Verdichtete Zeit, Flimmernde Präsenz
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Verdichtete Zeit, Flimmernde Präsenz
VERDICHTETE ZEIT, FLIMMERNDE PRÄSENZ. Technologische Erschütterungen der Gegenwart [Bezogen auf Vorlesung im Master-Studiengang Medienwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin] IRRITATIONEN VON GEGENWART Augmentiere Präsenz: Irritation von Gegenwart durch technische Medien Die physiologischen Tatsachen der Gegenwartswahrnehmung "Choc" mit Benjamin Techno-affektive Vergegenwärtigung Der Radio-Moment Benjamins "Jetzt-Zeit" [Exkurs: Der zeitkritische Moment, gelesen mit Lessing (Laokoon)] Diskretes Sampling kontinuierlicher Gegenwart a) Das optische Gegenwartsfenster Flipper spielen (mit Kittler) DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN APPARAT Der photographische Schnappschuß und die Rückkehr der Aura als Zeitmoment Kinematographie und das "Untote" Der kinematographische Gegenwartsentzug Das "moving still" Non-epochal: Filmische Ausklammerungen Eskalationen der Chronophotographie: "sample & hold" und das "animated GIF" Exkurs zur technisch begründeten Differenz von emulativer (funktionslogischer) "Wiederauferstehung" eines Computerprogramms und kinematographischer (Re-)Animation VERZÖGERTE GEGENWART: DAS ELEKTRONISCHE BILD (VIDEO UND TV) Die heuristische Fiktion des "Bildpunkts" Zwischenfilm und Speicherbildröhre Present Continuous Past(s) (Dan Graham 1974) "The meaning of 'live'" (Paddy Scannell) und "die fehlende Halbsekunde" (Herta Sturm) Zur Zeitstruktur der live-Übertragung der Terrorattacke New York, 11. September 2011 "Pre Record Modus" und instant replay ALGORITHISCHE ENTFESSELUNG DES ZEITREALS UND TEMPORALISIERUNG DER GEGENWART Das (medientechnisch faßbare) Reale / Unbewußte Was heißt "Kommunikation unter Anwesenden" (Niklas Luhmann) in Zeiten von Livestreams? Zwischen(-)Speichern und Übertragen: Das Archiv in Bewegung (die GoPro-Kamera) Theatralische Präsenz: Körper und Stimme "Time-Sharing" Subliminal oder verschwiegen? High Frequency Trading an der Börse Aufgehobene Gegenwart (das Beispiel der Bibliothek) Auf Dauer gestellte Gegenwart? Das "Recht auf Vergessenwerden" und Googles Suchmaschine b) Das sonische Gegenwartsfenster DAS JETZT ALS ZAHL, KLANG UND FREQUENZ Zeitfluchten und ihre numerische Analyse Exkurs zu Heinrich Heidersbergers Rhythmogrammen "Durch 'Rückwärts' vorwärts": Tonbandeffekte SONO-TRAUMATIK Der sono-traumatische Affekt Absenz versus Appräsentierung: Phonographisch induzierte Halluzination von Vergangenheit Eine Quellenkritik phonographischer Stimmen Der Einbruch des Tons in das Bewegtbild von Film und Fernsehen (mit Adorno) Die im Klang verdichtete Erinnerung des Holocaust IRRITATIONEN VON GEGENWART Augmentierte Präsenz: Irritation von Gegenwart durch technische Medien Zwischen instantaner Archivierung von Gegenwart und unmittelbarer Vergegenwärtigung von Vergangenheit schillert der Begriff von "Präsenz". Es gibt sie als Anwesenheit im phänomenologischen, auratischen Sinn von Gegenwärtigkeit, und als Gegenwart im chronologischen Sinne.1 Hier eröffnen sich Zonen der Unbestimmtheit; in einem medientheoretisch zu bestimmenden Maße ereignet sich die Temporalisierung der reinen Gegenwart in und als "Epochen" von Technologien. Das Konzept "historischer Zeit" ist ein kulturelles Produkt symbolischer Ordnung. Nicht länger aber gelingt es, den makrozeitlichen Selbstbegriff des Menschen als "geschichtlich" mit den von seiner Kultur selbst hervorgebrachten hochtechnischen Zeitoperationen zu vereinbaren. So tut sich eine traumatische 1 Siehe Katrin Stepath, Gegenwartskonzepte. Eine philogoischliteraturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen, Würzuburg 2006 Kluft auf - analog dazu, wie es der menschlichen Psyche nicht gelingt, eine traumatische Erfahrung noch narrativ zu historisieren und damit aus einem fortwährend traumatischen (offen bleibenden) Gedächtnis eine kontrollierte Erinnerung zu machen. Traumatisch ist eine nicht-historisierte Vergangenheit - welche per definitionem der Effekt signalspeichernder Medien ist. <cKYBERFANK> Geschichte ist Vergangenheit "nur, sofern diese in der Gegenwart historisiert ist"2. Das Nicht-Historisierte der kybernetischen Kernfrage nach beständiger Rückkopplung dauert in die Gegenwart an, und das nicht in einem unbestimmten Raum, sondern höchst konkret in der sogenannten von-Neumann-Architektur des Computers: nämlich im Konzept der Speicherprogrammierung3, wie sie Charles Babbage einst für seine Analytical Engine angedacht, aber nie gebaut hat. "[W]hile digital technology can serve to disconnect us from the cycles that have traditionally orchestrated our activities, it can also serve to bring us back into sync." wirklich? Mit der Edison-Glühbirne ergab sich - als wahre Botschaft der Elektrizität - eine erste Irritation der alltäglichen Zeiteinteilung: die Loslösung von der chronobiologisch motivierten Orientierung an Tag und Nacht (McLuhan 1964). Dessen spätmittelalterlicher Vorlauf war die Notwendigkeit eines mechanischen Weckrufs für die nächtlichen Vigilien in den benediktinischen Klöstern, die zur spätmittelalterlichen Entwicklung der Räderuhr mit Hemmung führte - recht eigentlich der buchstäbliche Beginn der Frühneuzeit, denn die gleichförmigen Oszillationen bilden seitdem die Grundlage (hoch-)technischer Temporalitäten. Derartige Zeit-Reproduktionstechniken greifen selbst in die Ästhetik des Kunstwerks ein: "Die Zeitstruktur von Flüchtigkeit und Wiederholbarkeit, die fürs autonome Kunstwerk typische zu Struktur von Einzigkeit und Dauer ersetzt, zerstört die Aura."4 2 3 Lacan 1990: 20 "Das Apriori dieses von dem kybernetikversierten Lacan beschriebenen Gedächtnisses ist <...> der integrierte Programmspeicher. <...> Die gespeicherten Daten wirken zugleich als Revision des aktuellen Befehlssatzes. Das Diachronische ist synchronisch operant." Bitsch 2009: 425f. "Die Maschine <...> kann den Inhalt ihres Speichers verändern, insbesondere auch die im Speicher gespeicherten Befehle einschließlich der Befehle, die ihren Operationsablauf steuern." John von Neumann, Papers of John von Neumann on Computing and Computer Theory, Cambridge / London / Los Angeles 1987, 19 4 Jürgen Habermas, "Bewußtmachende oder rettende Kritik". Die Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, 184 Die Frage nach der punktförmigen oder ausgedehnten Gegenwart stellt von jeher ein zentrales Thema in der abendländischen Diskussion des Seinsbegriffs dar. In Buch IV seiner Physik widmet sich Aristoteles ausführlich den Möglichkeiten, den gegenwärtigen Moment als Bewegungszeit numerisch zu fassen; diesen mathematischen Begriff von Gegenwart hat dann Henri Bergson in Kapitel IV seiner Évolution créatrice als "kinematographisch" kritisiert und damit zugleich dessen technische Eskalation definiert. Übertragungsmedien brechen mit ihren gegenwartserzeugenden Mechanismen den okzidentalen Logozentrismus nicht nur als räumliche Distanzüberbrückung auf. Seit Photographie, Phonograph und Kinematographie vermögen technische Speichermedien Gegenwartsmomente und -ereignisse ihrerseits auf Dauer zu stellen In digitalen Kommunikationsmedien wird einerseits die Gegenwart in immer kürzeren Intervallen "archiviert", andererseits wird die Vergangenheit in Momenten ihrer Wiederaktivierung (als represencing) in wiederholter Gegenwart gehalten. Dialektisch "aufgehoben" (und daher überwunden) ist diese Oppositon durch die in der ballistischen Artillerie des Zweiten Weltkriegs entwickelte anti-aircraft prediction, die bereits im Modus des Futur II kalkuliert.5 Der medienarchäologisch kalte Blick auf Techno-Traumata und deren Identifizierung ist in der Tat ein Zwilling der posthumanistischen Theorie. Seit der phonographischen Stimmaufzeichnung irritieren signalspeichernde Technologien den menschlichen Gegenwartssinn durch "archiving presence". Diese Technologie ist aber keine üble Verselbständigung von Technik, sondern die Erfüllung eines menschlichen Phantasmas. Höchste Zeit, daß der Diskurs auf den Stand kommt, den die kulturtechnisch erreichten Medien längst schon zeitigen: ein parahumanistisches Denken. Deleuze bezeichnet den Affekt als das "Nichtmenschlich-Werden des Menschen"6; tatsächlich ist das In-der-Zeit-Sein des wahrnehmenden Subjekts in affektiver Kopplung an Technologien deren Eigenzeitlichkeit unterworfen. "Deleuze löst also den Affekt vom Körper und überantwortet ihn dem Bewegungsbild. Damit jedoch werde der Affekt außerhalb des Subjekts angesiedelt und zu seiner Frage der Technik"7; hierin gründet das Techno-Trauma. Vilém Flusser zufolge sind die Subjekte zu bloßen "Funktionären" des technischen Apparats geworden. In posthumanistischer Lesart werden Menschen deren technologischer Eigenlogik (und Eigenzeit) unterworfen. 5 Siehe Norbert Wiener, Futurum Exactum. xxx, hg. v. Bernhard Dotzler, xxx 6 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt/M. 2000, 204 <hier zitiert nach: Angerer 2007: 66> 7 Marie-Luise Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich / Berlin (diaphanes) 2007, 33 "Während die ‘humanistische’ Apparatkritik [...] letzte Reste menschlicher Absichten hinter den Apparaten beschwört, die in ihnen lauernde Gefahr vertuscht, sieht die hier vorgetragene Apparatkritik ihre Aufgabe gerade darin, die entsetzliche Tatsache dieses absichtslosen, sturen und unkontrollierbaren Funktionierens der Apparate aufzudecken [...]."8 Die physiologischen Tatsachen der Gegenwartswahrnehmung Gegenwartsempfindung ist zunächst ein Phänomen menschlicher Sinnesphysiologie. Deren Thematisierung aber ist von vornherein vom technischen Begriff nicht zu trennen; Hermann von Helmholtz wie Sigmund Freud diskutieren den pysiologischen und psychischen Mechanismus als "Apparat". Von Helmholtz beschreibt eine den menschlichen Sinnen überhaupt zugängliche Gegenwart: die zeitweiligen Präsentabilien; demgegenüber definiert erst als "<...> präsent dasjenige Empfindungsaggregat aus dieser Gruppe, was gerade zur Perzeption kommt"9. Pikant werden die Präsentabilien, wenn sie sich nicht länger als substantielle Gegenstände, sondern ihrerseits als "Zeitobjekte" (im Sinne Edmund Husserls) herausstellen. Wurde Schall anhand von Monochord und Echoeffekten bereits von den Ohren antiker Griechen in seinem Impuls- und Schwingungscharakter als Zeitform identifiziert, wurde das scheinbar immediate Licht erst in der europäischen Neuzeit in seinem Schwingungscharakter entdeckt. Bloßen Augen ist diese Einsicht nicht gegeben, womit auch die Gegenwartswahrnehmung audio-visuell auseinanderfällt. In der Fähigkeit, Schwingungsereignisse als solche wahrzunehmen, "ist der Gehörnerv dem Sehnerven erheblich überlegen"10. "Choc" mit Benjamin "Der Begriff „Choc“ (auch: „Chock“) gelangte Ende der 1930er Jahre in die Kulturtheorie, vermittelt durch Walter Benjamins Untersuchungen zum Werk Charles Baudelaires. Für Benjamin ist die Großstadterfahrung, wie sie in Baudelaires Literatur vermittelt wird, durch ihre Chockhaftigkeit geprägt: Vor allem der Straßenverkehr bestimmt mit seiner Geschwindigkeit Wahrnehmung und Lebensrhythmus der Städter und sorgt für beständige 8 Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, 7. Auflage, Göttingen, 1994, S. 67. 9 Hermann v. Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, in: ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien / New York (Springer) 1998, 147-176 (156) 10 Von Helmoltz 1998: 152 Chockerlebnisse. Demgegenüber sieht Benjamin den Reizschutz (ein aus Freuds „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) entlehnter psychischer Mechanismus) wirken, der die Überflutung mit zu starken Reizsignalen (Chocks) verhindern soll. In seinem Kunstwerkaufsatz überträgt Benjamin dieses Konzept auf eine Wirkungstheorie der Filmmontage: Durch den beständigen Wechsel der Bilder und Einstellungen befindet sich der Zuschauer im Zustand andauernder Chockierung. Film wird damit zur Wiederholung und kulturellen Einübung des Blicks in der Moderne: „Der Film ist die der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Choc-Wirkungen auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie bedrohenden Gefahren“ (Benjamin)."11 Der Begriff des Chock wurde von Benjamin bereits in dem Photographieaufsatz eingeführt: mit dem Chock, werden die tradierten Wahrnehmungsmuster und Assoziationsmechanismen außer Kraft gesetzt, der Chock befördert die Zertrümmerung der Aura.12 Benjamin, GS IV, 252: "Sollte man nicht von Begebenheiten reden, die uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall, der es erweckte, irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im übrigen entspricht dem, daß der Chock, mit dem ein Augenblick als schon gelebt uns ins Bewußtsein tritt, meist in Gestalt von einem Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein Echo scheint zurückzuhallen." Der Kinematograph trainiert die subliminalen Wahrnehmungsformen der Moderne, den choque und Diskontinuität. "Der Film dient, den Menschen in denjenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen zu üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in seinem Leben fast täglich zunimmt. Die ungeheure technische Apparatur unserer Zeit zum Gegenstand der menschlichen Innervation zu machen - das ist die geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst der Film seinen wahren Sinn hat."13 Tatsächlich fragen sich die frühen mit Kino sozialisierten 11 Stefan Höltgen, Eintrag "Chock", in: Lexikon der Filmbegriffe, online http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php? action=lexikon&tag=det&id=3476 (Zugriff 6. Januar 2014; Artikel zuletzt geändert am 2. August 2011), unter Bezug auf: Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, sowie ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Beide in: Schriften. I,2. Frankfurt: Suhrkamp 1991, 605-654 u. 471-508 12 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931), S. 93 13 Walter Benjamin, GS, Bd. I, 444 f. Generationen, ob nicht die filmische Form die wirklichere sei.14 "Desanthropomorphisierung also, die Sprengung der Körperform, ist der technische Realgrund dafür, daß die zeitparadimatischen Formen der Moderne die Maschinen sind."15 Benjamin diagnostiziert es neben Jazz und Tanz: "[N]ichts verrät deutlicher die gewaltigen Spannungen unserer Zeit als daß diese taktile Dominante in der Optik selber sich geltend macht. Und das eben geschieht im Film durch die chockwirkung <sic> seiner Bildfolge."16 <cZEITKRITKOMM> In digitalen Netzen wird die klassische nachrichtentechnische Funktion der raumzeitlichen Übertragung durch nahezu immediate Vervielfältigung der Information ersetzt (was juristisches Neudeutsch mit dem Oxymoron "Originalkopie" bezeichnet). Nutzung und Konsum selbst sind hier schon ein Akt der Kopie: "Every time you use a creative work in a digital context, the technology is making a copy"17; diese Kopie ist aber nicht mehr durch das Vergehen von Zeit vom Original unterschieden. Die von Walter Benjamin benannte Einmaligkeit hinsichtlich Ort und Zeit, die das Wesen des Kunstwerks als Original ausmacht18, ist damit ebenso aufgehoben wie sein Merkmal des historischen Index, der geschichtlichen Zeugenschaft. Die Aura in Benjamins Terminologie als "Ferne, so nah sie auch sein mag", korreliert mit dem Moment der Bergsonschen durée, also außerhalb der falschen, chrono-technischen Verkoppelung von mathematischer Zeit und Raum, als asymbolische Übertragung. Insofern verkörpert die analoge Photographie das Lacansche Reale. <cZEITWEISMEDHIST> Medienzeit ist nicht schlicht im ontischen Sinne, sondern sie 14 In diesem Sinne etwa Lou-Andreas Salomé, zitiert von Baudry, xxx, in: Kursbuch Medienkultur, xxx 15 Norbert Bolz, Abschied von der Gutenberg-Galaxis. Medienästhetik nach Nietzsche, Benjamin und McLuhan, in: Jochen Hörisch / Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne, München (Fink) 1990, 139-156 (144) 16 Benjamin, GS, Bd. I, 1049 17 Lawrence Lessig, Remix. Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy, London (Bloomsbury Academic) 2008, 98 18 "Denn die Aura ist an sein Hier und jetzt gebunden. Es gibt kein Abbild von ihr": Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [*1936], Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1969, 14. Eine entsprechende "Inflationstheorie" fordert Bernhard Vief, Die Inflation der Igel. Versuch über die Medien, in: Derrick de Kerckhove / Martina Leeker / Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Berlin (transcript) 2008, 213-232 erzeugt eine "museale Präsenz" der Gegenwart der Vergangenheit (Götz Großklaus). Walter Benjmin bescheibt 1935/36 die Überforderung der kulturgeschichtlich geprägten menschlichen Sinne durch ein Übermaß an neuartigen, medieninduzierten Reizen, die auf sie einwirken: als Choquewirkung19; dieser Begriff ist durchaus ein zeitkritischer, denn er bezeichnet die medieninduzierte Irritation des Zeitsinns zugunsten fraktaler Zeitwahrnehmung. "Die neuen Medien sind aktions- und nicht kontemplativ, augenblicks- und nicht traditionell orientiert."20 Diese neuen Medien orientieren den menschlichen Zeitsinn vom historisierenden Modus auf Emergenz und Instantaneität um, wie sie als die Zeitweise von Computerspielen längst vertraut ist. <cCOMPSPIEL> "Mit der Immersion kann ein Gefühl von presence innerhalb des Spiels bei der Nutzerin hervorgerufen werden."21 Spieler nimmt das Interface nicht mehr als technisch wahr, "sondern fühlt sich als Teil der Welt hinter dem Monitor" <367> - Alice im Wonderland, dissimulatio artis. Unterschied zwischen physischer (etwa LAN-Party), virtueller (buchstäblich "ausgerechneter") und psychologischer presence in Computerspielen.22 Telephonie (anders noch als Telegraphie, die als symbolischer Code eine kognitive Distanz wahrt) zeitigt zunächst einen Choque; die zeitgleiche Kommunikation im Gespräch bei vollständiger Löschung der Raumdifferenz bedeutet für den menschlichen Zeithaushalt eine Irritation. Walter Benjamin befürchtete, der Mensch könne "von der Überfülle von elektrischem Licht blind und von dem Tempo der Nachrichtenübermittlung wahnsinnig werden."23 Geschah die Nachrichtenübermittlung als Rundfunk im Medium der elektromagnetischen Wellen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit, war ihre redaktionelle Produktion zunächst noch speicherlastig; die Produktion von Fernsehsendungen - abseits von tatsächlicher live19 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [Zweite Fassung], in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Bd. I: Abhandlungen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1978, 471-505 (486ff) 20 Hans-Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Kursbuch 20 (März 1970), 159-185 (167) 21 Judith Ackermann, Dekonstruktion einer Immersion. Der Avatartod als distanzierendes Moment im Computerspiel, in: Inderst / Just (Hg.) 2013: 365-380 (367) 22 Dazu J. Bryce / J. Rutter, In the Game - In the Flow: Presence in Public Computer Gaming. Poster presented at 'Computer Games & Digital Textualities', IT University of Copenhagen, March 2001; http://www.cric.ac.uk/cric/staff/Jason_Rutter/presence.htm 23 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. V (Passagenwerk), Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1989, 114 Übertragung - beruhte auf analoger magnetischer Bandaufzeichung in versetzter Gegenwart. <ModECHTZEIT> Vom Privilegieren des Aufgepeicherten im abendländischen Kulturbegriff hin zu einer Ästhetik der permanenten Übertragung die Herausforderung der televisionären live-Medien. Medienarchäologisch betrachtet aber verlief der Weg umgekehrt. Ohne erhaltene Zwischenfilme wären alle ersten Fernsehprogramme für das kulturelle Gedächtnis verloren. Digitalisiert - und damit dem Zeitfenster von Echtzeit anheimgegeben - wurden zunächst die Übertragungswege; inzwischen haben leistungsfähige Computervideo-Server auch die klassische MAZ ersetzt - eine vollständige Entlinearisierung von Telepräsenz zugunsten diskretisierter Gegenwartsmomente. Doch im präzisen Sinne des Samplings in der elektrotechnischen analog/digital-Wandlung, der Fouriertransformation (respektive Wavelet-Analyse) und des neurologischen Wahrnehmungsfensters gibt es kein momentanes punctum, sondern vielmehr dessen Ausdehnungen: Zeitfenster von Gegenwart. Jetzt-Zeit diffundiert in aisthetischer Präsenz. Flipper spielen (mit Kittler) "Wenn der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt, so wird auch er, wenn sein Mitspieler Automat ist, zum Unmenschen." This counts for the temporal realm as well.24 "Bloss durch ein Reaktionstempo, das sich dem des Automaten sklavisch anschmiegt, erlangt der Spieler nicht sowohl den Sieg als die verzögerte Niederlage, die die Registrierkasse des Flippers dann als Sieg ausgibt. Automaton nisi parendo quodammodo vincitur. <...> Der Flipper erlaubt bloss noch Taktik statt Strategie." Kittler zum Flipper-Spiel: "Die Erfindung des Flippers bedurfte der ausgebildeten Elektronik. Sie ist das Schnelle schlechthin, zu Lasten wie zu Gunsten des Spielenden (zu Gunsten, sofern der Elektromagnet des Flippers nicht kraftvolle und schwächliche Knopfdrücke unterscheidet)" "Spiele, die ins rasche Reagieren einübten, hat es wohl schon seit dem 19. Jahrhundert gegeben; man denke ans Tischtennis" 24 Wird im NL Kittler in der gesonderten Abteilung "Miscellanea Curiosa" der Gesammelten Schriften geführt und wahrscheinlich als Sonderband zu gegebenem Anlaß publiziert. - und Wilhelm Wundts psycho-physikalisches Laboratorium an der Leipziger Universität (gefolgt vom Harvard Lab). "Aber beim Tischtennis war Gegenspieler ein Mensch. Der Spieler am Flipper kämpft gegen eine Kugel, die von elektrischen und mechanischen Maschinationen beschleunigt wird, d.h. auf eine Weise, die nicht einmal, wie das Spiel des Tischtennisgegenübers, absichtlich die Niederlage des Spielenden herbeiführen will, sondern sie automatisch und gleichgültig einfach herbeiführt." DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN APPARAT Irridation bezeichnet "[...] eine Erscheinung, die immer dann auftritt, wenn unser Auge genötigt ist, große Helligkeitsunterschiede zu erfassen." <Beranek xxx: 225> Rasch wird Irridation zur Irritation der gegenwärtigen Wahrnehmung: "Auf der Leinwand erscheint ein Bild B in schwarz-weißen Einzelheiten, dann eine gleichmäßig abgedunkelte Fläche, dann wieder das Bild B usw., das Auge ist einem steten Wechsel von Bild und Dunkelheit ausgesetzt; es verknüpft die Bilder B, wenn sie entsprechend rasch aufeinanderfolgen und untereinander nicht wesentliche Helligkeitsunteschiede aufweisen. Ist die Aufeinanderfolge der Bilder B zu langsam, dann entsteht im Zuschauer die unangenehme Empfindung de sFlimmerns; sind die Helligkeitsunteschieder der Bildre B zu groß, / wie es namentlich beim Szenenwechsel oder auch beim Wandern des Lichtbogens vorkommt, dann entsteht im Zuschauer trotz der richtigen Geschwindigkeit des Bildwechsles eine andete störende Empfindung, die ihre Ursache in der Irridation hat."25 "Die Erscheinung der Irridation <...