Verdichtete Zeit, Flimmernde Präsenz

Transcrição

Verdichtete Zeit, Flimmernde Präsenz
VERDICHTETE ZEIT, FLIMMERNDE PRÄSENZ. Technologische
Erschütterungen der Gegenwart
[Bezogen auf Vorlesung im Master-Studiengang Medienwissenschaft,
Humboldt-Universität zu Berlin]
IRRITATIONEN VON GEGENWART
Augmentiere Präsenz: Irritation von Gegenwart durch technische
Medien
Die physiologischen Tatsachen der Gegenwartswahrnehmung
"Choc" mit Benjamin
Techno-affektive Vergegenwärtigung
Der Radio-Moment
Benjamins "Jetzt-Zeit"
[Exkurs: Der zeitkritische Moment, gelesen mit Lessing (Laokoon)]
Diskretes Sampling kontinuierlicher Gegenwart
a) Das optische Gegenwartsfenster
Flipper spielen (mit Kittler)
DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN
APPARAT
Der photographische Schnappschuß und die Rückkehr der Aura als
Zeitmoment
Kinematographie und das "Untote"
Der kinematographische Gegenwartsentzug
Das "moving still"
Non-epochal: Filmische Ausklammerungen
Eskalationen der Chronophotographie: "sample & hold" und das
"animated GIF"
Exkurs zur technisch begründeten Differenz von emulativer
(funktionslogischer) "Wiederauferstehung" eines Computerprogramms
und kinematographischer (Re-)Animation
VERZÖGERTE GEGENWART: DAS ELEKTRONISCHE BILD (VIDEO UND TV)
Die heuristische Fiktion des "Bildpunkts"
Zwischenfilm und Speicherbildröhre
Present Continuous Past(s) (Dan Graham 1974)
"The meaning of 'live'" (Paddy Scannell) und "die fehlende
Halbsekunde" (Herta Sturm)
Zur Zeitstruktur der live-Übertragung der Terrorattacke New York,
11. September 2011
"Pre Record Modus" und instant replay
ALGORITHISCHE ENTFESSELUNG DES ZEITREALS UND TEMPORALISIERUNG DER
GEGENWART
Das (medientechnisch faßbare) Reale / Unbewußte
Was heißt "Kommunikation unter Anwesenden" (Niklas Luhmann) in
Zeiten von Livestreams?
Zwischen(-)Speichern und Übertragen: Das Archiv in Bewegung (die
GoPro-Kamera)
Theatralische Präsenz: Körper und Stimme
"Time-Sharing"
Subliminal oder verschwiegen? High Frequency Trading an der Börse
Aufgehobene Gegenwart (das Beispiel der Bibliothek)
Auf Dauer gestellte Gegenwart? Das "Recht auf Vergessenwerden" und
Googles Suchmaschine
b) Das sonische Gegenwartsfenster
DAS JETZT ALS ZAHL, KLANG UND FREQUENZ
Zeitfluchten und ihre numerische Analyse
Exkurs zu Heinrich Heidersbergers Rhythmogrammen
"Durch 'Rückwärts' vorwärts": Tonbandeffekte
SONO-TRAUMATIK
Der sono-traumatische Affekt
Absenz versus Appräsentierung: Phonographisch induzierte
Halluzination von Vergangenheit
Eine Quellenkritik phonographischer Stimmen
Der Einbruch des Tons in das Bewegtbild von Film und Fernsehen
(mit Adorno)
Die im Klang verdichtete Erinnerung des Holocaust
IRRITATIONEN VON GEGENWART
Augmentierte Präsenz: Irritation von Gegenwart durch technische
Medien
Zwischen instantaner Archivierung von Gegenwart und unmittelbarer
Vergegenwärtigung von Vergangenheit schillert der Begriff von
"Präsenz". Es gibt sie als Anwesenheit im phänomenologischen,
auratischen Sinn von Gegenwärtigkeit, und als Gegenwart im chronologischen Sinne.1 Hier eröffnen sich Zonen der Unbestimmtheit; in
einem medientheoretisch zu bestimmenden Maße ereignet sich die
Temporalisierung der reinen Gegenwart in und als "Epochen" von
Technologien.
Das Konzept "historischer Zeit" ist ein kulturelles Produkt
symbolischer Ordnung. Nicht länger aber gelingt es, den
makrozeitlichen Selbstbegriff des Menschen als "geschichtlich" mit
den von seiner Kultur selbst hervorgebrachten hochtechnischen
Zeitoperationen zu vereinbaren. So tut sich eine traumatische
1 Siehe Katrin Stepath, Gegenwartskonzepte. Eine philogoischliteraturwissenschaftliche Analyse temporaler Strukturen,
Würzuburg 2006
Kluft auf - analog dazu, wie es der menschlichen Psyche nicht
gelingt, eine traumatische Erfahrung noch narrativ zu
historisieren und damit aus einem fortwährend traumatischen (offen
bleibenden) Gedächtnis eine kontrollierte Erinnerung zu machen.
Traumatisch ist eine nicht-historisierte Vergangenheit - welche
per definitionem der Effekt signalspeichernder Medien ist.
<cKYBERFANK>
Geschichte ist Vergangenheit "nur, sofern diese in der Gegenwart
historisiert ist"2. Das Nicht-Historisierte der kybernetischen
Kernfrage nach beständiger Rückkopplung dauert in die Gegenwart
an, und das nicht in einem unbestimmten Raum, sondern höchst
konkret in der sogenannten von-Neumann-Architektur des Computers:
nämlich im Konzept der Speicherprogrammierung3, wie sie Charles
Babbage einst für seine Analytical Engine angedacht, aber nie
gebaut hat. "[W]hile digital technology can serve to disconnect us
from the cycles that have traditionally orchestrated our
activities, it can also serve to bring us back into sync." wirklich?
Mit der Edison-Glühbirne ergab sich - als wahre Botschaft der
Elektrizität - eine erste Irritation der alltäglichen
Zeiteinteilung: die Loslösung von der chronobiologisch motivierten
Orientierung an Tag und Nacht (McLuhan 1964). Dessen
spätmittelalterlicher Vorlauf war die Notwendigkeit eines
mechanischen Weckrufs für die nächtlichen Vigilien in den
benediktinischen Klöstern, die zur spätmittelalterlichen
Entwicklung der Räderuhr mit Hemmung führte - recht eigentlich der
buchstäbliche Beginn der Frühneuzeit, denn die gleichförmigen
Oszillationen bilden seitdem die Grundlage (hoch-)technischer
Temporalitäten.
Derartige Zeit-Reproduktionstechniken greifen selbst in die
Ästhetik des Kunstwerks ein: "Die Zeitstruktur von Flüchtigkeit
und Wiederholbarkeit, die fürs autonome Kunstwerk typische zu
Struktur von Einzigkeit und Dauer ersetzt, zerstört die Aura."4
2
3
Lacan 1990: 20
"Das Apriori dieses von dem kybernetikversierten Lacan
beschriebenen Gedächtnisses ist <...> der integrierte
Programmspeicher. <...> Die gespeicherten Daten wirken zugleich
als Revision des aktuellen Befehlssatzes. Das Diachronische ist
synchronisch operant." Bitsch 2009: 425f. "Die Maschine <...>
kann den Inhalt ihres Speichers verändern, insbesondere auch die
im Speicher gespeicherten Befehle einschließlich der Befehle,
die ihren Operationsablauf steuern." John von Neumann, Papers of
John von Neumann on Computing and Computer Theory, Cambridge /
London / Los Angeles 1987, 19
4 Jürgen Habermas, "Bewußtmachende oder rettende Kritik". Die
Aktualität Walter Benjamins, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1973, 184
Die Frage nach der punktförmigen oder ausgedehnten Gegenwart
stellt von jeher ein zentrales Thema in der abendländischen
Diskussion des Seinsbegriffs dar. In Buch IV seiner Physik widmet
sich Aristoteles ausführlich den Möglichkeiten, den gegenwärtigen
Moment als Bewegungszeit numerisch zu fassen; diesen
mathematischen Begriff von Gegenwart hat dann Henri Bergson in
Kapitel IV seiner Évolution créatrice als "kinematographisch"
kritisiert und damit zugleich dessen technische Eskalation
definiert.
