Dienstleistungsorganisationen als lose
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Dienstleistungsorganisationen als lose
Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 1 Inhaltsverzeichnis Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien ....................................................................................... 2 1. Die Perspektive der Losen Kopplung........................................................... 2 Der (organisations-) theoriehistorische Kontext .......................................... 3 Was bedeutet ›lose‹ Kopplung? ................................................................... 5 Woran erkennt man lose Kopplung?.......................................................... 13 2. Organisierte Anarchien und das Papierkorb-Modell der Entscheidung .................................................................................................. 18 3. (Ent-)Kopplung in der neoinstitutionalistischen Organisationsforschung.................................................................................. 26 4. Wie eng ist die Verbindung von loser Kopplung und sozialen Dienstleistungsorganisationen? ...................................................................... 28 5. Implikationen ............................................................................................. 35 5.1 Organisation als Herstellung................................................................ 35 5.1 Führung in organisierten Anarchien .................................................... 38 5.3 Von der Praxisnähe zur Praxissensibilität............................................ 47 6. Kritische Würdigung: Erfolgreich bis zur Unkenntlichkeit?...................... 49 7. Literatur...................................................................................................... 52 Lose Kopplung: Primärliteratur (in der Reihenfolge des Erscheinens)............................................................................................... 52 Lose Kopplung: Sekundärliteratur............................................................. 53 Organisierte Anarchie: Primärliteratur (in der Reihenfolge des Erscheinens)............................................................................................... 53 Organisierte Anarchie: Sekundärliteratur .................................................. 54 Sonstige Literatur....................................................................................... 55 2 Stephan Wolff Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien Stephan Wolff 1. Die Perspektive der Losen Kopplung Der Gedanke der losen Kopplung organisatorischer Strukturelemente taucht in der organisationswissenschaftlichen Literatur ziemlich genau zur selben Zeit auf wie die vier anderen heute vorherrschenden Organisationstheorien: die Idee der evolutionären Anpassung von Organisationen an ökologische Nischen (population ecology), die These, dass die Höhe der Transaktionskosten ausschlaggebend für die Wahl des jeweiligen institutionellen Arrangements, d.h. von Markt, Vertrag oder Organisation, sei (transaction cost theory), die Vorstellung, Organisationen trachteten danach, ihre Abhängigkeiten von externen Ressourcen zu minimieren bzw. für andere wichtige Ressourcen zu kontrollieren (resource dependence theory) und die Vorstellung, dass Organisationen, um in einem gesellschaftlichen Feld bestehen zu können, sich an den dort institutionalisierten Vorstellungen im Hinblick auf Organisationsgestaltung und Aufgabenerfüllung zu orientieren hätten (institutional theory). Orton und Weick räumen in der Rückschau selbstkritisch ein, »each of these four perspectives has a more distinctive paradigm, a more compact theory, and more empirical support than is true of loose coupling« (1990: 203; vgl. Weick 1988), weshalb das Konzept der losen Kopplung viele Diskussionen, aber weniger Forschung ausgelöst habe als vergleichbare Ansätze. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass das Konzept der ›Losen Kopplung‹ keine Theorie im strikten Sinne darstellt, weshalb ich, einen Vorschlag von Ingersoll (1993: 83) aufgreifend, von der Perspektive der losen Kopplung sprechen werde. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 3 Ich möchte im Folgenden das große Anregungspotenzial und die enorme Reichweite dieser Perspektive verständlich machen. Jene Aspekte, welche die Steuerung von und Entscheidungsfindung in lose gekoppelten Systeme betreffen, werden durch das Konzept der ›organisieren Anarchie‹ und das damit eng verwandte ›Papierkorbmodell‹ der Entscheidung angesprochen, denen ich deshalb besondere Aufmerksamkeit schenken werde. ›Lose Kopplung‹ und ›organisierte Anarchie‹ werden hier gemeinsam behandelt, obwohl sie trotz weitgehender Übereinstimmung im Grundsätzlichen jeweils einen anderen Fokus besitzen. Beide Positionen interessieren sich für den organisatorischen Umgang mit Ambiguität und Unsicherheit. ›Lose Kopplung‹ beschäftigt sich mit Fragen der Struktur bzw. der Strukturierung von Organisationen; ›organisierte Anarchie‹ bezieht sich eher auf Prozesse der Entscheidungsfindung. Die beiden Konzepte sind zudem auf unterschiedlichen theoretischen Abstraktionsebenen angesiedelt, insofern ›organisierte Anarchie‹ eine spezifische Konstellation für Entscheidungen und deren Beeinflussung beschreibt, die sich unter Bedingungen loser Kopplung ergibt. Andererseits weisen beide Konzepte vom analytischen Zugriff her interessante Parallelen auf: beide sind paradox formuliert, genauer sie stellen Oxymora dar. Das erschwert zwar, wie sich zeigen wird, ihre Rezeption und Operationalisierung, macht sie zugleich aber auch besonders anregend und provokativ. Der (organisations-) theoriehistorische Kontext James March und Karl Weick fungierten gemeinsam als Geburtshelfer des Konzepts der losen Kopplung. 1 Weick (1988) erzählt dazu folgende Geschichte: March und ihn habe ein gemeinsames Unbehagen gegenüber der Systemtheorie der 1960er-Jahre umgetrieben. Letztere neigte ihrer beider Meinung nach dazu, »to treat interdependence as a constant rather than a variable (…) that organization theory was beginning to portray the elements in organizations as tied together more determinately than in fact they were. This distortion was crucial because it reified organizations and portrayed them as more unified, stable, and responsive than in fact they were«. 2 Klassische wie neo-klassische 1 2 Trotz grundsätzlicher Übereinstimmung in der Sache verfolgen March und Weick durchaus unterschiedliche theoretische Perspektiven: Weick nimmt Einflüsse der evolutionären Systemtheorie (u.a. von Bateson, Campbell und Maruyama), der Sozialpsychologie (Heider, Festinger) und der Ethnomethodologie (Garfinkel) auf und entwickelt sie zu einer originellen Version der kognitiven Organisationstheorie fort (vgl. Weick 1985, 1993). March steht als früherer Mitautor von Herbert Simon in der Tradition der Carnegie-Schule der verhaltenswissenschaftlichen Entscheidungsforschung (vgl. Berger/Berhard-Mehlich 2006). Mit ihrem Unbehagen standen March und Weick keineswegs alleine. Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre lässt sich eine Reihe paralleler Entwicklungen in der Organisations- 4 Stephan Wolff Ansätze der Organisationstheorie hatten die Bi-Polarität von Autonomie und Interdependenz, die ja eigentlich im Zentrum jeder Organisationstheorie steht, als Gegensatz interpretiert, indem sie beispielsweise mechanistische und organische Modelle des Managements einander gegenüberstellten (wie Burns/Stalker 1961; McGregor 1960). 3 Zwar wurde so die seit Webers Idealtyp der Bürokratie gewohnte Gleichsetzung von strukturell loser Kopplung und Ineffektivität langsam überwunden. Dass Organisationen zugleich lose und eng verkoppelt sein könnten, lag aber noch außerhalb der organisationstheoretischen Denkmöglichkeiten. March und Weick interessierten sich hingegen gerade für jene offenbar gar nicht so seltenen und durchaus erfolgreichen Fälle von hoher Differenzierung und geringer Integration, die ihnen bei ihren empirischen Untersuchungen von Erziehungsorganisationen aufgefallen waren. Weick berichtet, dass March 1974 das National Institute of Education (NIE) davon überzeugt hatte, dass nunmehr die »discrepancy between espoused theory and actual practice (…) serious enough« sei, um eine kleine Tagung einzuberufen, die alternative Formulierungen erörtern sollte. »Thus, a diverse set of people gathered in La Jolla, California, on February 2, 1975, to explore the phrase ›loosely coupled system‹ as a possible description of organizations they knew«. 4 Weick fungierte als Leiter dieses Workshops und übernahm später die Aufgabe, einen Bericht an das NIE zu verfassen, der Perspektiven für ein entsprechendes Förderprogramm aufzeigen sollte. Aus diesem Bericht entstand der bekannte Aufsatz, der im Administrative Science Quarterly 1976 veröffentlicht wurde. Die verschiedenen Arbeiten, die sich der Perspektive der losen Kopplung zuordnen (lassen), eint, dass sie sich mit den Herausforderungen und Varianten des Organisierens unter Bedingungen von Ambiguität und Unsicherheit 3 4 theorie beobachten, die auf diesen Mangel reagieren. Man denke an die Versuche von Katz/Kahn (1966), organisatorische Systeme für Inputs aus ihrer Umwelt zu öffnen; an die Forschungen von Kontingenztheoretiker Lawrence/Lorsch (1967) oder der Aston-Gruppe (Pugh 1968), die günstige Passungsverhältnisse von Organisations- bzw. Führungsstrukturen und organisatorischen Umwelten auf empirisch-statistischem Weg zu ermitteln versuchten und damit die klassische Idee eines besten Wegs zum Management in Frage stellten; an die Herausforderung der strukturfunktionalistischen Ordnungsvorstellungen durch die symbolisch-interaktionistische und die ethnomethodologische Handlungstheorie (Silverman 1970; Garfinkel 1967) oder auch an den Nachweis der besonderen Bedeutung und Nützlichkeit schwacher Verbindungen in sozialen Netzwerken (Milgram 1967; Granovetter 1973). Ähnlich argumentierten die in den 1950er- und 60er-Jahren verbreiteten Zweck-FaktorenTheorien der Führung und der Arbeitsmotivation wie jene von Blake/Mouton oder Herzberg. Zu den Teilnehmern gehörten neben March und Weick heute noch bekannte Forscher wie Craig Lundberg, John Meyer, Karlene Roberts und Gerald Salancik sowie einige Experten für Fragen der Schulverwaltung. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 5 beschäftigen. Unsicherheit stellt sich ein, wenn nicht genügend Informationen vorliegen, um sich kein klares Bild der Situation zu machen. Ambiguität beschreibt demgegenüber eine Konstellation, in der Orientierungsprobleme entstehen, weil zu viele Interpretationen der Situation vorliegen. 5 Die durch Ambiguität ausgelösten Konfusionen können nicht – wie Unsicherheiten – durch ein Mehr an Informationen, sondern müssen durch neue Interpretationen ausgeräumt werden. 6 Was bedeutet ›lose‹ Kopplung? Das Konzept der losen Kopplung beschreibt eine bestimmte Form der Beziehung zwischen den Elementen sozialer Systeme, wie man sie in vielen sozialen Dienstleistungsorganisationen findet. Der Begriff ›Element‹ wird dabei weit gefasst und bezeichnet »anythings that may be tied together« (Weick 1976: 5). 7 Wenn Systemelemente lose gekoppelt sind, dann besteht zwischen ihnen zwar wechselseitige Abhängigkeit. Diese ist aber insoweit reduziert, als immer eine gewisse Eigenständigkeit und Identität der einzelnen Elemente gewahrt bleibt. Die Interaktion zwischen den verschiedenen Elementen gilt als lose, wenn die Auswirkungen wenig intensiv sind (statt bedeutsam), plötzlich (statt kontinuierlich) und unregelmäßig (statt konstant) eintreten, auf Umwegen und über Zwischenschritte (statt direkt) erfolgen und zeitverzögert (statt unmittelbar) einsetzen. (Weick 1976: 3, 1982: 380). Reduzierte Abhängigkeit bedeutet 5 6 7 »Ambiguity refers to a lack of clarity or consistency in reality, causality, or intentionality. Ambiguous situations are situations that cannot be coded precisely into mutually exclusive categories. Ambiguous purposes are intentions that cannot be specified clearly. Ambiguous identities are identities whose rules or occasions for application are imprecise or contradictory. Ambiguous outcomes are outcomes whose characteristics or implications are fuzzy« (March 1994: 174). »The problem with ambiguity is that people are unsure what questions to ask and whether there even exists a problem they have to solve. These are the issues that need to be hammered out through subjective options, because no one has the foggiest idea what objective data, if any, are relevant« (Weick 1995: 99). Orton und Weick (1990) beschreiben acht Typen von Elementen, die mit- und untereinander in Kopplungsbeziehungen gebracht werden können: Individuen (z.B. in Teams), Abteilungen (z.B. Parallelklassen in Schulen), Organisationen (z.B. Filialen in multinationalen Unternehmen), Organisation-Umwelt-Beziehungen (z.B. hinsichtlich der Unterschiede zwischen interner und nach außen gerichteter Kommunikation), Hierarchieebenen (z.B. im Verhältnis von Verwaltungs- und professionellen Bereichen), Aktivitäten (z.B. die Relationierung zwischen Informationen sammeln, Entscheiden und Evaluieren), Ideen (z.B. hinsichtlich der Einheitlichkeit der Interpretation der Organisationsgeschichte und ihrer Mission) und schließlich die Beziehung zwischen Absichten und Handlungen (z.B. bezüglich der Differenz zwischen formalen und informellen Erwartungen). 6 Stephan Wolff zudem, dass vergleichsweise wenige formale Mechanismen der Kontrolle und Koordination (wie Befehlsketten, wechselseitige Aushandlungsprozesse oder formale Meetings) etabliert sind bzw. dass deren Einsatz der Mobilisierung besonderer Anstrengungen und/oder Bereitschaften bedarf. Lose gekoppelte Systeme beschränken sich auf solche Koordinationsmechanismen, die weniger soziale, sachliche und zeitliche Anforderungen stellen und entsprechend weniger Kosten verursachen, wie z.B. Aufgabenteilung, Kompetenzabgrenzung oder professionellen Takt. Lose gekoppelte Systeme repräsentieren eine besondere Kombination der Variablen Verschiedenheit (distinctiveness) und Ansprechbarkeit (responsiveness): Ohne Verschiedenheit und ohne Ansprechbarkeit kommt kein organisiertes System zustande, weshalb man in einem solchen Fall man von einem nicht-gekoppelten System ausgehen müsste. 8 Ansprechbarkeit ohne Verschiedenheit beschreibt Zustände in eng gekoppelten Systemen (modelliert im Weber’schen Idealtyp der Bürokratie). Nur wenn beide Variablen ausgeprägt sind, kann man von loser Kopplung sprechen. »If there is distinctiveness and responsiveness, the system is loosely coupled« (Orton/ Weick 1990: 205). Lose Kopplung kann also nicht heißen, dass alle Kopplungen lose ausfallen. Bloße Lockerheit vermag die für jede Organisation nötige Kohärenz nicht zu gewährleisten. Weick veranschaulicht die Funktionsweise loser Kopplung am Beispiel von Erziehungsorganisationen: »Thus, in the case of an educational organization, it may be the case that the counsellor’s office is loosely coupled to the principal’s office. The image is that the principal and the counsellor are somehow attached, but that each retains some identity and separateness and that their attachment may be circumscribed, infrequent, weak in its mutual affects, unimportant, and/or slow to respond. Each of those connotations would be conveyed if the qualifier loosely were attached to the word coupled. Loose coupling also carries connotations of impermanence, dissolvability, and tacitness all of which are potentially crucial properties of the ›glue‹ that holds organizations together« (Weick 1976: 3; kursiv durch S.W.). Ursprünglich stammt der Begriff »lose Kopplung« aus der biologischen Systemtheorie (Glassman 1973). Die Intensität der Kopplung wurde dabei als 8 Das Verlagssystem und die Manufakturen in der Phase der beginnenden Industrialisierung stellen Annäherungen an solche nicht-gekoppelten Systeme dar. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 7 eine Dimension aufgefasst, auf der sich unterschiedliche Systeme anordnen lassen. Die grundlegende These lautet hier, dass in evolutionärer Perspektive lose gekoppelte Systeme zur Dauerhaftigkeit tendieren. Diese These lässt mit Hilfe des Simon’schen Theorems der Fast-Dekomponierbarkeit komplexer Systeme weiter präzisieren. Danach sind komplexe Systeme wie eine Hierarchie von Ebenen konstruiert (in der Form von boxes-within-boxes; vgl. Simon 1962: 128). In jedem System gibt es verschiedene Komponenten, die dadurch zur Gesamtfunktion des Systems dadurch beitragen, dass sie bestimmte Subfunktionen erfüllen (wie z.B. die Organe für den Körper). Die Interaktion der Systemkomponenten ist schwach, aber nicht nichtig. Angesichts dessen kann man die Gesamtfunktion des Systems beschreiben, ohne auf die Subfunktionen im Detail eingehen zu müssen. Wenn man nun eine solch komplexe Struktur aktiv gestalten will, sollte man entsprechend versuchen, sie in fast-unabhängige Komponenten zu zerlegen. Wichtig dabei ist das ›Fast‹! Die Evolutionsfähigkeit eines komplexen Systems hängt nämlich unmittelbar davon ab, inwieweit es die Bedingung der Fast-Dekomponierbarkeit erfüllt. Vollständige Dekomponierbarkeit würde die Sicherstellung der Gesamtfunktion dem Zufall überlassen. Wollte man andererseits ganz auf Nummer sicher gehen und alles miteinander eng verknüpfen, würde sich die die Störbarkeit eines Systems immens erhöhen, weil Wirkungen zwischen den Ebenen direkt weitergeben würden. Offensichtlich haben deshalb auch hierarchisch geordnete Systeme9 einen evolutionären Vorteil gegenüber ähnlich großen nicht-hierarchischen Systemen (Bolz 2005). Die folgende Darstellung von Frederick Vester gibt die besondere Leistungsfähigkeit und die ›evolutionäre Logik‹ lose gekoppelter Systeme anschaulich wieder. 9 Das Ausschlaggebende an der Hierarchie ist hierbei nicht die Ausübbarkeit von Macht (die mag hinzukommen), sondern die Unterscheidung verschiedener Ebenen (vgl. Baecker 1994: 27ff.). 8 Stephan Wolff Ein unvernetztes System ist nicht stabil Mit steigender Vernetzung steigt die Stabilität zunächst an, bis sie ab einem bestimmten Vernetzungsgrad wieder absinkt. Es sei denn, es bilden sich Unterstrukturen, dann bleibt das System auch bei hoher Vernetzung lebensfähig Abbildung 1: Lose und enge Verknüpfungen nach Vester Quelle: Vester, F.: Die Kunst vernetzt zu denken, Stuttgart 1999, S. 68f. Die klassischen Empfehlungen und Strategien zur Verbesserung der Effektivität und Effizienz von Organisationen liefen demgegenüber in aller Regel auf eine engere Verkopplung der organisatorischen Elemente hinaus. Die diesbezüglichen Instrumente reichen von Organigrammen über Arbeitsplatzbeschreibungen, Auflaufpläne, Mitarbeitergespräche, Qualitätshandbücher bis zu Zielvereinbarungen. Alle diese Verfahren sind darauf ausgerichtet, das organisatorische System in enger Kopplung an den vorgegeben Zwecken bzw. Bedingungen auszurichten und so Ungewissheiten möglichst gering zu halten, diffuse Situationen in überschaubare Entscheidungsalternativen zu überführen und Mechanismen einzubauen, die eine zeitnahe Korrektur von aufgetretenen Zielabweichungen erlauben. Weick, March und andere Vertreter der Perspektive der losen Kopplung haben demgegenüber auf die Kehrseite enger Anbindung und auf die Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 9 besondere Leistungsfähigkeit lose gekoppelter bzw. langsam und in relativer Autonomie agierender Systeme hingewiesen. Organisationen verdanken ihr Weiterbestehen gerade auch dem Umstand, dass sie eben nicht schnell und konsequent regieren, nicht bereitwillig die ›notwendigen‹ Konsequenzen ziehen, nicht sofort den aktuellen Moden und Meinungen hinterherlaufen, oder nicht so spezialisiert und in arbeitsteilige Programme eingebunden sind, dass sie nicht doch bei Ausfällen füreinander einspringen könnten. Bei den im Folgenden referierten typischen Konsequenzen dieser Organisierungsform muss man daher immer zweierlei bedenken: zum einen, dass den geschilderten Stärken immer komplementäre Schwächen gegenüber stehen; zum anderen, dass lose gekoppelte Strukturen auch selbst nur lose mit tatsächlichen organisatorischen Zuständen, Aktivitäten und ›Outcomes‹ gekoppelt sind. Insofern sich die Elemente lose gekoppelter Systeme durch eine gewisse Unterschiedlichkeit und wechselseitige Autonomie auszeichnen, erweist es sich als schwierig, ein derartiges System als Ganzes zu verändern: es ist beharrlich. Das Schulsystem, das vielen Veränderungswellen vonseiten der Schuladministration getrotzt hat, kann als typisches Beispiel für diesen strukturellen Konservatismus dienen, obwohl March (1985: 4) schon ein wenig übertreibt, wenn er feststellt, dass »changing education by changing educational administration is like changing the course of the Mississippi by spitting into the Allegheny«. Sicherlich ist Wandel auch in bzw. von lose gekoppelten Systemen möglich. Allerdings sind Wandlungsprozesse hier eher längerfristig, graduell und auf einzelne Bereiche begrenzt, während Wandel von eng gekoppelten Systemen eher kurzfristig, schubweise und großflächiger erfolgt (vgl. Spender/ Grinyer 1995: 909). Umgekehrt kann man angesichts unterschiedlicher Beharrlichkeit bei vergleichbaren Organisationen – etwa dem Allgemeinen Sozialdienst gegenüber dem Gesundheitsamt, den geisteswissenschaftlichen gegenüber naturwissenschaftlichen Fakultäten oder dem Außen- gegenüber dem Innendienst von Versicherungen – auf eine weniger oder mehr ausgeprägte Intensität der Kopplung schließen. Lose gekoppelte Elemente sind vergleichsweise selbstgenügsam und weniger als andere von anderen abhängig. Die Zahl der Schnittstellen wie der damit verbundenen Abstimmungsprobleme bleibt relativ überschaubar. Dies wiederum erlaubt es, im Zweifel nach eigenem Ermessen vorzugehen sowie einen der eigenen Identität angemessenen Weg zu verfolgen, was wiederum das Gefühl der Selbstwirksamkeit steigert. Das für lose Kopplung charakteristische Baukastenprinzip verlangsamt zwar den Informationsfluss, verringert aber auch die bei zu enger und vielfältiger Anbindung drohende Gefahr eines information 10 Stephan Wolff overload. Diese Pufferfunktion blockt die unkontrollierte Weiterverbreitung sowie das Aufschaukeln von Fehlern und Störungen von einem auf andere Elemente ab. Engere Kopplung erhöht möglicherweise die Schlagkraft und Zielorientierung einer Organisation, steigert aber auch die Durchschlagskraft und -häufigkeit externer und interner Turbulenzen. Relativ lose angekoppelte Einheiten können Umwelt-Turbulenzen eher auffangen und sie in abgemilderter Form weiterleiten. Fällt z.B. ein Zuschuss für eine soziale Einrichtung dem Rotstift zum Opfer, gefährdet und beschäftigt dies im Falle loser Kopplung nicht gleich die anderen Einrichtungen des betreffenden Trägers, sondern zwingt zunächst einmal nur die betroffene Einheit, nach ›lokalen‹ Lösungen zu suchen. Die Einheiten eines Systems funktionieren also auch als mehr oder weniger eigenständige Wahrnehmungs- und Interpretationssysteme (vgl. Daft/Weick 1984). Je loser die Kopplung, d.h. je vielfältiger und unabhängiger ihre Sensoren arbeiten können, desto facettenreicher fällt das von ihnen erzeugte Bild der organisatorischen Umwelt aus. Solche Systeme beherbergen sozusagen multiple Realitäten. Das heißt umgekehrt, dass ambige und komplexe Welten durch lose gekoppelte Systeme angemessener erfasst werden können. Ein lose gekoppeltes System ist – zumindest im Prinzip – ein sensibles Medium, um Abläufe und Sachverhalte außerhalb seiner selbst zu registrieren. So stellt ein Allgemeiner Sozialdienst angesichts seiner vielen ortsnah arbeitenden Mitarbeiterinnen oder ein Call-Center einer Bank angesichts der vielen dort auflaufenden Kundenanfragen ein ausgezeichnetes und differenziertes Medium dar. Da in beiden Fällen aber in der Regel Instanzen, Instrumente und Bereitschaften fehlen, diese Informationen aufzubereiten, in handlungsrelevantes Wissen zu überführen und dann anderen Elementen des Systems zugänglich zu machen, bleiben die betreffenden Organisation als ganze auf diesem Auge blind. Dies gilt ebenso für Allgemeine Sozialdienste, wo man immer umfangreichere Datenbestände anlegt, immer vollständiger seine Akten führt, immer mehr Checklisten anlegt und immer leistungsfähigere EDV-Systeme einführt – damit oft aber eher weniger als mehr Durchblick gewinnt. Lose gekoppelte Systeme sind auf der anderen Seite selbst ziemlich flüchtige und schwer greifbare Objekte. Genau die Eigenschaft, die sie zu guten Sensoren werden lässt, erschwert es externen wie internen Beobachtern, sie und ihre Funktionsweise als Ganzes zu erfassen, was sich praktisch u.a. in Schwierigkeiten bei der Durchführung von Organisationsdiagnosen, Evaluationen und Qualitätssicherungsmaßnahmen niederschlägt. Lose gekoppelte Systeme vermögen sich in besonderem Maß an lokale Bedingungen und Besonderheiten ihrer Umgebung anzupassen. Daher sind sie Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 11 bzw. ihre Elemente in der Lage, neue Nischen zu entdecken und eigenständig nach lokal angepassten Lösungen zu suchen. Sie können sich auf ihre eigenen Möglichkeiten und Relevanzgesichtspunkte konzentrieren, ohne immer zugleich die Erfüllung vorgegebener Kriterien und organisationsweit festgelegter Standards mit im Blick behalten zu müssen. Man kann Organisationen intern in ganz unterschiedliche Abteilungen ausdifferenzieren, um sehr sensibel auf bestimmte Umwelten (Märkte, Klienten) zuzugehen. Sie vertragen sogar Widersprüche in der Ausrichtung und der Vorgehensweise (z.B. Unterschiede im Umgang mit Kunden vonseiten der Marketing- und der Inkasso-Abteilung einer Firma!). Weil sie in erster Linie sich selbst Rechenschaft schuldig sind, stehen sie nicht unter dauerndem Rechtfertigungszwang bezüglich dessen, was sie (noch) nicht erreicht haben. Einerseits erhöht dies die Überlebenschancen einmal entwickelter Innovationen; andererseits erschwert eben dieser Umstand das Bekanntwerden und die Durchsetzung von Innovationen in der Organisation als Ganzer. In evolutionstheoretischer Hinsicht handeln lose gekoppelte Systeme die Fähigkeit zu kurzfristiger Anpassung zulasten langfristiger Anpassungsfähigkeit ein. Im besten Fall gelingt es, abweichende Meinungen und Vorgehensweisen gelten zu lassen, ohne dass das Gefühl aufkommt, man würde das Ganze aus den Augen verlieren. Bei entsprechender Organisationskultur erhält sich ein solches Gefühl einer unified diversity dann selbst in kritischen Situationen. Die andere Seite der Medaille lässt sich gelegentlich in Hochschulen beobachten, wo zumal in großen Abteilungen von einzelnen Hochschullehrern exotische Hobbys gepflegt und geduldet werden, deren Zusammenhang mit zünftiger Forschung und der in den Studienordnungen versprochenen Lehre bei näherem Hinsehen als problematisch angesehen werden müsste. Orton und Weick (1990: 215) berichten über eine Reihe von Untersuchungen, die einen positiven Zusammenhang von loser Kopplung und (Arbeits-)Zufriedenheit gefunden hätten. Entscheidend dafür sei das Gefühl, seine Absichten im eigenen Arbeitsfeld umsetzen zu können, das Bewusstsein gemeinsamer Aufgabenerfüllung und Rücksichtnahme in überschaubaren Abteilungen und Teams sowie die Sicherheit, sich auf Experimente und Improvisation(en) einlassen zu dürfen, ohne gleich für etwaige Fehler und Regelabweichungen bestraft zu werden. Hinzu kommt die Überschaubarkeit möglicher Konfliktherde durch Reduzierung von Schnittstellen und Abstimmungsnotwendigkeiten. Allerdings kann lose Kopplung durchaus gegenteilige Effekte haben, wenn Autonomie als Belastung empfunden wird und das Gefühl des Alleingelassenseins aufkommt. Auch kann jeder Insider aus Schulen, Beratungsstellen oder Ministerien ein Lied 12 Stephan Wolff davon singen, dass lose Kopplung die Konfliktintensität keineswegs automatisch reduziert. Damit sind schon die besonderen Bedingungen angedeutet, unter denen lose gekoppelte Systeme ihre Stärken besonders gut entfalten: Effektiv sind sie insbesondere in Konstellationen, in denen es gilt, inkompatible Erwartungen an eine Organisation zu versöhnen oder zumindest zu verhindern, dass der eigentliche Betrieb durch diese Widersprüche zu stark eingeschränkt wird; ähnliches gilt für die Zähmung interner Konflikte zwischen verschiedenen Abteilungen und Beschäftigtengruppen, die auf ihre Autonomie und Anerkennung pochen. Lose Kopplung ist zum anderen gerade dann hilfreich, wenn man mit komplexen, unvorhersehbaren und schwer beherrschbaren Umwelten zu tun hat. Angesichts dessen, dass engere Kopplung die Transaktionskosten erhöht (weil alle diesbezüglichen Verfahren für Kommunikation, Koordination und Aufsicht einen zusätzlichen Aufwand mit sich bringen), bedeutet die Ermöglichung loser Kopplung eine nicht unerhebliche Reduktion der sozialen, zeitlichen und sachlichen Kosten. Das macht derartige Einrichtungen vergleichsweise billig. Billig zu sein, kann in Organisationen, die Posten nach Unterstellungsverhältnissen, insbesondere nach der Leitungstiefe, bewerten, freilich ein praktischer Nachteil sein. Da die Anerkennung eines Amtes immer auch eine Funktion der Höhe der Eingruppierung der Leitungsstellen ist, tendiert die Position lose gekoppelter Einheiten dazu, strukturell schwächer zu sein als die enger gekoppelter Einheiten (z.B. der Jugendhilfe gegenüber der Schule). Deutlich wird, dass sich nicht die Alternative stellt zwischen enger auf der einen und loser Kopplung auf der anderen Seite. Organisationen benötigen offenbar enge und lose Kopplung zugleich. Wir haben eine Paradoxie vor uns, die sich im Fall einer ausschließlichen Verfolgung einer der beiden Richtungen als Verschleierung der jeweils anderen erweist. Enge und lose Kopplung sind (notwendige) Teile einer Kopplungsform, die zwei Teile beinhaltet, und die sich konkret darin ausdrückt, wie es ihr jeweils gelingt, ein brauchbares Verhältnis dieser beiden Kontrahenten zueinander zu finden. Eine plausible Form des Verhältnisses von enger und loser Kopplung scheint in einer engen Kopplung innerhalb der Untereinheiten bei gleichzeitiger loser Kopplung dieser eigenständigen (autonomen, dezentralisierten) Subeinheiten in Gestalt eines Gesamtsystems zu liegen. Vielleicht gelingt es Organisationen auf solche Weise, eine »familiäre« Gelassenheit, Großzügigkeit und Vergesslichkeit im kleineren Subsystem mit der Unduldsamkeit, Genauigkeit und Rechenschaftslegung des übergeordneten Systems zu verknüpfen. So werden dann neue Programme zur Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 13 engeren Kopplung in den Untersystemen lose gekoppelt abgearbeitet. So kombiniert sich der verringerte potenzielle Nutzen mit dem verringerten potenziellen Schaden. Organisationen benötigen, um mit Baecker (1994: 77) zu sprechen ein ausgewogenes Mischungsverhältnis zwischen Rationalität, Stringenz und Planbarkeit einerseits und Spontaneität, Intuition und Flexibilität andererseits – etwas wie eine allgemeine Besonnenheit, die dem unruhigen Geschäft ein gewisses Maß an Ruhe ermöglicht. Woran erkennt man lose Kopplung? Der Grad an Lockerheit der Kopplung lässt sich organisationsdiagnostisch mit Blick auf verschiedene Indikatoren erschließen. Folgende offene Liste von Auffälligkeiten bietet gute Einsteige in eine genauere Analyse (Weick 1976: 6): • verzögerte Reaktionszeiten (wenn angeforderte Haushaltsmittel nur langsam abfließen) • akzeptierte Mittelvielfalt (wenn jeder Dozent seine eigene Didaktik verfolgt) • langsamer Informationsfluss (wenn viele kleine, enge und exklusive Beziehungsnetze vorhanden sind, aber ohne Personen, die diese ›strukturellen Löcher‹ überbrücken) • schwache Koordination (wenn es nicht gelingt, gemeinsame Termine zu finden) • Fehlen eindeutiger Regelungen (wenn Arbeitsplatzbeschreibungen notorisch veraltet sind) • Unempfindlichkeit gegenüber Irritationen von außen (wenn über Zuständigkeitsfragen souverän intern entschieden werden kann) • Nichtvorkommen eindeutiger Ursache-Wirkungs-Ketten (wenn Handlungen auf der Arbeits- in keinem direkten Zusammenhang mit Handlungen der Leitungsebene stehen) • Nichteinsehbarkeit relevanter Handlungsfelder (wenn Inspektionen der Leitung oder außenstehender Beobachter von der Arbeitsebene verhindert werden können) • Seltene Überprüfungen (wenn Evaluationen und Leistungskontrollen nicht durchgeführt bzw. aus diesen keine Konsequenzen gezogen werden) 14 Stephan Wolff • Dezentralisierung von Zuständigkeiten bzw. Delegation von Entscheidungskompetenzen (wenn selbst bei weitreichenden Entscheidungen letztendliche Verantwortlichkeiten kaum festzumachen sind) • Irreführende Organisationspläne (wenn ungeachtet offizieller Strukturvorgaben ein hoher Grad an Informalität herrscht und erwartet wird) • Nichtvorhandensein von vorgesehenen Verknüpfungen (wenn man Berichtspflichten unbehelligt verletzen lassen kann) • Widerstand gegenüber Veränderungsimplusen (wenn entsprechende Initiativen immer wieder schon im Ansatz versanden) • Geringe sequenzielle Strukturierung von Angeboten (wenn Kunden organisatorische Dienstleistungen ganz nach ihren zeitlichen und inhaltlichen Wünschen wählen und kombinieren können). Mit der bloßen Feststellung von losen Verknüpfungen ist die Analyse aber keineswegs beendet. Das Konzept der losen Kopplung impliziert nämlich eine Art Zwei-Ebenenanalyse, die das System zugleich als handelnde Einheit und als Summe seiner Teile in den Blick nimmt. Weicks diesbezügliche Faustregel lautet: Wenn ein System als Ganzes reagiert und seine Teile unterschiedlich bleiben, dann kann man von loser Kopplung sprechen, 10 wenn letzteres nicht der Fall ist, dann ist ein Zustand enger Kopplung gegeben. Da, wie gesagt, ein System weder ausschließlich aus losen noch ausschließlich aus festen Kopplungen, sondern immer aus beiden besteht, wäre es verfehlt, lose mit dezentraler und enge mit zentraler Steuerung gleichzusetzen. Die entscheidende Frage bei diesem wie bei allen dialektischen Modellen lautet: Warum und wie hält es zusammen? Die klassische Systemtheorie verwies auf geteilte Ziele, Normen und Werte, verbunden mit den entsprechenden Sanktionen. Aber gerade diese traditionellen Kopplungsmechanismen sind bei den hier zur Debatte stehenden Organisationen typischerweise eher schwach ausgeprägt: Weder erstellen sie – trotz aller aktueller Bemühungen in dieser Richtung – genau umschriebene Produkte, 11 auf die hin arbeitsteilige Produktions- 10 Oder wenn die Teile reagieren, das System als Ganzes aber unbeeindruckt bleibt. 