> äußert sich darin, daß unser Auge eine helle Figur auf dunklem Grund größer sieht als die gleich große Figur auf hellem Grund. <...> Ist unser Auge gezwungen, zwei gleich große Figuren von verschiedenr Helligkeit miteinander zu verknüpfen, so befindet es sich in einer Zwangslage, da die Ränder der gleich gorßen Figuren zu shwanken beginnen; im allgemeinen dauert diese Zwangslage wohl nur kurze Zeit, sie wird aber doch als sötrung empfunden und belastet unser Auge <...>."26 Während die phonographische Schallkonsere zeitecht ist, stellt die Kinematographie deren Täuschung dar: 25 Beranek 1926/2002: 125f 26 Beranek 1926/2002: 226 "Der Ton kommt durch Schwingungen eines elastischen Körpers zustande; die Schwingungen werden auf der Grammoponplatte eingegraben und hinterlassen auf ihr wellenförmige Vertiefungen; gleitet nun der Stift des Grammophons über diese Vertiefungen, so macht er die Schwingungen, die der ursprüngliche, tongebende Körper gemacht hat, nach; der über die Platte streifende Stift ist dem Original zustandsgleich. Ganz anders aber verhalten sich Film und Original zu einander; von einer Zustandsgleichheit beider kann keine Rede sein; der Film ist gegenüber dem Original ein Produkt technischer Kunstgriffe." Die antike Kunst der unbewußten Manipulation durch sprachliche Rhetorik - basierend auf der dissimulatio artis - wird abgelöst durch die technische rhetoriké techné. Die Technik dieses Kunstgriffs liegt im zeitkritischen Feld - als Chronopoetik. Es sind solche Kunstgriffe, "die bewirken, daß er dem Original niemals zustandsgleich, sondern empfindungsgleich gemacht wird."27 "Die Kinematographie beruht letzten Endes" - d. h. in medienarchäologischer Konsequenz - "auf einer Täuschung unseres Auges, das unterbrochene, aber rasch aufeinanderfolgende Reize als ununterbrochen wahrnimmt; im Film gibt es niemals wirkliche, sondern immer nur vorgetäuschte Bewegung"28 lernen wir aus einem Artikel über "Die Irridations-Erscheinungen" im Journal Filmtechnik von 1926.29 Irridation ist "eine Erscheinung, die immer dann auftritt, wenn unser Auge genötigt ist, große Helligkeitsunterschiede zu erfassen." <225> Techno-affektive Vergegenwärtigung In welchem Verhältnis stehen historisches Trauma und technologisch induzierter Affekt? Thomas Elsaessers Analyse technischinduzierter traumatischer Zeitmomente deutet Medienarchäologie unter verkehrten Vorzeichen: "Obwohl sie keineswegs von diesen direkt hervorgerufen wurden, wenn man nicht davon ausgeht, dass die <...> Krise der symbolischen Ordnung technischen Ursprungs 27 Rudolf Beranek, Die Irridations-Erscheinungen, in: Filmtechnik Bd. 2 (1926), 44f; Wiederabdruck in: Kümmel / Löffler (eds.) 2002, 225-228 (225) 28 Beranek 1926 / 2002: 225. Siehe ferner Reiner Matzker, Das Medium der Phänomenalität. Wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Aspekte der Medientheorie und Filmgeschichte, Munich (Fink) 1993 29 See further Reiner Matzker, Das Medium der Phänomenalität. Wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Aspekte der Medientheorie und Filmgeschichte, Munich (Fink) 1993 ist, sind angesichts der techologische Veränderungen in unseren Aufzeichnungsmedien und Kommunikationssystemen Formen des kulturellen Gedächtnisses <...> im Entstehen, für die chronologische Zeitrahmen <...> sich als unangemessen erweisen."30 "So ist dann der kinematographische Abzug, wo eine Szene sich aus tausend Bildern zusammensetzt und der, wenn er sich zwischen einer Lichtquelle und einem weißen Tuch entrollt, die Toten auferstehen läßt, so ist dieser einfache Streifen bedruckten Zelluloids nicht einfach ein historisches Dokument, sondern <selbst!> ein Stück Geschichte, und zwar einer Geschichte die nicht verschwunden ist und für die es keines Geistes", mithin keines (Historiker-)Subjekts "bedarf, um sie wieder erschienen zu lassen. Sie schlummert nur und, so wie die elementaren Organismen, die ein latentes Leben führen und sich nach Jahren Durch bein bißchen Wärme und Feuchtrigkeit wiedeerbeleben, so genügt ein bißchen Licht, das, von Dunkleheit umgeben, durch iene Linse fällt, um die Geschichte wieder zu erwecken und den vergaen Zeiten neues Leben einzuhauchen."31 Technische Medien kommen zum Einsatz zum Zweck der Heilung von "post-traumatic stress disorder"-Syndrom. Historisch figuriert hier der Stummfilm von Léonce Perret, The Mystery of the Rocks of Kador, Gaumont 1912, darin eine nachgestelle und dann projizierte Filmszene der Mordzene vor der Patientin - hypnotische "Induktion" (im technischen Sinne). Vorab war es eine Praxis von Charcot, Licht von der Laterna Magica auf Hysterikerinnen zu projizieren. Der Stroboskop-Einsatz ist Kino in seiner reinsten Form.32 Aber hier ist das kinematographische Trauma noch Teil des filmischen Inhalts; dieser Film reflektiert damit seine eigene traumastische Implikation als "inneres Objekt". Eine Form medienbasierter Therapie wird von amerikanischen Militärs zur Heilung von Irak-Krieg-Traumata in Form von Computerspielsimulationen ("Egoshooter") eingesetzt; dazu Passage "Virtual Irak" in Farocki-Film xxx. Siehe auch den Begriff der "screen memories": Übersetzung der Freudschen "Deckerinnerung" (sein Aufsatz 1899; dazu Väliaho 2011: 335); bekommt im KinoZusammenhang aber einen konkreten Sinn. Das Medium macht eine Überstezung unter der Hand besser. Siehe Aufsatz Peter Krapp, "screen memory"? Technische Verdeckung der "Deckerinnerung" durch Leinwand / Monitor / "Interface". 30 Elsaesser 2007: 201 31 Boleslav Matuszewksi, Eine neue Quelle für Geschichte [*1898 ???], übersetzt in: montage a/v xxx 32 Dazu Pasi Väliaho, Cinema's Memoropolitics: Hypnotic Images, Contingent Pasts, Forgetting, in: Discourse 33, Heft 3 (2011), 322-341 <cPASSE> Auf die qualitative Differenz zwischen der Ausstellung als erfahrbarem, zum choque fähigen Raum und dem TV-Bildschirm als Oberfläche, deren Entzifferung kein Erstaunen mehr zuläßt, weist Jean-François Lyotard hin: Kunstforum, op. cit., 363 <= Kunstforum International Bd. 100 (1989) ?> Kann die Störung, die Fehlfunktion in der Maschine, also die Einbruchstelle des Realen in der / die Physik, intendiert / inszeniert werden, ohne damit nicht schon wieder die Implementierung des Realen im Symbolischen zu werden? Dies ist das epistemologische Dilemma von "glitch music" und "glitch art". Martin Heidegger nähert sich dem Radio in Sein und Zeit über den Begriff der Telepräsenz. Entfernung meint in diesem Zusammenhang "nicht so etwas wie Entferntheit", sondern "ein Verschwindenmachen der Ferne", eine "umsichtige Näherung", so wie “alle Arten der Steigerung der Geschwindigkeit [...] auf Überwindung der Entferntheit [drängen]. Mit dem Rundfunk [...] vollzieht das Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Entfernung der 'Welt' [...]."33 <ModPADERMETH1BAPPARAT> Die Aufnahme von Kaiser Franz Joseph in Österreich thematisiert 1903 das Ereignis des Phonographen selbst, indem seine Rede davon ist, seine Stimme dem Apparat "einzuverleiben". Einen Schock des akustisch-Realen aber bedeutete für die Hörerschaft das akustmatische Erklingen der Stimme Kaiser Hiroitos im August 1945 aus öffentlichen Lautsprechern in Japan. Die Menschen verneigten sich, weil sie den Kaiser nicht sehen durfen, in einer synästhetischen Verschiebung. Zu den von Ernst Kantorowicz analysierten "zwei Körpern des Königs" tritt hier ein technologisch aufgehobener Drittkörper buchstäblich dazwischen. Diese medieninduzierte Gegenwart ist eine massenmedial universale geworden und gelangt zu quasi-historistischer Ubiquität. "Die von den Medien selbst erzeugte Gegenwart operiert in einer besonderen Zeitstruktur."34 Dies führt zu einer besonderen Form von Gegenwartsvergessenheit: Speziell Massenmedien (ob nun auditiv oder visuell) bilden "räumliche Verhältnisse und Begebenheiten ab unter dem einen, ausschließlichen Gesichtspunkt der Zeit" <ebd.>; die notwendige Arbeitsspannung signalkritischer Nachrichtenmedien, ihr bias of communication (Harold Innis), liegt nicht nur technisch in ihrem Zeitwesen. Ihr Aktualitätszwang führt zu einer unausgesetzten Erzeugung von Gegenwart, die sich vom intuitiven, exklusiven Gegenwartsbegriff der klassischen Wahrnehmung abhebt. Im Unterschied zu klassischen archäologischen Artefakten im Museum 33 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 1986, 104f 34 Wolfgang Hagen, Gegenwartsvergessenheit. Lazarsfeld, Adorno, Innis, Luhmann, Berlin (Merve) 2003, 8 sind technische Dinge nicht schlicht historische Objekte (Gilbert Simondon), sondern ihrerseits "Zeitobjekte" (Edmund Husserl). "Wenn ein Fernsehbild auf einem Kathodenstrahlbildschirm ein Ereignis überträgt, sind das Jahr des Ereignisses oder das Baujahr des Gerätes sekundär. Nur der abgeschaltete Fernseher ist historisches Objekt."35 Telepräsenz (von analoger Telephonie über Bildtelephonie, Radio und Fernsehen bis hin zu Skype) ermöglicht die audio-visuelle Präsenz des Kommunikationspartners unter Mißachtung der körperlichen Entfernung. Damit entsteht eine Dissonanz zwischen Affekt und kognitivem Wissen, vergleichbar der schockierenden, techno-traumatischen Untertunnelung der zeitlichen Distanz im audiovisuellen Wiedereinspiel von Ton- und Bildkonserven aus der Vergangenheit. Der Radio-Moment <cMEDCOLLAGE> Charles Baudelaire definierte die Kultur der Moderne durch das Transitorische, das Flüchtige und das Kontingente36 - die Ästhetik der elektrischen Schaltkreise. <cHUBSCHRIFTWE> Löcher - jener Abgrund des Realen und Zwillinge der mathematischen Null - generieren in der technisch bewegten Sirene Luftstöße; de la Tour spricht von „Choque"-Wellen, diskrete Entitäten (vorprogrammiert durch Scheibe); vgl. Jacquart-Maschinen (operativ) fallen nun mit mathematischer Berechnung zusammen <cZEITKRITIK> Für einen Moment überschneiden sich das neuronale Gegenwartsfenster und die photographische Belichtungszeit; 1866 beantwortete Hermann Wilhelm Vogel die Frage, was man einen "photographischen Moment" nennt, mit: drei Sekunden.37 Eine Schere klafft auseinander, wenn es um die Evolution physiologischer Wahrnehmungsorgane und die Evolution zeitkritischer 35 Aus dem Schlußkapitel von Rico Hartmann, The same but different. Eine medienarchäologicshe Betrachtung technischer Mediengeschichte, schriftliche Hausarbeit im Magisterstudiengang Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin, Wintersemester 2007/08 (Fertigstellung: November 2012) 36 Siehe William Uricchio, Storage, simultaneity, and the media technologies of modernity, in: John Fullerton / Jan Olsson (Hg.), Allegories of Communication. Intermedial concern from cinema to the digital, Rom (John Libbey) 2004, 123-138 (123) 37 Friedrich von Zglinicki, Der Weg des Films. Die Geschichte der Kinematographie und ihrer Vorläufer. Textband, Hildesheim / New York (Olms) 1979, 166 Medientechnologien geht; für eine kurze Phase gibt es hier Überschneidungen und Parallelen). Eskalierte Medientechnologien wirken auf die menschliche Sensorik zurück, seit Kinematographie, Computerspiel und MTV: die menschliche Reaktionsverarbeitungsfähigkeit wird elliptisch beschleunigt, aufgerüstet (eine Evolution zweiter, rückgekoppelter Ordnung, eine eigene techno-biologische Zeitfigur). Zunächst aber erleiden die humanen Wahrnehmungsorgane einen Schock durch diese eskalierenden Technologien; es bedarf der Medienarchäologie, diesen im Unbewußten der Kultur noch gar nicht wirklich verarbeiteten, wenngleich täglich praktizierten Schock kognitiv und epistemologisch nachzuholen. Zeitkritische Prozesse als wahrgenommene Realität aber sind erst mit jenen Meßmedien zu einem Wissensgegenstand geworden, die sie zu erfassen und zu rechnen wußten. Kodwo Eshun proklammiert eine "posthumane Rhythmatik", wie sie mit Rhythmussynthesizern wie dem Roland 808 (im Unterschied zu einfachen Drummaschinen) möglich wurde, unter Rekurs auf Edgar Varès 1936: "Ich brauche einvöllig neues Ausdrucksmedium: eine klangerzeugende Maschine" <ziztiert in: Kodwo Eshun, Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin (ID-Verl.) 1999, 93>; vgl. Busonis Manifest. Was verspricht sich Varèse davon? "überkreuzte Rhythmen, die nichts miteinander zu tun haben, aber gleichzeitig behandelt werden; die Maschne wäre dazu imstande, eine beliebige Anzahl gewünsvchter Noten herzustellen und jede beliebige Teilmenge davon, jede Pause, jeden Bruchteil, und all das in einer vorgebenene Zeiteinheit, die ein Mensch nie einzuhalten vermöchte"38. Genau dieses menschlich unmögliche Zeitmaß nennt Eshun "Rhythmatik", "die posthumane Multiplikation des Rhythmus" <94>. Tatsächlich aber läuft diese chrono-sonische Analyse auf das clocking des Computers hinaus: "Der Computer schreibt zwa rund liest - aber er macht ides auf eine für schreibenmde und lesned eMenschen icht mehr wahrnehmbare Weise. Die operative Logik technischer Medien besteht geradezu darin, Datenflüsse so zu strukturieren, dass dabei die 'Zeit der menschlichen Wahrnehmung' unterlaufen wird. Nur inforlge diese Übewrspringesn des menschlichen Wahrnehmnes kann etwa der Eindruck sog. 'Echtzeitreaktionen' entstehen. Echtzeitanalyse gibt es nicht. Jeder Beacrbeitungsschritt es Computers verbraucht Zeit, nur eben eine Zeit, deren Dauer geringer ist als der kleinste vom Mensche noch sinnlich erfahrbare Zeitraum."39 Die Zeit implodert hier, wird eingesogen (nach menschlichem 38 Zitiert nach Eshun 1999: 94 39 Sybille Krämer, Kulturtechnikien durch Zeit(achsen)Manipulation, 216f, in: xxx (hier zitiert nach: Arndt Niebisch, Die Liebe zur Ziffer, in: Pál Kelemen / Ernó Kulcsár Szabó / Àbel Tamás (Hg.), Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie des Umgangs mit Texten, Heidelberg (Universitätsverlag Winter) 2011, 165-183 (175, Anm. 33) Maßstab) <cKINAESTHET> Das Zeitreal setzt (laut von Uexküll) ab einer achtzehntel Sekunde diskreter Bild-, Druck- und Schallfolgen ein, denn ab dieser Frequenz vermag menschlicher Augensinn das Einzelbild nicht mehr zu fassen, oder das Ohr den diskreten Impuls, und "das technische Medium <...>, das Bewgeung als Infinitesimalkalkül implementiert, heißt Film"40. - siehe Begriff der "Schrecksekunde", die in polizeitlichen Aktionen genutzt wird, den Täter im Überraschungsmoment zu überwältigen. Wirkt lediglich auf einer Distanz bis ca. 10 Meter. <cZEITWEISKLANG> In der Differenz der medialen Übertragungsweisen erweisen sich die Gegenwart der Stimme sowie der damit verbundene Logozentrismus in ihrer Zeitlichkeit - chronologisch verschoben. Radiowellen übertragen aufmodulierte stimmhafte Niederfrequenzen schneller als akustische Wellen es in der Luft vollziehen - und hier kommt die Nachtigall als Vogel und als technisches Medium ins Spiel. Theodor W. Adorno erinnert sich in seiner Fragment gebliebenen Schrift Current of Radio, wie er einmal einer Nachtigall im Garten lauschte. Diese fiel auch der damaligen Frankfurter Radiostation auf, "[...] and the author [...] managed to listen to it over the radio when the windows were open. The result was that we were able to hear the radio nightingale a bit earlier than we could hear the real voice because sound takes longer to reach the ear ordinarily through space than by electrical waves. The real nightingale sounded like an echo of the broadcast one. Thus the 'radio voice' creates a strong feeling of immediate presence. It may make the radio event appear even more present than the live event"41 - eine Form von Hyperpräsenz, worin der Begriff der live-Sendung am Ende metonymisch vom Real- zum Radioereignis selbst übergegangen ist. Es handelt sich hier um eine Form von Hyperpräsenz, worin der Begriff der live-Sendung am Ende metonymisch vom Radio- zum Realereignis selbst übergegangen ist. Der elektrotechnisch tatsächliche live-Zeitcharakter solcher Übertragung korreliert mit dem veritablen Wahrnehmungseindruck von Echtzeit. 40 Stefan Rieger, Kybernetische Anthropologie, 183, über: Jakob von Uexküll, Theoretische Biologie [1928] 41 Theodor W. Adorno, Current of Music. Elements of a Radio Theory [1940], hg. v. Robert Hullot-Kentor, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2006, Kapitel V "Time - Radio and Phonograph", 120-128 (120) Benjamins "Jetzt-Zeit" "Nach Deleuze und Guattari stellt der Affekt das 'Anders-Werden des Menschen' dar, das als eine Loslösung von dem, was den kulturell" - und kulturhistorisch - "normierten Menschen in seinem Menschsein determiniert und begrenzt, verstanden werden kann."42 Das heißt auch Ausbruch aus der historischen Zeit (die von Menschen gemachte kulturelle Zeit, so Giambattista Vicos Definition in der Scienzia nova). "Nicholas Gane weist auf die Differenzen von Kittlers und Hayles' posthumanem Denken hin. Während Kittler den Menschen vollsätndig in technische Funktionen auflösen will, betont Hayles dass Menschen eine Form der Verkörperiung (embodiment) haben, die Maschinen nicht zugänglich ist."43 Was, wenn die Differenz von symbolischen Operationen und technischer Implementierung aufgehoben wird - wie schon im Analogcomputer, nun im biologischen Körper? <begin cKITZEIT> Walter Benjamin definiert in Kapitel XIV seiner Thesen Über den Begriff der Geschichte eine mit Jetztzeit aufgeladenen Vergangenheit, die in kritischen, gespannten Momenten der Gegenwart aufblitzt. Und weiter: "Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem daß sie erst in einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. <...> Bild ist dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt. <...> während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitlich ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt eine dialektische <...>."44 Geschichtsbewußtsein meint "nicht die homogene und leere Zeit sondern die von Jetztzeit erfüllte [...]. So war für Robespierre das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte."45 Medienarchäologie hat - frei nach Benjmain - "die Witterung für 42 Meier 2013: 64, unter Bezug auf: Deleuze / Guattari, Was ist Philosophie?, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996, 204 43 Gane, Radical Post-humanism, 37f, zitiert nach: Niebisch 2011: 182 Anm. 61 44 In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1972-1989, Bd. V, 577f 45 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, These XIV, 137 das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie ist der Tigersprung ins Vergangene"46 - rekursiv, gleichursprünglich, resonant. So gilt auch für die buchstäblich neue Zeitrechnung in der Französischen Revolution: "Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt, fungiert als ein historischer Zeitraffer"47 - Kino, fast forward. "Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren"48, sondern in Zyklen und Intervallen. Diese eigenzeitliche Praxis ist nun von der emphatischen Geschichtszeit in die Mikrofunktionalität algorithmengetriebener Computer verschoben. Hier gibt eine clock zwar noch die periodischen Schwingungen vor, doch nur, um in komplexe Zyklen aufgelöst zu werden, eine delikate Orchestraktion synchroner und asynchoner Datenprozessierung. Die einstmals "vulgäre" Uhrzeit (Martin Heidegger) ist in ihrer technomathematischen Eskalation zu einer neuen Zeitqualität umgeschlagen; der symbolische Takt der gleichförmigen Zeit-Ordnung (basierend auf der Hemmung im Uhrwerk) transformiert zum Realen multipler temporaler Artikulation. Wenn Walter Benjamin in These V "das wahre Bild der Vergangenheit" zu fassen sucht, beschreibt er tatsächlich die Natur des elektronischen Signals: sein im Geschehen schon vorübergehendes Existential: "Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkenntbakreit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten"49 - live-Fernsehen. "Denn es ist das unwiederbringliche Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte."50 Mithin ist dieses Zeitmoment sonischer Natur im Sinne von Hegels Ton-Definition. Ist nicht schon "in Stimmen, denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?", fragt Benjamin weiter.51 Dies ist ein Retro-Effekt der zeitversetzten Stimme, eine phonographische Halluzination - ganz im Sinne von Babbages Nineth Bridgewarter Treatise. Der Mediävist Ernst H. Kantorowicz erinnerte in seiner Frankfurter Wiederantrittsrede vom Wintersemester 1933/34 an die Unterweltspassagen in Homers Odyssee, Buch VI der Aeneis Vergils sowie die Divina Comedia von Dante: "dass nur unter besonderen Umständen den Seltenen die Schatten oft nur unwillig Rede und Antwort standen."52 Diese Schatten sind nun 46 47 48 49 50 51 52 Benjamin 2007: 137 Benjamin 207: 137 (These XV) Benjamin 2007: 137 Benjamin 2007: 131 Benjamin 2007: 137 Benjamin 2007: 129 Dazu W. E., Das "Geheime Deutschland" als Dementi des "Dritten Reichs": Ernst Kantorowicz 1933, in: Jerzy Strzelczyk (Hg.), Ernst H. Kantorowicz (1895-1963). Soziales Milieu und wissenschaftliche Relevanz. Vorträge des Symposiums am Institut für Geschichte der Adam-Mickiewicz-Universität Poznán, 23.-24. November 1995, Poznán (Instytut Historii UAM) 1996, 155-164 phonographischer Natur: Schallrillen. "Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlösung verwiesen wird."53 Was jedoch die medienarchäologische Forschung vom religiösen Messianismus oder von romantischen Erlösungsphantasien unterscheidet, ist der epistemologische Erkenntniswillen. [Von Hall als Verstärkung der Gegenwart zum Echo als Ansatz einer Vergangenheit] <siehe § "Was sind, was waren Medien? Richard Wagner antwortet", in: MEDARCH-WIEN. Fallstudie: "Hagen, was tust Du / was tatest Du"?