Übertragungsmedien brechen mit ihren gegenwartserzeugenden
Mechanismen den okzidentalen Logozentrismus nicht nur als
räumliche Distanzüberbrückung auf. Seit Photographie, Phonograph
und Kinematographie vermögen technische Speichermedien
Gegenwartsmomente und -ereignisse ihrerseits auf Dauer zu stellen
In digitalen Kommunikationsmedien wird einerseits die Gegenwart in
immer kürzeren Intervallen "archiviert", andererseits wird die
Vergangenheit in Momenten ihrer Wiederaktivierung (als represencing) in wiederholter Gegenwart gehalten. Dialektisch
"aufgehoben" (und daher überwunden) ist diese Oppositon durch die
in der ballistischen Artillerie des Zweiten Weltkriegs entwickelte
anti-aircraft prediction, die bereits im Modus des Futur II
kalkuliert.5
Der medienarchäologisch kalte Blick auf Techno-Traumata und deren
Identifizierung ist in der Tat ein Zwilling der posthumanistischen
Theorie. Seit der phonographischen Stimmaufzeichnung irritieren
signalspeichernde Technologien den menschlichen Gegenwartssinn
durch "archiving presence". Diese Technologie ist aber keine üble
Verselbständigung von Technik, sondern die Erfüllung eines
menschlichen Phantasmas. Höchste Zeit, daß der Diskurs auf den
Stand kommt, den die kulturtechnisch erreichten Medien längst
schon zeitigen: ein parahumanistisches Denken. Deleuze bezeichnet
den Affekt als das "Nichtmenschlich-Werden des Menschen"6;
tatsächlich ist das In-der-Zeit-Sein des wahrnehmenden Subjekts in
affektiver Kopplung an Technologien deren Eigenzeitlichkeit
unterworfen. "Deleuze löst also den Affekt vom Körper und
überantwortet ihn dem Bewegungsbild. Damit jedoch werde der Affekt
außerhalb des Subjekts angesiedelt und zu seiner Frage der
Technik"7; hierin gründet das Techno-Trauma.
Vilém Flusser zufolge sind die Subjekte zu bloßen "Funktionären"
des technischen Apparats geworden. In posthumanistischer Lesart
werden Menschen deren technologischer Eigenlogik (und Eigenzeit)
unterworfen.
5 Siehe Norbert Wiener, Futurum Exactum. xxx, hg. v. Bernhard
Dotzler, xxx
6 Gilles Deleuze / Félix Guattari, Was ist Philosophie?,
Frankfurt/M. 2000, 204 <hier zitiert nach: Angerer 2007: 66>
7 Marie-Luise Angerer, Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich /
Berlin (diaphanes) 2007, 33
"Während die ‘humanistische’ Apparatkritik [...] letzte Reste
menschlicher Absichten hinter den Apparaten beschwört, die in
ihnen lauernde Gefahr vertuscht, sieht die hier vorgetragene
Apparatkritik ihre Aufgabe gerade darin, die entsetzliche Tatsache
dieses absichtslosen, sturen und unkontrollierbaren Funktionierens
der Apparate aufzudecken [...]."8
Die physiologischen Tatsachen der Gegenwartswahrnehmung
Gegenwartsempfindung ist zunächst ein Phänomen menschlicher
Sinnesphysiologie. Deren Thematisierung aber ist von vornherein
vom technischen Begriff nicht zu trennen; Hermann von Helmholtz
wie Sigmund Freud diskutieren den pysiologischen und psychischen
Mechanismus als "Apparat".
Von Helmholtz beschreibt eine den menschlichen Sinnen überhaupt
zugängliche Gegenwart: die zeitweiligen Präsentabilien;
demgegenüber definiert erst als "<...> präsent dasjenige
Empfindungsaggregat aus dieser Gruppe, was gerade zur Perzeption
kommt"9. Pikant werden die Präsentabilien, wenn sie sich nicht
länger als substantielle Gegenstände, sondern ihrerseits als
"Zeitobjekte" (im Sinne Edmund Husserls) herausstellen. Wurde
Schall anhand von Monochord und Echoeffekten bereits von den Ohren
antiker Griechen in seinem Impuls- und Schwingungscharakter als
Zeitform identifiziert, wurde das scheinbar immediate Licht erst
in der europäischen Neuzeit in seinem Schwingungscharakter
entdeckt. Bloßen Augen ist diese Einsicht nicht gegeben, womit
auch die Gegenwartswahrnehmung audio-visuell auseinanderfällt. In
der Fähigkeit, Schwingungsereignisse als solche wahrzunehmen, "ist
der Gehörnerv dem Sehnerven erheblich überlegen"10.
"Choc" mit Benjamin
"Der Begriff „Choc“ (auch: „Chock“) gelangte Ende der 1930er Jahre
in die Kulturtheorie, vermittelt durch Walter Benjamins
Untersuchungen zum Werk Charles Baudelaires. Für Benjamin ist die
Großstadterfahrung, wie sie in Baudelaires Literatur vermittelt
wird, durch ihre Chockhaftigkeit geprägt: Vor allem der
Straßenverkehr bestimmt mit seiner Geschwindigkeit Wahrnehmung und
Lebensrhythmus der Städter und sorgt für beständige
8
Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, 7. Auflage,
Göttingen, 1994, S. 67.
9 Hermann v. Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, in:
ders., Schriften zur Erkenntnistheorie, Wien / New York
(Springer) 1998, 147-176 (156)
10 Von Helmoltz 1998: 152
Chockerlebnisse. Demgegenüber sieht Benjamin den Reizschutz (ein
aus Freuds „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) entlehnter
psychischer Mechanismus) wirken, der die Überflutung mit zu
starken Reizsignalen (Chocks) verhindern soll. In seinem
Kunstwerkaufsatz überträgt Benjamin dieses Konzept auf eine
Wirkungstheorie der Filmmontage: Durch den beständigen Wechsel der
Bilder und Einstellungen befindet sich der Zuschauer im Zustand
andauernder Chockierung. Film wird damit zur Wiederholung und
kulturellen Einübung des Blicks in der Moderne: „Der Film ist die
der gesteigerten Lebensgefahr, der die Heutigen ins Auge zu sehen
haben, entsprechende Kunstform. Das Bedürfnis, sich Choc-Wirkungen
auszusetzen, ist eine Anpassung der Menschen an die sie
bedrohenden Gefahren“ (Benjamin)."11
Der Begriff des Chock wurde von Benjamin bereits in dem
Photographieaufsatz eingeführt: mit dem Chock, werden die
tradierten Wahrnehmungsmuster und Assoziationsmechanismen außer
Kraft gesetzt, der Chock befördert die Zertrümmerung der Aura.12
Benjamin, GS IV, 252: "Sollte man nicht von Begebenheiten reden,
die uns betreffen wie ein Echo, von dem der Hall, der es erweckte,
irgendwann im Dunkel des verflossenen Lebens ergangen scheint. Im
übrigen entspricht dem, daß der Chock, mit dem ein Augenblick als
schon gelebt uns ins Bewußtsein tritt, meist in Gestalt von einem
Laut uns zustößt. Es ist ein Wort, ein Rauschen oder Pochen, dem
die Gewalt verliehen ist, unvorbereitet uns in die kühle Gruft des
Einst zu rufen, von deren Wölbung uns die Gegenwart nur als ein
Echo scheint zurückzuhallen."