11 Dies belegen u.a. die praktischen Schwierigkeiten, die sich bei der Formulierung der im Rahmen der sog. Neuen Steuerungsmodelle geforderten ›Produktbeschreibungen‹ einstellen. Wenn man besonders genau sein will, fallen die Beschreibungen zu kleinteilig aus, um der Komplexität und Flexibilität sozialer Arbeit gerecht zu werden, und erzeugen darüber hinaus einen erheblichen Verwaltungsaufwand. Die Organisation koppelt ihr praktisches Tun eng an ihre eigenen Fiktionen und blockiert sich damit u.U. selbst. Ähnliches ließe sich vermutlich anhand der Fall- Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 15 prozesse organisiert werden könnten, noch verfügen sie über eine einheitliche, leicht replizierbare und arbeitsteilige Handlungstechnologie. Zudem ist Durchgriffsmacht der Leitung, also der Amtsautorität, begrenzt. Angesichts der oft unterschiedlichen Mitgliedergruppen ist zudem kaum mit besonders starken Organisationskulturen zu rechnen. 12 Da übergreifende vereinheitliche Mechanismen fehlen, müssen die Verbindungen zwischen lose verkoppelten Einheiten (die selbst in sich natürlich enger gekoppelt sind) erst geschaffen werden. Hierfür können verschiedene Ebenen zu einem quasi-hierarchischen System verbunden werden. Die Integration der Ebenen erfolgt nicht, wie in üblichen Hierarchien, über Einzelpersonen und Autoritätsbeziehungen, sondern über die Verkopplung von Subsystemen und verschiedenen Systemebenen. Beispiele für lose Kopplungen wären • Wahlen, die Amtsinhaber und Wählerschaft im Wahlvorgang eng koppeln, während der Legislaturperiode aber gewisse Spielräume für die Amtsinhaber frei lassen, die zwischenzeitlich dann nicht mehr auf jede Veränderung in den Bedürfnis- oder Stimmungslagen ihrer Wählerschaft reagieren müssen; • Zielvereinbarungen, bei denen sich beide Parteien auf bestimmte, möglichst eindeutig definierte Zielwerte einigen, deren Erreichung sie aber den Beteiligten überlassen; • Termine, durch die der Zeitpunkt der Erledigung einer Sache, nicht aber der Weg dahin fixiert wird; • Kategorien, Diagnosen und Zeugnisse, auf die sich alle Beteiligten beziehen können, ohne hinsichtlich ihrer Bedeutung exakt übereinstimmen zu müssen. • Ähnlich wirken runde Tische, Kollegialität, Selbstbindung (z.B. der Verwaltung hinsichtlich der Ausübung des Ermessens), commitment, persönliche Freundschaften, Vertrauen, Kontrakte (wie in der systemischen Therapie); ja sogar der Zufall kann – etwa in Gestalt eines ungeplanten Zusammentreffens – einem losen Beziehungszusammenhang plötzlich eine andere Qualität geben. pauschalen in der Medizin, der Leistungskataloge für ambulante Pflege oder der Modul- und Qualitätshandbücher für die Lehre an Hochschulen zeigen. 12 Die ›Stärke‹ einer Organisationskultur bestimmt sich nach Kriterien wie Prägnanz, Homogenität, Verankerungstiefe und zeitlicher Stabilität der betreffenden Erwartungs- und Orientierungsmuster (vgl. Schein 1995). 16 Stephan Wolff Das Zugleich von lockerer und straffer Kopplung eröffnet durch enge Anbindung an einer Stelle Freiräume an anderen Stellen. Solche Kopplungen sind sicherlich auch riskant. Daher gewinnt die Fähigkeit von Organisationen, den Grad der Kopplungen situationsangepasst variieren zu können, besondere Bedeutung. Wer ›die Gänge zu wechseln‹ vermag (Louis/Sutton 1991), verschafft sich eine Autonomie höherer Ordnung, selbst in solchen Situationen, in denen tatsächlich wenig operative Autonomie verbleibt (vgl. Grote 2004). 13 Da die ›Dialektik‹ der losen Kopplung, das gleichzeitige Vorhandensein von sicheren, eindeutigen, rational planbaren und unsicheren, mehrdeutigen, nicht rational planbaren Aspekten oft übersehen bzw. eindimensional vereinfacht wird, indem die enge der lockeren Verkopplung abstrakt gegenübergestellt wird, ist zu fragen, wie man solche Simplifizierungen vermeiden kann. Orton und Weick schlagen diesbezüglich vor, bipolare Variablen (eng-lose) in Zwei-VariablenMatrizen zu übersetzen, auf Abweichung regulierende Feedback-Schleifen zu achten und insbesondere bei der Untersuchung einer Organisation angesichts von engen Verbindungen immer gleich zu fragen »und wo liegen die losen Verkopplungen?« bzw. umgekehrt. Hilfreich sei zudem die Vermeidung von Forschungsmethoden, die auf flache, statische Beschreibungen hinauslaufen und so detaillierte und vor allem dynamische Beschreibungen erschweren. Ethnographien, Fallstudien und systematische Beobachtung böten sich diesbezüglich eher an als Fragebögen und gelegentliche Beobachtungen. Dies läuft auf die aus anderen Zusammenhängen schon bekannte Weick’sche Empfehlung hinaus (vgl. Weick 1985: 67), man solle, wenn man Organisationen verstehen wolle, Substantive einstampfen und sie in Verben überführen. Im Fokus steht für ihn nicht die Organisation, sondern der Prozess des Organisierens, in dessen Vollzug die betreffende ›Organisation‹ produziert und reproduziert wird (vgl. Boden 1994). In gleicher Weise, wie durch diesen Blickwechsel Organisationen nicht mehr als statische Objekte, sondern als Ergebnis von und als Arena für andauernde Prozesse ihrer eigenen Herstellung sichtbar werden, wird Kopplung selbst zu einem Ergebnis des Organisierens – und als solches steht sie und ihre jeweilige Ausrichtung nicht ein für alle Mal fest. Eine Organisation kann durchaus hinsichtlich ihres Kopplungsarrangements changieren. Kopplung von Strukturelementen ist ein dynamischer Prozess. Elemente, die früher lose gekoppelt 13 Dies setzt selbstverständlich Bereitschaften und Kompetenzen bei den Mitarbeitern voraus, solche Impulse tatsächlich aufzunehmen und kreativ umzusetzen. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 17 waren, können heute enger gekoppelt sein; umgekehrt kann es von den Beteiligten unbemerkt zu einem schleichenden structural drift kommen, sodass früher eng abgestimmte Abläufe plötzlich nicht mehr zusammenpassen – und dies gelegentlich mit fatalen Folgen, wie Snooks (2000) Analyse eines sog. friedly fire-Zwischenfalls demonstriert. Die Enge der Kopplung ist kein von außen einfach zu konstatierender Zustand, gleichsam eine empirische Feststellung über das ›Wesen‹ einer Organisation, sondern eine praktische Leistung der in einem Handlungsfeld agierenden Mitglieder. Gerade in Krisen kann man beobachten, wie sich der Aggregatszustand einer Organisation plötzlich ändert. Unter bestimmten Bedingungen wird ein höheres Maß an Kopplung aktiviert, insbesondere, aber nicht nur, was die Außenwahrnehmung betrifft. Die Schilderung einer solchen Krise und ihrer Bewältigung veranschaulicht eine solche kurzfristige, Erhöhung des Kopplungsgrades (vgl. Wolff 1983: 79): An einem Wochenende muss, von einem Nachbarn alarmiert, die Polizei bei einem Fall schwerer Kindesmisshandlung einschreiten. Das Kind kommt sofort in ein Heim. Bei der Überprüfung der Eltern stellt sich heraus, dass diese Kontakt mit der zuständigen Bezirkssozialarbeiterin gehabt hatten, der Fall also dem ASD offiziell bekannt gewesen war. Dieser Sachverhalt wird in einem kritischen Bericht verschiedener Montagszeitungen erwähnt. Innerhalb weniger Stunden weiß das Amt und vermutlich auch die politische Leitung davon, sei es, weil eine offizielle Stellungnahme des Sozialdezernenten von einem Reporter nachgefragt, sei es durch Telefonketten quer durch die Verwaltung. Schon weil die Dezernentin dazu Stellung nehmen will, ist man sich in der Leitung des ASD klar, hier reagieren zu müssen. Besagte Sozialarbeiterin, ihre Gruppenleiterin und auch die Leiterin der Unterabteilung werden in die Zentrale zitiert, wo man zunächst alle Beteiligten bezüglich des Falles zu absoluter Verschwiegenheit Dritten gegenüber ermahnt. Die Leiterin lässt sich informieren und stellt fest: Dieser ›Katastrophenfall‹ hätte jedem passieren können. Eine einseitige Schuldzuweisung an die Sozialarbeiterin wird mit Rücksicht auf die Einhaltung der internen Solidarität im ASD zu keinem Zeitpunkt in Erwägung gezogen. Es gelte jetzt, die Reihen zu schließen, also insbesondere zu belegen, dass angesichts der gegebenen Umstände in ausreichendem Maße Sorgfalt geübt wurde. Gottseidank finden sich in der Akte Hinweise auf erst kurz zurückliegende Hausbesuche; die Sozialarbeiterin war also ›am Fall‹ gewesen und aus der in den Akten vermerkten Falllage war nach menschlichem Ermessen eine 18 Stephan Wolff solche Zuspitzung nicht zu erwarten. Nachdem man dies abgeklärt hat, eilt die Leiterin des ASD zur Dezernentin und bereitet mit dieser eine Erklärung an die Presse vor. Die konkret betroffene Sozialarbeiterin ist als Person aus dem Fall. Jetzt ist es allein Sache des Amtes zu handeln. Drei Wochen später, als sich die öffentliche Erregung gelegt hat, kommt ein Rundschreiben an die Gruppenleiter, das aus gegebenem Anlass zu besonderer Sorgfalt in Fällen drohender Kindesmisshandlung anhält. ›Kopplung‹ kann sich sowohl auf die tatsächliche Verknüpftheit wie auf die Wahrnehmung bzw. Unterstellung des Verknüpftseins beziehen. Empirisch ist beides kaum auseinander zu halten, weil die Unterstellung von Gekoppeltheit wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt. Das Konzept ›Kopplung‹ wird dann, ähnlich wie Bittner (1965) das für ›Organisation‹ gezeigt hat, ein interpretatives Instrument ihrer eigenen Herstellung. Es ist diese Unterstellung einer Logik, die lose gekoppelte Elemente faktisch in Beziehung zueinander setzt. 2. Organisierte Anarchien und das Papierkorb-Modell der Entscheidung Das Konzept der losen Kopplung hat sich nicht zuletzt in Absetzung von rationalistischen Entscheidungstheorien im Anschluss an deren Infragestellung durch Herbert Simon in den 1950er-Jahren entwickelt. Simons Idee der bounded rationality lief auf die These hinaus, dass die Kapazität des menschlichen Geistes zur Formulierung und Lösung komplexer Probleme immer geringer sei, als sie sein müsste, wenn man die Maßstäbe klassischer Rationalität anlegt (1957: 198). Dies waren zunächst einmal psychologische und noch keine organisationstheoretischen Feststellungen. Später erweitert Simon in Zusammenarbeit mit March (1958) diese These, indem er Organisationen als komplexe Problemlösungssysteme beschreibt und diskutiert, wie organisatorische Aktivitäten die bounded rationality individueller Entscheider beeinflussen – und umgekehrt (vgl. zur Theorieentwicklung Hodgkinson/ Starbuck 2008: 6). March (1971) geht später noch einen Schritt weiter und zieht sogar grundsätzlich in Zweifel, ob die Unterstellungen der rationalen Theorien empirisch zutreffen können, vernachlässigten sie doch, dass Zielstellungen sich mit der Zeit ändern und Präferenzen sich oft erst aus der Rückschau ergeben, nachdem die Erfahrungen mit bestimmten Aktivitäten ausgewertet worden sind. Man müsse deshalb – zumindest als Ergänzung der rationalen Theorie – eine Technologie der Verrücktheit, besser wäre wohl zu sagen: eine Theorie der vernünftigen Nicht-Rationalität entwickeln, die zu beschreiben vermag, wie es den Akteuren Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 19 selbst noch in unübersichtlichen Situationen und unter beschränkten sozialen, sachlichen und zeitlichen Bedingungen und Möglichkeiten gelingt, handlungsund entscheidungsfähig zu bleiben, Entdeckungen zu machen und Lernprozesse einzuleiten. 14 Eine nochmalige Weiterentwicklung der Simonschen These bedeutet Marchs Hinweis auf die Einschränkungen, die sich durch politische Prozesse für organisatorische Entscheidungen ergeben. Bei der Untersuchung organisatorischer Entscheidungen (er hatte dabei Personalentscheidungen an Universitäten im Auge) würde man immer wieder auf Situationen stoßen, in den heterogene Probleme, verschiedenartige Lösungsmöglichkeiten und unterschiedliche Akteure in unberechenbarer Weise aufeinander träfen. Solche schwach strukturierten Situationen, in denen man sich auf keine klare und akzeptierte Vorstellung darüber, was eigentlich der Fall und was angesichts dessen zu tun ist, beziehen und verlassen kann, kennt jeder von sich selbst. In Organisationen, zumal in lose gekoppelten Systemen, scheint die Wahrscheinlichkeit ihres Vorkommens kaum geringer, die Schwierigkeiten damit umzugehen, jedoch noch ausgeprägter zu sein. Besonders häufig treten schwach strukturierte Situationen nach den Beobachtungen von March und seinen Mitarbeitern in Einrichtungen des Erziehung- und Gesundheitswesens, in der Öffentlichen Verwaltung, in Parteien, politischen Gremien, Kabinetten und Aufsichtsräten auf. Aber selbst die organisierte Kriminalität und das Militär scheinen dagegen nicht gefeit zu sein (March/ Olsen 1976; March/ WeissingerBaylon 1986). Schon die ersten organisationswissenschaftlichen Veröffentlichungen, die sich ausdrücklich auf die Idee der losen Kopplung beriefen, wandten diese auf organisatorische Entscheidungen an (Cyert/March 1963; Cohen/March/Olson 1972). Das rationale Modell des Entscheidens war bekanntlich von einer engen und gerichteten Verkopplung von Problemen, Zielen und Mitteln ausgegangen. Wenn angesichts der bounded rationality organisatorische Entscheidungen und ihre Umsetzung sich aber nicht nach dem Muster der hierarchischen BefehlGehorsam-Kette modellieren lassen und wenn man noch dazu mit unklaren bzw. uneindeutigen Zielvorgaben, wechselnden Präferenzen und fragwürdigen 14 Ähnlich argumentiert Weick: »Wenn man den Leuten zuhört, merkt man, 90% ihrer Aktivitäten haben nichts, aber auch gar nichts mit einem rationalen Modell zu tun. Alles, was sie im Laufe eines Tages machen, wird nicht durch die herkömmlichen rationalistischen Handlungstheorien gedeckt. Vielmehr haben die Leute das Gefühl, durch den Tag zu stolpern und immer wieder in ein neues Schlammassel zu geraten. Der Begriff des Hineingeworfenseins umschreibt genau das, worum es grundsätzlich im Leben geht (…). Genau diese ständige unsichere Suchen und Tasten nach Sinn macht doch die menschliche Existenz aus« (2001: 129). 20 Stephan Wolff Technologien zu rechnen hat, dann droht offensichtlich Anomie (Thompson/ Tuden 1959), genauer: ein Zustand der Anarchie. Die theoretische und praktische Herausforderung lautet somit zu klären, wie sich diese Anarchie organisieren lässt, weshalb Cohen/ March (1974) als Bezeichnung für diese widersprüchlichen Tendenzen das Oxymoron der organisierten Anarchie vorgeschlagen haben. 