> "Nicht das Erlebte wird nachträglich umgearbeitet, sondern selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist, nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert werden konnte."54 Jedoch interessiert aus medienarchäologischer Sicht (welche nicht die des Historikers ist) weniger die ethisch unsagbare Betroffenheit (Shoah-Diskurs), sondern das "Zeitreal", das aus Holocaust-Mediengedächtnis aufblitzt - denn es können Erkenntnisfunken aus diesen medienzeitlichen Affekten geschlagen werden. Von daher meine Forschungsthese: Anhand der HolocaustGedächtnisforschung wurde in zugespitzter Form deutlich, wie der Temporaleinfluß technischer Medien auf menschliche Wahrnehmung eskaliert. Was in diesen konkreten Studien gründet, soll auf seine Verallgemeinerbarkeit hin untersucht werden, sprich: sind dies spezifische, an das Ereignis des Holocaust gebundene Symptome, oder medienzeitliche Affekte überhaupt? Und brisanter: enthumanisiert diese Medientechnik das Holocaust-Gedächtnis? Exkurs: Der zeitkritische Moment, gelesen mit Lessing (Laokoon) <begin cZEITKRITREAL> Laut Lessings 1766er Schrift Laokoon ist die Sinnestäuschung ein Hauptzweck der Kunst. Dissmulatio artis ist die Figur medientechnischer Rhetorik schlechthin. Vor allem die Poesie operiert hier (mit "willkürlichen" anstatt "natürlichen" Zeichen respektive Symbolen) als Täuschung der Wahrnehmung auf der Ebene zeitkritischer Signalverarbeitung, also eher aisthetisch denn ästhetisch: 53 Benjamin 2007: 129 54 J. Laplanche / J.-P. Pontialis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1999, 313-317 (314) "Er <sc. der Poet> will die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören."55 Gemälde und Skulpturen sind weder zeitkritisch an sich noch technische "Medien"; in einem anderen Sinne vermögen sie - sofern ein narratives Element, ein "prägnanter Moment" (Lessing) in ihnen angelegt ist - in der menschlichen Wahrnehmung den Eindruck einer temporalen Lücke zu evozieren, ein Dt, welches von der Imagination des (ebenso narrativ informierten) Betrachteres eine Protention auslöst und unwillkürlich auszufüllen bleibt. In diesem buchstäblichen Augenblick kommt ein "Zeitreal" zum Zug, das wie die von Norbert Wiener beschriebenen Zeitreihen in der Flugabwehr durch harmonische Analyse errechnet wird. In der Kopplung von Wahrnehmung an elektronische Medien ist dies die von Herta Sturm definierte "fehlende Halbsekunde"56 - das mikro-temporale momentum.57 Lessing trennt die Künste nach ihrer Materialität (Plastik versus Poesie, Körper versus Symbole). In plastischer Verstofflichung würde der von Vergil beschriebene Schrei des Laokoon schlicht "häßlich" wirken; vgl. elektrische Spannung, angelegt an Patientengesicht durch Duchenne, u. a. zur experimentellen Nachstellung des physiognomnischen Realitätsgehalts im Plastik-Ausdruck des Laokoon; daneben "korrigierte" Version desselben Kopfes mit dem elektrischen Funken / Stromstoß - jenen Momenten des Realen - aber ist die Umschaltung von der Makrophysik zur Mikroelektronik (die "virtuellen Welten" im Computer) gegeben. Lessing sieht die Darstellung des jeweiligen "prägnanten Moments" für die Werke der Bildenden Kunst angemessen: Nicht also die Darstellung eines gefrorenen Zeitpunkts, sondern die Andeutung einer in der Imagination zu komplettierenden Zeitfolge, also eine Art temporaler Vektor, eine winzige Zeitmaschine in Kombination aus realer Plastik und Verzeitlichung durch den Betrachter (den 55 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart (Reclam) 1987, § XVII, 122 56 Hertha Sturm, Wahrnehmung und Fernsehen: Die fehlende Halbsekunde. Plädoyer für eine zuschauerfreundliche Mediendramaturgie, in: Media Perspektiven 1/1984, 58-65. Dazu Marie-Luise Angerer, Vom Lauf der "halben Sekunde", in: kunsttexte.de 1/2011 57 Siehe auch: Bernhard Siegert, Das Leben zählt nicht. Natur- und Geisteswissenschaften bei Dilthey aus mediengschichtlicher Sicht, in: Claus Pias (Hg.), Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur, Weimar 1999, 161-182 nächsten Moment imaginierend, also eine Bewegung supplementierend). Das Transitorische (Lessings Begriff) ist der Moment, der über sich hinausweist. "[...] alle auch in der ihrer Dauer Jede dieser die Wirkung 114> Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke anders erscheinen, und in anderen Verbindungen stehen. augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist einer vorhergehenden <Lessing 1766/1987, Kap. XVI = - also Markov-Wahrscheinlichkeiten bzw. der kinematographische Bewegungseindruck, "und kann die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das Zentrum einer Handlung sein." <Lessing ebd.> Zeitkritische Prozesse sind Lessings Schlußfolgerung zufolge mikrodramatischer Natur. Sie sind dabei nicht beschränkt auf Nacheinanderfolge, sondern auch zeitliche Verschränkungen, Pround Retentionen: "Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird" <ebd., 115>. <end cZEITKRITREAL> Diskretes Sampling kontinuierlicher Gegenwart "Qu´est-ce au juste que le présent?", fragt Henri Bergson, und bemüht eine mathematische Analogie: "S´il s´agit de l´instant actuel - je veux dire d´un instant mathématique qui serait au temps ce que le point mathématique est à la ligne, - il est clair qu´un pareil instant est une pure abstraction, une vue de l´esprit; il ne saurait avoir d´existence reelle. Jamais avec des pareils instants vous ne feriez du temps, pas plus qu´avec des points mathématiques vous ne composeriez une ligne.58 [Doch erst die philosphisch-mathematische Analyse führt zu symbolverarbeitender Synthese als Bedingung von Medienkultur.] <Variation cARCHIVE2> 58 Henri Bergson, La Perception du Changement [zwei Vorträge an der Universität Oxford, Mai 1911], in: ders., Mélanges, Paris (Presses universitaires de France) 1972, 888-914 (908) Die Regeln der Konversion kontinuierlicher Wirklichkeiten in diskrete Aufschreibesysteme sind im Verhältnis von gegenwärtigem Geschehen und Administration respektive Archiv als Regelsystem seit der mittelalterlichen Annalistik vertraut. Die Vernachrichtlichung der Gegenwart entspricht grundsätzlich vorweg schon der Struktur ihrer Archivierung. Genau hier aber kommt nachrichtentechnisch das Nyquist-Shannonsche Abtasttheorem ins Spiel: kleinste Zeitmomente, schwingende Prozesse, Perioden, können diskret in Punkten diskontinuierlich abgetastet und quasi-kontinuierlich als Schwingungen (also ZeitLinien) wieder abgebildet werden - aber warum? Weil auch SinusSchwingungen möglicherweise gar nicht stetig sind, sondern nur operative Differentiale? Oder weil Abtastung wie Synthese wiederum immer nur in der Zeit stattfinden können, weil jede Operation zeitlich ist (demgegenüber steht die Provokation der Quantenrechner: die gleichzeitige Rechnung sich überlagernder Operationen), also natürlicherweise schon wieder Zeit unterstellt / liefert? Kleinste Interferenzen: "Deux points mathématiques, qui se topuchent, se confondent. Mais laissons de côté ces subtilités" <ebd.> - hier aber bleibt Zeitkritik am Ball, computeroperativ, die Grenze Bergsons. <"Sampling" im diskursiven und/oder technischen Sinn; konvergiert jedoch, wird dann urheberrehtlich relevant> DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN APPARAT Der photographische Schnappschuß und die Rückkehr der Aura als Zeitmoment Im photographische Schnappschuß wird der Zeitmoment selbst zur TempAuralität im Sinne Walter Benjamins: "An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirsgzug am Horizont oder einem Zweige folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen."59 ["Das Glück des gelungenen Augenblicks oder eines überraschenden Moments sei, so Benjamin, im Umgang mit Bildwerken nahezu unmöglich geworden" <Ullrich 2013>; der von Lessing 1766 definierte "prägnante Moment" entfällt.] "Bis heute steht die Polaroid-Ästhetik für die Beschleunigung von 59 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders., Medienästhetische Schriften, Frankfurt/M. 2002, 309 Bildern und eignet sich daher als Vorbild gerade auch für die digitale Bildkultur. Kein Wunder also, dass künstlich erzeugte Polaroid-Effekte bei Smartphone-Nutzern besonders beliebt sind. Wer einer Foto per Klick einen solchen Effekt verpasst, unterstreicht damit seine Freude an einer hohen Bildgeschwindigkeit – oder will die Empfänger der Foto daran erinnern, dass ihnen das Glück schneller Teilhabe widerfährt." <Ullrich 2013> "Sind die Bilder erst einmal angekommen, und haben sie beim Empfänger einen Moment der Freude über das Live-Dabeisein ausgelöst, werden sie üblicherweise sogleich wieder belanglos, oft nicht einmal gespeichert, sondern bei nächster Gelegenheit gelöscht. Ihr Charakter ist dem eines Feuerwerks vergleichbar: Eine zuerst noch überwältigend starke Kraft verglüht im Nu, ihre Halbwertszeit ist äusserst gering. Dafür fungieren sie als Symbole für eine Überwindung von Raum- und Zeitgrenzen" <Ullrich 2013> "Für den, der eine Foto geschickt bekommt, ist wichtiger und emotionaler als das, was er sieht, die Tatsache, ohne relevante Zeitverzögerung mitzubekommen, was anderswo gerade geschieht. Und es geht darum, wer einen daran teilhaben lässt. Nicht das Bild an sich hat Bedeutung, sondern es zählt, wann, wo und wie es gesehen werden kann. In einem klassischen Sinn gut gemacht brauchen die Bilder also nicht zu sein; sie leben vor allem von ihrer Aktualität. Manche Flüchtigkeit – ein verrutschter Bildausschnitt, eine Unschärfe, grelles Gegenlicht – wird dann sogar vom Manko zum Wert [...]."60 "'Live' ist kein Privileg des Fernsehens mehr, vielmehr verfügt fast jeder Amateur inzwischen über die Möglichkeiten maximaler Bildmobilität. Damit aber verändert sich der Charakter vieler Bilder [...]. Statt auf Komposition oder Originalität zu achten, geht es darum, das Live-Ereignis oder einen besonderen Moment einzufangen und ein Flair von Spontaneität, Ausgelassenheit, Sensation rüberzubringen."61 "Gleich in doppeltem Sinne stimmt damit nicht mehr, was lange Zeit als das Besondere der Fotografie galt. Wenn Roland Barthes an einem Foto vor allem gefiel, dass es ein «Es-ist-so-Gewesen» verkörpere, also einen Moment der Vergangenheit als reale Spur präsent mache, so geht es bei den meisten Bildern, die mit Smartphones oder digitalen Kameras sowie den Bildmanipulationsprogrammen entstehen, mittlerweile weder um Vergegenwärtigung von Gewesenem noch um die Beglaubigung einer Wahrheit. Gerade was vergangen anmutet, ist blosse Konstruktion 60 Ullrich 2013 61 Wolfgang Ullrich, Instant-Glück mit Instagram. Die Rückkehr der Aura in der Handy-Fotografie, in: Neue Bücher Zeitung v. 10. Juni 2013: www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/instantglueck-mit-instagram-1.18096066; Zugriff 15. Mai 2014 und als solche auch bewusst. Real hingegen ist höchstens noch die Gegenwart der Bilder, ihr Live-Charakter. Ihre Botschaft ist dann ein «Es-ist-gerade-So». Häufiger und aus der Sicht des Bildproduzenten ist die Botschaft aber sogar in ein spielerischunverbindliches «Das-mache-ich-Gerade» oder «So-geht-es-mirGerade» verwandelt worden." <Ullrich 2013> Kinematographie und das "Untote" Archiving the present resultiert im Untoten. "Die Frage, wo das Leben endet und der Tod beginn"; "seit dem 19. Jahrhundert gerät das Lebendige gerade auch in seinen Randzonen und seinen Überschneidungen mit dem Leblosen in den Blick" (medizinischer Scheintod etwa). "Formen uneindeutiger Lebendigkeit" - Techniken der Animation, lebendige Bilder / Wachsfiguren, präparierte Tiere. "Es geht nicht um Leben oder Tod, sondern um jene beunrhigende Zone dazwischen, die Naturwissenschfatler ebenso beschäftigt hat wie bildende Künstler, Präparatoren im Museum oder die Pioniere des Films."62 Kinematographische Animation resultiert im Effekt, daß - obgleich es sich "in technischer Tatsächlichkeit"63 um die Wiedergabe einer Folge unbewegter, einzeln produzierter und anschließend zusammengefügter Einzelbilder handelt - der Eindruck von Bewegung entsteht. Dies gilt hinsichtlich aller visuellen Merkmale eines Objektes (Position, Form, Farbe, Textur, Beleuchtung) und der Position der (virtuellen) Kamera in Relation zur Zeit. Der kinematographische Gegenwartsentzug Das Aufzeichnungsverfahren beim Film ist fotomechanisch, in der Videotechnik elektromagnetisch bzw. digital.64 Der ganze Unterschied auf dem konkreten Niveau der technischen Existenz ist der zwischen Gegenwartsfixierung und -signal. Bergson zufolge ist Kinematographie nichts als ein Simulacrum wirklicher Bewegungs-Dauer, denn was sich hier auf Zelluloid buchstäblich abspult, sind eingefrorene, chrono-photographisch 62 Publisher's announcement (August 2013) of Peter Geimer (ed.), UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2013; among other authors: Bernhard Siegert 63 Eine Formulierung des Master-Studierenden der Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin Kai-Uwe Jakob 64 Siehe Holger Rada, Grundlagen der Medienkommunikation - Design digitaler Medien, Tübingen 2002, 58f serielle Momentanbilder. Analog dazu beschreibt Bergson die menschliche Kognition: Dies ist der rhetorisch-technische "Kunstgriff" (Bergson) des Erkennens: "Statt uns dem inneren Wesen der Dinge hinzugeben, stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu rekonstruieren."65 "Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen Momentaufnahmen auf und weil diese die Realität charakteristisch zum Ausdruck bringen, so genügt es uns, sie längst eines abstrakten, gleichförmigen, unsichtbaren, auf dem Grunde des Erkenntnisapparats <sic> liegenden Werdens aufzureihen, um nachzubilden, was das Charakteristische dieses Werdens selbst ist. Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen so zu verfahren. [...] wir tun nichts weiteres, als einen inneren Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Derart also, daß alles vorhergehende sich in Worten zusammenfaßt: der Mechanismus unseres gewöhnlichen Denkens ist kinematographischen Wesens."66 "Zur Erzeugung der Identifikationstäuschung oder des sogenannten 'stroboskopischen Effektes' ist aber neben der Ähnlichkeit auch eine genügend schnelle Aufeinanderfolge der Bilder notwendig, so daß sie dem Bewußtsein ein 'jetzt' (in der 'psychischen Präsenzzeit') vorliegendes, zusammengehöriges Ganze etwa in demselben Sinne sind, in welchem man dies von den sukzessiven Teilen eines gesprochenen Wortes oder von den Tönen einer Melodie sagen kann. Die Bewegung wird dann unmittelbar wahrgenommen (ähnlich wie beispielsweise die des Sekundenzeigers einer Uhr) und nicht (wie die des Stundenzeigers) auf Grund eines reproduktiven Erinnerungsaktes erschlossen."67 Das "moving still" Ein früher Film von Alain Resnais drückt es in nachdrücklicher schwarz/weiß-Ästhetik aus: Les Statues meurent aussi. Gelegentlich posiert an frequentierten historischen Stätten in Metropolen eine goldbemalte "lebende Statue", ein tableau vivant. "Verwackelte Gegenwart": Was menschliche Wahrnehmung nicht (auf-)lösen kann, ist die affektiv-kognitive Dissonanz zwischen dem Eindruck des unbewegt-Statuarischen und dem Wissen um den lebendigen Körper darin. Ist das Bedürfnis nach symbolisch-technischer Fixierung von 65 Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena (Eugen Dietrichs) 1912, 309 66 Bergson 1912: 309 67 Willy Merté, Die Grundlagen der Kinematographie, in: Naturwissenschaften Bd. 7, Heft 25 (1919), 435-443 (436) Ereignisfolgen ein anthropologisch immer schon angelegter, oder ist er prä-historisch im Sinne der These Vilém Flussers (und von Jaynes), daß erst mit der linearen Schrift ein linearer Zeitfluß zu Bewußtsein kam? Eine dauerhafte Darstellung seqentieller Abläufe findet sich auf einer von Archäologen im Iran entdeckten Tonschüssel; auf der Wand sind fünf unterschiedliche Einzelbilder einer Bezoar-Ziege aufgebracht. Dreht man diese Schüssel mit dem Daumen in angebrachter Geschwindigkeit, entsteht die Illusion eines fortlaufenden Films - oder technisch genauer formuliert die chronophotographische Erfassung eines Bewegungspräparats im Sinne der Encyclopedia Cinematographie des einstigen Instituts für den Wissenschaftlichen Film in Göttingen: eine Ziege, die in die Luft springt, nach Blättern eines Baumes schnappt und schließlich wieder auf ihren Hufen landet. Doch schon diese Drehung ist buchstäblich anachronistisch und dysfunktional."68 Stellt diese animierte Bildsequenz den Beginn des Bewegtbildes in der Mediengeschichte dar69? Im Vorderasiatischen Museum zu Berlin befindet sich ein Symbolsockel aus dem antiken Mesopotamien, datiert auf 1243–1207 v. Chr.; einer Museumspublikation zufolge stellt dies "wohl das früheste Zeugnis für die Wiedergabe eines Bewegungsablaufs" dar. "In der Tat sehen hier die zwei Bewegungsphasen des Königs sehr wie die Muybridge-Bildserien aus. Eine Art Ur-Kino [...]".70 Dieses Szenario ist nicht nur iterativ im Bildmotiv, sondern zugleich rekursiv - ein algorithmischer Selbstaufruf, der die mächtigsten Prozessoren des Digitalcomputers herausfordert. Um 1868 ließ John Barnes Linnett das späterhin in deutscher Sprache vertraute "Daumenkino" unter dem Namen „The Kineograph a new optical Illusion“ patentieren - das animierte photographische Standbild. Der englische Begriff flipbook sagt es: der Bewegtbildeindruck hängt höchst technisch am Format des Buches (im Sinne des Kodex, nicht der Papyrusrolle). Der Begriff der einer apparatebezogenen "Archäologie" taucht pikanterweise zunächst auf das Kino bezogen auf.71 <cMEDARCH> 68 Siehe Siehe http://www.youtube.com/watch?v=IpAFmuSehRg (Frühjahr 2014) 69 See http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-56299145.html http://m.spiegel.de/video/video1073489.html#spRedirectedFrom=www&referrer=http:roadmovie46.blog.d e/2012/03/29/geburt-kinos-geiste-fruchtbarkeitsgoettin-13329723/ 70 Eine elektronische Kommunikation des Doktoranden der Medienwissenschaft Nikita Braguinski (Berlin), 19. Mai 2014 71 C. W. Ceram, Eine Archäologie des Kinos (1965) Die medienarchäologische These zu Haiko Daxls Videoinstallation Le Cinéma – Le Train, ausgestellt im Rahmen von Media-Scape, der Biennale für Zeitbasierte Künste in Zareb (September / Oktober 2012) lautet: Zwei oder drei Generationen müssen zugge- und erfahren sein, d. h. den Landschaftsblick aus dem fahrenden Zugfenster erfahren haben, um auf die Wahrnehmung bewegter Kinobilder von Leinwand vorbereitet zu sein, ohne vollständig irritiert zu sein (wenngleich der Wahrnehmungsschock unbewußt am Werk bleibt). Das Motiv des ersten Kinofilms der Gebrüder Lumiere 1995 war - in unerbittlicher Konsequenz dieses Arguments - der einfahrende Zug in Bahnhof von St. Nazaire als Selbsteferenz des zügigen Bewegtbilds. [Verschränkt ist die temporale Adaption der kinetischen Wahrnehmung aus dem Sichtfenster des fahrenden Vehikels (ob Kraftwagen, ob Zugabteil) mit der Erfahrung der Verspätung von Zügen. Hier manifestiert sich die Differenz des Begriffs von nonlinearem, kanalverschlingenden Transport (von A nach B) im Unterschied zur Philosophie und Ästhetik des "Reisens", wo der Übertragungskanal geradezu zelebriert wird. Kluge Reiseplanung kalkuliert - wie die Fahrplaner der Deutschen Bahn - sogenannte "Karenzzeiten" sowie Zeitpuffer mit ein. Das Zugfahren ist eine Konrketion des zeitlichen Verzugs, der aus der Signalübertragung vertrauten "Laufzeit", des dynamischen Dt.] [Sind sonische Ereignisse unmittelbarer zur Invarianz sinnlicher Wahrnehmung als symbolisch kodierte, visuelle seh- bzw. lesbare Signale? Sind musikalische Tonfolgen weniger kulturhistorisch relativ als etwa das perspektivische Bild, das zu sehen eines kulturtechnischen Trainings in der Epoche des Buchdrucks bedurfte, um schließlich zum gelingenden perspektivischen Dispositiv des Kinos zu führen? Die Differenz liegt hier zwischen sonischem Affekt und programmiertem Effekt (nach einer Anregung Jan-Claas van Treecks72). Das akustische Reale läßt sich als immediates Signalereignis weniger durch kulturelle Kodierung kontrollieren als die optische Wahrnehmung. Doch was läßt eine heutige Musikaufführung von Kompositionen vor Stevins Zwölftonunterteilung als "historisch" erklingen - eine invariante Vertrautheit, oder eine kulturhistorische Entfernung73? Die musikalische Komposition ist bereits semantisch kodiert, also eine Funktion des jeweiligen kulturellen Wissens, mithin also mit einem historischen Index versehen. Die Herstellung von "presets" in elektronischen Klangmaschinen zeigt heutzutge eine solche Kodierung an. Demgegenüber sind gehörphysiologische, akustische Wahrnehmungen weitgehend invariant gegenüber dem jeweiligen historischen 72 Vorlesung Irritationen der Gegenwart, Humboldt-Universität zu Berlin, 9. Juli 2014 73 Ein kritischer Einwand von Johannes Maibaum (Berlin) unter Bezug auf die sogenannte Historische Aufführungspraxis in musikalischen Konzerten der Gegenwart. Kontext, etwa die Konsonanz- und Dissonanzempfindung.74] <cZEITWEISPOSTHISTGESAMT> Walter Benjamin verwendet im Wissen um die Zeitgebundenheit von Weltwahrnehmung als Funktion ihrer jeweiligen Technikkultur den Medienbegriff nicht exklusiv für mechanische oder elektronische Apparaturen, sondern in einem seit Aristoteles vertrauten erweiterten aisthetischen Sinn: "Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise des historischen Kollektivs auch ihre Wahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung sich organisiert - das Medium in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt."75 Diese (noch einem vortechnischen Medienbegriff eher im Sinne von milieu verpflüchtete) Analyse verbleibt ausdrücklich noch innerhalb des historischen Diskurses. Unter hochtechnischen Verhältnissen aber gilt diese Einsicht zugespitzt; das technische Archiv der Wahrnehmung ist nicht nur geschichtlich bedingt, sondern begründend für ganz andere Formen des emphatischen Zeitbegriffs. Non-epochal: Filmische Ausklammerungen <cZEITWEISPOSTHIST-AUSGEKLAMMERT> Im Filmrestaurationsprojekt von Reynold Reynolds sind die Lücken (aus) der Vergangenheit zugleich narrativer Gegenstand wie materieller Ausgangspunkt bei der Rekonstruktion der wiederaufgefundenen Filmmaterialien des 1932 begonnenen, aber unvollendeten Films Die Verlorenen. Die Lücken sind hier einerseits historischer Art (Resultat der Filmzensur in der Weimarer Republik); andererseits geht Reynolds radikal von dem, was geblieben ist, aus: "Geschichte" - oder gerade nicht - "ist das, was uns heute bleibt: die materiale Gegebenheit und technische Praxis. Materialität und Technik erzählen <oder gerade nicht narrativ> uns die eigentliche Geschichte der 'Verlorenen'"76; dieser Titel gerinnt somit zur Allegorie der "Brüchigkeit und Zerrissenheit von Film" <ebd.