Der Kinematograph trainiert die subliminalen Wahrnehmungsformen
der Moderne, den choque und Diskontinuität. "Der Film dient, den
Menschen in denjenigen neuen Apperzeptionen und Reaktionen zu
üben, die der Umgang mit einer Apparatur bedingt, deren Rolle in
seinem Leben fast täglich zunimmt. Die ungeheure technische
Apparatur unserer Zeit zum Gegenstand der menschlichen Innervation
zu machen - das ist die geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst
der Film seinen wahren Sinn hat."13
Tatsächlich fragen sich die frühen mit Kino sozialisierten
11 Stefan Höltgen, Eintrag "Chock", in: Lexikon der Filmbegriffe,
online
http://filmlexikon.uni-kiel.de/index.php?
action=lexikon&tag=det&id=3476 (Zugriff 6. Januar 2014; Artikel
zuletzt geändert am 2. August 2011), unter Bezug auf: Walter
Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, sowie ders., Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
Beide in: Schriften. I,2. Frankfurt: Suhrkamp 1991, 605-654 u.
471-508
12 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie (1931), S.
93
13 Walter Benjamin, GS, Bd. I, 444 f.
Generationen, ob nicht die filmische Form die wirklichere sei.14
"Desanthropomorphisierung also, die Sprengung der Körperform, ist
der technische Realgrund dafür, daß die zeitparadimatischen Formen
der Moderne die Maschinen sind."15 Benjamin diagnostiziert es neben
Jazz und Tanz:
"[N]ichts verrät deutlicher die gewaltigen Spannungen unserer Zeit
als daß diese taktile Dominante in der Optik selber sich geltend
macht. Und das eben geschieht im Film durch die chockwirkung <sic>
seiner Bildfolge."16
<cZEITKRITKOMM>
In digitalen Netzen wird die klassische nachrichtentechnische
Funktion der raumzeitlichen Übertragung durch nahezu immediate
Vervielfältigung der Information ersetzt (was juristisches
Neudeutsch mit dem Oxymoron "Originalkopie" bezeichnet). Nutzung
und Konsum selbst sind hier schon ein Akt der Kopie: "Every time
you use a creative work in a digital context, the technology is
making a copy"17; diese Kopie ist aber nicht mehr durch das
Vergehen von Zeit vom Original unterschieden. Die von Walter
Benjamin benannte Einmaligkeit hinsichtlich Ort und Zeit, die das
Wesen des Kunstwerks als Original ausmacht18, ist damit ebenso
aufgehoben wie sein Merkmal des historischen Index, der
geschichtlichen Zeugenschaft.
Die Aura in Benjamins Terminologie als "Ferne, so nah sie auch
sein mag", korreliert mit dem Moment der Bergsonschen durée, also
außerhalb der falschen, chrono-technischen Verkoppelung von
mathematischer Zeit und Raum, als asymbolische Übertragung.
Insofern verkörpert die analoge Photographie das Lacansche Reale.
<cZEITWEISMEDHIST>
Medienzeit ist nicht schlicht im ontischen Sinne, sondern sie
14 In diesem Sinne etwa Lou-Andreas Salomé, zitiert von Baudry,
xxx, in: Kursbuch Medienkultur, xxx
15 Norbert Bolz, Abschied von der Gutenberg-Galaxis.
Medienästhetik nach Nietzsche, Benjamin und McLuhan, in: Jochen
Hörisch / Michael Wetzel (Hg.), Armaturen der Sinne, München
(Fink) 1990, 139-156 (144)
16 Benjamin, GS, Bd. I, 1049
17 Lawrence Lessig, Remix. Making Art and Commerce Thrive in the
Hybrid Economy, London (Bloomsbury Academic) 2008, 98
18 "Denn die Aura ist an sein Hier und jetzt gebunden. Es gibt
kein Abbild von ihr": Walter Benjamin, Das Kunstwerk im
Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit [*1936],
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1969, 14. Eine entsprechende
"Inflationstheorie" fordert Bernhard Vief, Die Inflation der
Igel. Versuch über die Medien, in: Derrick de Kerckhove /
Martina Leeker / Kerstin Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen.
Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert,
Berlin (transcript) 2008, 213-232
erzeugt eine "museale Präsenz" der Gegenwart der Vergangenheit
(Götz Großklaus). Walter Benjmin bescheibt 1935/36 die
Überforderung der kulturgeschichtlich geprägten menschlichen Sinne
durch ein Übermaß an neuartigen, medieninduzierten Reizen, die auf
sie einwirken: als Choquewirkung19; dieser Begriff ist durchaus ein
zeitkritischer, denn er bezeichnet die medieninduzierte Irritation
des Zeitsinns zugunsten fraktaler Zeitwahrnehmung. "Die neuen
Medien sind aktions- und nicht kontemplativ, augenblicks- und
nicht traditionell orientiert."20 Diese neuen Medien orientieren
den menschlichen Zeitsinn vom historisierenden Modus auf Emergenz
und Instantaneität um, wie sie als die Zeitweise von
Computerspielen längst vertraut ist.
<cCOMPSPIEL>
"Mit der Immersion kann ein Gefühl von presence innerhalb des
Spiels bei der Nutzerin hervorgerufen werden."21 Spieler nimmt das
Interface nicht mehr als technisch wahr, "sondern fühlt sich als
Teil der Welt hinter dem Monitor" <367> - Alice im Wonderland,
dissimulatio artis.
Unterschied zwischen physischer (etwa LAN-Party), virtueller
(buchstäblich "ausgerechneter") und psychologischer presence in
Computerspielen.22
Telephonie (anders noch als Telegraphie, die als symbolischer Code
eine kognitive Distanz wahrt) zeitigt zunächst einen Choque; die
zeitgleiche Kommunikation im Gespräch bei vollständiger Löschung
der Raumdifferenz bedeutet für den menschlichen Zeithaushalt eine
Irritation. Walter Benjamin befürchtete, der Mensch könne "von der
Überfülle von elektrischem Licht blind und von dem Tempo der
Nachrichtenübermittlung wahnsinnig werden."23
Geschah die Nachrichtenübermittlung als Rundfunk im Medium der
elektromagnetischen Wellen nahezu mit Lichtgeschwindigkeit, war
ihre redaktionelle Produktion zunächst noch speicherlastig; die
Produktion von Fernsehsendungen - abseits von tatsächlicher live19 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit [Zweite Fassung], in: ders., Gesammelte
Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Bd.
I: Abhandlungen, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1978, 471-505 (486ff)
20 Hans-Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der
Medien, in: Kursbuch 20 (März 1970), 159-185 (167)
21 Judith Ackermann, Dekonstruktion einer Immersion. Der Avatartod
als distanzierendes Moment im Computerspiel, in: Inderst / Just
(Hg.) 2013: 365-380 (367)
22 Dazu J. Bryce / J. Rutter, In the Game - In the Flow: Presence
in Public Computer Gaming. Poster presented at 'Computer Games &
Digital Textualities', IT University of Copenhagen, March 2001;
http://www.cric.ac.uk/cric/staff/Jason_Rutter/presence.htm
23 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann,
Bd. V (Passagenwerk), Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1989, 114
Übertragung - beruhte auf analoger magnetischer Bandaufzeichung in
versetzter Gegenwart.