15 Organisierte Anarchien wären danach eine besondere Klasse von Entscheidungssituationen, nämlich solche, in denen viele und wechselnde Präferenzen gegeben sind, in den die verfügbaren Mittel zur Zielerreichung von den Mitspielern kaum verstanden werden, wo fluktuierende Anwesenheiten und wechselndes Engagement herrschen, sodass die Grenzen der Organisation unscharf sind und die Rollen der Beteiligten changieren. Wie es in organisierten Anarchien zugeht, veranschaulicht die Metapher des ›verrückten Fußballfelds‹: »Stellen Sie sich ein rundes, abfallendes Fußballfeld vor, auf dem nicht nur zwei, sondern eine ganze Reihe von Toren stehen (goal bedeutet im Englischen: Tor und Ziel!). Viele verschiedene Spieler (allerdings nicht jeder) können sich in das Spiel einschalten (oder auch es verlassen) und dies zu verschiedenen Zeiten. Manche Leute werfen neue Bälle ins Spiel, manche entfernen welche. Jeder einzelne versucht, so lange er auf dem Spielfeld ist, den Ball, der in seine Nähe kommt, in die Richtung des Tores zu befördern, das ihm am besten gefällt. Oder aber, er bemüht sich, Bälle von jenen Toren, die er verteidigen will, fern zu halten. Durch die leichte Abschüssigkeit des Feldes gibt es eine gewisse Tendenz, in die Richtung der Spielfeldbereiche und Tore, die sich weiter unten sich befinden. Das heißt aber nicht, dass man den Verlauf des Spiels und das Ergebnis eindeutig voraussehen könnte. Nach dem Spiel tut freilich jeder so, als 15 Wie auch das übrige von ihnen bevorzugte Begriffsinventar belegt, zeichnen sich March und Weick durch ihr Faible für paradoxe oder zumindest paradox klingende Formulierungen aus: von Marchs Technologie der Torheit und seinem Papierkorbmodell des Entscheidens war schon die Rede. Er hat aber auch das learning from samples of one or fewer, die Kurzsichtigkeit des Lernens oder die Beidhändigkeit (exploration/expoitation) zu bieten; während uns Weick neben der losen Kopplung die retrospektive Rationalität, die small wins, das Organisationslernen, die Improvisation als Haltung des Organisierens, das serious play, die disciplined imagination und das Management des Unerwarteten offeriert und uns schließlich sogar auffordert: drop your tools! Es spricht einiges dafür, das Vorkommen paradoxer Begriffe als Indikator für die Qualität und Praxissensibilität von organisationswissenschaftlichen Theorien zu verwenden (vgl. Ortmann 2004). Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 21 wäre das Ergebnis logisch und zu erwarten gewesen« (March/ Olsen 1976: 276). Dieses Fußballspiel ist, wie man schnell erkennt, bei aller scheinbaren Regellosigkeit keineswegs zufällig und ungeordnet. Es erlaubt durchaus Improvisation, Wandel, Neudefinition von Zielen und individuelle Experimente. Aber es weist zugleich Mechanismen auf, die für ein Mindestmaß Ordnung sorgen – wie das Gefälle (das bestimmte Spielerpositionen begünstigt), die Tore (es zählt nur, was dort reingeht), der Zeitrahmen (der begrenzt ist), der Umstand, dass nur bestimmte Leute mitspielen (und nicht alle Zuschauer), dass es um Bälle geht, die mit den Fuß befördert werden müssen (und keine anderen Sportgeräte oder Hilfsmittel zugelassen sind) und so weiter. Solche Gelegenheiten ähneln Papierkörben (garbage cans), 16 in denen mit der Zeit alles Mögliche nebeneinander deponiert wird. In Organisationen wären dies Probleme, Lösungen und Teilnehmer, die durchaus unterschiedliche Nähe zu den gerade anstehenden Problemen aufweisen und sich bestimmten Lösungsformen mehr oder weniger verschrieben haben. Alle diese nur lose verknüpften Elemente suchen nach Bindung, jedes zunächst für sich selbst: »Organizations can be described for some purposes as collections of choices looking for problems, issues and feelings looking for decision situations in which they might be aired, solutions looking for issues to which they might be an answer, and decision makers looking for work« (Cohen et al. 1972: 1). 17 Zu klären wäre, wie solche ›anarchischen‹ Organisationen es trotz aller Uneindeutigkeit und Unsicherheit schaffen, überhaupt noch zu Entscheidungen zu kommen, wie sie ihre Aufmerksamkeit steuern und wie sie das erforderliche Maß an Kohärenz nach innen wie nach außen sicherstellen. Das Papierkorbmodell schärft den Blick für die eigentümliche Logik schwach strukturierter Entscheidungssituationen. Wichtig ist zunächst die Unabhängigkeit der verschiedenen Elemente bzw. ›Ströme‹, die sich in den Papierkörben finden. Üblicher16 Ich ziehe die Übersetzung von garbage can als ›Papierkorb‹ der ebenfalls möglichen und gebräuchlichen als ›Mülleimer‹ vor, weil letztere irreführende Assoziationen hinsichtlich der Qualität der solchermaßen zustande gekommenen Entscheidungen wecken könnte. 17 Marchs Beispiel: Eine Besprechung, in der über Firmenparkplätze entschieden werden soll, kann in einer Diskussion über Forschungsetats, sexuelle Belästigung, Managementvergütung und Marketingpolitik enden. 22 Stephan Wolff weise unterstellt man, dass Entscheidungen von Problemen ausgehen und sich ihre Lösungen suchen. Bei loser Kopplung muss man aber damit rechnen, dass Lösungen in relativer Unabhängigkeit von Problemen ein Eigenleben führen. Dienstleistungsorganisationen kultivieren z.B. typischerweise bestimmte Lösungen, von denen einige immer im Angebot sind: Dazu gehören etwa didaktische Modelle, Psychotherapieprogramme, Medikamente, Operationsformen, die diversen Methoden sozialer Arbeit oder einfach Geld. Sind solche Lösungen parat und werden sie von den gerade anwesenden Mitgliedern favorisiert, dann beginnt die Suche nach, genauer gesagt, die Konstruktion von Problemen, die damit angegangen werden könnten. Antworten suchen nach Fragen, zu denen sie passen könnten. Manche Fragen liegen bereits vor, auf andere gilt es zu warten oder aber sich aktiv an deren Findung zu beteiligen. Natürlich identifizieren sich die Teilnehmer mit bestimmten Problemen, aber auch mit bestimmten Lösungen und versuchen, diese ins Spiel zu bringen. Angesichts der ›anarchischen Struktur‹ können sie sich in aller Regel nicht auf unbestreitbare Gesichtspunkte zu ihrer Durchsetzung berufen. 18 Zudem kann man unter solchen Bedingungen nicht mit stabiler Teilnehmerschaft rechnen und muss berücksichtigen, dass die Anwesenden ganz unterschiedlich engagiert sein können und zuweilen auch ihre Vorlieben und Bindungen ändern. Je mehr Themen anstehen, desto geringer ist die Bedeutsamkeit für die meisten der Beteiligten, wiewohl jeder Beteiligte, schon um seinen Status zu bestätigen, gute Gründe in die ein oder die andere Richtung zu mobilisieren vermag. Man muss andererseits damit rechnen, dass einzelne Teilnehmer oder ganze Gremien an ihren Problemen hängen, also gar keine endgültige Entscheidung anstreben, weil sie sonst ein liebgewonnenes ›ewiges Thema‹ verlieren (das gilt oft für Konfliktthemen wie das Verhältnis von Innen- und Außendienst!). 19 Natürlich sollte man darauf achten, ob überhaupt eine Entscheidungsgelegenheit vorliegt, also eine Situation, in der die Erwartung besteht, dass es zu Entscheidungen kommt. Eine Entscheidung kommt unter solchen Modell-Bedingungen nur zustande, wenn passende Probleme, Lösungen und Teilnehmer zum richtigen Zeitpunkt zusammentreffen. Ob ein Problem und 18 Diesen Umstand machen sich die in der Organisationsberatung beliebten gruppendynamischen Übungen zunutze. Beispielhaft ist diesbezüglich die sog. Dienstwagenübung, die eine Entscheidungssituation in einem Team simuliert und die Teilnehmer für deren Unlösbarkeit sensibilisieren soll. Die besondere Schwierigkeit besteht in der ›Versuchung der Hierarchie‹, die sich aus dem Status des Teamleiters ergibt, und der dieser in diesem egalitären Setting aber kaum nachgeben kann (vgl. Antons 2000). 19 Oder den anderen ›Klassiker‹: Hilfe und Kontrolle, d.h. im Fall drohender Kindeswohlgefährdung die Auseinandersetzung um die Frage: ressourcenorientierte Hilfeleistung oder kontrollorientierte Fremdplatzierung. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 23 eine Lösung miteinander verknüpft werden, hängt stark davon ab, ob sie zur gleichen Zeit auftreten. Da alle vier Elemente, also Probleme, Lösungen, Teilnehmer und Wahlentscheidungen nur lose miteinander gekoppelt sind, ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass es zu einem schnellen und ›sauberen‹ Entscheidungsprozess lege artis kommt, ganz im Gegenteil: »in purest garbage can situation we assume that any problem and any decision maker can be attached to any choice« (March/Olsen 1989: 13). In realen ›Papierkörben‹ treffen Entscheider, Lösungen und Probleme durchaus nicht ganz zufällig aufeinander, sondern werden nach dem Vorgaben der Organisationsstruktur zusammengeführt, wodurch Teilnehmerkreis, Beteiligungsrechte und Termine beeinflusst werden können. Papierkörbe entwickeln eigene Geschichten (wann wurden welche Elemente mit welcher Kombination eingebracht? Wer hat wann mit wem gestimmt? Welche Rechnungen sind noch offen? Wie steht es um die Vorgänge in anderen Papierkörben, in denen sich die Beteiligten begegnen?). Auf den Papierkörben liegt nicht nur der Schatten der Vergangenheit, sondern zumeist auch der Schatten der Zukunft. Man trifft man sich doch vermutlich noch öfter, und hat daher Ausgleichshandlungen in der einen oder anderen Richtung zu erwarten. Zu einem klassischen Entscheidungsprozess kommt es paradoxerweise dann am ehesten, wenn es um nichts geht, die Situation für alle offensichtlich und/oder die Homogenität der Gruppe bzw. ihrer Interessen außerordentlich hoch ist. Das bedeutet faktisch, dass nur wenige Probleme solchermaßen direkt gelöst werden. Eher werden sie im Lichte vorhandener Lösungen reformuliert, vermieden oder mit anderen als den ursprünglichen Gesichtpunkten verknüpft. Je mehr Themen sich im Korb befinden, desto wahrscheinlicher bleiben einzelne Probleme offen und. um so länger dauert es, bis sie einer Lösung zugeführt werden. Aber auch dann gilt es, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Man denke z.B. an eine Situation vor Gericht (vgl. ausführlich Wolff 1995), in der es darum geht, ob einem medikamentenabhängigen Sexualstraftäter die Möglichkeit einer Bewährungsstrafe eingeräumt werden kann, die aus ganz unterschiedlichen Interessen für die Verteidigung, den Richter und den Staatsanwalt von Vorteil wäre. Die Verhängung einer Bewährungsstrafe ist nur bei Vorliegen einer verlässlichen und ambulant durchführbaren diagnostischen Kontrolle zu verantworten. Zufällig kennt der anwesende Gutachter ein Labor der nahen Medizinischen Hochschule, das, aus dem Gerichtssaal vom Richter angerufen, die grundsätzliche Durchführbarkeit einer solchen Kontrollmaßnahme bestätigt, wenn der Proband in Abständen von wenigen Tagen regelmäßig ins 24 Stephan Wolff Labor kommt. Da dieser aber kurz danach einräumen muss, vor nicht allzu langer Zeit ein ähnlich getaktetes Behandlungsprogramm nicht durchgehalten zu haben, fällt das von allen Beteiligten sorgsam geschnürte Packet wieder auseinander. Wollen sich solche kairotischen Momente nicht einstellen, sind andere Formen der Entscheidung wahrscheinlicher: Etwa eine Entscheidung durch Übersehen (by oversight), wenn die Beteiligten ihre Aufmerksamkeit auf ein anderes Problem richten und das eigentliche Problem ausklammern oder »übersehen«. Wenn es gelingt, die Entscheidung schnell zu treffen, bevor solche Probleme die Möglichkeit haben, von anderen Entscheidungen zu »fliehen« und sich an die in Frage stehende Entscheidungsgelegenheit anzulagern, kann relativ problemlos und mit einem Minimum an Zeitaufwand entschieden werden. So kann, um das March’sche Beispiel aufzunehmen, eine Führungsposition in einer Organisation problemlos mit einem männlichen Bewerber besetzt werden, wenn Probleme der Gleichstellung sich (noch) nicht an derartige Rekrutierungsentscheidungen geheftet haben, sondern bei Entscheidungen über familienfreundliche Arbeitszeitmuster und gleiche Bezahlung verweilen. Als dritte Möglichkeit könnte eine Entscheidung durch Flucht (by flight) zustande kommen. Hierrunter ist eine Konstellation verstehen, bei der in der Diskussion eine neue attraktive Alternative auftaucht, auf die man sich in dem Moment gut einigen kann. Daher wandert das ursprüngliche Problem in eine andere Entscheidungsarena ab, wo die Chancen für einen günstigen Zeitpunkt, an dem alles zusammenpasst, günstiger erscheinen. So ist denkbar, dass eine lange Zeit strittige Entscheidung über neue Arbeitszeitregelungen problemlos gefällt wird, nachdem das Problem der Gleichstellung in diesem Zusammenhang nicht mehr zur Geltung gebracht wird, sondern entmutigt zur Entscheidung über Betriebskindergärten »geflohen« ist. March und seine Mitarbeiter geben in ihren Arbeiten gute Gründe dafür an, warum eine solche Form des Entscheidens durchaus vernünftige Resultate produzieren kann, und warum nicht oder doch nicht krampfhaft versucht werden sollte, Ambiguität zu Gunsten von Vorhersehbarkeit und Kontrolle zu eliminieren. Auf diese Weise wird es überhaupt möglich, dass trotz divergierender Interessen, komplexer Problemlagen und unklarer Wege zu deren Abhilfe überhaupt Entscheidungen gefällt und Prozesse vorangebracht werden können, und Organisationen selbst in Fällen, in denen sie nicht wissen, was sie tun, handlungsfähig und damit letztendlich lernfähig bleiben. Organisationen lernen auf diese Weise in unkonventioneller und innovativer Weise, indem sie neue Ziele (für erprobte Mittel) aufspüren. Organisierte Anarchien sind Zwecke Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 25 suchende und nicht lediglich Zwecke umsetzende bzw. an Zwecken orientierte Systeme. Papierkorbentscheidungen ermöglichen zudem ein an den verfügbaren kognitiven, materiellen und sozialen Ressourcen orientiertes, d.h. ein ökologisch angepasstes Vorgehen. Entscheidungen in Papierkorbsituationen sind Versuche, eine Logik der Angemessenheit zum Bezugspunkt des Vorgehens zu machen und sie der klassisch-rationalistischen Logik der Folgebeziehung gegenüberzustellen (March 1994). Die empirische Relevanz der Logik der Angemessenheit haben March und seine Kollegen in zahlreichen Studien nachzeichnen können, wobei die Untersuchungsfelder von der demokratischen Politik, der Produktion akademischer Lehrbücher, der strategischen Planung in Unternehmen, der Personalauswahl an Universitäten und Verwaltungsreformen bis hin zu militärischen Einsätzen reichen (vgl. March/Olsen 1989; March 1999). Es wäre durchaus ein Missverständnis, die scheinbare Zufälligkeit von Entscheidungen im Papierkorbmodell als Beliebigkeit und organisierte Anarchien als Inbegriff des Chaos zu beschreiben, als Ausrutscher eines ›eigentlich‹ sonst ordentlichen Betriebs. Zum einen weisen selbst die anarchischen Anteile der Organisation eine gewisse Ordnung auf, wenngleich diese Ordnung vielleicht auch nicht den üblichen Erwartungen entspricht. Die Theorie der organisierten Anarchie beschreibt einen Teil der Aktivitäten fast jeder Organisation, jedoch nicht alle und zu jeder Zeit (March 2001: 331). Die tragische Ironie organisierter Anarchien besteht darin, dass selbst gut gemeinte Versuche der Steigerung der formalen wie der prozeduralen Rationalität (durch Informationsbeschaffung, Zielklärung, Planung, Qualitätssicherung und ähnliches) hier zu nicht-intendierten Nebenfolgen, ja zu gegenteiligen Effekten führen können, insoweit sie die Bereitschaft einschränken, überhaupt etwas zu tun oder zu entscheiden. Die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit steigt unter Ambiguitätsbedingungen nämlich gerade dann an, wenn die betreffenden Personen sich nicht über alle denkbaren Alternativen im Klaren sind bzw. sein wollen, und wenn sie die Erfolgsaussichten ihrer Handlungen überschätzen. Insoweit eigentlich ›irrationale‹ Entscheidungen zumindest den Prozess am Laufen halten, führen sie paradoxerweise oft zu besseren Resultaten als das konsequente Beharren auf den Prinzipien rationaler Entscheidungsfindung: »Individuals and organizations need ways of doing things for which they have no good reason. Not always. Not usually. But sometimes. They need to act before they think« (March/ Olsen 1976: 75). Ähnliches gilt hinsichtlich vermeintlich rationaler Anforderungen an die Stringenz von Überzeugungen und der Enge der Kopplung von Absichten und Handlungen: »Because organizations 26 Stephan Wolff have diverse goals and stakeholders that cannot be satisfied simultaneously, organizational leaders have to espouse different visions at different times and support mutually inconsistent actions. Such hypocrisy helps organizations to make controversial decisions and to take forceful actions« (Hodgkinson/ Starbuck 2008: 11; s. besonders dazu auch Brunsson 2003). Eine Lehre aus Marchs Untersuchungen zu organisatorischen Entscheidungsprozessen ist sicherlich, dass die Substanz von Entscheidungen typischerweise überbewertet wird. Dafür spricht zum einen, dass Entscheidungen zu einem Gutteil Versuche darstellen, Konfusionen zu ordnen, die sich in einer mehrdeutigen und schwer durchschaubaren Situation ergeben haben. Andererseits zeigt sich, dass Entscheidungsprozesse in Organisationen noch eine ganze Reihe weiterer Funktionen erfüllen als die ihnen offiziell zugedachten. Das zeigen die folgenden Beobachtungen, die man typischerweise in organisierten Anarchien machen kann: • dass in vielen Fällen das Recht zur Teilnahme heiß erkämpft wird, um später dann gar nicht wahrgenommen zu werden, • dass man, um entscheiden zu können, große Mengen an Informationen sammelt, anfordert und sie dann nicht nutzt, • dass die Abteilungen, die für Information, Planung und Evaluation zuständig sind, bei wirklich wichtigen Fragen nicht mit am Tisch sitzen und • dass sich kaum jemand um die Implementation oder gar die Evaluation von Programmen oder Gesetzen kümmert, selbst wenn die Entscheidung viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Wie sich zeigt, sind Entscheidungen sind immer auch Rituale, »by which we recognize saints, socialize the young, reassure the old, recite scripture and come to understand the nature of our existence« (March 1986: 22). 