> als solcher. Eine Form des buchstäblichen Zäsur auf speichertechnischer Signifikantenebene 74 Zu dieser Frage siehe xxx Sethares, xxx 75 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I, Teilband 2, 439 76 Monika Wutz, Die Verlorenen: Zur Materialität und Brüchigkeit von Geschichte am Beispiel der Restaurierung und Rekonstruktion eines verlorenen Films, in: Mario Doulis / Peter Ott (Hg.), REMEDIATE - an den Rändern von Film, Netz und Archiv, München (Fink) 2013, 45-63 (63) ist der durch die Filmzensur bedingt "blutige Schnitt", das Ausschneiden und Weglassen kritischer Szenen. Dies ist trauma als materielle Wunde, veranlaßt von der symbolischen Ordnung der Zensur. Im Restaurationsprojekt aber geht es ebenso "um das Auslassen und Ausgrenzen gesellschaftlicher Breiche sowie um das Entlassen jüdischer und ausländischer Filmschaffender."77 Eskalationen der Chronophotographie: "sample & hold" und das "animated GIF" 1881 konstruierte der Physiologe Marey ein photographische Gewehr, welches zwölf Bilder in der Sekunde mittels einer rotierenden Scheibe und Belichtungszeiten von 1/500 Sekunden zu belichten vermochte. Sein Chronograph von 1883 aber ist keine (vor-)wegweisende Apparatur auf dem Weg zum Film, sondern eine Diskretisierung des Moments zum Zweck von Bewegungsanalyse: Mehrfachbelichtungen mittels Aufnahmeintervallen durch Schlitze in einer mit Handkurbel angetriebenen rotierenden Verschlußscheibe. Eine Resynthese zur zeitverkehrten Projektion war damit impliziert, tatsächlich jedoch nicht intendiert. Und wieder öffnet sich die Schere von technischer Chronologik und kulturellem Mediengeschick. Chronophotographie als zeitdiskrete, sequentielle Abtastung der Gegenwart in kleinsten Intervallen ist analytisch, nicht projektiv. Die Speicherung der Momentaufnahmen in einer Frequenz unterhalb des psycho-neuralen Gegenwartsmoments von ca. 3 Sekunden auf photoempfindlichem Papier respektive Zelluloid dient damit der instantanen Registrierung. Um an dieser Stelle nicht der Suggestions des Achivbegriffs zu verfallen: Solch eine unverzügliche Speicherung ist nicht "archivisch" (denn dies meint eine administrative und / oder logische Struktur), sondern sampling im technischen Sinn. <cSPEICHERTHEORIE> Das Sample-and-Hold-Modul im Prozeß der Wandlung von analogen zu digitalen signalen "ist im Prinzip ein analoger Speicher"78 mit Spannungsein- und -ausgang, sowie dem Trigger-Anschluß für die Kopplung an den Taktgeber (clock). "Der Eingang ist über einen elektronischen Schalter an einen Kondensator gelegt, der wiederum über eine Entkoppelungsstufe mit dem Ausgang verbunden ist. Im Normalzustand unterbricht der Schalter diesen Weg. Wenn am Trigger-Eingang ein Spannngsübergang von 0 Volt nach +5 Volt stattfindet, dann wird ein sehr kurzer Impuls ausgelöst, der ganz kurz den Schalter betätigt, so daß der 77 Wutz 2013: 45 78 Florian Anwander, Synthesizer, Bergkirchen (Presse Project Verlags GmbH) 2000, 107 Kondensator auf den Spannungswert aufgeladen wird, der gerade in diesem Moment am Spannungseingang anliegt. Da der Schalter die Verbindung sofort wieder unterbricht, kann eine Spannungsänderung am Eingang die Spannung am Kondensator nicht mehr verändern. Am Ausgang liegt nun konstant die zum Zeitpunkt der Trigger-Flanke am Eingang anliegende Spannung vor. Sie wird im Kondensator gespeichert. Dem Eingangssignal wird also eine Probe (eng. Sample) entnommen und diese am Ausgang bereitgehalten (eng. Hold)"79 - also eine zeitkritische Momentaufnahme. Recht eigentlich ist diese Operation der zeitkritische Kern digitaler Informationsverarbeitung. Für der Sprung zwischen binären Schaltzuständen ("0" und "1") prägte Norbert Wiener den Begriff der "time of non-reality". Auf kleinste Zeitmomente gefaltet lautet der Turing-Test: "Gegenwart oder schon Vergangenheit?" - die Tempor(e)alität des medientechnischen Kommunikationsereignisses. Das animierte GIF, laut Wired-Magazin, "lässt uns anhalten und einem einzelnen Moment im Zeitfluss nachgrübeln". Dieser Moment aber ist ein Dt, ein Intervall. Womit wir beim Zenon-Paradox sind, welches Bergson in Die schöpferische Entwicklung thematisiert: den fließenden Moment, der von diskreten Meßsystemen (Uhrtakt, sample-and-hold) nicht faßbar ist. Hier wird die Bergsonsche Zeitbewgung (als Dauer) tatsächlich "angehalten" ist aber kein Innehalten. Google+ verschmilzt zudem eigenständig mehrere hochgeladene Serienfotos automatisch zur Animation. Dazwischen trat dann die live-Übertragung in Broadast-Medium, was im buchstäblichen Sinn die kreisförmige Ausbreitung elektromagnetischer Wellen von Sender zu Empfangsantenne bedeutet; für eine Epoche lebten Zuschauer und Zuhörer tatächlich in der fernübertragenen Gegenwart. Doch in Zeiten digitaler Telekommunikation kehrt das Speichermoment(um) zurück - diesmal aber nicht als permanenter fixierter photographischer Speicher, sondern als flüchtiger Moment der Zwischenspeicherung. Digital also sind wir nie in der Gegenwart. Jakob von Uexküll zieht die Chronophotographie als "Photographie bewegter Objekte" in der Beobachtung biologischer der kinematographischen Bewegungsillusion vor.80 79 Anwander ebd. 80 Jakob von Uexküll, Leitfaden in das Studium der experimentellen Biologie der Wassertiere, Wiesbaden 1905, 78. Dazu Katja Kynast, Kinematographie als Medium der Umweltforschung Jakob von Exkurs zur technisch begründeten Differenz von emulativer (funktionslogischer) "Wiederauferstehung" eines Computerprogramms und kinematographischer (Re-)Animation E. T. - The Extraterrestrial (1982) gilt als "[...] der maßgebliche 'Sargnagel' der ersten Computerspiel-Welle, die von Mitte der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre andauerte und in einer ökonomischen Katastrophe endete. Im Zuge dessen wurden Spielhard- und -software wortwörtlich 'zu Grabe getragen' und harrten bis vor kurzem (2014) ihrer archäologischen Wiederentdeckung."81 Demgegenüber findet sich in der Stummfilmzeit als häufiges Verfahren die double exposure des Negativfilms zum dramaturgischen Zweck der "Geistererscheinung" - noch ganz in der Tradition des frühen spiritistischen Photographie. Film - die Aufzeichnung lebendiger Bewegung - zeigt immer nur Geister; im Unterschied zur elektronischen live-Kameraübertagung wird hier keine aktuale Gegenwart (the present), sondern eine Erscheinung (presence) gezeigt. So tritt etwa in einem Film aus der Frühzeit des skandinaschen Kinos, im Stummfild The Phantom Carriage von V. Sjöström der verstorbene Ehemann, begleitet vom Sensenmann als Allegorie des Todes, geisterhaft wieder in sein Wohnhaus und wird dort Zeuge des Selbstmords seiner eigenen Frau. Verzweifelt wendet er sich an den Sensenmann mit der Bitte, dies zu verhindern; dieser aber antwortet in einer Art Selbstthematisierung des Filmregisseurs (gleich Homers Sängerselbstreflektion im SirenenMotiv): "I have no power over the living." Tatsächlich erstaunte am frühen Film gerade die Optin der kinematographischen Wiederauferstehung oder Zeitumkehrung - die aber immer nur eine symbolische oder imaginäre ist. Kinematographie ist immer schon Animation, niemals tatsächliches Lebens- als Bewegungsbild. Genau dafür kritisierte Henri Bergson den Film: Er vermag die Illusion von lebendiger Bewegung zu erzeugen, ist aber tatsächich ihr technisch-mathematischer Wahrnehmungsbetrug. Genau hier liegt die Rivalität zum Theater, von dem sich der frühe Film - argumentiert in Hugo Münsterbergs The Photoplay - medienästhetisch erst emanzipieren mußte. Auf der Theaterbühne nämlich agieren lebendige Wesen, während es im frühen Stummfilmkino als tableau aesthetique mit seinen langen Uexkülls, in: kunsttexte.de Nr. 4, 2010 (14 Seiten); www.kunsttexte.de. Hier: Seite 4 81 Aus dem abstract des Vortrags von Stefan Höltgen zum Thema "It's more fun to compute!" - Theoretische und operative Begriffsbestimmung von "Computerarchäologie".am 9. Juli 2014 im Kolloquium Medien, die wir meinen Schweigepausen (das von Eivind Rossaak identifizierte Stilmerkmal82) immer nur ("Medien"-)Schatten sind. Hier wird der "lebensnahe" Effekt zum epistemologischen Skandal. Darauf antwortet der existenzialistische Film, etwa Ingmar Bergmann, worauf schon Walter Benjamin hinweist, als er betont, daß der Film als "optisch Unbewußtes" Aspekte des Lebendigen aufzuweisen vermag, die dem menschlichen Auge im mikroskopischen und mikrochronischen Bereich entgehen. <begin cMEDZEIT-AFFEKT-IRRITAT> High-Speed-Kameras machen im Sinne von Walter Benjamins Begriff des "optisch Unbewußten" durch Super-Zeitlupen Vorgänge sichtbar, die dem menschlichen Auge verwehrt sind. Weiterhin werden durch Kamerabildübertagungen aus unbemannten Drohnen Ereignisse aus einem Blickwinkel sichtbar, in welchen ein menschliches Auge nie hingelangt. Diese Entbergung eines neuen "Archivs" findet auch im Zeitfeld statt: Mobile, an den Körper geheftete GoPro Kameras, mit denen vor allem Extremsportarten durch eine gefilmt werden, ermöglichen durch diese Einstellung eine authentischere Abbildung der subjektiven Zeiterfahrung. In der Tat tritt hiermit an die Stelle der klassischen Distanzierung der äußeren Wirklichkeit vom wahrnehmenden Subjekt durch die Kamera (Kracauer, Cavell) nun die unmittelbare, geradezu proaktive Partizipation. Es handelt sich nicht mehr um liveÜbertragung, sondern um ein unmittelbares Beteiligtsein an Gegenwart in actu. Die technologische Natur des digitalen Kamerabilds im Unterschied zum klassischen Zelluloidfilm resultiert hier in einer spezifischen Form von archiving the present Ein Gesicht vermag Unbewußtes auszudrücken (Bela Balasz). Im extremen close-up kommt die Kameramöglichkeit des Films im Unterschied zum Dispositiv des Theaters zu sich; er zoomt sozusagen die Schauspieler an die Zuschauer selbst und vermag damit non-narrative Neben- oder Unterhandlungen zu liefern, diesseits der eigentlichen Story. In einem frühen norwegischen Stummfilm aber bezaubert nicht nur die Tänzerin Asta Nielsen, sondern auch das blitzhafte Aufscheinen photochemischer Störungen in der Kopie; hier wird das entropische Ereignis zum Zeit-Film. Daß aber überhaupt in solcher Klarheit noch eine Szene frühester Kinematographie sichtbar ist, verdankt sich der damaligen Zensur, die den erotischen Tanz aus der öffentlichen Filmversion Breiens entfernen ließ und als eine Art 82 Eivind Rossaak, Nahe dem Leben? Der skandinavische Filmstil: Tableau, Zeit und Struktur, Henrik-Steffens-Gastvorlesung an der Humboldt-Universität zu Berlin, 8. Juli 2014 Zeitkapsel aufbewahrte und damit bis heute rettete - eine Benjamineske Erlösung der speziellen Art. Paranoia erzeugt die sichersten Archive. VERZÖGERTE GEGENWART: DAS ELEKTRONISCHE BILD (VIDEO UND TV) "Wir finden oft eine Nachricht durch fremde Störungen verfälscht, die wir 'Rauschen' nennen. Wir betrachten dann das Problem der Wiederherstellung der ursprüngichen nachricht - der Nachricht mit einer bestimmten Phasenvoreilung oder einer bestimmten Verzögerung <...>."83 Der kinematographische Bewegungseindruck entsteht zwischen den Bildern, die für einen Bruchteil der Sekunde durch den Mechanismus des Malteserkreuzes im Projektor tatsächlich stillgestellt sind. Im elektronischen Bild aber wandert die Bewegung ins (Halb-)Bild selbst, durch das es (für menschliche Wahrnehmung) erst seine Kohärenz erhält. Als solches aber ist es zwar präsent, doch nie in der Gegenwart. Zu keinem Zeitpunkt liegt das elektronische Bild vollständig vor, sondern wird zeilenweise "geschrieben" (analog) respektive in Koordinaten als Matrix re-generiert (digital). Die heuristische Fiktion des "Bildpunkts" Es begann mit einer medienarchäologischen Irritation: Seit den frühesten Einführungen in die Technik des analogen Fernsehens zieht sich der Begriff des Bildelelements und die Illustration der Bildpunktmatrix hindurch, um die Abtastung und Übermittlung des elektronischen Bildes zu illustrieren. Was aus heutiger Rück-Sicht - in der Epoche tatsächlicher "Pixel" - ganz selbstverständlich erscheint, verwechselt nachträglich eine heuristische Fiktion mit dem tatsächlichen Bildsignal. Bilden zwar die sukzessiven Zeilen von TV-Halbbildern mithin ein Raster, ist der Weg des Kathodenstrahls entlang der Zeile indes strikt kontinuierlich. Hell- und Dunkelwerte werden nicht wirklich diskret, sondern in ihren Signalflanken geschrieben. Was schon im filmischen Bewegungsbild ein Betrug der menschlichen Wahrnehmung ist - die Erzeugung eines Bewegungseindrucks durch 24 radikal diskrete Bildfolgen pro Sekunde, flimmerfrei werdend durch die intermittierende Flügelscheibe84 -, erscheint im elektronischen 83 Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung in Lebewesen und Maschine, Düsseldorf/Wien (Econ) 1963, hier Ausgabe 1992, 25-62 (Einführung), hier: 37 [Norbert Wiener, Cybernetics, or Control and Communication in the animal and the machine, M. I. T. 1948] 84 Siehe Laura Mulvey, Death 24x a Second. Stillness and the Moving Image, London (Reaktion Books) 2006 Bild potenziert, wo jeder Kader nicht nur in 2 Halbbilder, sondern diese wiederum in sukzessive Zeilen zerfallen. An die Stelle der photographischen Momentaufnahme tritt die dynamische Zeit-Schrift. So ist der Fernsehzuschauer nie in einer mathematischen Jetztzeit, sondern (er-)lebt den fortwährenden Moment in seiner dynamischen Immanenz: das differentielle "Im Nu" (altgriechisch nyn). Der Bildpunkt ist flüchtig: kein Raumelement, sondern Zeitsignal. Zwischenfilm und Speicherbildröhre In der Frühzeit des elektronischen Fernsehens, als die Kameras kaum Tageslichtaufnahmen zu übermitteln vermochten, erzwang das Zwischenfilmverfahren eine verzögerte Gegenwart: Auf dem höchst lichtempfindlichen Speichermedium Film wurde die Szene aufgenommen, um nahezu unverzüglich von einer elektronischen Kamera abgetastet und versendet zu werden - im frühen deutschen Übertragungssystem während der Berliner Olympiade von 1936 ebenso wie im transatlantischen Paramount Intermediate Film System.85 Present Continuous Past(s) (Dan Graham 1974) In Videoinstallation wie Dan Grahams Present Continuous Past(s) manifestiert sich die Phänomenologie einer verdichteten Zeit. Der geschichtsphilosophisch emphatische Zeithorizont, der sich im Horizont zwischen tiefer Vergangenheit und weitreichender Zukunft aufspannt, schrumpft zu Grenzwerten des aktualen Gegenwartsfensters. Im Gegenzug aber wird die Gegenwart entaktualisiert; an die Stelle der Jetztzeit treten Verzögerung, das instantane Archiv sowie die vorweggenommene Zukunft. "Es ist nie einfach, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem unmittelbare Gegenwart auf die Zeitachse aufgereiht wird, die wir Geschichte nennen. Dan Graham und andere Exponenten der frühen videokunst haben diesen Übergang in den 70er Jahren mittels Delay zwischen zwei bandmaschinen sozusagen mikrotemporal vorgeführt <...>. Das Experiment anschaulich nachzustellen, ist nur mit den Geärten möglich, die in dieser Zeit in Gebrauch waren."86 Eine vormals irritierte Gegenwart wird damit in einer doppelten Zeitlichkeit zugleich zur Irritation der Wiederaufführbarkeit technischer Werke der Medienkultur. Hinzu tritt der Einsatz 85 Dazu Philip Auslander, Liveness. Performance in a mediatized culture, London / New York (Routledge) 1999, 14 86 Johannes Gfeller (Projektleiter AktiveArchive an der Hochschule der Künste Bern), Der Referenzgerätepool von AktiveArchive an der HKB. Eine Basis für die historisch informierte Wiederaufführung von Medienkunst (abstract) zeitkritischer Zwischenmedien auf der konkreten Signalebene: etwa der Timebase-Corrector, der für die Bildstabilität von antiken Videobändern sorgt, die auf entsprechenden Abspielapparaturen wieder in den Medienzustand versetzt werden (woraus sich nicht die museale Aus- als Stillstellung, sondern der Imperativ einerd medientheoretisch notwendig prozessualen Aufführung ableitet). Wenngleich der technische Vollzug (am typengleichen Videorecorder) gleichursprünglich ist, wird im re-enactment die entropische (nicht: historische) Differenz sichtbar. Im Variable Media-Ansatz hat die Erhaltung des Signals Vorrang vor dem Primat des technischen Originals; der kuratorische Schachzug liegt hier darin, von vornherein von der Nichterhaltbarkeit des materiellen Originals auszugehen. Der "historisch informierten Wiederaufführung von Medienkunst" (Gefeller) steht die medienarchäologich informierte Variante beiseite, in ihrem Fokus auf Signalintegrität (denn das Videomagnetband ist kein Bild-, sondern Signalträger). "The meaning of 'live'" (Paddy Scannell) und "die fehlende Halbsekunde" (Herta Sturm) <cZEITKRITDELAY> Schall breitet sich in Luft bei 20° Celsius mit 343 Metern/Sek. vergleichsweise träge aus; demgegenüber war die Geschwindigkeit von Licht seit jeher das ultimative Maß für Jetztzeit selbst. 1911 führt W. Stern den Begriff der Präsenzzeit für eben jenes Intervall zwischen zwei Stimuli ein, innerhalb dessen noch ein einheitlicher Impuls empfunden wird, nicht zwei disjunkte Empfindungen.87 Die akustische Reizverarbeitung im Menschen vermag Impulsfolgen unter etwa einer zehntel Sekunde kaum noch zu unterscheiden; die sonische Hörschwelle vom Knacken zum Ton liegt in diesem Bereich. Optische Reize werden hingegen schon ab etwa 0,04 Sekunden Dauer wahrgenommen88 - eine zeitkritische Täuschung der Wahrnehmung, Lessings "prägnanter Moment" als Mikro-différance, die den Betrachter zur aktiven Interpolation verleitet.89 87 W. Stern, Die differentielle Psychologie, Leipzig 1911; dazu der Eintrag "Präsenzzeit" von Carlos Kölbl, in: Nicolas Pethes / Jens Ruchatz (ed.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Lexikon, Reinbek (rowohlts enzyklopädie) 2001, 455f 88 Ernst Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit, und wie entsteht Wirklichkeit?, Frankfurt (Insel Verlag) 2000, 35ff 89 Siehe auch Jimena Canales, A Tenth of a Second. A History, Chicago/London 2009; dies.: Die Geschwindigkeit des Empfindens. Philosophie im Zeitalter der Bewegungstechnologien, in: Bernhard J. Dotzler / Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen. Das führt zur Verunsicherung in der Gewißtheit der klaren Trennung von Gegenwart und Vergangenheit. Erstere ist nicht akut und zugepitzt aktual, kein Jetztmoment, sondern immer schon auf Zwischenspeicherung, mithin: Jetztvergangenheit angewiesen. Umgekehrt für der online-Anschluß von Datenbanken zu einer Immediatheit des Archivs, der es dem historischen Diskurs entreißt. Niklas Luhmann (im Anschluß an Spencer Browns Diktum "draw a distinction") Je weniger kleinste Momente der Zeitverzögerung als Manipulation reiner Gegenwart bemerkbar sind, desto wirksamer sind sie im Sinne von Jacques Lacan: "Je mehr er nichts bedeutet, umso unzerstörbarer ist der Signifikant."90 Kurz vor Mitternacht deutscher Zeit fiel am 13. Juli 2014 in den letzten Minuten der Verlängerung des Endspiels um die FIFAFußballweltmeisterschaft in Rio de Janeiro das von einer <"Signal-">Flanke vorbereitete Siegestor der deutschen Mannschaft durch Mario Götze. Kleinste Momente der Zeitverzögerung im Unterschied zum kairotischen, also günstigen Moment von Rechtzeitigkeit kommen bei der Radio- und TV-Überragung solcher Ereignisse ins Spiel - die Frage der digital gerechneten "Echtzeit". In phänomenologischer Hinsicht aber unterscheidet sich die Publikumssituation im Rundfunk nicht von der in Theater und Kino: "Wer den <sic> Fußballmatch abhört, tut es als erregter Parteigänger, meint ihn als wirklich stattfindenden und weiß nichts vom 'Als ob' der <Übertragungs->Kunst."91 Das klassische "Zeitgefälle" (Anders) zwischen Bilderzeugung und Betrachtung fällt hier fort. TV-Bilder sind nicht einmal mehr Momentaufnahmen, sondern Momentbilder. Gegenwart, so befragt Anders den Begriff, schrumpft zur konkreten "Situation", zur bloßten Anzeige formaler Simultaneität <Anders 1961: 131>. So beschreibt Anders das Prinzip der elektromagnetischen Sendung; dessen Medienbotschaft ist, "das nur oder beinahe nur Gleichzueitige so zuzustellen, daß es als echte Gegenwart wirke" Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion, Bielefeld (transcript) 2008, 83-106 90 Jacques Lacan, Der Signifikant als solcher bedeutet nichts, in: ders., Die Psychosen. Das Seminar Buch III, hg. v. Jacques-Alain Miller, Berlin (Quadriga) 1997, 217-231 (220) 91 Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize. Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, in: ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1961, 131 <ebd.>. Das TV-Bild ist ein "Zwischending zwischen Sein und Schein" - also to metaxy im ontologischen Sinne, ein "Phantom" <133>. Die Übertragung selbst ist hier die (Zeit-)Botschaft: das scheinbare Verschwindung der Kanal-Distanz, das Gegenstück zur Entarchivierung. Indem Gegenwart als "live" die Distanz dissimuliert, entspricht diese scheinbare Gegenwart umgekehrt proportional ihrer Direktarchiverung.92 „Live“ wurde als eine der ureigensten Eigenschaften des Fernsehens verstanden, solange eine Speicherung der übertragenen Bilder nicht möglich war. Dies änderte sich mit der Magnetbandaufzeichnungbis Ende der fünfziger Jahre (AMPEX Videorekorder). Durch die Möglichkeit der Nachbearbeitung ging der auratische, temporale Affekt des Live-Charakters, den das Fernsehen seither gegenüber den Erzählzeiten des Speichermediums Film auszeichnete, teilweise verloren, um im Nachrichtenkanal CNN etwa im Zeitformat der "breaking news" in zweiter Ordnung wieder einzukehren. Im Begriff des Live-Fernsehens schwingen der Eindruck von Zeitgleichheit, aber auch der Überbrückung räumlicher Entfernung mit. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung wird diese Überbrückung konkret, im Unterlaufen von Zeitverzögerung durch intelligente Kodierung.93 Zur Zeitstruktur der live-Übertragung der Terrorattacke New York, 11. September 11. September 2001: Private Videokameras übermitteln die ersten Bilder von der Flugzeugattacke auf das World Trade Center in New York. Der Autor weilte auf einem Dokumentarfilmsymposium in Riga, als er plötzlich vor den Fernseher im Tagungsbüro gerufen wurden. Welch ein Kontrast, nach all den Debatten über die Gefahren der Globalisierung in der Dokumentarfilmästhetik durch die Übermacht des Fernsehens, und alle Medientheorien wurden wahr. Von der CNNMattscheibe liefen stundenlang Bilder- und Nachrichtenstreaming in Endlosschleife. Für Moment war der Eindruck traumatisch, und das Warten auf ein kommendes Ereignis zeitigte die Ratlosigkeit im Umgang mit aufgeschobener Zeit. Was heißt es, wenn ein Dok-Filmfestival derart von der 92 Siehe auch Thorsten Lorenz, Das Zittern des Körpers. Medien als Zeitmaschinen der Sinne, in: Gerhard Chr. Bukow / Johannes Fromme / Benjamin Jörissen (Hg.), Raum, Zeit, Medienbildung. Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, Wiesbaden (Springer) 2012, 23-45 93 Siehe Bernhard Vief, Die Inflation der Igel. Versuch über die Medien, in: Derrick de Kerckhove / Martina Leeker / Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Berlin (transcript) 2008, 213-232 Wirklichkeit eingeholt wird? "Willkommen in der Wüste des Realen", wird der Protanist Neo im Film The Matrix von Morpheus begrüßt, als er unversehens aus der errechneten Weltillusion erwacht. "Zu spät gekommen. Nur noch Ruinen."94 Zeit selbst fungiert als Kriterium des Realen im Moment der Katastrophe; diese repräsentiert „that which cannot be contained within <...> an ordering of temporality“95; gerade für das Fernsehen ist sie damit das Gegenteil des Archivs. Da war sie, die reine Signalästhetik des live-Fernsehens, unredigiert, nicht von Programmen zerhackt, ein Moment des Direktanschlusses an die Realität (und es kann immer nur ein Modus des Anschlusses, nie das Miterleben von Wirklichkeit selbst sein, deren Wesen Kurzschluß ist). "Die Breaking News im Fersehen versuchen die Realität abzubilden - in einem Dokumentarfilm würde die Realität hinterfragt werden."96 <cBOTV2> In der Bilderflut, welche die Terroristenattacke auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 auslöste, kam die Iterabilität-ohne-Differenz, das Kennzeichen des elektronischen Archivs, ins Spiel - mit Videoaufnahmen jubelnder Palästinenser der Reuters Television Agency auf dem Nachrichtenkanal CNN, die kurz darauf als re-play von 1991 im Internet desavouiert wurden. Eine Verschleifung klassischer Zeitebenenen zwischen (a)live und recorded on tape: "That is perhaps most uncanny when you hear a program about someone who is dead, and that person´s voice is broadcast and is as `real´ sensorially, as `present´, as those who are speaking `today´ and who are alive."97 Die Gegenwart der (Medien-)Ereignisse am 11. September 2001 bildete eine "Heterochronie" im Sinne Foucaults: 1. Einschlag des ersten Flugzeugs in Turm A der Twin Towers in New York. Mit der Einmaligkeit des Ereignisses korrespondiert die (weitgehend unkommentierte) Direkt-live-Übertragung durch das Fernsehen. 2. Einschlag des zweiten Flugszeugs in Turm B. Damit wird aus dem signulären Ereignis die Iteration. 3. Die Struktur der Iteration spiegelt sich in der fortwährenden TV-Ausstrahlung der Ereignisfolgen (Doppelschlag) als loops 94 Eintrag eines Amerikaners im Gästebuch von Edzell Castle, Schottland 95 Doane 1990: 233 96 Julia Vismann, E-mail vom 22. September 2001 97 Samuel M. Weber, Mass Mediauras: Essays on Art, Technics and Media, Publications of the Power Institute, Sydney, Stanford UP 1996, 160 "Pre Record Modus" und instant replay <begin cMEDZEIT-AFFEKT-IRRITAT> Der Pre Record Modus" harrt noch eines Wikipedia-Eintrags, hat also noch nicht Eingang in den Diskurs der Medienkultur gefunden, und findet sich bislang nur in Form von Bedienungsanleitungen, also auf der medienarchäologischen Ebene technischer Schriften, als latentes Medienwissen. Mit diesem Modus können Photos nicht nur in dem Moment der händischen Auslösung aufgenommen werden, sondern präemptiv, in Form einer Aufnahme von bis zu 30 Photos pro Sekunde vorweg. Im getakteten Sampling kann diese zeitgekapselte Gegenwart dann im Pufferspeicher der digitalen Kamera zwischengespeichert werden, noch bevor der Auslöser gedrückt wird. "Bei schnellen und überraschend" - also im Sinne der Nachrichtentheorie höchst informativ - "eintretenden Ereignissen, ist diese Funktion ein Garant dafür dennoch den perfekten Moment festzuhalten."98 Das Zeitmaß der Medienkultur ist nach 100 Jahren Kino noch die kinematographische Bildwechselfrequenz: ein Indiz der NichtHistorisierbarkeit jenes scheinbar historischen Mediums. "Das 25ste Foto entpricht dann dem Foto, welches im Auslösemoment gemacht wurde. Sie haben also neben dem Foto des Auslösemoments noch 24 weitere Fotos zur Auswahl, die vor dem Auslösemoment entstanden." Zeit(aus)schnitte durch Zeitversetzung (Dt): "Die ungeliebten Werbeblöcke sind <...> spätestens seit der Erfindung des HarddiskRecorders für den Zuschauer kein Problem mehr. Durch diese Technologie ist jeder in der Lage, einen Film bereits anzuschauen, noch während man ihn aufeichnet. Die Aufnahme wird dabei zu Beginn der Ausstrahlung gestartet und man setzt sich einfach etwa eine Viertelstunde später vor den Fernseher, der immer dann 'vorspult', sobald Werbung gesendet wird."99 Die Metaphorik ist hier noch die analoge Zeit der Videobandmaschine (im Sinne der "Spuuule" in Beckett's Drama Krapp's Last Tape); tatsächlich aber ist die technische Bewegung bereits non-linear im Unterschied zum intakten Bewußtsein des Zuschauers vom linearen Zeitfluß. "Die Werbeblöcke werden einfach in Echtzeit übersprungen" <ebd.> - ein Begriff, der 98 http://de.exilim.eu/de/tips/prerecord; Abruf 2. Juni 2014 99 Falko Blask / Ariane Windhorst, Zeitmaschinen. Mythos und Technologie eines Menschheitstraums, München (Atmosphären Verlag) 2005, 101 auf die digitale Aufzeichnungspraxis verweist. Zeitachsenmanipulation erfolgt ebenso durch die aus der analogen Videorekordertechnik vetraute rewind function. In der privaten Medienzeitaneignung führen neue Aufzeichnungs- und Empfangstechnologien zu einer "transition from unidirectional time flow (from present to future) to multidrectional time flow"100, auf den technischen Punkt gebracht im start-over button. Mit dem praktizierten Oxymoron des instant replay und der fast unverzüglichen vielfachen Wiederholung und slow motion eines TVübertragenen Fußball-Torschusses wird ihm genau jene auratische Einzigartigkeit genommen, die in der reinen live-Übertragung (etwa die Radioreportage des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft in Bern 1954) angelegt ist. "Fussballgucken funtioniert nur bei Liveübertagungen wirklich", hieß es bereits im Oktober 2001 in einer Rezension zum Buch des Aufmerksamkeitstrainers Matthias Pöhm Vergessen Sie alles über Rhetorik (Landsberg am Lech: mvg-Verlag, 2001)."101 "Die fehlende Halbsekunde" der Unmittelbarkeit einer liveÜbertragung führt zur nervlichen Spannung, weil die Signalverarbeitung durch das Hirn überbeansprucht ist. Deutlich entspannender ist es, den Fernsehton abzuschalten und der liveÜbertragung im (noch-)Analogradio (FM) zu lauschen, die um einige Sekunden schneller überträgt und damit auditiv (also in jenem Organ, das zeitkritische Momente viel effektiver und sensibler zu verarbeiten vermag als das Auge) schon ent-spannt, was das Auge dann erst sieht. ALGORITHISCHE ENTFESSELUNG DES ZEITREALS Das (medientechnisch faßbare) Reale / Unbewußte Die mediale Aufnahme einer Spurensicherung des UnwillkürlichRealen beginnt, vor allem Eye-Tracking, bereits mit der Photographie als dem ersten Neuen Medium überhaupt: "Dies Hundertstel oder Tausendstel einer Sekunde, das man zur Belichtung braucht, fährt wie ein Blitz hinein in das Dickicht der Welt und langt hervor was unausdenkbar ist: den Zufall."102 Tatsächlich ist 100 Mira Moshe, Media Time Squeezing: The Privatization of the Media Time Sphere, in: Television & New Media 13(1), 2012, 68-86 (74) 101 Paraphe "miel", in: Die Zeit Nr. 42 vom 11. Oktober 201, S. 90 102 Dolf Sternberger, Über die Kunst der Fotografie, in: Wolfgang Kemp, Theorie der Fotografie, Bd. II (1912-1945), München (Schirmer/Mosel) 1979, 228-240 es das Optisch-Unbewusste,103 das sich durch die kurzen Klicks des Belichtungsmechanismus aus dem dreisekündigen Wahrnehmungsfenster des Menschen herauslöst104, "ungeahnte Details preisgibt und die Zeit auf einer Ebene erfasst, auslöscht oder anhält, für welche die menschliche Wahrnehmung zu langsam ist."105 "Wunds Psychologie "will vom medialen Realen eigentlich nichts wissen"106 - wie es als Zeitreal in Form eines Tachistoskops in Wunds Labor operativ war <226>. Was alltglich Praxis im Umgang technischer Speicher-, Verarbeitungs und Übertragungsmedien ist, geht nur scheinbar wie selbstverständlich von der Hand. Vielmehr steht die Gegenvermutung im Raum, daß ein regelrechter Schock des vertrauten Gegenwartsbegriffs aus hochtechnischen, zeitkritischen Verhältnissen resultiert, der im kulturellen Unbewußten längst noch nicht verarbeitet ist - bis hin zur Infragestellung des herkömmlichen Erzählt-, Subjekt- und Geschichtsdiskurses als effektivsten literarischen Formen von Zeitbewältigung in der Moderne. Die Gegenwart in Echtzeit "muß sich gänzlich an ihn <sc. den Augenblick> ausliefern und ohne Zeit zu ver/lieren sich ihm erklären. Anders die Erzählung."107 <cPADERMETHPHONO> Tatsächlich lassen sich Menschen auf der Ebene der Präsenzwahrnehmung täuschen; Medien dissimulieren den Mechanismus dieser Vergegenwärtigung zugunsten der reinen Empfindung und zeitigen damit (zumal in Form von Signalwiedergabe im High Fidelity-Bereich) technisch induzierte Hyperpräsenz. Nicht die strukturale, zeitlose Logik der Zeichen ist hier am Werk (der semiotische Begriff von An- und Abwesenheit); vielmehr operieren 103 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, xxx, 36, sowie ders., Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, xxx, 50 104 Zum menschlichen Wahrnehmungs- bzw. Gegenwarts- und Integrationsfenster von 3 Sekunden Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, dtv, Stuttgart 1987 105 Markus Müller, Das Wesen von Zeit in der Photographie im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit, schriftliche Hausarbeit (Modulabschlußprüfung) im Magisterteilstudiengang Medienwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin, Oktober 2009, 4 106 Annette Bitsch, Diskrete Gespenster. Die Genealogie des Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit, Bielefeld (transcript) 2009, 225 107 Walter Benjamin, Der Erzähler, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt/M. 1972ff, Bd. II.2, 439ff analogtechnische Medien in indexikalischen Verhältnissen auf der Signalebene selbst. Jacques Lacans "medienarchäologisch orientierte Psychoanalyse" ruft "stets die Unmöglichkeit einer Materialisierung und Identifizierung des Realen, sei es implementiert in Elektronenröhren oder korpsifiziert in menschlichem Sein, in Ereinnerung und versäumt weiter niemals die Differenzen, die sich zwischen einer digitalen Maschine und einem subjektiven Medium wie dem Unbewussten auftun"108. <cCYBERFRANK> Lacan, der die Analoge von digitalen Schaltern und Denkoperationen im Anschluß an Claude Shannon für die Psychoanalyse weiterentwickelt hat, konzipiert das Unbewußte als eine Prozedur des Realen in der Zeit, die gerade nicht neurobiologisch verifizierbar ist.109 Das Re(medi)ale ist etwas Anderes als remediation im Sinne von Bolter / Grusin. Das Reale ist für Lacan eine "unerfahrbare Dassheit" (Bitsch 2008: 143) und kann nicht direkt kommuniziert werden; es tritt vielmehr als mediales Reales in Erscheinung110 - im Techno-Traumatischen. Real ist, was sich der symbolischen Ordnung entzieht. Das Reale ist gerade im Entzug strukturbildend.111 Das Momentum des Realen, wie es nach Lacan von der Realität ausgeklammert bleibt, tritt in jenen traumatischen Momenten hervor, in denen die Illusion der narrativisierbaren, symbolischen Ordnung "zerbirst"112 - als Zeitreal. Meßapparaturen such diesen Moment dennoch zu fassen. Die Sammlung Historischer Meßgeräte aus dem ehemaligen Psychological Laboratory an der Harvard University birgt u. a. einen "Sense-of-time apparatus", konstruiert von der Firma E. Zimmermann, Leipzig (ca. 1890). Die manipulative Macht seitens technischer Medien ist nicht schlicht das Resultat diskursiver, außenseitiger Steuerung, sondern gründet primär in den mikrotemporalen Bereich der Sinnestäuschung. Die Analyse dessen, was hier prozessiert und "entschieden" wird, resultiert notwendig in einer Akzentverschiebung des Begriffs von Medienkritik, die den Anspruch der Kritischen Theorie sowohl aktualisiert als auch transzendiert.113 Genau hierin liegt die Macht der signalaufzeichnenden Medien, im Unterschied zum buchstäblich symbolischen Regime des Archivs: Im 108Bitsch 2009: 422 109Siehe Lacan 1991 und Bitsch 2009 110 Bitsch 2008: 221 111Julia Meier, Die Tiefe der Oberfläche. David Lynch - Gilles Deleuze - Francis Bacon, Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2013, 23 112 Meier 2013: 24 113 Dazu die Dissertation von Christopher Lorenz, xxx Moment des Abspiels (als Wiederaufruf magnetischer Latenz) wird von menschlichen Sinnen Präsenz wahrgenommen. Was heißt "Kommunikation unter Anwesenden" (Niklas Luhmann) in Zeiten von Livestreams? Am 2. Juli 2014 widmeten sich in der Akademie der Künste zu Berlin eine Installation und ein Gespräch der "realen und digitalen Präsenz": glDrawArrays(reality). Die online-Ankündigung (Kontakt: BUREAU N cultural communications): "In der letzten <...> Veranstaltungen des 'Vorbereitungsbüros' zum Programmschwerpunkt 'Schwindel der Wirklichkeit' <...> wird die analoge Gesprächsrunde am Hanseatenweg digital – und damit global. Im digitalen Jetzt bespielen und definieren zugeschaltete Gäste die erweiterte Realität. Das auf Onlinemedien spezialisierte Berliner Design- und Entwicklungsbüro Ape Unit nutzt dabei das experimentelle Aufnahmeund Inszenierungskonzept, das es für die Live-Streams der wöchentlichen Gesprächsrunden entwickelt hat. Ape Unit konfrontiert die Prinzipien der realen Präsenz mit jenen der digitalen Präsenz" - und hebt damit den vermeintlichen Gegensatz zwischen dem temporalen Jetzt und der auratischen Erscheinung als "Gegenwart" auf. Zur vorangehenden Gesprächsrunde hieß es in der Ankündigung: "Die Veranstaltung wird parallel im VIDEO LIVESTREAM auf www.schwindelderwirklichkeit.de in Echtzeit ausgestrahlt." Der Schwindel liegt hier in der Suggestion reiner Gegenwart dizzy present. Die Echtzeitausstrahlung (im Unterschied zur klassischen "live"Sendung) macht das Thema, den thematischen Inhalt der Gesprächsserie frei nach McLuhan zum eigentlichen Ereignis, zur "Botschaft" des Mediums: Wir sind nicht mehr Souverän unserer eigenen Gegenwart. Zwischen(-)Speichern und Übertragen: Das Archiv in Bewegung (die GoPro-Kamera) Kleinste Momente der Zwischenspeicherung definieren das Wesen der "digitalen" Gegenwart, im Unterschied zur "live" übertragenen tele-medialen Gegenwart. Genau hierin wurzelt (medienarchäologisch gesprochen) das traumatische Momentum der Irritationen von Gegenwart. Mobile, an den Körper geheftete Kameras, mit denen derzeit vor allem Extremsportarten gefilmt werden, ermöglichen durch diese Einstellung eine Abbildung radikal subjektiver Zeiterfahrung. Diese mobile Digitalkamera resultiert - radikaler noch als die einstige Befreiung vom schwerfälligen Fernsehübertragungsapparat durch den transportablen Videorekorder (Nam June Paiks "Portapak") als Beginn von Medienkunst - in einem Akzentwechsel von der Speicherung zur Direktübertragung von Gegenwart; ganz im Sinne der Diagnose von Eivind Rossaak gerät hier das Archiv in Bewegung.114 Die starre Kamera-Aufzeichnung des filmischen Apparats (korrespondierend mit dem photographischen Standbild im Alltag) weicht dem mobilen Sampling der Gegenwart - und zwar nicht schlicht im ästhetisch-collagierenden, sondern aisthetischen Sinn. Entscheidend wird hier die Frage nach der technischer BildwechselFrequenz in Kopplung an den menschlichen Visus. Medienarchäologie verweist in diesem Zusammenhang an die Zuschauerreaktionen der allererste Filmvorführung eines einfahrendes Zuges 1895; der Wahrnehmungsaffekt war schockhaft und erinnert daran, wie die menschliche Wahrnehmung immer erst allmählich auf den Stand der medientechnischen Möglichkeiten trainiert wird. Eine drastisch erhöhte Bildfrequenz ist für Spezialeffekte und dynamische Momente im Actionfilm erforderlich, ansonsten aber wahrnehmungsphysiologisch problematisch. Außerhalb von Extremmomenten aber erweist sich das Produzentenversprechen einer höheren Abtastrate geradezu als dysfunktional. Der Kinofilm Der Hobbit - Eine unerwartete Reise, mit 48 frames per second gedreht, wurde vom Publikum vielmehr als Irritation der Gegenwartswahrnehmung empfunden. Die objektive Annäherung der Abtastrate an kontinuierliche Bewegung im physikalischen Sinn (das technische Äquivalent zur Differentialrechnung115) wird dysfunktional zum Trägheitseffekt der Bildwahrnehmung durch die menschliche Netzhaut, <siehe MONITORANADIG> parallel zur Diskussion um die Versprechen der HD-Technologie. Technische Bilder, welche an Detailschärfe die Realität selbst noch überbieten, "heizen" die Wahrnehmung (im Sinne McLuhans) auf und resultieren in der Überanstrengung eines Sinneskanals. Als 1975 Steve Sasson für Kodak die erste Digitalkamera auf s/wCCD-Sensorbasis mit einer Auflösung von 0,1 Megapixeln präsentierte, vergingen bis zur Speicherung des Einzelbildes noch 23 Sekunden - auf der vom Homecomputerbereich (Commodore 64) vertrauten Datasette, also ein "sonisches" Bild der Gegenwart. Abb.: Digitalkamera auf Toncassettenbasis (1975)116 114 Eivind Rossaak (Hg.), The Archive in Motion, Oslo (Novus) 2010 115 Siehe xxx zu Hollerith-Karten als Kinematographie, in: Festschrift 25 Jahre DeHoMAG, xxx 116 http://tech-kid.com/first-digital-camera-steve-sasson.html High-Speed-Kameras mit ihren Möglichkeiten extremer Zeitlupen sind nicht länger exklusive Praktiken kostspieliger wissenschaftlicher Labore, sondern in den privaten Extrembewegungsbereich eingedrungen. Walter Benjamin hat die "Dynamik der Zehntelsekunden" als Aufsprengung der Enge bürgerlicher Welten und somit als Mikrorevolution ihrer Zeit- und Raumideologie gedeutet.117 Die aktuelle Mikrokameratechnik entfesselt das optische Unbewußte endgültig: <cPHOTARCHHU> "Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt durchwirkter tritt"118 - das (von Ernst Jünger so benannte) zweite Bewußtsein, jenes Dritte der Medien, die zwischen Kultur und Natur treten. Durch Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt die Photographie dem Menschen eine Welt, die er selbst nicht kannte; "von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse"119 Damit lassen sich Vorgänge sichtbar machen, die dem menschlichen Augensinn durch seine Physiologie (Trägheit des Nachbilds) ansonsten unzugänglich sind. Diese Entbergung eines neuen "Archivs" findet vor allem im Zeitfeld statt. Die neue Form von Medientheater ist nicht mehr der ergänzende Auftritt technischer Medien auf der Theaterbühne, sondern die Kopplung des Menschen an das Medium selbst - die mediasphere. Es handelt sich hier um eine dramatisch neuartige Form der Aufnahme und Abbildung von Realtität, "die eine noch stärkere Immersion ermöglicht"120. In der Tat tritt an die Stelle der klassischen, von Kracauer formulierten Distanzierung der äußeren Wirklichkeit vom wahrnehmenden Subjekt durch die Kamera nun die unmittelbare, geradezu proaktive Partizipation. Es handelt sich nicht mehr um live-Übertragung, sondern um ein unmittelbares Beteiligtsein an 117 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung [1936], in: Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Erster Band. Zweiter Teil, 3. Aufl. Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1999, 499 f. 118 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: Gesammelte Schriften Bd. II/1, Frankfurt/M. [*1972], 2. Auf. 1989, 371. Dazu Michael Wetzel, Verweisungen. Der semiologische Bruch im 19. Jahrhundert, in: Friedrich Kittler / Christoph Tholen (Hg.), Arsenale der Seele, München (Fink) 19xxx, 71-95 (86ff) 119 Benjamin ebd. 120 E-mail Marieluise Külz, Ende März 2014 Gegenwart in actu. Die technologische Natur des digitalen Kamerabilds im Unterschied zum klassischen Zelluloidfilm resultiert hier in einer spezifischen Form von archiving the present. Theatralische Präsenz: Körper und Stimme <begin cMEDTHEA> Im Verhältnis von Theater und digitalen Medien bricht die Nostalgie nach dem realen Körper auf der Bühne gegenüber seiner Immaterialisierung wieder durch.121 "Trotz des scheinbaren Sieges der Computerfachmänner über die Regisseure und der maschinellen Funktion über das ästhetische Objekt kehrt plötzlich das Verdrängte des Körpers und der menschlichen Präsenz, der Stimme und des Textes zurück [...]. Was hervorschaut, ist der Körper des Schauspielers, der einen Augenblick der Regelmäßigkeit der Maschine ausgesetzt war, der Körper des Maschinisten, der begehrende Körper des Zuschauers. Der Schauspieler ist immer für die Störung im Bild der Bühne verantwortlich, sein unbeugsamer Fremdkörper setzt sich trotz des aseptischen Dispositivs der Bühnenmaschinen, Videos oder Computer durch, und so findet er einige seiner alten Möglichkeiten wieder: Präsenz, Stimme, biologischer Rhythms, physische Leistung."122 Licklider zufolge ist in der Mensch-Machine-Symbiose ersterer das "noisy, narrow-band device"123. Hängt performative Ästhetik an der körperlichen Präsenz, im Unterschied zur gegenwartsmächtigen Signalgebung operativer Medien?124 "Das Theater-Ereignis ist <...