<ModECHTZEIT>
Vom Privilegieren des Aufgepeicherten im abendländischen
Kulturbegriff hin zu einer Ästhetik der permanenten Übertragung die Herausforderung der televisionären live-Medien.
Medienarchäologisch betrachtet aber verlief der Weg umgekehrt.
Ohne erhaltene Zwischenfilme wären alle ersten Fernsehprogramme
für das kulturelle Gedächtnis verloren.
Digitalisiert - und damit dem Zeitfenster von Echtzeit
anheimgegeben - wurden zunächst die Übertragungswege; inzwischen
haben leistungsfähige Computervideo-Server auch die klassische MAZ
ersetzt - eine vollständige Entlinearisierung von Telepräsenz
zugunsten diskretisierter Gegenwartsmomente.
Doch im präzisen Sinne des Samplings in der elektrotechnischen
analog/digital-Wandlung, der Fouriertransformation (respektive
Wavelet-Analyse) und des neurologischen Wahrnehmungsfensters gibt
es kein momentanes punctum, sondern vielmehr dessen Ausdehnungen:
Zeitfenster von Gegenwart. Jetzt-Zeit diffundiert in aisthetischer
Präsenz.
Flipper spielen (mit Kittler)
"Wenn der Mensch nur dort ganz Mensch ist, wo er spielt, so wird
auch er, wenn sein Mitspieler Automat ist, zum Unmenschen." This
counts for the temporal realm as well.24
"Bloss durch ein Reaktionstempo, das sich dem des Automaten
sklavisch anschmiegt, erlangt der Spieler nicht sowohl den Sieg
als die verzögerte Niederlage, die die Registrierkasse des
Flippers dann als Sieg ausgibt. Automaton nisi parendo quodammodo
vincitur. <...> Der Flipper erlaubt bloss noch Taktik statt
Strategie."
Kittler zum Flipper-Spiel: "Die Erfindung des Flippers bedurfte
der ausgebildeten Elektronik. Sie ist das Schnelle schlechthin, zu
Lasten wie zu Gunsten des Spielenden (zu Gunsten, sofern der
Elektromagnet des Flippers nicht kraftvolle und schwächliche
Knopfdrücke unterscheidet)"
"Spiele, die ins rasche Reagieren einübten, hat es wohl schon seit
dem 19. Jahrhundert gegeben; man denke ans Tischtennis"
24 Wird im NL Kittler in der gesonderten Abteilung "Miscellanea
Curiosa" der Gesammelten Schriften geführt und wahrscheinlich
als Sonderband zu gegebenem Anlaß publiziert.
- und Wilhelm Wundts psycho-physikalisches Laboratorium an der
Leipziger Universität (gefolgt vom Harvard Lab).
"Aber beim Tischtennis war Gegenspieler ein Mensch. Der Spieler am
Flipper kämpft gegen eine Kugel, die von elektrischen und
mechanischen Maschinationen beschleunigt wird, d.h. auf eine
Weise, die nicht einmal, wie das Spiel des Tischtennisgegenübers,
absichtlich die Niederlage des Spielenden herbeiführen will,
sondern sie automatisch und gleichgültig einfach herbeiführt."
DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN
APPARAT
Irridation bezeichnet "[...] eine Erscheinung, die immer dann
auftritt, wenn unser Auge genötigt ist, große
Helligkeitsunterschiede zu erfassen." <Beranek xxx: 225>
Rasch wird Irridation zur Irritation der gegenwärtigen
Wahrnehmung:
"Auf der Leinwand erscheint ein Bild B in schwarz-weißen
Einzelheiten, dann eine gleichmäßig abgedunkelte Fläche, dann
wieder das Bild B usw., das Auge ist einem steten Wechsel von Bild
und Dunkelheit ausgesetzt; es verknüpft die Bilder B, wenn sie
entsprechend rasch aufeinanderfolgen und untereinander nicht
wesentliche Helligkeitsunteschiede aufweisen. Ist die
Aufeinanderfolge der Bilder B zu langsam, dann entsteht im
Zuschauer die unangenehme Empfindung de sFlimmerns; sind die
Helligkeitsunteschieder der Bildre B zu groß, /
wie es namentlich beim Szenenwechsel oder auch beim Wandern des
Lichtbogens vorkommt, dann entsteht im Zuschauer trotz der
richtigen Geschwindigkeit des Bildwechsles eine andete störende
Empfindung, die ihre Ursache in der Irridation hat."25
"Die Erscheinung der Irridation <...> äußert sich darin, daß unser
Auge eine helle Figur auf dunklem Grund größer sieht als die
gleich große Figur auf hellem Grund. <...> Ist unser Auge
gezwungen, zwei gleich große Figuren von verschiedenr Helligkeit
miteinander zu verknüpfen, so befindet es sich in einer
Zwangslage, da die Ränder der gleich gorßen Figuren zu shwanken
beginnen; im allgemeinen dauert diese Zwangslage wohl nur kurze
Zeit, sie wird aber doch als sötrung empfunden und belastet unser
Auge <...>."26
Während die phonographische Schallkonsere zeitecht ist, stellt die
Kinematographie deren Täuschung dar:
25 Beranek 1926/2002: 125f
26 Beranek 1926/2002: 226
"Der Ton kommt durch Schwingungen eines elastischen Körpers
zustande; die Schwingungen werden auf der Grammoponplatte
eingegraben und hinterlassen auf ihr wellenförmige Vertiefungen;
gleitet nun der Stift des Grammophons über diese Vertiefungen, so
macht er die Schwingungen, die der ursprüngliche, tongebende
Körper gemacht hat, nach; der über die Platte streifende Stift ist
dem Original zustandsgleich. Ganz anders aber verhalten sich Film
und Original zu einander; von einer Zustandsgleichheit beider kann
keine Rede sein; der Film ist gegenüber dem Original ein Produkt
technischer Kunstgriffe."
Die antike Kunst der unbewußten Manipulation durch sprachliche
Rhetorik - basierend auf der dissimulatio artis - wird abgelöst
durch die technische rhetoriké techné. Die Technik dieses
Kunstgriffs liegt im zeitkritischen Feld - als Chronopoetik. Es
sind solche Kunstgriffe, "die bewirken, daß er dem Original
niemals zustandsgleich, sondern empfindungsgleich gemacht wird."27
"Die Kinematographie beruht letzten Endes" - d. h. in
medienarchäologischer Konsequenz - "auf einer Täuschung unseres
Auges, das unterbrochene, aber rasch aufeinanderfolgende Reize als
ununterbrochen wahrnimmt; im Film gibt es niemals wirkliche,
sondern immer nur vorgetäuschte Bewegung"28
lernen wir aus einem Artikel über "Die Irridations-Erscheinungen"
im Journal Filmtechnik von 1926.29
Irridation ist "eine Erscheinung, die immer dann auftritt, wenn
unser Auge genötigt ist, große Helligkeitsunterschiede zu
erfassen." <225>
Techno-affektive Vergegenwärtigung
In welchem Verhältnis stehen historisches Trauma und technologisch
induzierter Affekt? Thomas Elsaessers Analyse technischinduzierter traumatischer Zeitmomente deutet Medienarchäologie
unter verkehrten Vorzeichen: "Obwohl sie keineswegs von diesen
direkt hervorgerufen wurden, wenn man nicht davon ausgeht, dass
die <...> Krise der symbolischen Ordnung technischen Ursprungs
27 Rudolf Beranek, Die Irridations-Erscheinungen, in: Filmtechnik
Bd. 2 (1926), 44f; Wiederabdruck in: Kümmel / Löffler (eds.) 2002,
225-228 (225)
