintraten.
Montesquieu, ein Zeitgenosse des Experimentes der Jesuiten, urteilte: "Es gereicht der Gesellschaft
Jesu zum Ruhm, die erste gewesen zu sein, die in diesen Ländern die Verbindung der Religion mit
der Idee der Menschlichkeit verwirklichte. Indem sie die Verwüstungen der Spanier wiedergutmachte,
begann sie eine der schwersten Wunden zu heilen, die die Menschheit je empfangen hat...". (Kraus,
Täubl S.158) Cunningham Graham, einer der Gründer der englischen Labour-Partei, veröffentlichte
1901 ein begeistertes Buch. Er hatte einige Zeit in jenen Gegenden gelebt und daraufhin die alten Berichte und Quellen durchforscht. "Vor 25 Jahren noch traf ich auf den verlassenen Missionsstationen
Leute, die mit Bedauern von der Zeit der Jesuiten sprachen und die Gebräuche, die noch weiterbestanden, hochhielten. Auch wenn sie nur vom Hörensagen berichten konnten und nur Geschichten,
die sie in ihrer Jugend gehört hatten, wiederholten, so hatten sie doch die Vorstellung bewahrt, dass
die Missionen in der Jesuitenzeit ein Paradies gewesen waren..." (Kraus, Täubl, 159)
Bedeutsam ist das Experiment der Reduktionen auch wegen seiner Wirkung auf die Ideengeschichte
des europäischen Sozialismus gewesen. Schon die utopischen Sozialisten der Aufklärungszeit wurden zu Spekulationen angeregt. Im 19. Jahrhundert haben sich immer wieder Bodenreformer auf das
Landsystem der Reduktionen berufen. Auch moderne Sozialisten fanden Berührungspunkte zu eigenen Anliegen: Es bestand Kollektiveigentum an den Produktionsmitteln, am Boden und den Werkzeugen sowie eine Art Selbstverwaltung der Arbeiter. Soziale Klassen fehlten unter den Indios, eine
Planwirtschaft war mit einer ständigen Vervollkommnung der technologischen Möglichkeiten verbunden; es gab gewissermaßen eine Einheit von Gewerbe und Landwirtschaft, von Stadt und Land; Kunst
und Künste konnten sich durch die Befreiung des einzelnen von den Sorgen um die tägliche Existenz
entfalten..
Es ist viel gerätselt worden, welches Ideengut nun hinter dem System der Reduktionen stand. War es
ein "urchristlicher Kommunismus"? War es die gezielte Verwirklichung einer "sozialen Utopie"? Manche Zeitgenossen in Europa meinten damals, die Patres hätten im fernen Paraguay bewußt die Vorstellungen Platons über den "Staat" realisieren wollen. Neuere Autoren vermuten, die "Utopia" des
Thomas Morus oder der "Sonnenstaat" des Campanella hätten Pate gestanden. Dafür gibt es aber in
den Quellen keinerlei Anhaltspunkte. Es steht fest, dass die damaligen Jesuiten andere Dinge im Kopf
hatten als die Errichtung eines idealen Staates aufgrund fertiger Sozialtheorien. Ihr eigentliches Anliegen war tatsächlich die Mission, die Bekehrung der Indios zum Christentum. Die zivilisatorische Arbeit
war dabei nur ein Mittel, das diesem Ziel zu dienen hatte. Dabei verbanden sie kollektive Stammesstrukturen, die sie vorfanden, mit den Gemeinschaftsstrukturen europäischer Orden auf sowohl geniale als auch sehr pragmatische Weise. Man realisierte so eine durchaus fruchtbare Begegnung zweier
Kulturen, die auf verschiedenen Entwicklungsstufen standen. Die Jesuiten hatten dabei allerdings
nicht die Absicht, ein allgemeingültiges Vorbild für eine künftige Gesellschafts- und Staatsordnung der
Menschheit zu entwerfen.
Zum anderen sollte man sich bei aller Begeisterung über die Grenzen des Reduktionssystems keine
Illusionen machen. Das "ideale" System der Jesuiten zielte nicht auf eine wirkliche Emanzipation der
Indios ab. Von seinem Ansatz her stand es unter der Konzeption der "Treuhandschaft" und es kam
während seiner ganzen Dauer über die klare Abgrenzung zwischen den Europäern als Vormund und
den Indios als Mündel nicht hinaus. Ein wirklich partnerschaftlicher Austausch auf gleicher Ebene kam
zwischen den beiden Zivilisationen, der europäischen und der indianischen, nicht zustande.