> eine grundsätzlich andere Realität als ein Medien-Ereignis. Seine Darstellungsstrukturen beruhen auf anderen Zeit-'Maßen' als die der Medien mit ihren technisch rasenden Geschwindigkeiten. Die gleichsam erdverhaftete 121Dazu der Beitrag Joachim Fiebach in: Martina Leeker (Hg.), Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu digitalen Welten, Berlin (Alexander) 2001 122 Patrice Pavis, Die zeitgenössische Dramatik und die neuen Medien, in: Früchtl / Zimmermann (Hg.) 2001: 240-259 (245) 123 Licklider, Human-Machine Symbiosis, xxx (1960) 124 Siehe Doris Kolesch, Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen, in: Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2001, 260274 Körperlichkeit, die Tätigkeit im Theater bestimmt, schafft eine wesentlich andere kommunikative Situation und vermittelt andere Erfahrungen als Mediatisierung..125 <end cMEDTHEA> Insistiert auch die Sängerstimme gegenüber technischer Tonbearbeitung ? Die Transposition männlicher in weibliche Stimmen in Echtzeit durch effektive, in zeitkritischem Assembler programmierten Prozessoren (Kittler's Harmonizer) aber resultiert im digitalen Morphing von Männer- und Frauenstimme für die Filmstimme von Farinelli als Rekonstruktion einer Kastratenstimme aus dem 18. Jahrhundert.126 "Time-Sharing" <begin ModMEDZEIT-WS-2015> <modCOMP-TIME-SHARING> Als sich zur Kurztagung "Time After Time" – 50 Jahre Time-Sharing. im hiesigen Medientheater am 3. Oktober 2015 Akademiker und Praktiker zusammenfanden, um die ersten Momente von digitalem und algorithmischem Time-Sharing zu diskutieren, war dies 1.) im besten Sinne wissenschaftlicher Analyse. Zum Medientheater aber wird es 2.), wenn Zeit nicht nur zwischen Menschen geteilt wird, sondern auch zwischen Menschen und Computern. Dies war die mediendramaturgische Situation des Tagungsthemas: Menschen und Computer teilen nicht mehr die gemeinsame Gegenwart, sondern diese wird in hintereinandergeschachtelte Intervalle geteilt. Neben dieser performativen Zeit aber bestimmt heutzutage 3.) die operative Zeit von Time-Sharing einer Gesellschaft, die nur aus Computern besteht, unsere Lage. In den Formen des World Wide Web ist die von Teilhard de Chardin einst prognostizierte "Noosphäre", also eine den Globus umfassende elektronische Denksphäre, netzwerktechnisch wie als Gebrauchsweise längst zur Chronosphäre geworden. Diese Chronosphäre ist "Historismus" im Sinne von Martin Heideggers Deutung der Rundfunkmedien. <modZEITKRITSIEGEN> 125 Joachim Fiebach, Kommunikation und Theater. Diskurse zur Situation im 20. Jahrhundert, in: ders., Keine Hoffnung. Keine Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin (Vistas) 1998, 85-183 (167) 126 Dazu K. Ludwig Pfeiffer, Operngesang und Medientheorie, in: Kolesch / Krämer (Hg.) 2006, 65-87 (66). Siehe ferner Roland Barthes, Die Rauheit der Stimme, in: ders., xxx Um die dynamische, zeitkritische Praxis von Time-Sharing und Packet-Switching im Internet zu verstehen, versetzen wir uns zunächst in eine buchstäblich medienarchäologische Situation: unter Wasser, in ein U-Boot, an das Sonar-Gerät. Ein Sonar erzeugt einen sonischen Impuls, oftmals "Ping" genannt, der durch Hydrophone gesendet und seiner Reflexion wieder empfangen wird nur, um daraus Distanzen zu errechnen. <...> Es gibt also eine handelnde Welt der petites perceptions, die nicht mehr für Menschensinne stattfinden. Pseudo-Echtzeitlokalisierung von Objekten im Warenkreislauf (etwa RFID) geschieht in der Vektormatrix von Raum - Zeit - Frequenz - Kodierung. Es war Alan Turing, der für die elektrotechnische Verkörperung seiner symbolischen Maschine radikal definierte: "Treat time as discrete", und für die von-Neumann-Architektur unserer alltäglichen Computer gilt auch in Zeiten der sogenannten "postdigitalen" Medienkultur unerbittlich: "one bit at a time". Im (nach Konrad Zuse benannten) rechnenden Raum regiert das Zeitregime strikter Sequentialität in der Datenverarbeitung; Antikollisionsverfahren sortieren Information zeitkritisch durch ihre Einteilung in diskrete Zeitschlitze. Time slicing als Eskalation von time-sharing (im Konzept Lickliders) ist längst generelle Praxis in der Rechner- und Telekommunikation geworden, bis in den Mobilfunk. So öffnen und schließen sich unaufhörlich Zeitfenster für Ja/NeinEntscheidungen. Gleichzeitig, zu diesem neuen Verständnis von Computernutzung findet ein telekommunikationstechnischer Paradigmenwechsel von „leitungsorientierten“ zu „paketvermittelten“ Konzepten statt (Leiner 2000). Warum nun der Blick zurück auf das, was vor 50 Jahren mit dem Dartmouth-Time-Sharing-System in die Welt kam? "Retro" (das gilt auch für das hier gastgebende Festival) ist im medienarchäologischen Sinne nicht schlicht Nostalgie nach einer noch haptisch erfahrbaren Rechnerwelt. Der Rückblick auf Urszenen von Time-Sharing macht jene delikaten Rhythmen, die in heutigen Netzwelten hochfrequent geschehen, wieder durchschaubau. Mag sich die Rechengeschwindigkeit und Komplexität auch gesteigert haben, was fortwährend gilt - und damit eben noch nicht "historisierbar" ist - ist die Struktur dieser Zeitverwaltung. So sind wir gleichzeitig in einem historischen und unhistorischen Verhältnis zu jenen Jahren, derer wir heute gedenken." <end Mod§ MEDZEIT-WS-2015> Subliminal oder verschwiegen? High Frequency Trading an der Börse Nach der Blitzhaftigkeit eines Börsencrash (schneller als Echtzeit, aus menschlicher Gegenwartswahrnehmung) bleibt nur die "historische" Analyse, sprich Nachträglichkeit: <cBLITZTRANSFER> "'Nehmen wir uns eine Woche Zeit und schauen wir, was wir finden.'" Das "Ausbremsen", die bewußte Verlangsamung, ist die Zeitfigur der akademischen Analyse und gleichzeitig eine gegen-elektronische Strategie. Um einen Flash Crash an der Börse zu analysieren, wurde die Minute untersucht, als der jähe Kurssturz begann. "In Sekunde 44 war die Auftragsrate explodiert. Hunsader extrahierte die Sekunde und tastete sich darin herum wie in einem Geisterhaus. Bei 75 Millisekunden fand er den Anfang. Ein Datensturm, der an die Kapazitätsgrenze des Börsensystems ging." Erst Aufzeichnung und re-play erlauben die besonnene Analyse - wie schon Léon-Scott den Phonautograph dafür entwickelte, die flüchtige phonetische Artikulation durch kymographische Aufzeichnung der lesenden Analyse zugänglich zu machen. Beim Vergleich des Datenstroms mit der Börsenberichterstattung im Fernsehsender CNN fiel auf, dass die scheinbaren EchtzeitKursangaben, die über den Börseninformationsdienst liefen, tatsächlich verzögert waren - was nur möglich ist, weil Echtzeit gerechnete, gepufferte Gegenwart, nicht live-Signalübertragung ist und damit time axis manipulation auf algorithmischer Basis erlaubt. Während die Experten den Dow Jones Index also noch im Fall sahen, erholte dieser sich bereits wieder. "Wer in diesem Moment verkaufte, verlor alles. Und der Käufer machte ein Vermögen. Als Hunsader den Zeitlupenblick (also den zeitkritischen Beobachtungsabstand) wieder vergrößerte, identifizierte er Muster, die sich über Stunden, Tage oder Wochen wiederholten. "Hier erteilten und löschten Maschinen in einer Sekunde zehntausendmal dieselbe Order, oder sie erhöhten Gebote in Einserschritten von einer einzigen Aktie auf 100 und gingen dann genauso wieder zurück, abermals innerhalb von Millisekunden, wieder und wieder. "Die Nanex-Software konnte diese Anomalien als Formen darstellen <...>. Schnell bemerkten sie, dass diese Muster nicht nur den Zweck hatten, das System zu manipulieren, sondern sich selbst vertuschen <time-critical, micro-temporal "camouflage" - Zeitlöcher> und obendrein langsamere Algorithmen übertölpeln sollten. War der Flash Crash absichtlich herbeigeführt worden, indem man die New Yorker Börse mit Aufträgen „verstopfte“ und verlangsamte, damit superschnelle Maschinen die so entstehenden flüchtigen Kursdiskrepanzen zum Zuschlagen nutzen konnten?" Der Begriff cache memory nennt in aller Direktheit das Wesen von kurzfristiger Zwischenspeicherung. <copy BLITZTRANSFER> "Es begann damit, dass die NYSE einen „Hülse“ genannten Raum baute, in dessen Mitte der „matching engine“ stand – ein zentraler Server, der Daten sammelt und gegen eine Gebühr an Marktteilnehmer weitergibt. Gegen eine höhere Gebühr jedoch konnten Hochfrequenzhändler ihre eigenen algorithmischen Computer ebenfalls in der „Hülse“ unterbringen. Und weil aller Platz in Hülse 1 auf diese Weise schnell verkauft war, wurde eine zweite gebaut. Als dann die Händler in Hülse 2 sich beklagten, dass sie weiter vom „matching engine“ entfernt seien, begann eine MontyPython-hafte Komödie. „Ich fand das sehr witzig“, lacht der Ingenieur ins Telefon, „denn ein Fuß Kabellänge entspricht einem Zeitunterschied von einer Nanosekunde – das ist eine Milliardstelsekunde. Und als diese Beschwerden aufkamen, konnten die meisten Maschinen, um die es ging, Nanosekunden nicht einmal darstellen.“ Wer darüber lacht, den erinnern die Fachleute daran, dass Computer nicht arbeiten wie wir. Unser Konzept von Zeit bedeutet ihnen nichts. Eine Nanosekunde kann genauso gut eine Sekunde sein oder ein Jahrhundert." <cBLITZTRANSFER> Manche finden, der Aktienmarkt sei mittlerweile für fast überhaupt niemanden mehr verständlich. Professor Neil Johnsons Fachgebiet sind komplexe Systeme, und er analysiert an der Universität Miami seit Jahren die Finanzmärkte. Bis vor kurzem teilte er die Ansicht, um Märkte zu verstehen, müsse man langfristige Trends untersuchen; was im Stunden-, Minuten- oder Sekundenmaßstab passiere, sei bloßes Rauschen, statistisch unerheblich. Doch als er von Hunsaders Recherchen erfuhr, wurde Johnson neugierig. Er flog nach Chicago, wo ihn die Nanex-Daten gleichermaßen faszinierten wie erschütterten. Die erstaunlichste Entdeckung für ihn war eine Konzentration von „Mini-Flash-Crashs“ bei Bankaktien wie Goldman Sachs, Morgan Stanley, JP Morgan und Lehman Brothers im unmittelbaren Vorfeld der Finanzkrise von 2008/2009. „Das erschreckt mich, ehrlich gesagt, immer noch“, sagt er. „Denn es deutet auf eine Verbindung hin zwischen dem, was auf der Ebene von Sekundenbruchteilen geschieht, und dem, was im Maßstab von Monaten vor sich geht. An dem Punkt sah das Ganze plötzlich wie ein Ökosystem aus. In einem Ökosystem gibt es Raubtiere jeder Größe <...>" TEMPORALISIERUNG DER REINEN GEGENWART Henri Bergson zufolge ist jede aktuale Wahrnehmung immer schon auch eine Funktion der vergangenen Wahrnehmungen, mithin also eine differentielle Gegenwart. Tatsächlich ist bereits "das Wahrnehmen eines bestimmten Informationsanfalls und die spätere Reproduktion dieser zeitlich vorausgegangenen Wahrnehmung in Form der Aussage der Wieder/gabevorgang."127 <ModZEITWEISKLANG> An der Kirchturmuhr, welche die Zeit in Serien von Glockenschlägen anzeigt, ist phänomenologisch erfahrbar, daß Ort und Impuls nicht zugleich meß- und wahrnehmbar sind. Dieser sonische Gegenwartshorizont, der präsenzerzeugende Medien so wirkungsmächtig ins Spiel kommen läßt, ist in der Neurobiologie als das sogenannte Gegenwartsfenster von rund 3 Sekunden vertraut: jene zeitkritische Schwelle, diesseits derer menschliche Wahrnehmung diskrete Signale oder Impulse (Töne oder Takte) noch zu einem zusammenhängenden Ganzen integrieren (oder auch differenzieren) kann. Wo endet hier die real erfahrene Gegenwart, und wo beginnt die Kognition in einer Pseudogegenwart zu leben, wie es die Psychologie nennt?128 Vertraut ist dieses parasemantische Gefüge ebenso aus der mündlichen Poesie, nämlich der Länge einer Verszeile - etwa der homerische Hexameter.129 Zeit ist in Signalverzögerungsleitungen vergleichbar dem elektrischer Widerstand am Übertragungswerk. Im Integrierten Chip bilden Leitungen einen solchen Widerstand, denn sie verschlingen Signallaufzeit.130 Aufgehobene Gegenwart (das Beispiel der Bibliothek) Der Kehrwert zur Verzögerungsleitung in der Übertragung ist die Aufhebung. "Aufhebung" meint hier die schiere Zeitanfälligkeit der 127 Christian Koristka, Magnettonaufzeichnungen und kriminalistische Praxis, Berlin (Ost) (Ministerium des Innern, Publikationabteilung) 1968, 22f 128 Siehe Horst Heinze, Die psychologische Weltformel. Mysterium und Martyrium unserer Sprache in der Zeitlosigkeit, Münster (LIT-Verlag) 2010, 90 129 Dazu Alexander Grau, Zeitpunkte, Zeitfenster, Zeiträume. Wie das Gehirn unsere Wahrnehmung organisiert, in: Klaus-Dieter Felsmann (Hg.), Der Rezipient im Spannungsfeld von Zeit und Medien, München (kopaed) 2008, 37-44 (41) 130 Ein Protyp von Hewlett Packard sucht dem durch memristive Technologie zu begegnen. aufspeichernden Materie, die etwa in Form eines Tonträgers eine transduction des Schallereignisses bereitstellt, um sie dann in den Übertragungskanal zu schicken. Statt einer aktiven technischen Übertragung aber ist es hier die schiere Zeit als Dauer, welche Störungen (physikalischen Verfall, Dekompostion, Störungen von Außen) bewirkt. <begin cARC-BIB-DIFFERENZ> Uwe Jochum betont, daß Bibliotheken zwar Bücherspeicher sind, diese Speicherung jedoch nicht um einer Übertragung willen geschieht: "Eine Buch-Ausleihe ist etwas anderes als eine Buch-Übertragung, jedenfalls dann, wenn man `Übertragung´ hier im Sinne einer technischen Übertragung (wie beim Radio usw.) versteht. <...> Ich würde davor warnen, die technischen Metaphern allzuschnell auf die Bibliothek zu übertragen. Dann verflüssigt sich nämlich das Phänomen und wird allzu glatt zu einem historischen Vorläufer des Computers."131 Dies gilt auch für das Museum zwischen Archiv, Depot, Lager und Ort der Ausstellung, der Präsentation, der diskursiven Schnittstelle: "Der Witz ist, daß sich in der Bibliothek Gelesenes zu Ungelesenem verhält. Das Speichern ist daher zunächst ein Aufbewahren auf unbestimmte Zeit und keine Lagerhaltung, die auf einen prompten Abruf zielt <...>"132, was im Sinne des informationstheoretischen Entropiebegriffs die Unwahrscheinlichkeit erhöht - Latenz on demand. "Da man sinnvollerweise nur das Eintreten künftiger Ereignisse mit Wahrscheinlichkeiten charakterisieren kann (vergangene Ereignisse liegen ja fest!), ist auch die Informationsentropie nicht ein Maß für eine vorhandene (aktuelle), sondern für eine künftige Information. Sie ist [...] ein Maß für eine beseitigbare Ungewissheit, sie ist potentielle Information Hp, nicht aktuelle Information Ha [...]."133 Vergangenheit ist das in den Speicherzustand überführte, wohingegen die bestehende Ungewißheit die Aufrechterhaltung eines anarchivischen Zustands bedeutet. "Es ist diese kleine Differenz, die die Bibliothek eben nicht zu 131 Uwe Jochum (Fachreferent an der Universitätsbibliothek Konstanz), E-mail vom 12. Mai 1998 132E-mail Uwe Jochum, Universitätsbibliothek Konstanz, 14. Mai 1998 133 Peter C. Hägele, Was hat Entropie mit Information zu tun?, http://www.uniulm.de/~phaegele/Vorlesung/Grundlagen_II/_information.pdf (Zugriff März 2013) einem Übertragungsmedium oder Kanal macht, sondern das Übertragen aussetzt. An diesem Punkt des Aussetzens geschieht aber das Neue: daß man a) stutzt <...> und b) etwas Neues findet, nämlich etwas ganz Altes, was schon lange da war, aber immer übersehen wurde, weil es von den Datenströmen, an die man sich gewöhnt hatte, überdeckt worden war."134 Im Unterschied dazu hängt Googles Page-Rank-Algorithmus auch vom Nutzer(wissen) ab. Damit ist die Bibliothek nach dem Prinzip des Luhmann´schen Zettelkasten als Generator von unerwartetem Wissen, also Information definiert, und mithin der Raum des Katechontischen eröffnet. <end cARC-BIB-DIFFERENZ>] Auf Dauer gestellte Gegenwart? Das "Recht auf Vergessenwerden" und Googles Suchmaschine Die unmittelbare Archivierung von Gegenwart heißt, eine momentane Gegenwart auf Dauer zu stellen - auch wenn diese Dauer im Zwischenspeicher ein so kurzes Intervall darstellt, daß sie sogleich zum Verschwinden kommt. Läßt sich, was Walter Benjamin 1936 für das Kunstwerk diagnostizierte (der Verlust seiner Einmaligkeit in Raum und Zeit), durch digitale Reproduzierbarkeit (Ko-Originalität vielmehr: "Originalkopie") in einen anderen, quasi archivischen Zeitraum heben (wie die Web-Server von Google das neue Weltarchiv des Internet als Katalog und Index darstellen)? Einerseits digitale Flüchtigkeit im WWW, andererseits Wiederholbarkeit = Wiederaufrufbarkeit (Adressierung mit elektronischer Blitz-Geschwindigkeit). Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte am 13. Mai 2014 zum "Recht auf Vergessenwerden" gegen die Übermacht der algorithmischen Suchmaschinen. Doch was auf Eigeninitiative fortan gelöscht werden muß, bleibt womöglich auf den Google-Servern weiterhin an irgendeiner Stelle gespiegelt. Das Internet ist eine Replikationsmaschine. So klagtee ein Spanier gegen Google (2010); die Suchmaschine aber nimmt dies ihrerseits als Ankündigung in ihren Such-Index auf. Die Google-Software grast das WWW ab ("harvesting"). Durch eine kleine technische Anweisung an Google ist es zwar juristisch möglich, den Selbstbezug aus dem Index zu löschen; das Problem aber liegt in der Differenz zwischen lokalem (nationalem) Recht im Gegensatz zur Zentrale des Konzerns in den USA und seinen 134 E-mail Uwe Jochum (Universitätsbibliothek Konstanz), 14. Mai 1998 transnational verteilten Server-Farmen. Welches Recht also findet bei Internationalen Konzernen Anwendung? Gibt es ein Recht auf Vergessenwerden? "Wer speichern kann, der kann auch löschen", kommentierte EU-Kommissarin Vivian Rehding.135 <cSPEICHERSEM-SS-14> Sortieralgorithmen bedürfen der vorherigen Speicherung ihrer Datenobjekte; so muß auch die Suchmaschine Google vorab Webseiten auf ihren Serverfarmen archiviereb, um sie effektiv indizieren und damit zeitkritisch nahezu unmittelbar abrufbar machen zu können. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Speichertheorie, welche etwa Zyklen und Zugriffszeiten in dichtgepackten Speichern thematisiert (Memory Timing und Refresh Rate). Fokussieren wir also die zeitkritischen Timingparameter der internen Abläufe im Computer: "Der Parameter tRCD (RAS-to-CAS delay, row-to-column delay) beschreibt bei einem DRAM die Zeit, die nach der Aktivierung einer Wortleitung (activate) verstrichen sein muss, bevor ein Lesekommando (read) gesendet werden darf. Der Parameter ist dadurch bedingt, dass das Verstärken der Bitleitungsspannung und das Rückschreiben des Zellinhaltes abgeschlossen sein muss, bevor die Bitleitungen mit den Datenleitungen weiterverbunden werden dürfen. Der Parameter CL (CAS latency, auch tCL) beschreibt die Zeit, welche zwischen der Absendung eines Lesekommandos und dem Erhalt der Daten vergeht. Der Parameter tRAS (RAS pulse width, Active Command Period, Bank Active Time) beschreibt die Zeit, die nach der Aktivierung einer Zeile (bzw. einer Zeile in einer Bank) verstrichen sein muss, bevor ein Kommando zum Deaktivieren der Zeile (Precharge, Schließen der Bank) gesendet werden darf. Der Parameter ist dadurch gegeben, dass die Verstärkung der Bitleitungsspannung und das Rückschreiben der Information in die Zelle vollständig abgeschlossen sein muss, bevor die Wortleitung deaktiviert werden darf. [...] Der Parameter „tRP“ („Row Precharge Time“) beschreibt die Zeit, die nach einem Precharge-Kommando mindestens verstrichen sein muss, bevor ein erneutes Kommando zur Aktivierung einer Zeile in der gleichen Bank gesendet werden darf. Diese Zeit ist durch die Bedingung definiert, dass alle Spannungen im Zellenfeld (Wortleitungsspannung, Versorgungsspannung der Leseverstärker) abgeschaltet sind und die Spannungen aller Leitungen (insbesondere die der Bitleitungen) wieder auf ihrem Ausgangsniveau angekommen sind. 135 Artikuliert im Deutschlandradio 13. Mai 2014 Der Parameter „tRC“ („Row Cycle Time“) beschreibt die Zeitdauer, die zwischen zwei aufeinander folgenden Aktivierungen zweier beliebiger Zeilen in derselben Bank verstrichen sein muss. Der Wert entspricht weitgehend der Summe der Parameter tRAS und tRP und beschreibt somit die minimal notwendige Zeit, um eine Speicherzeile aufzufrischen."136 DAS JETZT ALS ZAHL, KLANG UND FREQUENZ Zeitfluchten und ihre numerische Analyse "Was immer ertönt, geht vorbei, und man wird darin nichts finden, das man wieder in Gebrauch nehmen könnte."137 Dieses unerbittliche, in Zeiten des Barock immer wieder allegorisch thematisierte Geschehen flüchtiger Gegenwart ("tempus fugit") ist mit Photo-, Phono- und Kinematographie gebannt worden; deren ästhetischer Retro-Effekt ist vielmehr eine neue Emphase des Unwiderbringlichen. Sergiu Celibidache als Konzertdirigent widersetzte sich notorisch der phonographischen Aufzeichnung: "Er legt sehr viel Wert darauf, das sich Musik im jetzt ereignet. Damit ist die Qualität musikalischen Erlebens nicht durch die Präzision des Musikers definiert, mit der er seine vorgegebene Partitur umzusetzen vermag, sondern vielmehr von dem, was das Sich-Ereignende in unserem Bewusstsein auszulösen vermag. Das Lauschen einer aufgezeichneten, bekannten Musik stößt die antizipatorischen Funktionen im Gehirn an, wodurch unsere Konzentration auf das jetzt zerstreut wird."138 Mary Ann Doanes Analyse kinematographischer Formen der Reproduktion von Präsenz, die sie der grammatischen Zeitform des "historischen Präsenz" zuordnet (strukturverwandt der "vergangenen Zukunft") blendet die präsenzgenerierende Macht phonographischer Klangmedien ausdrücklich aus.139 Doch für die akustische Wahrnehmung gilt zugespitzt die Unbestimmtheitszone zwischen erweiterter 136 Eintrag en.wikipedia.org "Dynamic random-access memory" = http://de.wikipedia.org/w/index.php? title=Dynamic_Random_Access_Memory&printable=yes; Zugriff 14. Mai 2014 137 Johannes Keppler, zitiert nach: Günter Grosse, Von der Edisonwalze zur Stereoplatte. Die Geschichte der Schallplatte, Berlin 1989, 7 138 Thilo Hinterberger, Kommunikation mit Signalen aus dem Gehirn, in: Barbara Könches / Peter Weibel (Hg.), unSichtbares. Algorithmen als Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft, Bern (Benteli) 2005, 262-285 (284) 139 Doane 2002: 235 (Anm. 5) Gegenwart und archivisch latenter Präsenz: Wo hört auditive Gegenwart auf, und wo beginnt das sonizistische (als nur nur noch implizit akustische) Archiv? Mit der neuronalen oder technischen "Aufzeichnung". In diesem Sinne legt Hans Blumenberg größten Wert auf "die Differenz von Retention (Gegenwarts<vor>behalt) und Memoria", so "daß man Husserls Spiel mit dem Ausweichausdruck für Retention als 'frischer Erinnerung' nicht hinnehmen darf"140. Die physiologische Wahrnehmung von Tonfolgen im Menschen bewirkt kognitiv einen das reine Jetzt notwendig übergreifenden Melodieeindruck, obgleich doch jeder akustische Impuls im Moment seines Erklingens auch schon wieder entschwindet. Dieses Vermögen zur "Protention" (Husserl) vollzieht - vor aller technischen Komputation - in der Kopplung von analytischem Gehör (Fourier / von Helmholtz) mit dem auditiven Kortex eine erfahrungsgestützte probabilistische Kalkulation, eine "Errechnung" im Sinne Heinz von Foersters. "Die Fourier-Darstellung hat noch eine weitere - man kann sagen durch die Natur bedingte Bedeutung -, das Ohr zerlegt unwillkürlich Klänge sehr ähnlich dem Fourier-Verfahren in ihre Teilklänge. Nach dem von G. S. Ohm <sc. 1843> aufgestellten <...