28 Beranek 1926 / 2002: 225. Siehe ferner Reiner Matzker, Das
Medium der Phänomenalität. Wahrnehmungs- und
erkenntnistheoretische Aspekte der Medientheorie und
Filmgeschichte, Munich (Fink) 1993
29 See further Reiner Matzker, Das Medium der Phänomenalität.
Wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Aspekte der
Medientheorie und Filmgeschichte, Munich (Fink) 1993
ist, sind angesichts der techologische Veränderungen in unseren
Aufzeichnungsmedien und Kommunikationssystemen Formen des
kulturellen Gedächtnisses <...> im Entstehen, für die
chronologische Zeitrahmen <...> sich als unangemessen erweisen."30
"So ist dann der kinematographische Abzug, wo eine Szene sich aus
tausend Bildern zusammensetzt und der, wenn er sich zwischen einer
Lichtquelle und einem weißen Tuch entrollt, die Toten auferstehen
läßt, so ist dieser einfache Streifen bedruckten Zelluloids nicht
einfach ein historisches Dokument, sondern <selbst!> ein Stück
Geschichte, und zwar einer Geschichte die nicht verschwunden ist
und für die es keines Geistes",
mithin keines (Historiker-)Subjekts "bedarf, um sie wieder
erschienen zu lassen. Sie schlummert nur und, so wie die
elementaren Organismen, die ein latentes Leben führen und sich
nach Jahren Durch bein bißchen Wärme und Feuchtrigkeit
wiedeerbeleben, so genügt ein bißchen Licht, das, von Dunkleheit
umgeben, durch iene Linse fällt, um die Geschichte wieder zu
erwecken und den vergaen Zeiten neues Leben einzuhauchen."31
Technische Medien kommen zum Einsatz zum Zweck der Heilung von
"post-traumatic stress disorder"-Syndrom. Historisch figuriert
hier der Stummfilm von Léonce Perret, The Mystery of the Rocks of
Kador, Gaumont 1912, darin eine nachgestelle und dann projizierte
Filmszene der Mordzene vor der Patientin - hypnotische
"Induktion" (im technischen Sinne).
Vorab war es eine Praxis von Charcot, Licht von der Laterna Magica
auf Hysterikerinnen zu projizieren. Der Stroboskop-Einsatz ist
Kino in seiner reinsten Form.32 Aber hier ist das
kinematographische Trauma noch Teil des filmischen Inhalts; dieser
Film reflektiert damit seine eigene traumastische Implikation als
"inneres Objekt".
Eine Form medienbasierter Therapie wird von amerikanischen
Militärs zur Heilung von Irak-Krieg-Traumata in Form von
Computerspielsimulationen ("Egoshooter") eingesetzt; dazu Passage
"Virtual Irak" in Farocki-Film xxx. Siehe auch den Begriff der
"screen memories": Übersetzung der Freudschen "Deckerinnerung"
(sein Aufsatz 1899; dazu Väliaho 2011: 335); bekommt im KinoZusammenhang aber einen konkreten Sinn. Das Medium macht eine
Überstezung unter der Hand besser. Siehe Aufsatz Peter Krapp,
"screen memory"? Technische Verdeckung der "Deckerinnerung" durch
Leinwand / Monitor / "Interface".
30 Elsaesser 2007: 201
31 Boleslav Matuszewksi, Eine neue Quelle für Geschichte
[*1898 ???], übersetzt in: montage a/v xxx
32 Dazu Pasi Väliaho, Cinema's Memoropolitics: Hypnotic Images,
Contingent Pasts, Forgetting, in: Discourse 33, Heft 3 (2011),
322-341
<cPASSE>
Auf die qualitative Differenz zwischen der Ausstellung als
erfahrbarem, zum choque fähigen Raum und dem TV-Bildschirm als
Oberfläche, deren Entzifferung kein Erstaunen mehr zuläßt, weist
Jean-François Lyotard hin: Kunstforum, op. cit., 363 <= Kunstforum
International Bd. 100 (1989) ?>
Kann die Störung, die Fehlfunktion in der Maschine, also die
Einbruchstelle des Realen in der / die Physik, intendiert /
inszeniert werden, ohne damit nicht schon wieder die
Implementierung des Realen im Symbolischen zu werden? Dies ist das
epistemologische Dilemma von "glitch music" und "glitch art".
Martin Heidegger nähert sich dem Radio in Sein und Zeit über den
Begriff der Telepräsenz. Entfernung meint in diesem Zusammenhang
"nicht so etwas wie Entferntheit", sondern "ein Verschwindenmachen
der Ferne", eine "umsichtige Näherung", so wie “alle Arten der
Steigerung der Geschwindigkeit [...] auf Überwindung der
Entferntheit [drängen]. Mit dem Rundfunk [...] vollzieht das
Dasein heute eine in ihrem Daseinssinn noch nicht übersehbare Entfernung der 'Welt' [...]."33
<ModPADERMETH1BAPPARAT>
Die Aufnahme von Kaiser Franz Joseph in Österreich thematisiert
1903 das Ereignis des Phonographen selbst, indem seine Rede davon
ist, seine Stimme dem Apparat "einzuverleiben". Einen Schock des
akustisch-Realen aber bedeutete für die Hörerschaft das
akustmatische Erklingen der Stimme Kaiser Hiroitos im August 1945
aus öffentlichen Lautsprechern in Japan. Die Menschen verneigten
sich, weil sie den Kaiser nicht sehen durfen, in einer
synästhetischen Verschiebung. Zu den von Ernst Kantorowicz
analysierten "zwei Körpern des Königs" tritt hier ein
technologisch aufgehobener Drittkörper buchstäblich dazwischen.
Diese medieninduzierte Gegenwart ist eine massenmedial universale
geworden und gelangt zu quasi-historistischer Ubiquität. "Die von
den Medien selbst erzeugte Gegenwart operiert in einer besonderen
Zeitstruktur."34 Dies führt zu einer besonderen Form von
Gegenwartsvergessenheit: Speziell Massenmedien (ob nun auditiv
oder visuell) bilden "räumliche Verhältnisse und Begebenheiten ab
unter dem einen, ausschließlichen Gesichtspunkt der Zeit" <ebd.>;
die notwendige Arbeitsspannung signalkritischer Nachrichtenmedien,
ihr bias of communication (Harold Innis), liegt nicht nur
technisch in ihrem Zeitwesen. Ihr Aktualitätszwang führt zu einer
unausgesetzten Erzeugung von Gegenwart, die sich vom intuitiven,
exklusiven Gegenwartsbegriff der klassischen Wahrnehmung abhebt.
Im Unterschied zu klassischen archäologischen Artefakten im Museum
33 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen (Niemeyer) 1986, 104f
34 Wolfgang Hagen, Gegenwartsvergessenheit. Lazarsfeld, Adorno,
Innis, Luhmann, Berlin (Merve) 2003, 8
sind technische Dinge nicht schlicht historische Objekte (Gilbert
Simondon), sondern ihrerseits "Zeitobjekte" (Edmund Husserl).
"Wenn ein Fernsehbild auf einem Kathodenstrahlbildschirm ein
Ereignis überträgt, sind das Jahr des Ereignisses oder das Baujahr
des Gerätes sekundär. Nur der abgeschaltete Fernseher ist
historisches Objekt."35
Telepräsenz (von analoger Telephonie über Bildtelephonie, Radio
und Fernsehen bis hin zu Skype) ermöglicht die audio-visuelle
Präsenz des Kommunikationspartners unter Mißachtung der
körperlichen Entfernung. Damit entsteht eine Dissonanz zwischen
Affekt und kognitivem Wissen, vergleichbar der schockierenden,
techno-traumatischen Untertunnelung der zeitlichen Distanz im
audiovisuellen Wiedereinspiel von Ton- und Bildkonserven aus der
Vergangenheit.