3. (Ent-)Kopplung in der neoinstitutionalistischen Organisationsforschung Es findet sich noch eine dritte Variante der Perspektive der losen Kopplung mit besonderer Relevanz für soziale Dienstleistungseinrichtungen: die neoinstitutionalistische Theorie. 20 Da dieser Ansatz in einem eigenen Kapitel gewürdigt wird (vgl. den Beitrag von Thomas Drepper in diesem Band), beschränke ich mich 20 Eine weitere, aber auf industrielle Produktionsbetriebe ausgerichtete Variante der Kopplungsperspektive bietet die normal accident theory von Charles Perrow (1984). Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 27 hier auf einen kurzen Exkurs. Dies ist schon deshalb angezeigt, weil die Neoinstitutionalisten lose Kopplung nur in einem ganz besonderen und spezifisch begrenzten Sinn in ihre Theorie integriert haben. Die Rolle der losen Kopplung wird hier nämlich primär mit Blick auf die Entsprechung von organisatorischen Strukturen und den Erwartungen ihrer gesellschaftlichen Umwelt diskutiert. Aus der Notwendigkeit, Legitimität in ihrem jeweiligen organisatorischen Feld sicherzustellen, resultiert aufseiten der Organisationen eine Tendenz zur relativ engen Kopplung eigener Strukturen mit institutionalisierten Vorgaben und Regeln. Diese treten der Organisation in Gestalt bestimmter Zwänge (z.B. rechtlich-politischer Art), normativer Vorgaben (z.B. professioneller Regeln) und nachahmenswerter Vorbilder (z.B. sog. benchmarks oder best practices) gegenüber und führen in der Konsequenz zu einer Isomorphie der strukturellen Merkmale von Organisationen in einem bestimmten organisatorischen Feld. Insofern diese Übernahmeprozesse anderen Kriterien gehorchen als jenen der unmittelbaren Aufgabenerfüllung und internen Funktionalität, entsteht eine Dynamik hin zu einer Ent-Koppelung der formalen Strukturen von der eigentlichen Arbeitsebene. So ist die Arbeit von Hochschuldozenten mit deren Abbildung in dem für die Akkreditierung benötigten Modulhandbuch nach außen hin eng, im Innenverhältnis aber eher lose gekoppelt, ebenso wie das, was in Arztbriefen steht, nicht unbedingt das abbildet, was mit dem Patienten im Krankenhaus geschehen ist. Anders als bei Weick und March wird Kopplung von den Neoinstitutionalisten dichotomisch gefasst. Wenn nur die Wahl zwischen enger oder loser Kopplung bleibt, dann wird die Ent-Kopplung von Oberflächenstrukturen und tatsächlichen Abläufen zum Mittel der Wahl, um die Funktionsfähigkeit nach innen wie nach außen hin sicherzustellen. Während die formalen Strukturen die Erwartungen der Umwelt verkörpern bzw. reflektieren, müssen die Abläufe innerhalb der Organisation davon aktiv abgekoppelt werden, um störende Interferenzen zu verhindern und allfällige Inkonsistenzen zu maskieren. Die enge Ver-Kopplung von Struktur und Umwelt, wird der nötigen Ent-Kopplung von organisatorischer Oberfläche und dem alltäglichen Betrieb gegenübergestellt. Die Struktur wird dann zur zeremoniellen Fassade und dient als Puffer, der verhindert, dass die Funktionsweise des eigentlichen Betriebs gestört wird. Regeln und Strukturen bekommen einen demonstrativen Charakter. In ihrem für die neoinstitutionalistische Position wegweisenden Artikel sprechen Meyer und Rowan (1977) von rationalisierten Mythen und Zeremonien, die der Legitimation im betreffenden organisatorischen Feld dienen, nicht aber für das tatsäch- 28 Stephan Wolff liche Geschehen bestimmend sind. 21 Die Ent-Kopplung hilft der Organisation, arbeitsfähig zu bleiben und zugleich ihr Gesicht zu wahren. Dies gewinnt gerade dann an Bedeutung, wenn die betreffende Dienstleistung wenig standardisierbar und die Zielerfüllung mit Unwägbarkeiten belastet ist. Tabelle 1 stellt die drei Varianten der Perspektive der losen Kopplung noch einmal vergleichend zusammen. Tabelle 1: Varianten der Perspektive der losen Kopplung Theorie Protagonisten Zentrales Konzept Focus auf Prototypischer/s Ort/Dokument Entscheidender Faktor Felder Einheiten der Verknüpfung Probleme Verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie March Organisierte Anarchie (Papierkorbmodell) Kognitive Organisationstheorie Neoinstitutionalismus Weick Lose Kopplung Meyer/Rowan Entkopplung Entscheidung Gremien Protokoll Zeitliche Simultanität Universität Militär Lösungen, Probleme, Teilnehmer, Gelegenheiten (Sinn-)Struktur Aufführung Zielvereinbarung Sachliche Kohärenz Schule Orchester Elemente Ambiguität und Unsicherheit Ambiguität und Unerwartbarkeit Formalstruktur Zertifizierung Organigramm Soziale Plausibilität Bildungswesen Standardisierung Struktur und Umwelt Legitimation und Handlungsfähigkeit 4. Wie eng ist die Verbindung von loser Kopplung und sozialen Dienstleistungsorganisationen? Form und Inhalt der Theorieproduktion zur losen Kopplung entsprechen sich auf eigentümliche Weise. Dass es 1975 tatsächlich zu dieser begrifflichen Kristallisation kam, entsprang einer Konstellation, die sehr an das Papierkorbmodell erinnert, und war im Grunde einem Zufall geschuldet. Dieser 21 Mythen verweisen auf faktisch nicht oder doch nur schwach substanziierte Behauptungen und Glaubenssysteme (etwa professionelle Ideologien). Zeremonien wären periodische Bekräftigungen dieser Mythen durch symbolische Aktionen wie Akkreditierungen, Rechenschaftsberichte oder Feiern. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 29 bestand in einer zeitlichen Koinzidenz der erklärten Ambivalenzen von Leuten mit durchaus unterschiedlichen organisationswissenschaftlichen Präferenzen und Provenienzen, die zum selben Termin an einem Ort zusammenkamen (s.o., S. 3f.), und die in einem, zunächst eher unscharfen Begriff, nämlich ›lose Kopplung‹, ihr gemeinsames boundary object fanden. 22 Der Begriff besaß den zusätzlichen Vorteil, eine Lücke zu schließen, die sich auf einem ganz anderen Feld als der organisationswissenschaftlichen Theoriebildung aufgetan hatte. Ich spreche damit die Verbindung des Konzepts mit dem empirischen Feld der sozialen Dienstleistungsorganisationen an. Das Konzept der losen Kopplung war im Bewusstsein der wissenschaftlichen Öffentlichkeit von Beginn an eng mit Erziehungsorganisationen verknüpft. Diese seien, wie Weick schreibt, zu dieser Zeit gleichermaßen einzigartig, vernachlässigt, im Überfluss vorhanden und rätselhaft erschienen, zumal die üblichen Unternehmensmodelle diesbezüglich quasi einen unerklärten Rest übrig gelassen hätten. Das Konzept habe den Erziehungsorganisationen dann nicht nur eine Beschreibungs- und Erklärungsfolie geliefert, sondern auch eine gewisse Besonderheit und Herausgehobenheit verschafft. Weick (1976: 1) selbst hat diese Tendenz durch seine Wahl des Aufsatztitels unterstützt, der ja nahelegt‚ dass sich Schulen und andere Erziehungsorganisationen ›simply did not behave like industrial or commercial enterprises‹ und dass sich als entscheidendes Unterscheidungsmerkmal eben ›lose Kopplung‹ anbietet. Ganz ähnlich argumentierte zunächst auch March, der aufgrund seiner Untersuchungen an Universitäten zu dem Schluss gekommen war, es handele sich dabei um prototypische Fälle für seine Version der losen Kopplung der Elemente von Entscheidungsprozessen. Diese theoriepolitischen Tendenzaussagen trafen sich mit den etwa zeitgleich publizierten Bemühungen der Pioniere der Forschung zu sozialen Dienstleistungsorganisationen wie Lipsky (1980), Prottas (1979), Pratti (1982) und Hasenfeld (1982) um eine eigenständige Theoriebildung auf diesem Gebiet. Bei der Entwicklung dieser Theorietradition spielte das Konzept der 22 Von Star/Griesemer (1989) stammt folgende Charakterisierung derartiger ›Grenzobjekte‹: »Boundary objects are both plastic enough to adapt to local needs and constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. They may be abstract or concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable means of translation. The creation and management of boundary objects is a key in developing and maintaining coherence across intersecting social worlds« (393) … »Their boundary nature is reflected by the fact that they are simultaneously concrete and abstract, specific and general, conventionalized and customized. They are often internally heterogeneous« (408). 30 Stephan Wolff losen Kopplung (weniger das der organisierten Anarchie!) in der Folge dann auch eine prominente Rolle. Es wurde nicht selten als Lösung für prototypische Probleme der Organisierung sozialer Dienstleistungen offeriert und stützte damit indirekt die These von der Besonderheit der human service organizations (HSOs) 23 bzw. der kritischen Differenz zwischen HSOs und profitorientierten Unternehmen. Hasenfeld (1983: 1) definiert HSOs als »the set of organizations whose principal function is to protect, maintain, or enhance the personal well-being of individuals by defining, shaping, or altering their personal attributes«. 24 Soweit in diesen Einrichtungen Menschen zugleich ›Rohmaterial‹, Produkte und Konsumenten sind, spricht man auch von people-changing bzw. peopleprocessing organizations. HSOs besitzen darüber hinaus eine Reihe von Eigenschaften, die ihrerseits wiederum typische Probleme und Herausforderungen für deren Organisierung mit sich bringen: Sie zeichnen sich durch eine starke Abhängigkeit von externen Ressourcen aus. Viele HSOs befinden sich in öffentlicher Trägerschaft bzw. werden (auch) mit öffentlichen Mitteln finanziert. Wesentliche Ressourcen werden somit durch externe Akteure (Klienten, Aufsichtsbehörden, Interessengruppen) kontrolliert und müssen in leicht störbaren und schwer absehbaren politischen Aushandlungsprozessen gesichert werden. Viele HSOs sind zudem auf die Kooperation anderer Organisationen bei ihrer Leistungserbringung angewiesen, müssen sich externen Stakeholdern gegenüber rechtfertigen und nachweisen, dass sie den im betreffenden Feld geltenden Standards genügen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf Strukturmerkmale, Handlungstechnologien und ihre Berichts- und Begründungsformen. Der Bedarf an wie die Erbringung von sozialen Dienstleistungen erweisen sich als schwer messbar, schon weil sie faktisch nicht unabhängig voneinander sind, insoweit sich der Bedarf in vielen Fällen erst im Prozess der Erbringung ermitteln lässt. Gleichzeitig sind Ressourcen im Verhältnis zu möglichen Bedarfen grundsätzlich knapp. Typischerweise ist die Dienstleistungserbringung von außen kaum einseh- und kontrollierbar. Zahlreiche legale und/oder berufsethische Einschränkungen schützen die Vertraulichkeit der Klientenbeziehung. Zur Abschottung trägt die unter Professionellen weit verbreitete Ansicht bei, die Qualität der Leistung und die 23 Aus Platzgründen verwende im Folgenden statt ›soziale Dienstleistungsorganisation‹ das in der englischsprachigen Literatur gängige Kürzel HSO (human service organization). 24 Als typische Beispiele für HSOs gelten Krankenhäuser, Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens, Sozialverwaltungen, Schulen, Universitäten, Kindergärten und Einrichtungen der Kinderpflege, Polizei, Gefängnisse, Gerichte sowie verwandte Einrichtungen. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 31 gegenseitige Vertrauensbeziehung nähmen Schaden, würden Dritte als Beobachter zugelassen. Nicht zuletzt aus diesem Grund fehlt es oft an verlässlichen und validen Kriterien für die Beurteilung der Leistungserbringung. Der Versuch unmittelbarer Beobachtung der Klientenkontakte wird von den Beschäftigten als Übergriff, ja als ernster und unziemlicher Angriff auf die eigene ›Privatsphäre‹ gewertet und entsprechend beantwortet. 25 Die Durchgriffsmacht der Leitung, also ihre Amtsautorität, ist vergleichsweise begrenzt. In HSOs arbeiten in der Regel mehrere Berufsgruppen und Professionen zusammen, die jeweils eigene Organisationskulturen entwickeln und zueinender in vielfältigen Kooperations-, aber auch Konkurrenzbeziehungen stehen. Die Ziele der verschiedenen Mitspieler sind vielfältig, oft mehrdeutig und nicht selten in sich widersprüchlich, d.h. sie lassen sich nur fiktiv auf den offiziellen Organisationszweck reduzieren. Sprichwörtlich für HSOs ist der unausrottbare Konflikt zwischen dem Dienstleistungsbereich und den Verwaltungs- und Unterstützungsabteilungen, der in den einschlägigen Theorien, professionellen Selbstbeschreibungen und Kantinengesprächen seit jeher liebevoll gepflegt wird. 26 Die genannten Merkmale weisen alle in dieselbe Richtung: Gemeinsam erschweren sie die Fähigkeit einer Organisation, eng verkoppelte Arbeitsarrangements zu entwickeln, Standard Operation Procedures einzusetzen und routinemäßig zu handhaben, eindeutige Evaluationen vorzunehmen und ihnen Konsequenzen folgen zu lassen, Überwachungs- und Qualitätssicherungsinstrumente einzusetzen und hierarchische Kontrollen zu etablieren. Insofern ist es nicht überraschend, wenn man hier überwiegend Organisationen findet, die lose strukturiert sind. Die Geschlossenheit der Organisation und die Minimierung der Widersprüche zwischen den verschiedenen Zielen »are achieved precisely through the loose coupling of the various internal work units« (Hasenfeld 1983, S. 152), wobei lose Kopplung sowohl vertikal – im Hinblick auf die Autoritätsstruktur –, wie auch horizontal – im Hinblick auf das Verhältnis der Arbeitseinheiten und das der Beschäftigten untereinander – konstatiert wird. Das folgende Schema gibt den Stand der Diskussion um HSOs und ihr 25 Aus interaktionistischer wie aus professionstheoretischer Sicht fällt auf, dass die Theorien sozialer Dienstleistungsorganisationen dazu neigen, die Abhängigkeit der Dienstleistung von der Koproduktion oder wenigstens der compliance der Klienten herunterspielen. 26 Die Gegensatzpaare (oder Gegensatztrios) variieren bereichsspezifisch: in der Sozialverwaltung: Innen–Außendienst; im Verein: Ehrenamtliche–Hauptamtliche, in Universitäten: Professorenschaft–Verwaltung; in Schulen: Lehrerschaft–Ministerium; im Krankenhaus: Ärzte–Pflege– Verwaltung; im Gefängnis: Vollzugsdienst–Funktionsdienst. Diesen Aspekt von HSOs betont insbesondere die sog. domain-theory (Kouzes/Mico 1979). 32 Stephan Wolff Verhältnis zur Perspektive der losen Kopplung gegen Ende der 1970er-Jahre wieder. Man erkennt dabei zum einen eine klare Gegenüberstellung von HSOs und Geschäfts- bzw. Industrieunternehmen, sodann eine Identifizierung von HSOs bzw. der präferierten Form ihrer Organisierung mit loser Kopplung und schließlich eine eindeutige Kontrastierung von loser mit enger Kopplung. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 33 Dimension Human Service Organisations Business/Industrial Organisations Primary motive Service Profit Primary beneficiaries Clients Owners Primary resource base Public taxes Private capital Goals Relatively ambiguous and problemetic Relatively clear and explicit Psychological orientation of workforce Professional Instrumental Transformation processes Staff-client interactions Employee-product interactions Connectedness of events and units Loosely coupled Tightly coupled Means-end relation Relatively indeterminant Relatively determinant Outputs Relatively unclear and intangible Relatively clear and tangible Measures of performance Qualitative Quantitative Primary environmental influences The political and and professional communities> The industry and suppliers Abbildung 2: Stand der Diskussion um HSOs und ihr Verhältnis zur Perspektive der losen Kopplung gegen Ende der 1970er-Jahre Quelle: Kouzes/Mico 1979: 454. Die Logik dieser Argumentation ist ebenso plausibel wie irreführend: Plausibel, weil sie von einer Eigentümlichkeit sozialer Dienstleistung kurzschlüssig auf eine ›Organisationsschwäche‹ schließt. Wenn lose Kopplung als Lockerheit interpretiert und Lockerheit mit Ineffektivität identifiziert wird, liegt natürlich der Vorschlag nahe, diese Defizite durch konsequentes Gegensteuern in die andere Richtung zu beheben, d.h. hin zu engerer Vernetzung von Diensten und Bearbeitern, zu klareren Produktdefinitionen, zu konsequenterer Leistungskontrolle, zu strikt evidenzbasiertem Vorgehen und verstärkter Übernahme von in der Privatwirtschaft bewährten Managementformen. Eine solche Argumentation findet sich typischerweise bei den diversen Protagonisten 34 Stephan Wolff der Modernisierung des Wohfahrtsstaats, wenn sie für Strategien wie das Neue Steuerungsmodell, das Neue Kommunale Finanzmanagement, das (Total) Quality Management, den Bolognaprozess oder die Fallpauschalen werben. Aus der Perspektive der losen Kopplung wäre diese Argumentation aber zugleich irreführend, insoweit sie den Kopplungsaspekt der losen Kopplung übersieht und somit die besondere Rationalität und Leistungsfähigkeit lose gekoppelter Systeme ebenso verfehlen muss wie die Schwächen der neuen Kopplungsstrategien. So wird man beispielsweise aus der Perspektive der losen Kopplung das Qualitätsmanagement differenziert beurteilen müssen. Qualität ist unter Kopplungsgesichtspunkten einerseits »a story that holds events together in a plausible manner and allows self-fulfilling prophecies to be mobilized in ways that enact structure. What keeps this from being solipsistic is that others are doing the same thing, at the same time, around conflicting interests, often with more resources« (Weick 2000: 163). Allerdings ist diese Kopplungswirkung in problematischer Weise überzogen, wenn Qualitätsmanagement mit dem Attribut ›Total‹ versehen wird, weil dadurch ein klarer Endpunkt festgelegt wird. Man determiniert einen offenen Lernprozess mit etwas, was künstlich statisch ist (die vermeintlich ›totale‹ Qualität). Total Quality Management präferiert Strukturen zuungunsten von Prozessen. Der damit zumindest implizit erhobene Anspruch einer Organisationsreform »total aus einem Guss« verführt zu enger Verkopplung von Maßnahmen und Prozessen, vervielfacht Schnittstellenprobleme, erschwert retrospektive Sinnstiftung und steigert damit die Wahrscheinlichkeit von Rationalitätsbrüchen, Heuchelei und entsprechenden Zynismen. Das Besondere der HSOs ist jedoch nicht ihre mangelnde Rationalität, sondern ihre vielfältige Widersprüchlichkeit: 27 Sie sind, so Weick, zugleich helfend und hilflos, sich verausgabend bzw. selbstausbeuterisch und teuer, selbstlos und beherrschend, einschränkend und entwickelnd; die Arbeit in ihnen wird als Berufung empfunden und gleichzeitig löst sie burn out aus. Entsprechend beruht die Leistungsfähigkeit des Konzepts der losen Kopplung im Zulassen zweier scheinbar unvereinbarer Sachverhalte: von Rationalität und Unbestimmtheit in demselben System. Es beschreibt nicht nur das ›Lose‹ der Kopplung (was viele unter negativem Vorzeichen schon getan haben). Es erklärt, wie und warum derartige Organisationen trotz einer auf den ersten Blick ineffektiven und ineffizienten Struktur ihre Aufgaben erfüllen können, ja mehr 27 Weick (1976: 4) spricht von ›erratic organizing‹. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 35 noch, es zeigt, warum dies unter den gegebenen Umstanden ein durchaus effektiver und effizienter Weg der Aufgabenerfüllung sein kann. Wie das Beispiel der Erziehungsorganisationen belegt, können diese sehr wohl ohne vertikale Planungs- und Kontrollstrukturen funktionierten; selbst wenn diese – etwa infolge der Einführung von Qualitätsmanagementsystemen – installiert sind, wird nur eine beschränkte Varianz dessen, was in solchen Organisationen passiert, damit zu erklären sein. Andererseits zeigen die post-bürokratischen Organisationen der öffentlichen Verwaltung durchaus auch Züge von ›organisierten Anarchien‹, und dies relativ unabhängig von ihrer besonderen Ausrichtung und ihrem Alter (Sproull et al. 1978: 5). Dies trifft nicht nur auf klassische soziale Dienstleistungsorganisationen, sondern auf eine Vielzahl anderer Einrichtungen zu: auf politische Organisationen bis hinauf zu Kabinetten (vgl. Padgett 1980; Zahariadis 1999, 2003), auf den Bereich der Entscheidungsfindung in der Außenpolitik (vgl. Newmann 1998), auf militärische Organisationen und Operationen (vgl. March/ Weissinger-Baylon 1986), auf Einrichtungen des öffentlichen Gesundheitswesens (vgl. Clarke 1989) oder auf den Organisationen der politischen Öffentlichkeit (Kingdon 1995). 5. Implikationen 5.1 Organisation als Herstellung Wer die Protagonisten der Perspektive der Losen Kopplung nach ihrem ›Organisationsverständnis‹ fragt, erntet für gewöhnlich Achselzucken und Zeichen der Unlust. March und Weick sind sich einig, dass man ganz gut ohne den Organisationsbegriff auskommen könnte. Es lohne sich kaum und sei zudem nicht aussichtsreich, nach Organisationen zu suchen: »Das Wort Organisation ist ein Substantiv, und es ist außerdem ein Mythos. Wenn Sie nach einer Organisation suchen, werden Sie sie nicht finden. Was Sie finden werden, ist, dass miteinander verbundene Ereignisse vorliegen, die durch Betonwände hindurchsickern; und diese Sequenzen, ihre Pfade und ihre zeitliche Ordnung sind die Formen, die wir fälschlich in Inhalte verwandeln, wenn wir von Organisationen reden. Ebenso wie die Haut eine irreführende Grenze für die Markierung des Punktes ist, wo eine Person aufhört und die Umwelt anfängt, sind es auch die Wände einer Organisation. Die Ereignisse innerhalb von Organisationen und Organismen sind in Kausalkreise eingebunden, die über diese künstlichen Grenzen hinausreichen« (Weick 1985: 129). 36 Stephan Wolff Da der Fokus auf dem sozialen Handeln von Individuen unter Bedingungen von Unsicherheit und Ambiguität liegt, wird Organisation hier in ihrem Vollzug und im Hinblick auf ihre interaktive bzw. kollektive Herstellung thematisiert. Es ist eher der ›Prozess des Organisierens‹, um den es diesen Organisationswissenschaftlern zu tun ist. Die Konzepte der Losen Kopplung und der organisierten Anarchie implizieren schon wegen ihrer paradoxen Struktur Prozesse, Sequenzen, Geschichte, Momente, Gleichzeitigkeiten, Unterbrechungen, d.h. Zeit! Weick spricht davon, die Organisation sei nichts Anderes als ein Aneinanderreihen und Verknüpfen von Interaktionen, ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Prozessen, aus denen schließlich habitualisierte Routinen und Netzwerke von Handlungen hervorgehen. Auch March betont immer wieder die Wichtigkeit des Prozessgedankens: Organisationen sind für ihn Systeme koordinierter Handlungen zwischen Individuen und Gruppen, die sich in Präferenzen, Information, Interessen und Wissen unterscheiden. ›Organisation‹ stellt so gesehen gleichsam ihr eigenes Produkt dar, das in stetigem Vollzug in situ produziert und reproduziert wird. Sie ist keine feste Einheit, weil, immer wenn ihre Mitglieder wieder zusammenkommen, sie eine leicht veränderte Organisation herstellen und vorfinden. Gerade aus der Perspektive der losen Kopplung richtet man sein Augenmerk darauf, wie die Menschen in ihrem täglichen Handeln das Organisieren bewerkstelligen und wie es ihnen (zumindest zeitweise) gelingt, die Illusion einer eigenständigen, abgrenzbaren und kohärenten Einheit ›Organisation‹ zu erzeugen. Von daher lässt sich aus der Perspektive der losen Kopplung keine Präferenz für einen bestimmten Organisationstyp herauslesen, schon gar keine grundsätzliche Unterscheidung nach dem Muster Profit- versus Non-Profit-Organisationen oder HSO versus alle anderen. Auch Weick war in der Folgezeit stets bestrebt, die Vorstellung von loser Kopplung für möglichst viele Phänomene und Organisationen offenzuhalten (Weick 1979, 1987; Orton/Weick 1990; Weick/ Roberts 1993). Mit der Veränderung des Organisations- geht ein anderes Rationalitätsverständnis einher. Die rationalistischen Theorien sehen die Rationalität in Strukturen verwirklicht, die Ziele umsetzen, in Kontrollen, die sie absichern, in Technologien, die gestatten, verlässlich bestimmte Produkte zu erstellen und in Personen, die konsequent ihren Nutzen mehren. Aus der Perspektive der losen Kopplung entspricht Rationalität aber nicht der konsequenten Übernahme und Umsetzung eines bestimmten Rationalitätsmodells. Rationalität als Prozess zu verstehen, heißt in den Blick zu nehmen, wie Organisationen sich abmühen, unter grundsätzlich defizitären Bedingungen möglichst intelligent zu verhalten Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 37 (the Pursuit of Organizational Intelligence). Dabei mag es gelegentlich durchaus zu Entscheidungen nach dem klassischen Rationalitätsmuster kommen. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass Entscheidungen in solchen Papierkorbsituationen keine oder andere oder neue Probleme lösen. Marchs Vorstellung organisatorischer Intelligenz bezieht sich deshalb nicht auf einen Versuch der ›Verbesserung‹ eingeschränkter Rationalität. Statt dessen richtet sie sich auf eine Erweiterung und Prozessualisierung des Rationalitätsbegriffes selbst – bis zum logischen Endpunkt einer Ent-Kopplung von individueller und organisatorischen Rationalität bzw. einer rein politischen Festlegung dessen, was ›Rationalität‹ im konkreten Fall bedeuten soll. Statt auf Rationalität setzt er (wie Weick) den Akzent auf Lernfähigkeit, die ihrerseits die Fähigkeit einschließt, immer auch die Kurzsichtigkeit des Lernens in Erwägung und daraus gegebenenfalls entsprechende Konsequenzen zu ziehen (Levinthal/ March 1993). Ein nicht unwesentliches Element intelligenten Entscheidens unter Bedingungen von Ambiguität wird neben der Kombination rationaler 28 ›Logik der Konsequenz‹ und nichtrationaler ›Logik der Angemessenheit‹ der Einbau spielerischer Elemente bei der Organisierung organisatorischer Entscheidungsprozesse. March hat hierfür den wunderbar paradoxen Begriff der ›Technologie der Verrücktheit‹ geprägt. Hierzu gehören: das Vertrauen auf Intuition, die zeitweise Akzeptanz von Unsicherheiten, der spielerische Umgang mit Inkonsistenzen oder die auf dem Hintergrund des jeweiligen Anspruchsniveaus und der verfügbaren organisatorischen ›Überschüsse‹ (slack) immer wieder neu zu justierende Balance zwischen neugierigem Erspüren (exploration) neuer Optionen und dem gewissenhaften Ausbeuten alter Lerngewinne (exploitation). »Individuals and organizations need ways of doing things for which they have no good reason. Not always. Not usually. But sometimes. They need to act before they think« (March 1976: 75). Noch stärker als March betont Weick die Orientierungs- und Legitimationsfunktion von Rationalität. Rationalität ist aus seinem Blickwinkel betrachtet eine besondere Form des sensemaking, der typischerweise aus der Rückschau erfolgenden interpretativen Verdichtung zunächst lose gekoppelter Beziehungen zwischen Handlungen, Intentionen, Motiven und Ergebnissen. Solchermaßen hergestellte ›Rationalität‹ liefert Gründe, die man den Handlungen unterstellen kann, sodass sie für andere nachvollziehbar, verständlich, sinnvoll und akzeptabel werden – Gründe, die es ermöglichen, im konkreten Fall einer Person oder Organisation agency zuzubilligen oder sie und ihr Tun als bloße Auswirkungen von structure abzutun. Auffälligerweise handeln gerade Experten nicht nach dem 28 ›Rational‹ hier im klassischen Sinne gemeint! 38 Stephan Wolff rationalen Modell, obwohl ›Rationalität‹ ein wichtiger Bezugpunkt ihrer Rhetorik darstellt. »Insofern liefert sie keine wirkliche Handlungsanleitung; sie ist vielmehr eine Rhetorik, die man verwendet, um sich und sein Handeln auf eine bestimmte, für andere leicht verständliche Weise zu präsentieren, obwohl man bei den kleinsten Umweltveränderungen und Problemverschiebungen eigentlich willkürlich, zufallsabhängig, launisch, opportunistisch oder wie auch immer agiert. Ich finde es spannend zu beobachten, wie sich Menschen mit der Rhetorik der Rationalität Freiräume schaffen, und trotzdem vertrauenswürdig genug erscheinen, so dass man sie nicht bestraft oder ihnen auch nicht die Ressourcen entzieht« (Weick 2001: 125). 5.1 Führung in organisierten Anarchien Das Management lose verkoppelter Systeme ist wegen der größeren Selbststeuerungsfähigkeit der Untereinheiten einerseits leichter, andererseits schwieriger als in anderen Organisationsformen. Wer einer organisierten Anarchie vorsteht, hütet gleichsam einen Flohzirkus (allerdings einen mit z.T. höchst reflexiv handelnden Flöhen!). Lose Kopplung räumt organisatorischen Untereinheiten erhebliches Ermessen im Handlungs- wie im kognitiven Bereich ein, das sie ohne direktes Monitoring der Leitung auszuüben vermögen. Sie können sich Informationen beschaffen und daraus ein eigenständiges Verständnis der Situation entwickeln und ihrem Tun zugrunde legen. Lose Kopplung verlangt hingegen, dass sich das Ermessen durch angemessene Maßnahmen der Führung noch im Blick behalten und ggf. justieren lässt. Damit lose Kopplung ihr ganzes Potenzial entfaltet, müssen also ›Ordnung stiftende‹ Kompensationsmechanismen vorhanden sein. Orton und Weick (1990: 212ff.) beschreiben drei solche Mechanismen: die Ausrichtung der organisatorischen Aufmerksamkeit auf bestimmte Zielstellungen, Maßnahmen oder Grundannahmen; die Erarbeitung, Bestätigung und zeremonielle Bekräftigung gemeinsamer Werte; und schließlich als dritten und in gewisser Weise übergreifenden Kompensationsmechanismus eine ›gesteigerte‹ Form von Führung (enhanced leadership). Es würde nun den Einsichten in die Funktionsweise von loser Kopplung zuwider laufen, wollte man ›gesteigert‹ mit stärker im Sinne von vereinheitlichend, bestimmend und durchgreifend gleichsetzen. Lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien können ja aufgrund der in ihnen herrschenden fundamentalen Unklarheiten typischerweise nicht auf eindeutige Ziele, starke Machtzentren, anerkannte Technologien oder einheitliche Situationsdefinitionen zurück greifen. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 39 Dieser Umstand reduziert die Eindeutigkeit von Kommunikationen, schränkt die Möglichkeiten ein, direkt Einfluss zu nehmen, verzögert oder verfälscht Feedbacks und macht die Zuschreibung von Verantwortlichkeiten, aber auch von (Miss-)Erfolgen problematisch. Es liegt somit in der Natur der Sache, dass lose gekoppelte Systeme schwerer als andere zu führen sind und dass hierzu besondere, d.h. über das klassische Führungsverständnis hinausgehende, diesem sogar zuwider laufende Strategien erforderlich sind. Kluges Führungsverhalten in organisierten Anarchien bedeutet angesichts dessen zunächst, sich von der heroischen Version der Handlungswirkung zu verabschieden. Post-heroisches Management (Baecker 1994) widersteht der Versuchung, sich selbst zu überschätzen, insbesondere, was langfristige und nachhaltige Wirkungen des eigenen Tuns betrifft. Dabei mag die Einsicht beruhigen, dass die meisten Themen sowieso wenig dauerhaft und herausragend sind und dass Organisationen sich grundsätzlich durch eine gewisse Unbeweglichkeit, sowohl in aktiver wie in passiver Hinsicht auszeichnen. Fast jede Entscheidung kann zum Papierkorb für jedes Problem werden. Angesichts begrenzter Kapazitäten sind organisatorische Kommunikations- und Entscheidungssysteme eigentlich ständig überlastet, verfügen aber gleichzeitig nur über eine notorisch dünne Informationsbasis (vgl. Sutcliffe/Weick 2008). Nicht nur stehen für eine direkte Steuerung die klassischen Beeinflussungs- und Kontrollmechanismen lediglich in beschränktem Maße zur Verfügung. Auch die Möglichkeiten, solchen Steuerungsversuchen Widerstand entgegenzusetzen oder sie schlicht ins Leere laufen zu lassen, sind vielfältig. Energische Steuerungsversuche können angesichts dessen geradezu gegenteilige als die erhofften Resultate zeitigen. Führung funktioniert in lose gekoppelten Organisationen tendenziell eher diffus und unfokussiert. Insofern liegt es nahe, zwischen Versuchen zu seiner Lenkung und solchen zur Pflege des Systems zu unterscheiden. Die Pflege des Systems bezieht sich zunächst darauf, es trotz aller Inkonsistenzen, Interessengegensätze, Auffassungsunterschiede und Schnittstellen arbeitsfähig zu halten, d.h. Konflikt einzugrenzen, Konsistenzanforderungen richtig zu kalibrieren und genügend Grenzobjekte vorzusehen, auf die sich alle Seiten beziehen können, ohne in ihren jeweiligen Perspektiven völlig übereinstimmen zu müssen. Führungspersonen reüssieren hier (ich beziehe mich im Folgenden exemplarisch auf Führungsprobleme in Hochschulen!) paradoxerweise dann am ehesten, wenn sie keine eigene Strategie verfolgen oder doch zumindest so wahrgenommen werden. In lose gekoppelten Systemen wird die formale Fairness der Abwicklung zu einem wichtigen Merkmal der Führungsfähigkeit. 