> Satz empfindet das Ohr nur rein sinusförmige Schwingungen als reinen Ton, jeden anderen Vorgang löst es in die entsprechende Reihe von sinusförmigen Komponenten auf und empfindet ihn als Summe von reinen Tönen."141 <cZEITWEISMATH> Aristoteles definiert in Buch IV seiner Physik (219b 1-2): "touto gar estin ho chronos, arithmos kineseos kata to proteron kai hysteron" - "das also ist die Zeit, die Zahl der Bewegung unterschieden nach Vorher und Später". Ist dieses Dasein einmal als Bewegung definiert und diese Bewegung abzählbar, läßt sich Zeit frequentativ berechnen. Digitale Medienverhältnisse generieren damit "Zeit(en)", im Sampling als zeitdiskreter Abtastung des welthaftigen, kontinuierlichen Signals. Diese Verschränkung von Bewegung und Messung verabschiedet sich Gilles Deleuzes Kino-Theorie im Namen des Zeit-Bildes. <cMEDZEIT-WS-2014> Hängst die "Aura" an der Präsenz? Und wenn ja, an welchem Typus von Präsenz - klangtechnischer oder menschlicher? War die "Kälte" des exakten elektronischen Sound einmal eine 140 Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, Kapitel XII "Retention und Erinnerung", 207-xxx (207) 141 Ferdinand Trendelenburg, Klänge und Geräusche. Methoden und Ergebnisse der Klangforschung, Schallwahrnehmung, grundlegende Fragen der Klangübertragung, Berlin (Julius Springer) 1935, 13 Befreiung von der menschlichen Idiosynkrasie, wird diese nun künstlich wieder eingeführt. Digitale Audiotechnik hat nicht zur Demystifikation, sondern zum re-entry der von Benjamin definierten "Aura" geführt <Goodwin 1990: 272> - das Simulakrum von media witnessing (Anwesenheit des Mediums in signalgetreuer Wiedergabe, nicht mehr des Realpublikums). <begin cSCHWINGSON> 1960 stellt die Firma Bulova (USA /CH) ein Armbanduhrwerk ohne Unruhe vor; eine Stimmgabel mit 300 Hz trieb das Werk mechanisch an, also ein zeitanzeigendes Gegenstück zu Hermann von Helmholtz' Einsatz elektromechanisch rückgekoppelter Stimmgabeln als Meßgerät. Anstelle des Tick-Tack hörte man ein Summen. Wurde seit der Scholastik (und im Grunde schon mit dem antiken Zackenradwerkbetrieb des "Mechanismus von Antikythera" als Astrolab) das Universum mechanistisch als Uhrwerk modelliert, tritt dementsprechend heute ein Schwingungsmodell: Der Klang der Superstrings142. Exkurs zu Heinrich Heidersbergers Rhythmogrammen Das "sonische" Bild ist implizit klangzeitlich.143 Das "gestimmte" Bild144 ist etwa das Oszillogramm der Stimmung von saiteninstrumenten; dem entsprich im Elektronischen das tuning , das Abstimmen von Schwingkreisen. <begin cALGO-RHYTHMUS> "Rhythmus ist das Gelingen von Form unter der (erschwerenden) Bedingung von Zeitlichkeit."145 Der Rhythmus ist an den zeitlichen Verlauf gebunden, stellt aber seinerseits ein "Zeitobjekt" im Sinne Husserls dar: "Unter Zeitobjekten im speziellen Sinn verstehen wir Objekte, die nicht nur Einheiten in der Zeit, sondern die Zeitextension auch in sich enthalten."146 142 So der Buchtitel von Frank Grotelüschen, München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 3. Aufl. 2001 143 Siehe Bill Viola, Der Klang der Einzeilen-Abtastung, in: xxx 144 Siehe die Ausstellung 'heinrich heidersberger: rhythmogramme das gestimmte bild' in der Petra Rietz Salon Galerie, Berlin, April bis Juli 2014 145 Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, in: ders. / KarlLudwig Pfeifer (Hg.), Materialität der Kommunikatin, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 714-729 (717) 146 Edmund Husserl, Die Vorlesungen über das innere Zeitbewußtsein aus dem jahre 1905, in: ders., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins (1893-1917), Den Haag 1966, 3-98 (23) (Hoch-)Technische Konfigurationen, im Vollzug als "Medien" definiert, sind nicht schlicht "zeitbasiert" (die sogenannten time-based media) in der aristotelischen oder newtonischen Zeit; vielmehr stellen sie selbst Protagonisten der Zeit dar, mithin: chrono-poietisch. Die von Husserl erwähnte "Zeitextension" ist die Ausdehung der scheinbar punktförmigen Jetzt-Zeit von Gegenwart auf das Re- und Protention umfassende Gegenwartsfenster, wie es Neurophysoiologie und Signalverarbeitung definieren. Das zeitige "jetzt", das "Nu" (Walter Benjamin), existiert pikanterweise in der Akustik. Zur Ermittlung der Nachhallzeit in geschlossenen Räumen (definiert als "die Zeit, innerhalb welcher der Schalldruck im Raum nach dem Abschalten der Schallquelle auf den tausendsten Teil, bzw. der Schalldruckpegel um 60 dB abgefallen ist"147), kommen Impulsantworten zum Einsatz: der idealiter unendlich kurz dauernde Dirac-Impuls. ["Jedes Schallereignis kann als Überlagerung von Einzelimpulsen unterschiedlicher Intensität dargestellt werden. Da der äraum als lineares Übertragungssystem von der Schallquelle zum Empfänger betrachtet werden kann, enthält die Impulsantwort, also das Resultat einer Anregung unendich kurzer Dauer (Dirac-Impuls), alle Informationen über die Übertragungseigenschaften dieses Systems."148] Husserl bezieht sich nicht von ungefähr auf das Tonereignis, womit zugleich auch hochtechnische, elektronische Medienprozesse als implizit sonisch erwiesen sind: "Wenn ein Ton erklingt, so kann meine objektivierende Auffassung sich den Ton, welcher da dauert und verklingt, zum Gegenstand machen, und doch nicht die Dauer des Tons oder den Ton in seiner Dauer. Dieser als solcher ist ein Zeitobjekt."149 "Die Rekurrenz bestimmter Klangfarben / Klanghöhen läßt sich an bestimmten Stellen eines rhythmischen Musters (als Alliteration, Assonanz oder Reim) erwarten."150 Optische Muster wie der MoiréEffekt sind deren Kehrwert. Frequenz bildet den Kehrwert von Zeitsignalen, als die mathematische Operation der Fourier-Transformation - aber keine Transsubstatiation im epistemologischen Sinne. 147 Stefan Weinzierl, Beethovens Konzerträume. Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt/M. (Erwin Bochinsky Verlag) 2002, 137 148 Weinzierl 2002: 145, Anm. 1 149 Husserl 1905 / 1966: 23 150 Gumbrecht 1988: 719 "In der Verdichtung wird jegliches zeitliche Nacheinander in die Gleichzeitigkeit eines Spektrums verwandelt. Etwas, das als KlangFolge ('Palette') eingespielt wird, kehrt als Klang-Farbe wieder. Nicht nur die Tonhöhe, sondern jeder Bestandteil eines Klanges einschließlich aller Ein- und Ausschwingungsvorgänge wird bestimmend für die resultierende Farbe. Der zeitliche Verlauf ist vom spektralen nicht mehr unterschieden. Zeit selbst ist mit Farbe identisch geworden. f (Frequenz) = t (Zeit)."151 <end cALGO-RHYTHMUS> "Durch 'Rückwärts' vorwärts": Tonbandeffekte Eine Folge von verschiedene Ereignissen verschmiert im menschlichen Gegenwartsfenster zu einer undifferenzierten Gesamtheit: "Es konnte mittels akustischer und optischer Reize gezeigt werden, daß eine zeitliche Ordnung unterhalb einer Schwelle von 30 ms nicht mehr unterschieden werden kann."152 Selbst eine Ordnungsumkehr der Information innerhalb dieses Fensters wird von Probanden nicht wahrgenommen: Eine auf ein Tonband aufgezeichnete Rede wurde in 30 ms-Stücke zerschnitten, die einzelnen Stücke umgekehrt und in derselben Reihenfolge, wie sie das Originalband hatte, wieder zusammengeklebt. "Die Versuchsperson konnte zwischen der modifizierten Rede und dem Originalband akustisch keinen Unterschied feststellen."153 Das einstige Internationale Artistenmuseum im Brandenburgischen Klosterfelde barg das Originaltonband (eine Spezialanfertigung) für die damalige technische Gegenkontrolle der Darbietungen von Katja Nick, die museal durch ihr Bühnenkleid auf einer Schaufensterpuppe anweste. Jene Frau vermochte Sprache (die eigene wie auch fremde) nicht nur vor-, sondern auch rückwärts zu sprechen und zu singen - eine Mimesis des Menschen an das Vermögen grammophoner Medien zur Zeitachsenmanipulation, und nahezu ein akustischer TuringtestMaschinenzustand. Die radiakle Entkörperlichung der menschlichen Stimme ist eine tatsächliche Transformation des akustischen Ereignisses. Das Magnettonband speichert menschliche Laute anders, als sie im menschlichen Gedächtnis haften, denn sie laufen dort nicht durch den Kehlkopf und Stimmapparat, sondern durch Mikrophon und Lautsprecher. Im Berlin der 1920er Jahre vernimmt das junge 151 Peter Ablinger, in: Musikprotkolle Graz, 2xxx, 452 [= Sabine Sanio / Christian Scheib (Hg.), Übertragung - Transfer Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen, Bielefeld (Kerber) 2004 ???] 152 Klose 2002: 358 153 Klose 2002: 359 Mädchen - so die Schilderung einer Schlüsselszene im Kaufhaus KadeWe 1928 - den Dialog eines Jungen mit seiner Mutter: "eine Sprache, die ich nicht verstehen konnte, die aber von der vornehmen Frau verstanden und beantwortet wurde. Es ist weniger der Klang denn der Geräuschcharakter, der sie anspricht: "Ich konnte mich nicht satthören an den rollenden Rrrs, den Zisch- und Kehllauten"154 - Artikulation als Signalereignis, die sich nicht (wie im Fall der Vokale) musisch dissimuliert. In der symbolischen Ordnung des Alphabets ist schon angelegt, was sich dann als das Andere aller Schriftpädagogik artikuliert: Zeichenmanipulierbarkeit und Rekombinatorik. "Die Zeit kam, da wir in der Schule unsere Namen umdrehten" <ebd>: Hier wiederholt sich die Urszene dessen, was die Leistung des altgriechischen Vokalalphabets darstellt.155 "Das war der Schlüssel zur fremdsprachigen Seligkeit. <...> Ich beschränkte mich nicht auf Namen, ich versuchte, alles umzudrehen. Ich achtete darauf, daß ich rückwärts dieselbe Silbe betonte wie beim Vorwärtssprechen, wobei ich als Kind bereits folgende Vorstellung hatte: Vor meinem geistigen Auge sah ich eine Schallplatte, deren <sic> Tonabnehmer vom Zentrum nach außen lief und alles rückwärts wiedergab, als auch den Satzbau" <Nick 1997: 12> - buchstäblich phonographische Halluzinationen. Das Medium schreibt dem Menschen ab dem Moment seine Zeitweisen vor, wo er selbst zum phonographischen Automaten wird: Als ich eines Tages <...> wieder einmal den Versuch machte, fließend rückwärts zu sprechen, konnte ich es plötzlich mühelos! Ich brauchte mir nichts mehr geschrieben vorzustellen oder zu denken. Ich hörte, wie es rückwärts klingen mußte, und sprach es ganz einfach. <ebd.> Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist Katja Nick Beamtin im Auswärtigen Amt. Dort wird sie in der Neujahrsnacht 1941/42 unversehens zu Reichsaußenminister Ribbentrop berufen, um ihm dort rückwärtige Neujahrsgrüße auszusprechen. Dessen Adjutanten haben bereits zehn gleichlautende Sätze auf Notizblöcken notiert, um eine Kontrolle und einen Beweis für diese Darbietung in der Hand zu haben. Zur Performance kommt es nicht, da Rippentrop kurzfristig zu einem Frontbesuch aufbricht; eine Stunde später trägt Nick bereits wieder Akten durch die dunklen Bürogänge. Ein schwacher Lichtschein durch eine nur angelehnte Tür lockt sie an und führt zu jener Urszene, die den medientechnischen Umschlag von der symbolischen Ordnung des Alphabets zur Aufzeichnung des Realen auslöst: 154 Katja Nick, Durch "Rückwärts" vorwärts, Berlin (Wiesjahn) 1997, 11 155 Siehe W. E. / Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift - Ton - Zahl im Medienverbund, München (Fink) 2006 (Reihe Kulturtechnik, Bd. 5) "Je näher ich kam, desto deutlicher vernahm ich ein monotones Gemurmel; es kam vom Funkabhördienst. Ich trat ein und sah, wie eine englischkundige Kollegin aus dem Radio Gesprochenes auf ein Tonband aufnahm. Diese Technik war mir völlig unbekannt. Sogleich schoß mir durch den Kopf, ob man nicht durch Rücklauf der Bandteller rückwärts gesprochenes würde vorwärts hören und verstehen können. Ich bat, für einen akustischen Versuch noch einmal wiederkommen zu dürfen. Die Abhörerin war einverstanden [...]."156 Versuchsweise spricht Nick ein Gedicht von Eugen Roth rückwärts auf das Tonband, und nach Vertauschen der Bandteller erklingt es tatsächlich wieder sprachgerecht. Der Toningenieur mit dem treffenden Namen Eugen Knall verhilft ihr schließlich zu einem dauerhaften "Beweis-Tonbandgerät" für die Bühnendarbietung. Was sich hier spricht, ist nicht mehr die symbolische Ordnung des Alphabets, sondern der akustische Signalfluß des Realen. Tatsächlich gesprochene Sprache in vokalalphabetischen Symbolen zu notieren ist das Eine, nämlich eine Kulturtechnik; sie als Geräusch von einer kontinuierlichen Tonspur ablaufen zu lassen, etwas höchst Verschiedenes. SONO-TRAUMATIK Der sono-traumatische Affekt "Zur Diskussion stehen dabei keineswegs die Fotos von einem Ereignis, sondern die Livebilder", kommentierte Paul Virilio die CNN-Berichterstattung ("breaking news") der Attacke auf das World Trade Center in New York 2001.157 Signalübertragende, -speichernde und damit auch -wiedergebende Medien rufen auf ihrer medienarchäologischen (präsenzirritierenden) Ebene einen chrono-traumatischen Choque hervor, denn es ist dieses technologische Momentum selbst, welches "jede Unterscheidung zwischen psychischer Zeit und chronologischer Zeit außer Kraft"158 setzt. Dies gilt insbesondere für das (von Elsaesser beharrlich ausgeklammerte) phonographische (mithin sonische) Momentum. Akustische Ereignisse bilden jene Momente des Realen, welche beim Erwachen aus dem Traum die entscheidende Rolle spielen. "Dieses Reale kann in dem Vorfall vorgestellt werden, dem kleinen 156 Nick 1997: 26 157 Der Mann, der am 11. September nicht vor dem Fernseher saß: Ein Interview (Jürg Altwegg) mit Paul Virilio, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. September 2001, Nr. 219, p. 49 158 Elsaesser a. a. O. Geräusch, dem Kleinwenig Realität, das uns zeigt, daß wir nicht träumen."159 Die "Weihnachtsringsendung 1942 des Großdeutschen Rundfunks in Berlin steht für die sonische Artikulation einer traumatisch verzerrten Form der körperlosen Radiostimmen - und zugleich der Stimmen des Radios selbst.160 In Form des telephonischen Klingeltons brach Telekommunikation in die Privatsphäre ein. Bislang wurde dort die Tageszeitung gelesen, aber im symbolischen Regime, d. h. kognitiv distanziert und von der Lesezeit her selbstbestimmt (zeitsouverän). Demgegenüber der Telephonton: "Der Laut, mit dem er [...] anschlug, war ein Alarmsignal, das nicht alleine die Mittagsruhe meiner Eltern sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben, gefährdete."161 Die Störung ist hier die technische Möglichkeitsbedingung für gelingende Kommunikation. Im Vernehmen der Telephonstimme fühlte sich Walter Benjamin "gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts, was die Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt ich."162 Tatsächlich meint Präsenz in der Technik der Telekommunikation den für Sprachverständlichkeit entscheidenden Frequenzbereich zwischen 1 kHz und 5 Hz.163 Das gemeine Ohr ist "im Feld des Unbewussten die einzige Öffnung, die nicht zu schließen ist"164. Der akustisch gewaltsame (akouein) Klingelton als enonciation des Telephons ist ein techno-traumatischer Einbruch von und in 159Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, in: ders., Das Seminar. Buch XI [1964], übers. und hrsg. von Norbert Haas, 2nd ed. Olten / Freiburg i. Br. (Walter) 1980, (66) 160 Siehe Dominik Schrage, "Singt alle mit uns gemeinsam in dieser Minute". Sound als Politik in der Weihnachtsringsendung 1942, in: Daniel Gethmann / Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Berlin (diaphanes) 2005, 267-285 161 Walter Benjamin, Das Telefon, in: ders., Berliner Kindheit um 1900, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1987, 18 162 Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in: Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. v. Tillman Rexroth, Frankfurt/M. 1972, 235-304 (243) 163 Eintrag "Präsenz", in: Gerd Klawitter, Funk-Lexikon. Begriffe aus der Funktechnik leichtverständlich erklärt, Meckenheim (Siebel) 2. überarb. u. erw. Aufl. 2001 164 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1978, 178 Präsenz, als tatsächliche Signalmusik.165 Dieser Weck- und Klingelton (vergleichbar der Einrichtung des Briefkastenschlitzes an Türen in Privathäusern166) überlebt als Earcon. "A signal is <...> deliberately placed by the utterer within what he believes to be the filed of sensuous attention of another person"167, doch diese utterance ist anderer Natur denn die semiotische oder diskursive Aussage. Techno-traumatisch ist der un-menschlich induzierte Affekt, vom Medium herkommend. Die telekommunikative Signalisierung des Telephons bricht die Vorherrschaft der persönlichen Präsenz: "Ohnmächtig litt ich, daß sie mir die Besinnung auf meine Zeit, meinen Vorsatz und meine Pflicht zunichte machte."168 Benjamin schreibt von seinem "Ergeben" <ebd.> gegenüber der apparativ induzierten, also genuin medienzeitlichen Situation. Dies gilt - den Wandlungen des technologischen Dispositivs zum Trotz - selbst noch als simulierter Telephonton vom mobilen Telephon aus. Dieser technotraumatische Einbruch des Realen (dessen metaphysischer Ausdruck "Präsenz" ist) hat eine medienarchäologische Urszene: <cTELEPHON> Alexander Graham Bell mißverstand den Bericht über Helmholtz' Resonatoren dahingehend, daß Töne telegraphisch übertragen werden können; am 2. Juni 1876 resultiert dies tatsächlich mittels eines ungewollten Kurzschlusses in der Wandlung von akustischen Tonschwingungen in elektrische Induktionsschwingungen.169 Insofern ist der Erfinder zweifach "Subjekt" dieser Findung: einmal als emphatisches Subjekt, das willentlich Experimentalanordnungen zum Zweck solcher Versuche installiert; gleichzeitig aber passiert ein genuines Medienereignis durch ihn, macht ihn gleichsam zum Untertanen ("Subjekt"), wenn nicht gar metaphorisch: "Medium", der Anordnung. Es passiert, ein Durchschlag, eine Irruption der "geschichtlichen" Entwicklung. Gekoppelt an elektrophysikalische Anordnungen wird der emphatische Mensch Teil eines kybernetischen Systems (für welches Bruno Latour eher metaphorisch verunklärend den Begriff der "non-human agencies" setzt). Diese Form von Mensch-Technik-Kopplung ist keine Entfremdung des Menschen, sondern das Hervorrufen einer ursprünglichen Technizität im 165 Südenglische "sound mirrors" bildeten im Zweiten Weltkrieg einen Wall von akustischer Verteidigung. Zu akustischer Kriegsführung, also wahrlich sono-traumatischen Ereignissen, siehe Steve Goodman, Sonic Warfare. Sound, Affect, and the Ecology of Fear, MIT Press 2009 166 Dazu Siegert, Relais, xxx 1993 167 C. J. Ducasse, Symbols, Signs and Signals, in: The Journal of Symbolic Logic, Bd. 4 (1939), 44 168 Benjamin 1987: 19 169 Wolfgang Hagen, Gefühlte Dinge. Bells Oralismus, die Undarstellbarkeit der Elektrizität und das Telefon, in: Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/M. (Surhkamp) 2000, 35-60 (50) Menschen (Kapps "Organprojektion"-Ansatz, umgekehrt gelesen). Der technisch induzierte Affekt ruft etwas im Menschen hervor, was darin schon angelegt ist - eher re-call. "Die Stillen im Lande heißt ein Radiohörspiel, das <...> Glenn Gould im Jahre 1973 aus Tonbändern von einer Reise in den Norden <sc. Kanadas> collagiert hat, damals noch in Handarbeit"170 - eine symbolische Operation der Collage, die vielmehr nur auf materialer Ebene des "blutigen Schnitts" eine Wunde (Trauma) darstellt. Die Gegenwärtigkeit der akustischen Situation, mithin das Reale von stimmhaften Frequenzen durchschneidet die historische Distanz, wenn das Tongenerationsmedium (die technische Sirene, engl. aerophone) auf ihr Objekt (den homerischen Sirenengesang) trifft: "Das Ohr ist ein Organ der Angst", schreibt Ludwig Feuerbach im Kontrast zum distanzierenden Augenblick als "Organe der Kritik und des Skeptizismus"171. Schalten wir also analytisch um, vom animierten "Bewegt"bild zum primären Beweger Schall: Stimmaufnahmen. "Wo eine Stimme uns erreicht - vorausgesetzt, sie ist nicht technisch reproduziert - , sind wir 'dabei gewesen'."172 Friedrich Kittler rät, "dass vielleicht auch die Archäologie sich trennen sollte von dem Glauben, Augen seien bessere Zeugen als Ohren. Ich glaube es nicht."173 <cZEITWEISKLANG> In markanter Differenz zu Lacans Deutung des immediaten Spiegelstadiums in der frühkindlichen Ich-Werdung174 ist die 170 Petra Kipphoff, Das Ohr hat Angst (über die Klanginstallation The Murder of Crows von Janet Cardiff und George Bures Miller in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin, in: Die Zeit, 20. März 2009 171 As quoted by Petra Kipphoff, Das Ohr hat Angst (über die Klanginstallation The Murder of Crows von Janet Cardiff und George Bures Miller in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin, in: Die Zeit, 20. März 2009 172 Sybille Krämer, Die "Rehabilitierung der Stimme". Über die Oralität hinaus, 269-295 (285). Siehe auch Hans-Thies Lehmann, Prädramatische und postdramatische Theater-Stimmen. Zur Erfahrung der Stimme in der Live-Performance, in: Kunst-Stimmen, ed. by Doris Kolesch / Jenny Schrödl, Berlin 2004, 40-68 173 Friedrich Kittler, Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie der Schrift, in: Knut Ebeling / Stefan Altekamp (Hg.), Die Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und Künsten, Frankfurt/M. (Fischer) 2004, 252-260 (260) 174 Siehe Kaja Silverman, The acoustic mirror. The female voice in psychoanalysis and cinema, Bloomington, Indiana (Indiana University Press) 1988 Konfrontation mit der eigenen Stimme keine imaginäre Zusammensetzung dessen, was ansonsten als zerstückelt oder partiell erfahren wird (der eigene Körper und der der Mutter), sondern eine logodezentristische Irritation, begründet im Zeitverzug. <cZEITWEISKLANG> Es gibt eine anthropologische Angst vor der Stimme, wenn sie nicht in ihrer domestizierten symbolischen Form als alphabetischer Text, sondern als medientechnisch reproduzierbares Klangereignis widerfährt, wie es Samuel Becketts Einakter Krapp's Last Tape (1959) anhand von Tonbandprotokollen der Tagebuchstimme medientheatralisch zur Aufführung brachte, buchstäblich: Signale aus der Vergangenheit. Die "Form der Schallplatte" sowie deren phonographischen "Nadelkurven" (Theodor W. Adorno) erlaubte noch die Versöhnung der technischen Klangaufzeichnung mit den vertrauten Kulturtechniken der Schrift - bis hin zur Namensgebung von Edisons und Berliners Apparaturen. Damit bricht die elektromagnetische Aufzeichnung und induziert einen Schock im kulturellen Unbewußten. <cMEDNIETZSCHE2KORR> 1888 veröffentlicht der Maschinenbauer Oberlin Smith in The Electrical World seinen Aufsatz "Über einige mögliche Formen des Phonographen" als Fortschreibung von Edisons mechanischem Schallaufzeichnungsverfahren: "Ein Elektromagnet soll einen magnetisierbaren Tonträger, z. B. einen Seidenfaden mit eingewebten Stahldrahtstücken, im Rhythmus der von einer Membrane aufgefangenene und in elektrische Ströme umgewandelten Schallwellen magnetisieren. Bei der Wiedergabe sollen dann umgekehrt die magnetischen Impulse elektrische Ströme erzeugen und diese wiederum eine Lautsprechermembrane in Schwingungen versetzen."175 In diesem präzisen Kurzschluß zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird aus der historischen Distanz ein induktives Verhältnis. Mediengedächtnis, wie es Nietzsche hier vorschwebt, erzeugt so eine eigentümliche Präsenz der Vergangenheit auf dem Niveau der Sinneswahrnehmung selbst - der ungeheure Schock für die am Begriff der Historie trainierten Philosophien der Zeit des Symbolischen zugunsten einer Zeit des Realen, die den elektronischen Medien eignet. Der Bruch verläuft Ende des 19. Jahrhunderts ebenso durch Nietzsche hindurch wie zwischen Phonograph und Magnetton selbst. Sprünge in Signalen, besonders in Schwingungskurven, ließen sich bis zu Zeiten Leonard Eulers nicht berechnen, sondern nur willkürlich zeichnen; Euler nennt diese traumatischen Momente das 175 Zitiert nach: Friedrich Naumann, Vom Akakus zum Internet. Die Geschichte der Informatik, Darmstadt (Primus) 2001, 127 schockartige Sein des Schalls. Erst mit Fourier werden auch diese als reguläre Funktionen von t berechenbar.176 Das Freudsche "Trauma" hängt insbesondere am Akustischen: hörbare Geräusche, Signale. <cZEITWEISKLANG> Akustische Eindrücke passieren in der menschlichen Wahrnehmung nach ihrer Signalkodierung im Gehör zunächst den im Vorderhirn angesiedelten Thalamus, bevor sie zum Neo-Cortex gelangen, wo die bewußte Verarbeitung stattfindet. Zweck dieser Türhütung ist die Filterung: "Dabei spielt die affektive Bewertung der Eindrücke eine zentrale Rolle, und zwar deshalb, weil die Eindrücke affektiv schneller verarbeitet werden als bewußt."177 Zeitkritische Prozesse stehen auf Seiten des Affekts. Verzögerte Gegenwart: "In Verlängerung von Freuds Ausführungen zum zeitlichen Selbstvorlauf der Affizierung betont auch Jacques Lacan, dass der Affekt immer erst nachträglich bemerkt wird. Er ist 'verrutscht' (wie eine Schiffsladung), er driftet" <...