Der Radio-Moment
<cMEDCOLLAGE>
Charles Baudelaire definierte die Kultur der Moderne durch das
Transitorische, das Flüchtige und das Kontingente36 - die Ästhetik
der elektrischen Schaltkreise.
<cHUBSCHRIFTWE>
Löcher - jener Abgrund des Realen und Zwillinge der mathematischen
Null - generieren in der technisch bewegten Sirene Luftstöße; de
la Tour spricht von „Choque"-Wellen, diskrete Entitäten (vorprogrammiert durch Scheibe); vgl. Jacquart-Maschinen (operativ)
fallen nun mit mathematischer Berechnung zusammen
<cZEITKRITIK>
Für einen Moment überschneiden sich das neuronale
Gegenwartsfenster und die photographische Belichtungszeit; 1866
beantwortete Hermann Wilhelm Vogel die Frage, was man einen
"photographischen Moment" nennt, mit: drei Sekunden.37 Eine Schere
klafft auseinander, wenn es um die Evolution physiologischer
Wahrnehmungsorgane und die Evolution zeitkritischer
35 Aus dem Schlußkapitel von Rico Hartmann, The same but different.
Eine medienarchäologicshe Betrachtung technischer
Mediengeschichte, schriftliche Hausarbeit im Magisterstudiengang
Medienwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin,
Wintersemester 2007/08 (Fertigstellung: November 2012)
36 Siehe William Uricchio, Storage, simultaneity, and the media
technologies of modernity, in: John Fullerton / Jan Olsson
(Hg.), Allegories of Communication. Intermedial concern from
cinema to the digital, Rom (John Libbey) 2004, 123-138 (123)
37 Friedrich von Zglinicki, Der Weg des Films. Die Geschichte der
Kinematographie und ihrer Vorläufer. Textband, Hildesheim / New
York (Olms) 1979, 166
Medientechnologien geht; für eine kurze Phase gibt es hier
Überschneidungen und Parallelen). Eskalierte Medientechnologien
wirken auf die menschliche Sensorik zurück, seit Kinematographie,
Computerspiel und MTV: die menschliche
Reaktionsverarbeitungsfähigkeit wird elliptisch beschleunigt,
aufgerüstet (eine Evolution zweiter, rückgekoppelter Ordnung, eine
eigene techno-biologische Zeitfigur). Zunächst aber erleiden die
humanen Wahrnehmungsorgane einen Schock durch diese eskalierenden
Technologien; es bedarf der Medienarchäologie, diesen im
Unbewußten der Kultur noch gar nicht wirklich verarbeiteten,
wenngleich täglich praktizierten Schock kognitiv und
epistemologisch nachzuholen. Zeitkritische Prozesse als
wahrgenommene Realität aber sind erst mit jenen Meßmedien zu einem
Wissensgegenstand geworden, die sie zu erfassen und zu rechnen
wußten.
Kodwo Eshun proklammiert eine "posthumane Rhythmatik", wie sie mit
Rhythmussynthesizern wie dem Roland 808 (im Unterschied zu
einfachen Drummaschinen) möglich wurde, unter Rekurs auf Edgar
Varès 1936: "Ich brauche einvöllig neues Ausdrucksmedium: eine
klangerzeugende Maschine" <ziztiert in: Kodwo Eshun, Heller als
die Sonne. Abenteuer in der Sonic Fiction, Berlin (ID-Verl.) 1999,
93>; vgl. Busonis Manifest. Was verspricht sich Varèse davon?
"überkreuzte Rhythmen, die nichts miteinander zu tun haben, aber
gleichzeitig behandelt werden; die Maschne wäre dazu imstande,
eine beliebige Anzahl gewünsvchter Noten herzustellen und jede
beliebige Teilmenge davon, jede Pause, jeden Bruchteil, und all
das in einer vorgebenene Zeiteinheit, die ein Mensch nie
einzuhalten vermöchte"38. Genau dieses menschlich unmögliche
Zeitmaß nennt Eshun "Rhythmatik", "die posthumane Multiplikation
des Rhythmus" <94>. Tatsächlich aber läuft diese chrono-sonische
Analyse auf das clocking des Computers hinaus: "Der Computer
schreibt zwa rund liest - aber er macht ides auf eine für
schreibenmde und lesned eMenschen icht mehr wahrnehmbare Weise.
Die operative Logik technischer Medien besteht geradezu darin,
Datenflüsse so zu strukturieren, dass dabei die 'Zeit der
menschlichen Wahrnehmung' unterlaufen wird. Nur inforlge diese
Übewrspringesn des menschlichen Wahrnehmnes kann etwa der Eindruck
sog. 'Echtzeitreaktionen' entstehen. Echtzeitanalyse gibt es
nicht. Jeder Beacrbeitungsschritt es Computers verbraucht Zeit,
nur eben eine Zeit, deren Dauer geringer ist als der kleinste vom
Mensche noch sinnlich erfahrbare Zeitraum."39
Die Zeit implodert hier, wird eingesogen (nach menschlichem
38 Zitiert nach Eshun 1999: 94
39 Sybille Krämer, Kulturtechnikien durch
Zeit(achsen)Manipulation, 216f, in: xxx (hier zitiert nach: Arndt
Niebisch, Die Liebe zur Ziffer, in: Pál Kelemen / Ernó Kulcsár
Szabó / Àbel Tamás (Hg.), Kulturtechnik Philologie. Zur Theorie
des Umgangs mit Texten, Heidelberg (Universitätsverlag Winter)
2011, 165-183 (175, Anm. 33)
Maßstab)
<cKINAESTHET>
Das Zeitreal setzt (laut von Uexküll) ab einer achtzehntel Sekunde
diskreter Bild-, Druck- und Schallfolgen ein, denn ab dieser
Frequenz vermag menschlicher Augensinn das Einzelbild nicht mehr
zu fassen, oder das Ohr den diskreten Impuls, und "das technische
Medium <...>, das Bewgeung als Infinitesimalkalkül implementiert,
heißt Film"40.
- siehe Begriff der "Schrecksekunde", die in polizeitlichen
Aktionen genutzt wird, den Täter im Überraschungsmoment zu
überwältigen. Wirkt lediglich auf einer Distanz bis ca. 10 Meter.
<cZEITWEISKLANG>
In der Differenz der medialen Übertragungsweisen erweisen sich die
Gegenwart der Stimme sowie der damit verbundene Logozentrismus in
ihrer Zeitlichkeit - chronologisch verschoben. Radiowellen
übertragen aufmodulierte stimmhafte Niederfrequenzen schneller als
akustische Wellen es in der Luft vollziehen - und hier kommt die
Nachtigall als Vogel und als technisches Medium ins Spiel. Theodor
W. Adorno erinnert sich in seiner Fragment gebliebenen Schrift
Current of Radio, wie er einmal einer Nachtigall im Garten
lauschte. Diese fiel auch der damaligen Frankfurter Radiostation
auf,
"[...] and the author [...] managed to listen to it over the radio
when the windows were open. The result was that we were able to
hear the radio nightingale a bit earlier than we could hear the
real voice because sound takes longer to reach the ear ordinarily
through space than by electrical waves. The real nightingale
sounded like an echo of the broadcast one. Thus the 'radio voice'
creates a strong feeling of immediate presence. It may make the
radio event appear even more present than the live event"41
- eine Form von Hyperpräsenz, worin der Begriff der live-Sendung
am Ende metonymisch vom Real- zum Radioereignis selbst
übergegangen ist. Es handelt sich hier um eine Form von
Hyperpräsenz, worin der Begriff der live-Sendung am Ende
metonymisch vom Radio- zum Realereignis selbst übergegangen ist.