40 Stephan Wolff Ein klassisches Beispiel sind Sparrunden, die überwiegend (wenngleich mit abnehmender Tendenz) nach dem ›Rasenmäherprinzip‹ vorgenommen werden. Ein solches Vorgehen vermeidet eine sachliche Stellungnahme über die Bedeutung von Partialinteressen und die Gewichtigkeit ihrer Vertreter. Die fortgeschrittene Variante wäre der Rückgriff auf im Feld schon institutionalisierte Leistungsindikatoren (wie die für die Hochschulfinanzierung maßgeblichen Indikatoren: Drittmittel, Promotionszahlen und Studierende in der Regelstudienzeit), die dann bis auf die Ebene einzelner Institute ›heruntergebrochen‹ werden. Versuche, von solchen Verteilungsprinzipien abzuweichen, haben die Tradition, Gewohnheitsrechte und institutionelle Übereinkünfte gegen sich und verlangen daher erheblichen Begründungsaufwand. Ob eine gegebene Begründung im Einzelfall ausreicht, wird der geschickte Rektor/Präsident – auch wenn ihm das jeweilige Hochschulgesetz die Macht dazu gibt – nicht immer selbst entscheiden wollen, sondern die Materie stattdessen vielleicht eher in eine Kommission des Senats oder der Dekane unter Vorgabe eines fixen Mittelvolumens und eines Termins für deren Vorschlag weiterreichen. Eine weitere unaufwendige Form der Pflege des Systems besteht darin, sich auf die Kontrolle wichtiger Kennwerte zu beschränken und sicherzustellen, dass diese sich nicht aus einer definierten zone of safety (Hirschhorn 1994) herausbewegen. Diese Sicherheitszone bezieht sich zum einen auf die Pflege der mikround makropolitischen Landschaft, zum anderen die Verhinderung starker positiver Rückkopplungen, welche die einzelnen Teile der Organisation sich allzu unterschiedlich entwickeln lassen und damit ihre Kohäsionskräfte überfordern könnten. So sollten Universitätsleitungen ein signifikantes Auseinanderdriften von Fachbereichen verhindern, aber auch ein wachsames Auge auf die diversen hochschulpolischen Stakeholder und Konkurrenten haben, um kommende Bedrohungen besser antizipieren zu können. Wenn es gilt, einen Zustand jenseits der jetzigen Sicherheitszone anzuvisieren, sollte es der Führung gelingen, die Organisation selbst in einen Prozess der Erarbeitung positiver oder negativer Entwicklungsszenarios zu locken bzw. zu nötigen. Gerade die dosierte Vielfalt der Szenarien bietet die Möglichkeit, die Spannungen in einem lose gekoppelten System gleichzeitig zum Ausdruck zu bringen, zu kanalisieren und positiv zu nutzen. Eine aktuell beliebte Strategie von Hochschulleitungen besteht in der Lancierung von strategischen Themen oder Agenden für die zukünftige Entwicklung (unter Titeln wie »Minerva 2020« u.ä.), bei denen möglichst in sich bereits enger gekoppelte Einheiten (wie Fakultäten oder Fachbereiche) Forschungspläne aufstellen müssen. Wichtig ist, dass jede dieser Einheiten sich dazu verpflichten lässt, weil dies Bindungskräfte nach innen auslöst, die Hoch- Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 41 schulleitung sich also nicht mehr um die Mitmachbereitschaft einzelner Institute kümmern muss und sich ganz auf die Setzung und Kontrolle von Terminen, einzuhaltenden Formaten und gemeinsam zu adressierender Kennwerte beschränken kann. Die diversen Exzellenzinitiativen, Akkreditierungen, Evaluationen, Qualitätsoffensiven oder Leitbildprozesse wirken in dieselbe Richtung: sie halten das System in Bewegung und lösen evolutionäre Dynamiken aus, denen sich nur wenige entziehen können. Überhaupt scheint ›den Betrieb in Bewegung halten‹ sich als Grundmaxime erfolgreicher Führung in organisierten Anarchien zu eignen. Die Menge an Aktivitäten sollte eher hoch, die Größe, Reichweite und Zielgenauigkeit der Maßnahmen kann demgegenüber durchaus eher gering ausfallen. Nicht Organisationsentwicklung im Sinne episodischer Maßnahmen, kräftezehrender Projekte und gut gemeinter Steuerungsimpulse, sondern die sorgfältige Begleitung kontinuierlicher Veränderungsprozesse steht im Vordergrund. Erfolgreiche Führung lose gekoppelter Systeme bedeutet im Kern, deren Eigendynamik zu nutzen und ggf. bereits laufende Anpassungsprozesse im Hinblick auf gerade anstehende innere und äußere Erfordernisse zu reorientieren: »… the administrator has to start projects earlier, start more projects, start projects with greater variety of places, talk more frequently about those projects that have been started and articulate a general direction in terms of which individual members of the system can make their own improvisations« (Weick 1982: 675). Ein weiteres Merkmal des sensiblen Managements lose gekoppelter Systeme besteht darin, dass es hier weniger um das Knüpfen von neuen Verbindungen oder gar um die Kappung alter geht, sondern um die Bestätigung und Stärkung existierender Verbindungen bzw. die Bereitstellung von förderlicher Infrastruktur zur Generierung von Querverbindungen innerhalb des bestehenden Apparats. Auf der Agenda von Hochschulleitungen stehen daher Anreizprogramme für solche Projekte, Forschungsthemen, Tagungen, Kollegs und Organisationseinheiten, die Grenzen von bestehenden Instituten, Disziplinen und Einrichtungen überschreiten, die Erleichterung von MehrfachMitgliedschaften oder auch die infrastrukturelle Förderung von sich bildenden Netzwerken, sog. Communities of practice bzw. communities of interest (Wenger et al. 2002). Die in lose gekoppelten Systemen vorherrschenden ›schwachen Situationen‹ lassen ›Persönlichkeiten‹ (ggf. in Verbindung mit einem durch die Organisation 42 Stephan Wolff mitgeprägten beruflich-professionellen Habitus) eine vergleichsweise große Bedeutung für die Strukturbildung zukommen. 29 Eine Möglichkeit dazu besteht in der Führungsperson selbst, die in lose gekoppelten Systemen tunlichst nicht nur im Büro sitzt, sondern umhergeht, Foren, Klausurtagungen und Treffpunkte, also zeitliche und räumliche Vorwände und Kristallisationspunkte für Kommunikation schafft und so selbst als Verknüpfungselement erlebbar wird (s. Mezias 2003). Selbstverständlich spielt die Pflege der Organisationskultur und des Ethos einer Organisation, also ihrer spezifischen Stimmungslage, eine wichtige Rolle als ›Kleber‹ (glue), der hilft, einen in vielerlei Hinsicht disparaten Laden zusammenzuhalten. Nicht zufällig besinnen sich selbst die diesbezüglich lange abstinenten Hochschulleitungen zunehmend auf die Bedeutung des symbolischen Managements, investieren in corporate design, richten akademische und auch weniger akademische Feiern aus, halten Ansprachen und geben Interviews, erfinden neue oder aktivieren vergessene Formen der Auszeichnung und Ehrung, installieren Spezialisten für Unternehmenskommunikation, geben Hochglanzmagazine heraus und lassen sich bei gesellschaftlichen Ereignissen sehen. Die Wirkung von Führung in lose gekoppelten Systemen beruht ganz zentral auf ihrer Fähigkeit, das organisatorische sensemaking zu unterstützen, was nicht zuletzt durch die Konstruktion neuer und Elaborierung alter Geschichten der Organisation als Ganzer oder wichtiger ihrer Projekte geschehen kann. Die retrospektive Sinnstiftung wird durch die Offerierung von denkbaren Zukünften unterstützt, wie sie in Visionen, Leitbildern und strategischen Ausrichtungen zum Ausdruck gebracht werden können. 30 Die Aufgabe der Führung besteht aber nicht nur auf der Seite der Kopplung des Losen, sondern auch auf der Seite des Lösens der Kopplung bzw. der Stabilisierung des gewünschten Grades an loser Kopplung. Dies kann einerseits dadurch geschehen, dass man Gekoppeltheit erhöhende Maßnahmen zurück29 Kupers (2002) Untersuchungen in integrierten Gesamtschulen ergeben, dass solche professionellen Einrichtungen mit hoher Komplexität von einer gleichmäßigen Kombination von starker Leitung, ausgeprägter Kollegialität und wahrgenommener individueller Verantwortung. profitieren. Schwache Kollegialität und Verantwortungsübernahme kann durch starke Leitung allein aber nicht kompensiert werden. 30 Die Bereitschaft, organisatorische Sachverhalte als Ausdruck von ›Führung‹ oder als Einbruch des Schicksals zu verstehen, steigt in Situationen, die als Krise, Unsicherheit und Unterbrechung erlebt werden, also dann, wenn sich schlagartig der wahrgenommene Kopplungsgrad der Welt verändert. Da sich diese Bereitschaft bei Veränderungen in die positive wie in die negative Richtung hin einstellt, besteht die Kunst der Leitung darin, die allfälligen Attributionen entsprechend zu beeinflussen. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 43 nimmt, indem man liebgewonnene Geschichten, Selbstverständlichkeiten und Ursachenkarten (cause maps) zu diskreditieren versucht. Das kann allerdings ein gefährliches Unterfangen sein, weil dadurch alle möglichen Widerstände geweckt werden, gerade wenn sich die Führungspersonen diesbezüglich eindeutig positionieren. Andererseits lassen sich durch geschickt gesetzte Irritationen Prozesse in Gang bringen, die alten Kopplungen gleichsam den Boden entziehen, ohne die Richtung und Intensität des Neuen gleich schon festzuschreiben. Will man z.B. als ein für einen Studiengang verantwortliches Institut seinen AbsolventInnen neue Beschäftigungsfelder eröffnen und zudem den geografischen Einzugsbereich in einem schwer durchschaubaren Markt erweitern, dann könnte man auf die Idee kommen, die erforderlichen Praktika einerseits zu verlängern (etwa auf sechs Monate) und zugleich die Vermittlungstätigkeiten des Praktikumsbüros bewusst einzuschränken. Die Löschung des organisatorischen Gedächtnisses würde die Suche nach neuen Adressen über den bisherigen, tendenziell eher ortsnahen Bestand hinaus durch die Studierenden selbst nötig machen. Die locker gekoppelten einzelnen Studierenden dürften auf der Suche nach neuen Nischen der Beschäftigung erfolgreicher sein als das eng vernetzte und wenig zahlreiche hauptamtliche Personal, das hauptsächlich seine alten Kontakte wiederbelebt. Zudem induziert die sechsmonatige Praktikumszeit eine engere Kopplung von Praktikant und Stelle (weil diese mehr in die Betreuung investieren, von einem Halbjahrespraktikanten aber auch größeren Nutzen haben), was für die spätere Einmündung in den Beruf von Vorteil ist (vgl. Wolff 2004). Gerade weil soziale Dienstleistungsorganisationen übersät sind mit Gremien, Projektgruppen, Teams, Kollegialorganen, dort also eine Vielzahl von Papierkörben herumsteht, ist es für Führungspersonen wichtig zu wissen, welche Strategien in einer solchen Umgebung Erfolg versprechen. Cohen und March verdanken wir eine Liste von acht nützlichen und anregenden Empfehlungen für das erfolgreiche Bestehen in derartigen Situationen. 31 Dort gilt es: 31 Die Empfehlungen richten sich an jene, die pragmatisch mit solchen Situationen umzugehen versuchen. Man kann, wie March (1994) ausführt, den Papierkörben auch als Reformer gegenübertreten, d.h., sie zu verbannen oder so umzustrukturieren trachten, bis sie in das rationale Muster passen. Dies würde aber unweigerlich auf Kosten der Komplexität von Problemsicht und Problemlösung gehen. March hat als dritte Gruppe noch die Enthusiasten im Blick. Darunter subsumiert er jene, die Papierkorbentscheidungen um ihrer selbst willen schätzen. Eine solche Haltung ist für wissenschaftliche oder andere Beobachter sicherlich leichter einzunehmen als für die beteiligten Führungspersonen. Daher dürften letztere in der Regel eher zu den Pragmatikern gehören. 44 Stephan Wolff • Zeit zu investieren (was sich durch bessere Informiertheit, durch Dankbarkeit vonseiten der Zeitknappen und durch Wartenkönnen auf den richtigen Zeitpunkt auszahlt) • Auszuharren (weil Themen nicht ein für alle Mal erledigt werden und Vorschläge oft ihre Zeit brauchen, bis sie abstimmungsreif und akzeptabel sind) • Status gegen Substanz zu tauschen (weil für manche Teilnehmer das bloße Dabei-Sein und andere Statusfragen wichtiger sind als die eigentlichen Inhalte, sind sie für entsprechenden Tauschgeschäften zugänglich) • Gegnern die Teilnahme zu ermöglichen (weil Entscheidungsprozesse eine Eigendynamik entwickeln und Personen in Verfahrensrollen einbinden, haben sie auch erzieherische und das Anspruchsniveau senkende Effekte. Gegner mit wenig Zeit ziehen sich oft zurück, nachdem sie die Implikationen der tatsächlichen Teilnahme realisiert haben) • Das System zu überladen (wer viele Projekte einbringt, dem können kaum alle abgelehnt werden; man sollte sein Herz nicht zu sehr an ein bestimmtes Projekt hängen, sondern sich darüber freuen, dass überhaupt etwas weiter geht) • Papierkörbe in größerer Zahl bereitzustellen (weil dies ermöglicht, irrelevante, unbequeme oder hartnäckige Probleme und ihre Vertreter abzulenken oder auf unschädliche Stellen abzuschieben) • Unauffällig zu managen (weil direkte Konfrontation Energie kostet bzw. bei anderen mobilisiert, empfehlen sich kleine, indirekt wirkende Interventionen wie die Festsetzung von Berichtspflichten, Formaten, Terminen, Kennwerten, die Einberufung von adhoc-Kommissionen usw.) • An der offiziellen Geschichte zu arbeiten (wer die Geschichte der Organisation fixieren kann, etwa in offiziellen Protokollen, der bringt nicht nur Ordnung in das anarchische Gewirr von Interpretationen, der beeinflusst auch mögliche Zukünfte – nicht zuletzt über die Sozialisation damit instruierter neuer Mitglieder). Insgesamt laufen diese Empfehlungen und das, was wir oben hinsichtlich der Optionen von Führung in lose gekoppelten Systemen herausgearbeitet haben, auf ein Führungsverständnis hinaus, das James March an der Metapher des Segelns veranschaulicht: Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 45 »Es gibt drei Möglichkeiten, sich Management vorzustellen. Sie können es sich als Rennfahrt mit einem Powerboot, als Segeltörn oder als ein Sichtreiben-lassen auf einer Luftmatratze vorstellen. Management ist für meine Begriffe am ehesten mit der Metapher des Segelns zu erfassen. Manager legen sich auf keine Matratze und lassen sich treiben, noch steigen sie in ein Boot und geben Gas, um auf kürzesten Weg ihr Ziel zu erreichen. Sie besteigen eher das Segelboot und sagen: ›Da möchte ich hin‹, aber sie wissen, dass sie nur dort ankommen, wenn sie es verstehen, die Winde auszunutzen. Sie müssen immer wieder vor und zurück, nach links und nach rechts. Ein guter Manager arbeitet in diesem Bild mit dem Wind, nicht gegen ihn« (March 2001: 32). Man sollte nicht vergessen, dass sich der March’sche Segler, ebenso wie sein Weick’scher Kollege in einer Welt jenseits klassischer Rationalitätsvorstellungen bewegt, in der sich Wahrheiten nur in seltenen Momenten zeigen, die man zudem noch oft verpasst. In einer solchen Welt voller Unklarheiten, Mehrdeutigkeiten und Überraschungen begeben wir uns auf eine Reise, um die Fahrt zu genießen und weniger wegen der Freuden, die uns am vermeintlichen Ziel erwarten. 32 Die Einsicht in die Grenzen der eigenen Wirksamkeit könnte eine Führungsperson zu einer zynischen und verantwortungslosen Haltung verführen. Um in einer solchen Welt Orientierung und Motivation für den alltäglichen Betrieb aufzubringen, gibt es für March (vgl. March/Weil 2005: 111f.) drei mögliche Grundhaltungen, die er an Führungsfiguren der klassischen Literatur veranschaulicht: • Pessimismus, ohne zu verzweifeln (beispielhaft verkörpert durch Solschenizyns Ivan Denissovich Leben im Gulag, aus »Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch« ) • Indifferenz, ohne den Glauben zu verlieren (er denkt an Tolstois General Kutuzov während der Schlacht bei Borodino aus »Krieg und Frieden«) • Optimismus, ohne sich große Hoffnungen zu machen. March selbst neigt der dritten Attitüde zu, die er in Cervantes’ Don Quixote verkörpert sieht, 32 Weick (1985: 374f.) zitiert dazu das Gedicht »Ithaka« von C.O. Cavafy, dessen letzte Strophe lautet: »Ithaka gab dir die prächtige Reise,/ ohne sie hätt’st du dich nie aufgemacht./ Nichts blieb ihr, was sie dir jetzt geben könnte./ Und wenn Du sie arm findest, hat Ithaka dich doch nicht betrogen./ So weise, wie du dann sein wirst, so voll mit Erfahrung,/ wirst du verstehen, was diese Ithakas sind«. 46 Stephan Wolff der »acting as a knight errant for the sake of beauty of the world and the exhilaration of living what he feels to be his vocation, thereby accomplishing the obligations that he wants to be worthy enough to fulfill« (March/ Weil 2005: 112). In der Don-Quixote’schen Version von der Führung verbinden sich die Eigenschaften von Einbildungskraft, Selbstverpflichtung und Freude. DonQuixote ist kein Realist, sowohl was die Anerkennung des neuen nüchternen Zeitalters als auch, was die Mehrung seines eigenen Nutzes betrifft. Er erblickt Schönheiten, wo andere andere nur Schmutz sehen, und er weiß genau, wer er ist, eben ein Ritter, und schöpft eben daraus Orientierung, Stolz und ein Gefühl für Angemessenheit: »I think that Quixote tells an organizational leader that good leadership combines an exuberance for life with a commitment to the duties of leadership; that leadership is poetry and routine as well as action; that it is beauty as well as truth, the appreciation of complexity as well as simplicity, the pursuit of contradiction as well as coherence, the achievement of grace as well as control« (March/ Weil 2005: 121). 