- 50 -
8. Der Untergang der Reduktionen
Als im 18. Jahrhundert die Jesuiten aus Portugal und Spanien vertrieben wurden, als 1773 sogar der
Orden vom Papst aufgehoben wurde, verwendete man das Werk der Reduktionen als propagandistische Waffe gegen den Orden. Vorwürfe über die geheimen Reichtümer der Jesuiten von Paraguay
und über ihre Rebellionsabsichten mit Hilfe der Indianerarmeen wurden in unzähligen Druckschriften
über ganz Europa verbreitet. Diese phantastischen Gerüchte erhielten immer neue Nahrung aus Südamerika, wo der Orden naturgemäß viele Feinde hatte. Da waren einmal die Grundbesitzer, welche
die Indios lieber zur Arbeit auf ihren Gütern verwendet hätten. Dann gab es die Händler, die nur unter
den wachsamen Augen der Missionare mit den Indianern Handel treiben durften, und die Kaufleute in
den großen Umschlagplätzen wie Buenos Aires, die auf den Marktanteil neidisch waren, den sich die
Reduktionen durch die gute Qualität ihrer Exportprodukte sichern konnten. Schließlich waren auch die
örtlichen Kolonialbehörden auf diesen "Staat im Staate" eifersüchtig, der weite Gebiete mit vielen Einwohnern ihrer direkten Einflussnahme entzog. 1767 wurden die Jesuiten schlagartig verhaftet und
nach Europa abtransportiert. Die Reduktionen wurden teilweise ausgeraubt und zerstört und die Bewohner in die Sklaverei geführt. Zum anderen Teil wurde das System der Verwaltung geändert, die
Leitung erhielt ein ziviler Verwalter, der die Autorität des Staates vertrat. Neben ihm hatte sich ein
Pfarrer allein um den religiösen Bereich zu kümmern. Dies führte zu einem allmählichen Niedergang,
der sich über Jahrzehnte hinzog. Etliche Reduktionen wurden dann in den ständigen Kriegen, die zu
Beginn des 19. Jahrhunderts zwischen den neu entstandenen Staaten Paraguay, Argentinien und
Brasilien um die Festlegung der Grenzen geführt wurden, zerstört.
Die Jesuiten hätten sicher einen effektiven Widerstand gegen diese Auflösung organisieren können.
Ein Jesuit, der von 1748-1767 auf einer Reduktion in der Nähe der argentinischen Stadt Santa Fe lebte, schrieb dazu in seinen Erinnerungen: "Was Ungemach hätten nur allein die 30 Völkerschaften von
Guaraniern anstellen können, in denen man bis zu 120 000 Seelen zählt, worunter wenigstens 50 000
und mehr streitbare Männer hätten herangezogen werden können? Wie bald wären sie mit Buenos Aires fertig gewesen? Ich allein mit meinen etlich hundert Indianern hätte leicht die ganze Jurisdiction
von Santa Fe zerstören können." (Kraus, Täubl, S. 170)
Sie haben aber offenbar anders kalkuliert. Ihre Befürchtung war, dass eine solche offene Rebellion
gerade jene Gerüchte und Verdächtigungen bestätigt hätte, mit denen man damals in Europa an der
Aufhebung des Ordens arbeitete. Die Missionare hofften, mit einer Unterwerfung ihre Loyalität beweisen zu können, um möglichst bald die Erlaubnis zur Rückkehr in die Reduktionen zu erhalten. Vor allem mussten sie damit rechnen, dass ein Widerstand gegen den König früher oder später auch kirchliche Sanktionen nach sich ziehen würden. Und ein Widerstand gegen die Kirche selbst war für sie undenkbar. Es wäre gegen ihr besonderes Gehorsamsgelübde gegenüber dem Papst gegangen und
auch gegen das erklärte Ziel, die Indianer zum katholischen Glauben zu führen.