Der elektrotechnisch tatsächliche live-Zeitcharakter solcher
Übertragung korreliert mit dem veritablen Wahrnehmungseindruck von
Echtzeit.
40 Stefan Rieger, Kybernetische Anthropologie, 183, über: Jakob
von Uexküll, Theoretische Biologie [1928]
41 Theodor W. Adorno, Current of Music. Elements of a Radio Theory
[1940], hg. v. Robert Hullot-Kentor, Frankfurt/M. (Suhrkamp)
2006, Kapitel V "Time - Radio and Phonograph", 120-128 (120)
Benjamins "Jetzt-Zeit"
"Nach Deleuze und Guattari stellt der Affekt das 'Anders-Werden
des Menschen' dar, das als eine Loslösung von dem, was den
kulturell" - und kulturhistorisch - "normierten Menschen in seinem
Menschsein determiniert und begrenzt, verstanden werden kann."42
Das heißt auch Ausbruch aus der historischen Zeit (die von
Menschen gemachte kulturelle Zeit, so Giambattista Vicos
Definition in der Scienzia nova).
"Nicholas Gane weist auf die Differenzen von Kittlers und Hayles'
posthumanem Denken hin. Während Kittler den Menschen vollsätndig
in technische Funktionen auflösen will, betont Hayles dass
Menschen eine Form der Verkörperiung (embodiment) haben, die
Maschinen nicht zugänglich ist."43
Was, wenn die Differenz von symbolischen Operationen und
technischer Implementierung aufgehoben wird - wie schon im
Analogcomputer, nun im biologischen Körper?
<begin cKITZEIT>
Walter Benjamin definiert in Kapitel XIV seiner Thesen Über den
Begriff der Geschichte eine mit Jetztzeit aufgeladenen
Vergangenheit, die in kritischen, gespannten Momenten der
Gegenwart aufblitzt. Und weiter:
"Der historische Index der Bilder sagt nämlich nicht nur, daß sie
einer bestimmten Zeit angehören, er sagt vor allem daß sie erst in
einer bestimmten Zeit zur Lesbarkeit kommen. <...> Bild ist
dasjenige, worin das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer
Konstellation zusammentritt. <...> während die Beziehung der
Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitlich ist, ist die des
Gewesenen zum Jetzt eine dialektische <...>."44
Geschichtsbewußtsein meint "nicht die homogene und leere Zeit
sondern die von Jetztzeit erfüllte [...]. So war für Robespierre
das antike Rom eine mit Jetztzeit geladene Vergangenheit, die er
aus dem Kontinuum der Geschichte heraussprengte."45
Medienarchäologie hat - frei nach Benjmain - "die Witterung für
42 Meier 2013: 64, unter Bezug auf: Deleuze / Guattari, Was ist
Philosophie?, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996, 204
43 Gane, Radical Post-humanism, 37f, zitiert nach: Niebisch 2011:
182 Anm. 61
44 In: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf
Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, 7 Bde., Frankfurt/M.
(Suhrkamp) 1972-1989, Bd. V, 577f
45 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Erzählen.
Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, These XIV, 137
das Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt. Sie
ist der Tigersprung ins Vergangene"46 - rekursiv,
gleichursprünglich, resonant.
So gilt auch für die buchstäblich neue Zeitrechnung in der
Französischen Revolution: "Der Tag, mit dem ein Kalender einsetzt,
fungiert als ein historischer Zeitraffer"47 - Kino, fast forward.
"Die Kalender zählen die Zeit also nicht wie Uhren"48, sondern in
Zyklen und Intervallen. Diese eigenzeitliche Praxis ist nun von
der emphatischen Geschichtszeit in die Mikrofunktionalität
algorithmengetriebener Computer verschoben. Hier gibt eine clock
zwar noch die periodischen Schwingungen vor, doch nur, um in
komplexe Zyklen aufgelöst zu werden, eine delikate Orchestraktion
synchroner und asynchoner Datenprozessierung. Die einstmals
"vulgäre" Uhrzeit (Martin Heidegger) ist in ihrer technomathematischen Eskalation zu einer neuen Zeitqualität
umgeschlagen; der symbolische Takt der gleichförmigen Zeit-Ordnung
(basierend auf der Hemmung im Uhrwerk) transformiert zum Realen
multipler temporaler Artikulation.
Wenn Walter Benjamin in These V "das wahre Bild der Vergangenheit"
zu fassen sucht, beschreibt er tatsächlich die Natur des
elektronischen Signals: sein im Geschehen schon vorübergehendes
Existential: "Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im
Augenblick seiner Erkenntbakreit eben aufblitzt, ist die
Vergangenheit festzuhalten"49 - live-Fernsehen. "Denn es ist das
unwiederbringliche Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart
zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint
erkannte."50 Mithin ist dieses Zeitmoment sonischer Natur im Sinne
von Hegels Ton-Definition. Ist nicht schon "in Stimmen, denen wir
unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten?", fragt Benjamin
weiter.51 Dies ist ein Retro-Effekt der zeitversetzten Stimme, eine
phonographische Halluzination - ganz im Sinne von Babbages Nineth
Bridgewarter Treatise. Der Mediävist Ernst H. Kantorowicz
erinnerte in seiner Frankfurter Wiederantrittsrede vom
Wintersemester 1933/34 an die Unterweltspassagen in Homers Odyssee,
Buch VI der Aeneis Vergils sowie die Divina Comedia von Dante:
"dass nur unter besonderen Umständen den Seltenen die Schatten oft
nur unwillig Rede und Antwort standen."52 Diese Schatten sind nun
46
47
48
49
50
51
52
Benjamin 2007: 137
Benjamin 207: 137 (These XV)
Benjamin 2007: 137
Benjamin 2007: 131
Benjamin 2007: 137
Benjamin 2007: 129
Dazu W. E., Das "Geheime Deutschland" als Dementi des "Dritten
Reichs": Ernst Kantorowicz 1933, in: Jerzy Strzelczyk (Hg.),
Ernst H. Kantorowicz (1895-1963). Soziales Milieu und
wissenschaftliche Relevanz. Vorträge des Symposiums am Institut
für Geschichte der Adam-Mickiewicz-Universität Poznán, 23.-24.
November 1995, Poznán (Instytut Historii UAM) 1996, 155-164
phonographischer Natur: Schallrillen.
"Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie
auf die Erlösung verwiesen wird."53 Was jedoch die
medienarchäologische Forschung vom religiösen Messianismus oder
von romantischen Erlösungsphantasien unterscheidet, ist der
epistemologische Erkenntniswillen.
[Von Hall als Verstärkung der Gegenwart zum Echo als Ansatz einer
Vergangenheit]
<siehe § "Was sind, was waren Medien? Richard Wagner antwortet",
in: MEDARCH-WIEN. Fallstudie: "Hagen, was tust Du / was tatest
Du"?>
"Nicht das Erlebte wird nachträglich umgearbeitet, sondern
selektiv das, was in dem Augenblick, in dem es erlebt worden ist,
nicht vollständig in einen Bedeutungszusammenhang integriert
werden konnte."54
Jedoch interessiert aus medienarchäologischer Sicht (welche nicht
die des Historikers ist) weniger die ethisch unsagbare
Betroffenheit (Shoah-Diskurs), sondern das "Zeitreal", das aus
Holocaust-Mediengedächtnis aufblitzt - denn es können
Erkenntnisfunken aus diesen medienzeitlichen Affekten geschlagen
werden. Von daher meine Forschungsthese: Anhand der HolocaustGedächtnisforschung wurde in zugespitzter Form deutlich, wie der
Temporaleinfluß technischer Medien auf menschliche Wahrnehmung
eskaliert. Was in diesen konkreten Studien gründet, soll auf seine
Verallgemeinerbarkeit hin untersucht werden, sprich: sind dies
spezifische, an das Ereignis des Holocaust gebundene Symptome,
oder medienzeitliche Affekte überhaupt? Und brisanter: enthumanisiert diese Medientechnik das Holocaust-Gedächtnis?