33 Es wird auffallen, dass im Zusammenhang mit Führung bislang nicht von Macht die Rede war. Dies entspricht einerseits dem allgemeinen Trend in der organisationswissenschaftlichen Literatur, der es selbst den mächtigen Herausgebern des maßgeblichen ›Handbook of Organization Studies‹ angeraten erscheinen lässt, den eigenen Artikel zu diesem Thema mit »Some Dare Call It Power« zu überschreiben (Hardy/Clegg 2006). Die Protagonisten der Perspektive der losen Kopplung würden andererseits zurückfragen: »Warum sollten wir auch?« Macht ist theoretisch zu stark von Kraftmodellen und mit relativ einfachen (Labor-)Situationen verbunden, als dass man sie gewinnbringend als 33 Marchs Bild einer Führungspersönlichkeit ist eher das einer Gärtnerin als jenes eines Ingenieurs: »Engeneers are helpless when deprived of a full understanding of the complex relationships of causality that govern phenomena and access to sufficient means of action and control. Gardeners accept this powerlessness in the face of the overwhelming forces of nature, but believe that they can nevertheless plant seed at the appropriate time, pull up weeds regularly, and adapt their watering to the sunshine. These are small, mundane actions that, performed with constancy, will ultimately yield more opportunities to foster the emergence of a world that is increasingly true, beautiful, and just« (March/Weil 2006: 112). Bemerkenswert ist die auffällige Parallele zum systemtheoretischen Interventionsverständnis (vgl. Willke 1999). Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 47 Erklärungs- und Beschreibungskategorie für komplexe Beziehungsgefüge mit Rückkopplungsschleifen verwenden könnte. Und als Restkategorie für unerklärte Varianz taugt sie nur bedingt, obwohl (und weil!) sie im alltäglichen Reden über Organisationen diesbezüglich allgegenwärtig ist. Angesichts der Ambivalenz der Macht unter Bedingungen loser Kopplung (und organisierter Anarchie) wird Macht selbst mehrdeutig. March wie Weick interessieren sich daher weniger für Macht als für das Umgehen mit Machtlosigkeit oder für die Rolle von Machtattribution in organisatorischen Sinnstiftungsprozessen (Weick 2006). 34 5.3 Von der Praxisnähe zur Praxissensibilität Wer, wie viele Studierende, Lehrende und Praktiker im Bereich sozialer Dienstleistungen, Praxisnähe für einen Wert an sich hält, wird an den diesbezüglichen Aussagen von March und Weick wenig Freude haben. So begann March jedes seiner Seminar in Stanford mit den Worten »Meine Ideen sind weder jetzt für die Praxis von Bedeutung, noch waren sie es jemals zuvor« (Conto 2006). Für den Umgang mit Beratern, einer Berufsgruppe, zu der wohlgemerkt ein Gutteil seiner Absolventen gehört, gab er im selben Interview den Managern den Rat: »If a manager asks an academic consultant what to do and that consultant answers, then the consultant should be fired. No academic has the experience to know the context of a managerial problem well enough to give specific advice about a specific situation«. Uns sollten solche Aussagen nicht zu sehr überraschen, stellen sie doch eine konsequente Umsetzung der Idee der losen Kopplung auf das Verhältnis von Theorie und Praxis dar. Damit wird das Konzept der Losen Kopplung sozusagen selbstreflexiv. Ganz in diesem Sinn rät Weick ebenfalls zur Vorsicht vor allzu energischem Bemühen um Relevanz. Ein solches Streben sei schon deshalb problematisch, weil es von der Machbarkeit und Sinnhaftigkeit einer engen Kopplung von Theorie und Praxis, von Wissenschaft und deren Verwendung ausginge. Nach allem, was man weiß, sind Ideale, politische Absichten und Pläne auf der einen und ihre Umsetzung, deren Resultate und Evaluation auf der anderen Seite typischerweise nur lose miteinander gekoppelt. 34 Kritisch könnte man einwenden, dass viele der insbesondere von March vorgestellten Strategien im Grunde solche der Machtverschleierung sind und dass die Protagonisten der losen Kopplung durch ihre Aussagen aktiv an einer Ideologie der ›Machtlosigkeit‹ mitarbeiten. Eine solche ›machiavellistische‹ Deutung mag, nicht zuletzt angesichts des z.T. ironischen Grundtons mancher ihrer Einlassungen, auf den ersten Blick naheliegen. Sie übersieht freilich die schwerwiegenden Argumente hinsichtlich der theoretischen, empirischen und praktischen Schwächen des Machtkonzepts – auch und gerade unter Bedingungen von Ambiguität, Komplexität und Vernetztheit. 48 Stephan Wolff Daher hält er es für erfolgversprechender, die Aufmerksamkeit auf das »public sector management of policies and policy making« zu richten und nicht auf die politischen Inhalte per se. »Our strength may lie in articulating the dynamics that loosen and tighten couplings between policy and execution, in working backward from outcomes toward intermediate practices that implement policy, and in articulating how movements at the grass roots shape policy at other levels« (Weick 2005). Aus der Perspektive der losen Kopplung ist auch deshalb schwer einzusehen, warum sich die sozialwissenschaftliche Theorie und Forschung generell am Leitbild der Praxissensibilität orientieren sollte, weil eine allzu enge Verkopplung beider Seiten die Autonomie und Operationsfähigkeit der jeweils anderen Seite beeinträchtigen würde. Wer Praxisnähe forciert und auf unmittelbare Anwendung der Inhalte drängt, die Wissenschaft mit der Praxis eng zu verkoppeln versucht, ebnet nicht nur diese Differenz ein, sondern verspielt die wechselseitigen Wahrnehmungs- und Reflexionsgewinne, etabliert eine Art imperatives Mandat in die eine oder andere Richtung und/oder lädt zur Scheinheiligkeit ein. Die geschickte Justierung von Differenz und Kopplung verspricht andererseits interessante Einsichten in Dinge, die sich weder die Praxis noch die Theorie vorher so denken konnten (vgl. dazu ausführlicher Wolff 2008). Weick hat schon in der 1976er Veröffentlichung deutlich gemacht, dass er lose Kopplung nicht per se als erstrebenswertes Ziel betrachtet, auf das der Prozess des Organisierens normativ ausgerichtet werden sollte, obwohl er einräumt, dass »this paper takes a neutral, if not mildly affectionate, stance« (1976: 6). Weick gibt keine Handlungsempfehlungen, sondern formuliert eher Faustregeln. Diese laufen typischerweise auf kreative Selbstbindungen bzw. auf aktive EntKopplungen eingespielter struktureller Festlegungen hinaus, die geeignet sind, experimentelle Formen des evolutionären Lernens anzuregen. Hinsichtlich der Reichweite seiner Aussagen unterscheidet er nicht zwischen Wirtschaftsunternehmen und sonstigen Organisationen. Er erprobt die Ideen der losen Kopplung und der Sinnstiftung nicht nur an den Strukturen und Prozessen von und in Erziehungsorganisationen, sondern ebenso erfolgreich am Zusammenspiel von Jazzorchestern; an Feuerwehrleuten, die Waldbrände bekämpfen; an Fluglotsen, die sich einen Reim auf die wandernden Zeichen auf ihren Monitoren machen; an Kliniken, die es schaffen, statistische Häufungen von tödlichen Zwischenfällen auf Kinderstationen zu übersehen; und an Abstimmungs- und Rückmeldungsprozessen in hektischen Operationssälen, auf schwankenden Decks von Flugzeugträgern oder in abgeschirmten Kontrollständen von Atomkraftwerken. Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 49 6. Kritische Würdigung: Erfolgreich bis zur Unkenntlichkeit? Das Faszinierende an der Perspektive der losen Kopplung besteht weniger in ihrer theoretischen Stringenz oder ihrer empirischen Triftigkeit, obwohl man sich angesichts der vorliegenden Systematisierungsversuche (insbesondere von Weick 1982b und Orton/ Weick 1990) sowie angesichts der kontinuierlichen Bemühungen von March und seinen Mitarbeitern 35 diesbezüglich sicherlich nicht zu verstecken braucht. Fruchtbar ist diese Perspektive vor allem als intellektuelle Grundhaltung. In den Organisationswissenschaften dominierten und dominieren teilweise heute noch solche Ansätze, die Organisationen als geordnete Gebilde verstehen, die nur hin und wieder von eigentlich vermeidbaren Regelabweichungen und Unschärfen ›gestört‹ werden. Die Perspektive der losen Kopplung erklärt demgegenüber gerade diese Ungeordnetheit, Unsicherheit und Ambivalenz zum eigentlichen Ausgangspunkt der Theoriebildung und aller praktischen Versuche des Organisierens. Sie nötigt uns damit, liebgewonnene Selbstverständlichkeiten und Reifizierungen (wie Ordnung, Rationalität, Organisation oder Kundenorientierung, Qualität, Verantwortung) sozusagen in Anführungszeichen zu setzen und die Systematik der Prozesse ihrer Herstellung ins Zentrum der Analyse zu rücken. Strukturen sind danach nicht etwas, was Organisationen haben, sondern etwas, was Organisationen tun. Und eben indem sie dies tun, reproduzieren sie sich als Organisationen! Die Idee der organisierten Anarchie und das Papierkorb-Modell ihrerseits haben geholfen, überhaupt eine genuin organisatorische Perspektive auf Entscheidungen zu begründen, indem sie den einzelnen Entscheider aus seiner Stellung als zentraler Analyseeinheit verabschiedet, die individuelle Rationalität zugunsten des Strebens nach organizational intelligence relativiert und konsequent den Prozess des Entscheidens in den Blickpunkt gerückt haben. Es fällt auf, dass Weick in seinen jüngeren Arbeiten (d.h. nach 1990) das Konzept der losen Kopplung nicht mehr weiter vertieft und sich statt dessen lieber der Idee der Sinnstiftung (sensemaking) zugewandt hat. Im Sinnstiftungsansatz kommen für ihn die Handlungs- und Prozesskomponente und der interpretative Charakter des Organisierens deutlicher zum Ausdruck. Dies bedeutet nicht, dass Weick sich von der Idee der losen Kopplung distanzieren würde. Er hat sie im Gegenteil in gewisser Weise sogar generalisiert. Sinnstiftung beschreibt nämlich die Kopplung von Elementen in einer sehr grundsätzlichen 35 Vgl. Cohens (2001) Klarstellungen gegenüber der Kritik der Papierkorbmodells aus dem rational choice-Lager von Bendor, Moe und Shotts (2001). 50 Stephan Wolff Weise, nämlich der Dokumentarischen Methode (Garfinkel 1967: 78). Die dokumentarische Methode bezeichnet das Einbringen der Elemente in einen Interpretationsrahmen, der eben dadurch als solcher konstituiert wird. Da man nicht nur eine Gestalt in der Unordnung erkennt, sondern durch neue Reize und Reaktionen des Gegenübers immer wieder auch die Unordnung in der Gestalt erfährt, wird der Prozess der Sinnstiftung Zug und Zug weitergetrieben. Insoweit füllt Weick mit dem Sinnstiftungsansatz ein oft beklagtes Desiderat der Kopplungsperspektive, nämlich, die Mechanismen der Kohäsion zwischen den Elementen genauer zu bestimmen. Auch March und seine Mitstreiter haben, wenngleich begrenzter und vorsichtiger, interpretative Elemente in ihre Arbeiten integriert, nicht zuletzt als Konsequenz der Einsicht in den fiktiven Charakter ihres Modells 36 bzw. in die Grenzen von Laborstudien (wie die PapierkorbStudie von Cohen u.a. letztlich eine war). Entscheidungen und ihre Rationalität werden nun ausdrücklicher als Ergebnisse komplexer, politischer und in ihrem Verlauf unvorhersehbarer kommunikativer Prozesse beschrieben – wohl gemerkt: nur als eine Form von Ergebnissen in eine Reihe anderer. Verbunden mit der Logik der Angemessenheit und den diversen Strategien einer Technologie der Verrücktheit entstand daraus eine konzeptuelle Dynamik, die immer mehr wegführte vom ursprünglichen Ausgangspunkt des Problemlösens, und sich einer allgemeinen organisatorischen ›theory of action‹ annähert. Dies würde in der Konsequenz bedeuten, Organisationen statt als Problemlösungseinrichtungen als Handlungsgeneratoren zu betrachten (wie dies Starbuck schon 1983 den Autoren empfohlen hatte). Probleme können neben Programmen, Terminen, Strukturen, Berichtspflichen und Meetings als derartige Handlungsgeneratoren fungieren, gleichzeitig aber auch Resultate anderweitig ausgelöster Aktivitäten sein. Die Unterstellung eines sich aus der Logik der Sache ergebenden exklusiven Zusammenhangs zwischen der Perspektive der Losen Kopplung und dem empirischen Feld der HSOs, die angesichts der ursprünglich von deren Protagonisten 36 Natürlich war die Idee dreier voneinander unabhängiger ›Ströme‹ eine solche Fiktion: Probleme und Handlungen sind nur unter ganz besonderen Bedingungen gänzlich unabhängig voneinander, zumindest implizieren sie sich in den Augen der Teilnehmer. Die meisten Probleme werden konstruiert bzw. rekonstruiert, um beabsichtigte Handlungen möglich und verständlich zu machen. Zudem empfinden die Teilnehmer Entscheidungsprozesse trotz aller Kontingenz letztendlich meist als durchaus logisch und folgerichtig bzw. verhalten sich, indem sie auf die Resultate ihrer Handlungen wechselseitig reagieren, also ob des diese Logik gäbe (vgl. Starbuck 1983). Bei aller Berechtigung und Innovativität des Aspektes der Gleichzeitigkeit unterschätzte das Modell die Bedeutung von inhaltlicher Kohärenz (d.h. von sachlicher Passung und sozialer Anschlussfähigkeit). Dienstleistungsorganisationen als lose gekoppelte Systeme und organisierte Anarchien 51 bevorzugten Forschungsfelder vielleicht nahe lag, erscheint aus heutiger Sicht nicht gerechtfertigt. Die Überschätzung der Entsprechung von loser Kopplung und sozialen Dienstleistungsorganisationen wurde in den 1990er-Jahren spätestens dann spürbar, als sich die Versuche mehrten, soziale Dienstleistungsorganisationen durch Übernahme von Managementkonzepten, -prinzipien und -praktiken aus dem Unternehmensbereich enger zu koppeln, und sich dies trotz aller Kritik und vieler unerfreulicher Nebenkosten als durchaus machbar erwies. Einerseits häuften sich mit der Zeit die Belege dafür, dass sich lose Kopplung und organisierte Anarchien in allen Organisationstypen in vergleichbarem Ausmaß wiederfinden lassen. Andererseits hatte man übersehen, dass die in den neuen engen Verkopplungsversuchen eingesetzten Verfahren (wie Zielvereinbarungen, indikatorgestützte Mittelzuteilung, Fallpauschalen etc.) durchaus in den Bereich der Varianten loser Kopplung fallen können. 37 Lose Kopplung eignet sich nicht als normativer Standard für die Gestaltung HSOs, wohl aber als analytischer Bezugspunkt für deren, wie für die Untersuchung anderer Organisationen. Ob eine derartige Form der Kopplung von Theorie und Praxis genügend Orientierungs- und Bindekräfte bereithält, um sowohl für die Weiterentwicklung der Organisationstheorie wie für die intelligentere Ausrichtung sozialer Dienstleistungsorganisationen nützlich zu sein, sei 37 Angesichts dessen erscheint es nur konsequent, wenn in der Literatur zu HSOs seit Mitte der 1990er-Jahre die Spuren der klassischen Schriften und Konzepte von March und Weick verblassen. Nimmt man dafür die repräsentativen Veröffentlichungen Yeheskel Hasenfelds (1972, 1992, 2000, 2009), des halb-offiziellen Chronisten der Theorie sozialer Dienstleistungsorganisationen zum Maßstab, dann fällt auf, dass schon in Hasenfelds Handbuchartikel von 1992 nurmehr auf die neoinstitutionalistische Version der losen (Ent-)Kopplung (insbesondere verschiedene Arbeiten der Gruppe um John Meyer) Bezug genommen wird. 2000 findet sich Weick wieder, allerdings unter ›culture‹ und ›sensemaking‹ rubriziert. Zitiert wird das 1995erBuch zur Sinnstiftung, wobei die entscheidenden Stichworte ›Integration‹ und ›sozialer Zusammenhalt‹ sind. Der Zusammenhang mit der Kopplungsidee bleibt unerwähnt. Statt Strukturfragen interessieren jetzt Aspekte der kognitiven Rahmung der Realitätskonstruktion, also Fragen der kulturellen Konsistenz und ihres Zerfalls in Krisensituationen. In der 2009erAusgabe wird Weick eine eigentümliche Rolle zugewiesen. Hasenfeld stellt ihn dort nämlich als Advokaten einer lose gekoppelten Theoriebildung vor. Angesichts der immer noch dürftigen theoretischen Grundlegung des Feldes, der Übernahmen oft fragwürdiger Managementkonzepte zur Rationalisierung des herrschenden Betriebs und angesichts der Nichtbeachtung wichtiger theoretischer Entwicklungen und empirischer Einsichten sei es für die HSOs an der Zeit, ihre praktischen Organisationsfragen enger mit darauf beziehbaren theoretischen Angeboten zu koppeln und die eingesetzten Praktiken einem konsequenten Wirklichkeitstest zu unterziehen. Dabei komme es nicht auf die Adoption einer ganz bestimmten theoretischen Perspektive an. »To paraphrase Weick (1995), over time, administrators will act as if they are feminist, rationalist, political economist or radicalist« (Hasenfeld 2009: 75). 52 Stephan Wolff dahingestellt. Dass die Perspektive der losen Kopplung (zusammen mit dem Konzept der organisierten Anarchie) ein kleines, aber konsequentenreiches Stück theoretischer Struktur anbietet, scheint mir aber offensichtlich. 7. 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