>"178 wie Elektronen in hochtechnischen Systemen. Sobald menschliche Wahrnehmung an technische Medien gekoppelt ist, unterliegt sie deren Zeitgebung - "wo uns Hören und Sehen vergeht".179 Und "[w]ir täuschen uns leicht im Bereich der Wahrnehmungen, wenn wir uns im Affekt befinden."180 Eine der filmischen Projektion verwandte, flickernde Gegenwart: "Der Affekt ist in dieser Sehweise ein Intervall, er ist das, was schon ist, aber noch nicht in Aktion, das, was bereits vorbei ist, aber noch nicht bewusst [...]."181 176 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin (Brinkmann & Bose) 2003, 217ff 177 Martin Klaus, Wenn es warm wird an der Stirn, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 290 v. 13. November 1995, N6, unter Bezug auf: David S. Miall, Anticipation and feeling in literary response: A neuro-psychological perspective, in: Poetics 23 (1995) 178 Ott 2010: 393, unter Bezug auf: Jacques Lacan, L'angoisse, Séminaire X, Paris (Ed. du Seuil) 2004 (deutsche, nicht publizierte Übersetzung von Gerhard Schmitz) 179 Kittler, Real Time Analysis 1993: 192 180 Aristoteles, Über Träume, in: ders., Kleine naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart (Reclam) 1997, 119 181 Marie-Luise Angerer in ihrer Rezension von Brian Massumi, Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin (Merve) 2010, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, online http://www.zfmedienwissenschaft.de, September 2010; hier unter Bezug auf: Brian Massumi, The Bleed. Where the Body meets Image, in: John C. Weichman (Hg.), Rethinking Borders, Minneapolis / London (University of Minnesota Press) 1996, 29 Gemäß Brian Massumi ist Affekt "ein Loch in der Zeit, gefüllt mit Bewegungen und Resonanzen"182 - mithin also sonischer Natur, ein Zeitreal. Zeit affiziert hier das Subjekt. Die Plötzlichkeit von Zeit ist die Form oder vielmehr dynamis des Affekts - im Unterschied zum Raum, der als gegebene Dauer hingenommen wird. Mithin manifestiert sich das Zeitreal im zeitkritischen Feld, als zugespitzte Unverborgenheit. G. W. F. Hegel identifizierte seinerzeit diesen verbund aus Ton, Zeit und Affekt. Die Zeit als Verinnerlichung hingegen "nennt sich Gedächtnis"1. Der kinematographische Nachbild-Effekt, die Superposition von Sinnesreizen (Henri Bergson), und die sonische "Tonverschmelzung" im Sinne von Wilhelm Wundt weben hier eine dichte Gegenwart. Anders die technische Wahrnehmung: Um Radiostimmen zu erhalten, muß der Empfänger exakt auf die entsprechende Frequenz eingestellt sein: Resonanz als das eigentliche Ereignis für den gelingenden Empfang.183 Absenz versus Appräsentierung: Phonographisch induzierte Halluzination von Vergangenheit <modPADERMETHPHONO> Mit dem Phonographen wurde eine uralte Archiv-Fiktion zur Wirklichkeit - nämlich das halluzinatorische Vernehmen der Stimmen von Toten.184 Hier geschieht temporale Epiphanie als das, was durchscheint und durchklingt. Zugleich aber wird das symbolische Regime des Archivs damit unterlaufen, denn es ist nicht die kodierte Artikulation als Schrift, sondern technische Signalaufzeichnung, welche erstmals das, was gemeinhin als Lebensäußerung augen- und ohrensinnlich erfahren wird, tatsächlich speichert.185 <modPADERMETHPHONO> 182 Angerer 2007: 65, in Paraphrasierung von: Brian Massumi, "The Autonomy of Affekt", in: Paul Paton (ed.), Deleuze. A Critical Reader, Cambridge, Mass. 1996, 217-239 183 Siehe auch Wolfgang Hagen,̧"Körperlose Wesenheiten". Über die Resonanz der Radio-Stimme, in: Karsten Lichau / Viktoria Tkaczyk / Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer akustischen Figur, München 2009, 193-203 184 Zu den Stimmhalluzinationen des Historikers der Französischen Revolution Jules Michelet siehe W. E., Das Rumoren der Archive, Berlin (Merve) 2002 185 Paradox einer Mündlichkeit, deren Seit dem Vokalalphabet soll die Musikalität oraler Poesie schriftlich, also phonographisch avant la lettre überliefert werden; siehe Barry Powell 2004 über Homer Mit der wiederholten Abrufbarkeit dauerhaft gespeicherter akustischer Signale erfolgt eine massive Verschiebung im Zeithaushalt dessen, was bislang kulturelles - und damit im Sinne Ernst Cassirers symbolbezogenes - Gedächtnis hieß; die Vergangenheit rückt in den Verfügungsbereich, mithin den Arbeitsspeicher einer erweiterten Gegenwart, von der seitdem eine ganze Rundfunkindustrie lebt. Gegenwartsanalyse geht hier in Speichertheorie über, wie es die Neurowissenschaft (etwa E. Tulving) definiert: Neuronales Geädchtnis ist nichts Anderes als der Nach-Effekt einer Stimulation, die sich zu einem anderen Zeitpunkt (wieder) artikuliert - verzögerte Gegenwart. <cPHONARCHIV-HORN> Der menschliche Hörsinn ist unfähig zur historischen Wahrnehmung von Stimmen aus der Vergangenheit. Jedes akustische Signal ist dem Ohr als Zeitsinn gleich-präsenz. Die Ermöglichung, Musik als vergangene hören und wahrzunehmen zu können, verdankt sich nicht neuronalen, sondern phonotechnischen Engrammen. Antonin Artauds Stimme auf Schallplatte ist seine Phono-Präsenz als purer Effekt des Apparats. Die schwarze Venylplatte selbst schweigt wie eine archäologische Tonscherbe, an deren Rillen Walter Benjamin (in seinem Aufsatz Der Erzähler) noch die Spur des Töpfers entzifferte. Eine Quellenkritik phonographischer Stimmen Einerseits ist es die Stimme, welche in einer (phono-)logozentristischen Kultur "so untrüglich Zeugnis ablegt von menschlicher Anwesenheit"; andererseits wirkt mikrotraumatisch kaum etwas so verstörend "wie die Erfahrung, dass eine als Index lebendiger Präsenz gedeutete Stimme sich als technische Aufzeichnung, als die geistergleiche Stimme eines Toten erweist".186 Aus Sicht des technischen Kanals ist der ontologische Unterschied aufgehoben; medienarchäologisch nicht von ungefähr wurden Stimmenübertragung (als Telephonie) und Stimmenspeicherung (Phonographie) fast zeitgleich erfunden.187 Marcel Proust hat die raumzeitliche Aura der elektrifizierten Stimme seiner Großmutter, die "Realpräsenz dieser so nahen Stimme"188 am Telephon beschrieben: "<...> aber nur die Stimme war 186Doris Kolesch / Sybille Krämer, Stimmen im Konzert der Disziplinen, in: same authors (eds) 2006: 7-15 (7) 187Darauf verweist Thomas Macho, Stimmen ohne Körper. Anmerkungen zur Technikgeschichte der Stimme, in: Kolesch / Krämer (eds 2006: 130-146 (140) 188 Proust 1996: 184 bei mir, so ungreifbar wie die geisterhafte Erscheinung, die mich vielleicht wieder aufsuchen würde, wenn meine Großmutter tot wäre."189 Im ersten Moment kommuniziert der Erfinder des Phonographen, Thomas Alva Edision, mit dem technischen Artefakt selbst; sein Sprachtest heißt "Hullo". Ins kollektive Gedächtnis übergegangen ist sein semantischer Test: das Kindergedicht Mary had a little lamb. Beim Anhören aus online-Quellen mag es die Anschauung der Originalaufnahme haben; erst die vollständige Überlieferung mit der Anmoderation von Edision selbst gibt den Hinweis darauf, daß es von ihm - immerhin mit eigener Stimme - nachgesprochen wurde. In Samuel Becketts Einakter Krapp's Last Tape kommentiert derselbe Mann mit gealterter Stimme beim Abhören seine früherer Stimm"tagebuch"eintragungen. <cPADERMETHPHONO> Um das Publikum von der sonischen Treue phonographisch dargebotener Reproduktion von Musik zu überzeugen, wurde 1916 folgende Experimentalanordnung in New Yorks Carnegie Hall inszeniert.190 Zu einer analogen Inszenierung von menschlicher Stimmperformance versus apparativer akustischer Operativität heißt es im gleichen Jahr im Boston Journal: "It was actually impossible to distinguish the singer's living voice from its re-creation in the instrument."191 Der Chrono-Sirenismus von His master´s voice, also die durch technische Speicherung und Reproduktion induzierte, präsenzerzeugende "Illusion von Dabeisein" (Peter Wicke) <cPADERMETHPHONO> Es bedeutete einen kulturellen Schock, als Menschen und andere Lebewesen durch den Phonographen in die Lage versetzt wurden, dem Realen der Stimme von Verstorben zu lauschen, als sei eine Telephonleitung ins Jenseits gelegt. Eine kanonische Urszene für dieses neuen Zeitgestells bildet der Hund, der am Trichter eines Phonographen der Stimme seines Herrn lauscht (featuring Nipper192). 189 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [Marcel Proust, Frankfurter Ausgabe, hg. v. Luzius Keller, Werke II], Bd. 3: Guermantes, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996, 186 190 Artikel "Edison Snares Soul of Music", in: New York Tribune v. 29. April 1916, 3 191 Zitiert nach: Emely A. Thompson, Machines, Music, and the Quest for Fidelity. Marketing the Edison Phonograph in America 1877-1925, in: The Musical Quartely Bd. 79 (1995), 132. See Peter Wicke, Das Sonische in der Musik, in: Das Sonische. Sounds zwischen Akustik und Ästhetik, in: PopScriptum 10 (2008), online http://www2.huberlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/index.htm 192 Die Szene wurde von The Gramophone Company Ltd. Hayes, Middlesex, 1910 als Warenzeichen eingetragen. Siehe Mladen Was erklingt hier: Mensch und/oder Maschine? Das Gehör des Hundes ist durch diese Signalwahrnehmung irritiert. Und vice versa: "›Eines Tages kam ein Hund hier vorbei und bellte in den Trichter‹ berichtet Edison ›und dieses Bellen wurde in phantastischer Qualität reproduziert. Wir haben die Walze gut aufgehoben und nun können wir ihn jederzeit bellen lassen. Dieser Hund mag von mir aus sterben <...>,‹ fügt er in fast Schrecken erregendem Ton und mit weit ausholender Handbewegung hinzu, ›aber wir haben ihn ‒ alles, was Stimme hat, überlebt.‹"193 Diese Irritation widerfährt Menschen ebenso: einmal auf der synchronen Ebene der Mensch-Maschine-Differenz, doch ebenso diachronisch. Nipper in Francis Barrauds Gemälde von 1895 ist (unter Ersatz des Reproduktionsmediums durch sein technisches Nachfolgemodell) zum Logo der Grammophon-Gesellschaft geworden.194 Gleich einem elektromagnetischen Feld oszilliert die Stimme, die nicht körperlos ist, sondern ihren Körper von einem biologischen in den medientechnischen Leib gewechselt hat, hier zwischen räumlicher und zeitlicher Abwesenheit ihrer ursprünglichen Signalquelle; der Herr von "His Master's Voice" ist nicht nur geographisch entfernt, sondern möglicherweise schon tot. Das glattpolierte Holz, auf dem im Bild die Hund-Maschine-Kopplung aufgestellt ist, ist als Sargdeckel deutbar; das Reale bleibt auch im technischen Medium bei der Leiche. Das ultimative Kriterium aller bisherigen Historie, die Unterscheidung von Leben und Tod, wird durch Aufzeichnungsmedien analoger Signale zum Turing-Test umformuliert: zur Frage nach dem Lebendigkeitsstatus des akustischen Phänomens. Es kommt mit der Affizierung des inneren Zeitbewußtseins von Menschen durch signaltechnische Aufzeichnungsmedien zu einer fundamentalen Verstimmung der historischen Kognition: Vernommen wird aisthetisch die Präsenz eines Menschen (verkörpert durch seine Stimme), gewußt aber wird dennoch kognitiv seine Vergangenheit - als Tod oder andere Abwesenheit. Hier findet auf der Ebene der Zeitachsenverschiebung (also hinsichtlich des zeitlichen Kanals als indirekte Vergegenwärtigung von Vergangenheit) statt. Eine Art sonischer Turing-Test: Vermag das menschliche Gehör über Dolar, Eine Theorie der Stimme, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, 102 f. 193 John Durham Peters, Helmholtz und Edison. Zur Endlichkeit der Stimme, in: Friedrich Kittler / Thomas Macho / Sigrid Weigel (eds), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin (Akademie) 2002, 291-312 (304) 194 Dazu Curt Riess, Knaurs Weltgeschichte der Schallplatte, Zürich (Droemer/Knaur) 1966. Siehe auch Jonathan Sterne, The Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham / London (Duke University Press) 2003 die Authentizität einer Stimmaufnahme zu entscheiden? Als Digitalisat hat es seine Autorisierung in entropischer Hardware verloren. Schauen wir die Nahaufnahme einer Schallplattenrille; sichtbar ist die indexikalischen Spuren der Historizität, der unverwechselbarer Fingerabdruck des Schallwellenereignisses, der im Digitalisat (das verlustfrei kopierbar ist) als Serie von pits and lands auf CD-Spuren verlorengeht. Die historische Datierung hängt jedoch am physikalischen Index, anders als "digitale Forensik". Ein Digitalität bedarf zu seiner Autorisierung des archivischen Kontexts; das physikalische Dokument (konkret hier in der doppelten Bedeutung von record) trägt seine historische Spur an sich. Mehr denn je sind digitale Tondokumente abhängig von der Autorisierung durch die archivische Institution als Garant überprüfbarer Metadaten. Das Historische ist eine Funktion historiographischer Zuschreibung. Technische Speichermedien, so die These, sind indifferent dem Diskurs von Tätern oder Opfern gegenüber. Zwar hat Heinrich Himmler in seiner Geheimrede vor SS-Gruppenführern in Posen am 4. Oktober 1943 die Löschung der Spuren des Genozids zum Programm erklärt: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei <...> anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unsere Geschichte."195 Doch die Medienkultur des 20. Jahrhunderts unterläuft diese Aussage, von der wir nur wissen, weil sie signaltechnisch, obgleich geheim, auf Schallplatte aufgezeichnet wurde. Nur so konnte sie Romoald Karmaker in seinem Film Das Himmer-Projekt als Text, gesprochenen durch einen Schauspieler (Zapatka), wieder einspielen - und hat die gedächtnismedienkulturell Chance zur Aufklärung über die eskalierte Lage gegenwärtiger Medienkultur zugleich auch wieder verspielt, weil hier die Struktur des technischen Archivs hinter der Schauspielermaske (persona) propospopoietisch zum Verschwinden kommt. Der Einbruch des Tons in das Bewegtbild von Film und Fernsehen (mit Adorno) Bedarf Kinematographie der akustischen Supplementierung? "Die Musik wurde gleichsam als Gegengift gegen das Bild eingeführt"; damit hat man "dem Zuschauer das Unangenehme ersparen wollen, daß die Abbilder lebendiger, agierender und gar redender Menschen vorgeführt werden, die doch zugleich stumm sind. Sie leben und leben zugleich nicht, das ist das Geisterhafte, und Musik will weniger ihr fehlenden Leben surrogieren <...>, als vielmehr die 195 Prozeß Hauptkriegsverbrecher, Dok. PS-1919, 64ff Angst beschwichtigen, den Schock absorbieren."196 Und weiter: "Auch der Spielfilm ist stumm. Seine Personen sind nicht redende Menschen, sondern redende Bilder <...>. Die Worte kommen ihnen in einer Weise aus dem körperlosen Munde, die jeden Unbefangenen beunruhigen muß. Zwar sind auch diese Worte, gegenüber den natürlichen, im Klang weitgehend modifiziert, aber doch nicht entfernt im gleichen Maße Bilder von Stimmen wie die Fotografien Bilder von Menschen. Diese technische Disparatheit von Bild und Wort wird durch ein tiefer liegendes Moment verschärft. Alle Rede im Film hat etwas Uneigentliches. Das Urprinzip des Films, seine 'Erfindung' ist, Bewegungen zu fotografieren"197 - und dies im Sinne der aristotelischen Definition von Zeit als Maßzahl von Bewegung - was Bergson als metrische Zeit gegenüber der inneren Zeitempfindung (Dauer) kritisiert. "Diese Prinzip ist von solcher Eigengewalt, daß alles, was nicht in visuelle Bwegung aufgelöst ist, gegenüber dem immanenten Formgesetz des Films heterogen und starr wirkt. <...> Die fundamentalen Divergenzen von Wort und Bild werden vom Unbewußten des Betrachters registiert und die aufdringliche Einheit des Tonfilms, der sich als lückenlose Verdopplung der ganzen Außenwelt mit all ihren Elementen aufspielt, als erschlichen und brüchig wahrgenommen."198 Theodor W. Adorno beschreibt das Fernsehbild im ausdrücklichen Unterschied zur Kinoleinwand (seiner Zeit, nicht den flachen Großbildschirm), das im Sinne McLuhans "kalte", weil detailarme elektronische Bild (im Gegensatz zu HDTV): "Einstweilen dürfte das Minaturformat der Menschen auf der Fernsehfläche die gewohnte Identifikation <...> behindern. Die da mit Menschenstimmen reden, sind Zwerge. Sie werden kaum in demselben Sinn ernst genommen wie die Filmfiguren."199 Günther Anders aber mag eine signaltechnische aufgezeichnete Stimme, selbst von einem Kindergrammophon kommend, als Originalgröße wahrgenommen werden. Die Stimme wird von Audiomedien besser als nahezu vollständig erfaßt; hierin liegt ihre präsenzgenerierende Kraft. Caruso von Edisonwalze wird nicht als Zitat wahrgenommen wie sein photographisches Portrait, aufgedruckt der Verpackung der Walze. Die im Klang verdichtete Erinnerung des Holocaust Geoffrey Hartman richtete an der Harvard University ein elektronisches Zeitzeugenarchiv zum Holocaust ein. Handelt es sich 196 Theodor W. Adorno / Hans Eisler 1976b: 74 f. 197 Adorno / Eisler 1976b: 75 198 Adorno / Eisler 1976b: 75f 199 Adorno 1953a: 508f (<zitiert nac diss. Lorenz> beim Videorecording von Holocaust-Zeugen überhaupt um einen neuen Typus von "historischer Quelle", oder vielmehr um eine Alternative zur Historiographie? Aus medienarchäologischer Sicht interessiert nicht exklusiv die ethisch unsagbare Betroffenheit (Shoah-Diskurs), sondern das techno-traumatische Zeitreal, das aus einem solchen Mediengedächtnis mit aufblitzt. Anhand der HolocaustGedächtnismedien wird in zugespitzter Form deutlich, wie der Temporaleinfluß von Speichertechniken auf menschliche Wahrnehmung eskaliert. Was in der konkreten historischen Situation des Holocaust gründet, soll auf seine medienarchäologische Mitbegründung hin untersucht werden, denn neben die spezifischen, an das Ereignis des Holocaust gebundene Symptome treten die medieninduzierten Zeit-Affekte. Damit gilt es zugleich eine technologische Mitzeugenschaft zu identifizieren; ent-humanisieren diese Techniken das Gedächtnis? Info-Radio (Radio BerlinBrandenburg) vermeldete am 2. November 2013 den faux-pas von "Auslandszahlungen an Tote" durch die deutsche Rentenversicherung; die digitale Verwaltung vermag in der Adressierung von Menschen als Namen nicht zwischen Tod und Leben zu unterscheiden. Die Fixierung auf den Inhalt eines Mediums aber macht "der Wesensart des Mediums gegenüber blind"200. "Zum großen Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) waren 318 Zeugen angereist, darunter 181 Auschwitz-Überlebende. Vor dem Frankfurter Schwurgericht erzählten sie, wie das Morden funktionierte, [...] kaum einmal stotternd oder gar schluchzend, sondern gefasst, oft über viele Stunden."201 Das ist nun online nachhörbar: auf Tonband-Mitschnitten, die unter www.auschwitz-prozess.de zugänglich sind. "Die Richter in Frankfurt hatten ein Tonband laufen lassen <...>. Hessens Justizminister rettete die Bänder später vor dem Schredder. Ein halbes Jahrhundert später haben Forscher um das Frankfurter Fritz-Bauer-Institut die Mitschnitte nun sortiert und aufbereitet, als Audiostream mit zusätzlichen Bildern und Erklärungen. <...> Wie Dr. Konrad Morgen, SS-Richter, der seinen Besuch in den Gaskammern und Krematorien [...] schildert, 'eine sachliche, neutrale, technische, wertfreie Atmosphäre' habe im Innersten der Mordfabrik geherrscht [...]. Gerade war dort ein 'Transport' vernichtet worden, also eine Gruppe von 1000 bis 2000 Menschen. 'Es war alles spiegelblank, geleckt, und einige Häftlinge in Monteuranzügen, die polier200 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding media [*AO 1964], Dresden et al. (Verl. d. Kunst) 1995, 23 201 Ronen Steinke, Auschwitz-Zeugen im O-Ton. Fritz-Bauer-Institut stellt Audiostreams ins Netz, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 231, Montag, 7. Oktober 2013 , Feuilleton, 13 ten da ihre Armaturen, machten sich da künstlich Bewegung. Sonst war alles still und leer.' <...> Der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer sagte in seiner fünfstündigen Urteilsbegründung: 'Es wird wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann [...].' Gar nicht fest ist diese Stimme, wie man nun hören kann. Sie bricht, mitten im Satz." Steht der technische Abbruch einer Rede - bedingt etwa durch das Ende der Magnetbandspule - zu solcherart semantischen Zusammenbrüchen und psychosomatisch bedingten Sprechpausen in irgendeinem korrelativen Zusammenhang? Oder verführt das semantische Gehör - wie am Ende des vorliegenden Artikels ablesbar - zur quasi-traumatischen Bedeutungsaufladung dessen, was schlicht ein technisches Verhältnis - die Endlichkeit der Magnettonspule ist? Weder die literarische Form der Erzählung noch die Philosophie einer sinnbehafteten Geschichte vermag "die Differenz zwischen psychischer Zeitlichkeit und linearer, chronologischer Zeit"202 zu überbrücken. "'Trauma' bezeichnet <...> nicht nur die Verzögerung zwischen einem Ereignis und seiner (hartnäckigen, obesssiven) Wiederkehr, sondern auch eine Umkehrung von Affekt und Bedeutung über diesen Bruch in der Zeit hinweg."203 Die Dissonanz zwischen kognitiv-historischem Zeitbewußtsein und medieninduzierten, präsenzerzeugenden Zeitaffekten kulminiert im Techno-Trauma. 202 Elsaesser 2007: 198 203 Elsaesser 2007: 199