- 51 -
VII. Der Erfolg der Conquista und ihre Resultat:
Universalisierung des Geldmaßstabes
Die Eroberung Mittel- und Südamerikas durch die spanische Nation und ihre Handlanger ist, gemessen an den Absichten, mit denen diese in diesen Erteil aufgebrochen waren, ein voller Erfolg gewesen: der Reichtum in der Form wachsender Verfügung über Geld und Gold, auf den es allen entscheidenden Protagonisten so sehr ankam, nahm vorher nie gekannte Ausmaße an. Indem die Spanier
den Geldreichtum als obersten Zweck und letztes Kriterium mit brutaler Gewalt einführten, unterwarfen sie praktisch ohne Rücksicht auf Land und Leute alles den Maßstäben dieses Reichtums. Die
Goldschätze der Inkas und Azteken wurden durch ihre Eroberung zum universalen Geld Europas und
dienten als Schatz der jeweiligen europäischen Nationen. Die Naturprodukte aller Landstriche wurden
zu Handelsartikeln für Handelskompanien gemacht, die damit ihren Gewinn beförderten. Die Bevölkerung Afrikas und anderer Regionen wurde als Reservoir billiger Arbeitskraft behandelt. Die eroberte
einheimische Bevölkerung wurde enteignet, versklavt, vertrieben oder massakriert und der Boden
wurde zum Grundeigentum spanischer Kolonisten, die mit diesem Eigentum reich werden wollten.
Bereits nach 100 Jahren war 9/10 der ursprünglichen Bevölkerung von 70 Millionen 'Ureinwohnern'
verschwunden. Die "Westindischen Länder" waren ein großes Geschäft für die spanische Nation und
die europäischen Gläubiger Spaniens. Die zwischen 1503 und 1660 nach Spanien gebrachten Edelmetalle übertrafen dreimal die gesamten Reserven Europas. Um den spanischen Markt entbrannte ein
heftiger Kampf derer, die ebenfalls am Reichtum Spaniens teilhaben wollten und sich dadurch "bequem" an der Enteignung der amerikanischen Völker beteiligten. Die fortschreitende Zurichtung dieser
Länder zu Kolonialwarenlieferanten entwickelte sie im Zuge der "internationalen Arbeitsteilung" zu Anhängsel der in Europa und später in Nordamerika herrschenden Volkswirtschaften.
Während dieses ganzen Prozesses von der Etappe der Ausbeutung der Edelmetalle bis hin zu der
späteren der Rohstoff- und Nahrungsmittellieferung wurde jede Region Lateinamerikas erbarmungslos
mit dem identifiziert und auf das hin zugerichtet, was sie für die Märkte Europas und Nordamerikas
produzierte. Es war deren Reichtum, der festlegte, was sich lohnte und mit welcher Ware sich Geschäfte machen ließen. An diesem Prinzip hat sich auch durch die politische Unabhängigkeitserklärung der lateinamerikanischen Staaten nichts geändert; der Kern dieser politischen Emanzipation bestand lediglich darin, dass die politische Herrschaft und Oberaufsicht nationalisiert wurde, die gesellschaftliche Struktur der Kolonialzeit jedoch bestehen blieb. Die Großgrundbesitzer waren weiterhin
Herren über Bauern, Boden und staatliche Institutionen. Von ihnen wurde Lateinamerika unter amerikanischem und britischem Einfluss zum Rohstofflieferanten für die Bedürfnisse des Weltmarktes gemacht.
Heute, 500 Jahre nach der ersten Conquista, ist der von den Kolonialmächten eingeführte Maßstab
des Geldreichtums - die Eroberung sollte sich lohnen und wachsenden Reichtum abwerfen - universell
und total geworden. Noch die letzten verbliebenen Ureinwohner werden nach diesem Kriterium praktisch begutachtet und ihre Existenz wird faktisch bestritten, wenn die jeweiligen Nationen daran gehen, den wirtschaftlichen Aufbau ihrer Länder voranzubringen. Dieser erfolgte seit dem Ende des
Zweiten Weltkriegs unter den kalkulierenden Augen der westlichen Industriemächte unter Führung der
Vereinigten Staaten von Amerika, die mit allen Mitteln -von der wirtschaftlichen Erpressung bis zum
Einmarsch- dafür sorgten, dass diese Länder sich am Weltmarkt auszurichten und dafür nützlich und
brauchbar zu sein hatten. Drehte sich am Anfang der Conquista alles um das Gold, so stellt heute das
Schuldensystem das Mittel der Industriestaaten dar, sich den in Lateinamerika erarbeiteten Reichtum
anzueignen und in die Bedingungen seiner Produktion einzugreifen. Um für den Weltmarkt nützlich zu
sein, veranstalten die jeweiligen Nationen unter Aufsicht der Geldgeber des Nordens "Strukturanpassungsprogramme", die ihre Länder immer weiter rücksichtslos umwälzen: "Abbau von Sozialleistungen und Subventionen, Streichung öffentlicher Dienstleistungen, Steigerung des Exports und Begrenzung des Imports, um Devisen zu sparen, Lohnstopp und Abwertung der nationalen Währungen" sind
alles Maßnahmen, die darauf berechnet sind, dass das Land in der Lage ist, als bleibender Devisenverdiener seine wachsenden Schulden begleichen zu können. Alles -angefangen beim Boden über
den Regenwald und das Vieh bis hin zu den Menschen- wird permanent daraufhin begutachtet, ob
sich daraus nicht ein Geschäft machen LÄSST. Und je größer die Anstrengungen dieser Länder waren, tauglich für den Weltmarkt zu werden, desto mehr werden sie mit der Nutzlosigkeit ihrer Anstrengungen konfrontiert. Ihre Exportsteigerung wird "bestraft" durch Einfuhrbeschränkungen der Industrieländer in Form von höheren Zöllen, Mengenbegrenzungen und Qualitätsauflagen und schlägt sich
nieder in einem massiven Verfall der Rohstoffpreise, was auf der anderen Seite bedeutet, dass die
aus Lateinamerika abtransportierten Reichtümer immer billiger zu haben sind. Die Ergebnisse der er- 52 -
hofften Entwicklung, die offiziell als verlorene Jahre beklagt werden, sind sattsam bekannt: Über 70
Prozent der Menschen leben unterhalb der Armutsgrenze, ohne ausreichende Ernährung, Gesundheitsfürsorge und Wohnung. Die Verteilung des Bodens sorgt automatisch dafür, dass ihnen die einfachsten Existenzbedingung, der Besitz eines Stückchen Lands zur Selbstbewirtschaftung, bestritten
wird. Das Überleben von 10 Millionen landloser Familien in Brasilien z. B. scheitert auf diese Weise an
den durchgesetzten Interessen von Großgrundbesitzern, inländischen und ausländischen, die ihr Land
als exklusive Verdienstquelle für harte Währung benutzen. Wo riesige Monokulturen, Staudammprojekte, Touristenzentren und Rohstofferschließungsprojekte entwickelt werden und die Wälder für die
Viehwirtschaft abgeholzt werden, da gilt die Nahrungsmittelproduktion für das eigene Überleben
nichts. Wo die Produktion nur darauf ausgerichtet ist, Geld abzuwerfen, da ist der nichts, der nicht für
irgendeinen Markt etwas Nützliches produzieren kann und damit über etwas verfügt, das er zu Geld
machen kann. So wird an den meisten Menschen Lateinamerikas erbarmungslos das Urteil exekutiert,
dass sie für den Reichtum, der dort produziert wird und der außer Landes geht, nicht zu gebrauchen
sind; dies ist nicht unähnlich dem Verfahren der spanischen Conquistadoren vor 500 Jahren, die von
ihnen "entdeckte Bevölkerung" danach zu sortieren und zu behandeln, was sie zur Vermehrung des
Reichtums beitragen konnten, auf den die Spanier aus waren.
Das heutige Schuldensystem, seine Betreuung und gewaltsame Überwachung, ist das zentrale Instrument, den Maßstab des Geldreichtums in diesen Ländern universell und total zu machen. Mit ihm
wird über diese Region, wie über die gesamte 3. Welt, eine globale Schuldknechtschaft verhängt, die
dafür sorgt, dass jeder zukünftige Reichtum schon jetzt für alle Zeiten an die Gläubiger verpfändet ist.
In ihm hat das vor 500 Jahren eingeführte Prinzip der Conquista seine zeitgemäße moderne Form erhalten. Vom Standpunkt des Reichtums aus betrachtet war die Conquista in ihrer ganzen Brutalität
und Menschenverachtung damit bis heute äußerst erfolgreich.
- 53 -
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