Exkurs: Der zeitkritische Moment, gelesen mit Lessing (Laokoon)
<begin cZEITKRITREAL>
Laut Lessings 1766er Schrift Laokoon ist die Sinnestäuschung ein
Hauptzweck der Kunst. Dissmulatio artis ist die Figur
medientechnischer Rhetorik schlechthin. Vor allem die Poesie
operiert hier (mit "willkürlichen" anstatt "natürlichen" Zeichen
respektive Symbolen) als Täuschung der Wahrnehmung auf der Ebene
zeitkritischer Signalverarbeitung, also eher aisthetisch denn
ästhetisch:
53 Benjamin 2007: 129
54 J. Laplanche / J.-P. Pontialis, Das Vokabular der
Psychoanalyse, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1999, 313-317 (314)
"Er <sc. der Poet> will die Ideen, die er in uns erwecket, so
lebhaft machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren
sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und
in diesem Augenblicke der Täuschung uns der Mittel, die er dazu
anwendet, seiner Worte, bewußt zu sein aufhören."55
Gemälde und Skulpturen sind weder zeitkritisch an sich noch
technische "Medien"; in einem anderen Sinne vermögen sie - sofern
ein narratives Element, ein "prägnanter Moment" (Lessing) in ihnen
angelegt ist - in der menschlichen Wahrnehmung den Eindruck einer
temporalen Lücke zu evozieren, ein Dt, welches von der Imagination
des (ebenso narrativ informierten) Betrachteres eine Protention
auslöst und unwillkürlich auszufüllen bleibt. In diesem
buchstäblichen Augenblick kommt ein "Zeitreal" zum Zug, das wie
die von Norbert Wiener beschriebenen Zeitreihen in der Flugabwehr
durch harmonische Analyse errechnet wird.
In der Kopplung von Wahrnehmung an elektronische Medien ist dies
die von Herta Sturm definierte "fehlende Halbsekunde"56 - das
mikro-temporale momentum.57
Lessing trennt die Künste nach ihrer Materialität (Plastik versus
Poesie, Körper versus Symbole). In plastischer Verstofflichung
würde der von Vergil beschriebene Schrei des Laokoon schlicht
"häßlich" wirken;
vgl. elektrische Spannung, angelegt an Patientengesicht durch
Duchenne, u. a. zur experimentellen Nachstellung des
physiognomnischen Realitätsgehalts im Plastik-Ausdruck des Laokoon;
daneben "korrigierte" Version desselben Kopfes mit dem
elektrischen Funken / Stromstoß - jenen Momenten des Realen - aber
ist die Umschaltung von der Makrophysik zur Mikroelektronik (die
"virtuellen Welten" im Computer) gegeben.
Lessing sieht die Darstellung des jeweiligen "prägnanten Moments"
für die Werke der Bildenden Kunst angemessen: Nicht also die
Darstellung eines gefrorenen Zeitpunkts, sondern die Andeutung
einer in der Imagination zu komplettierenden Zeitfolge, also eine
Art temporaler Vektor, eine winzige Zeitmaschine in Kombination
aus realer Plastik und Verzeitlichung durch den Betrachter (den
55 Gotthold Ephraim Lessing, Laokoon oder über die Grenzen der
Malerei und Poesie, Stuttgart (Reclam) 1987, § XVII, 122
56 Hertha Sturm, Wahrnehmung und Fernsehen: Die fehlende
Halbsekunde. Plädoyer für eine zuschauerfreundliche
Mediendramaturgie, in: Media Perspektiven 1/1984, 58-65. Dazu
Marie-Luise Angerer, Vom Lauf der "halben Sekunde", in:
kunsttexte.de 1/2011
57 Siehe auch: Bernhard Siegert, Das Leben zählt nicht. Natur- und
Geisteswissenschaften bei Dilthey aus mediengschichtlicher Sicht,
in: Claus Pias (Hg.), Medien. Dreizehn Vorträge zur Medienkultur,
Weimar 1999, 161-182
nächsten Moment imaginierend, also eine Bewegung
supplementierend). Das Transitorische (Lessings Begriff) ist der
Moment, der über sich hinausweist.
"[...] alle
auch in der
ihrer Dauer
Jede dieser
die Wirkung
114>
Körper existieren nicht allein in dem Raume, sondern
Zeit. Sie dauern fort, und können in jedem Augenblicke
anders erscheinen, und in anderen Verbindungen stehen.
augenblicklichen Erscheinungen und Verbindungen ist
einer vorhergehenden <Lessing 1766/1987, Kap. XVI =
- also Markov-Wahrscheinlichkeiten bzw. der kinematographische
Bewegungseindruck,
"und kann die Ursache einer folgenden, und sonach gleichsam das
Zentrum einer Handlung sein." <Lessing ebd.>
Zeitkritische Prozesse sind Lessings Schlußfolgerung zufolge
mikrodramatischer Natur. Sie sind dabei nicht beschränkt auf
Nacheinanderfolge, sondern auch zeitliche Verschränkungen, Pround Retentionen:
"Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen
einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß daher den
prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende
am begreiflichsten wird" <ebd., 115>.
<end cZEITKRITREAL>
Diskretes Sampling kontinuierlicher Gegenwart
"Qu´est-ce au juste que le présent?", fragt Henri Bergson, und
bemüht eine mathematische Analogie:
"S´il s´agit de l´instant actuel - je veux dire d´un instant
mathématique qui serait au temps ce que le point mathématique est
à la ligne, - il est clair qu´un pareil instant est une pure
abstraction, une vue de l´esprit; il ne saurait avoir d´existence
reelle. Jamais avec des pareils instants vous ne feriez du temps,
pas plus qu´avec des points mathématiques vous ne composeriez une
ligne.58
[Doch erst die philosphisch-mathematische Analyse führt zu
symbolverarbeitender Synthese als Bedingung von Medienkultur.]
<Variation cARCHIVE2>
58 Henri Bergson, La Perception du Changement [zwei Vorträge an
der Universität Oxford, Mai 1911], in: ders., Mélanges, Paris
(Presses universitaires de France) 1972, 888-914 (908)
Die Regeln der Konversion kontinuierlicher Wirklichkeiten in
diskrete Aufschreibesysteme sind im Verhältnis von gegenwärtigem
Geschehen und Administration respektive Archiv als Regelsystem
seit der mittelalterlichen Annalistik vertraut. Die
Vernachrichtlichung der Gegenwart entspricht grundsätzlich vorweg
schon der Struktur ihrer Archivierung.
Genau hier aber kommt nachrichtentechnisch das Nyquist-Shannonsche
Abtasttheorem ins Spiel: kleinste Zeitmomente, schwingende
Prozesse, Perioden, können diskret in Punkten diskontinuierlich
abgetastet und quasi-kontinuierlich als Schwingungen (also ZeitLinien) wieder abgebildet werden - aber warum? Weil auch SinusSchwingungen möglicherweise gar nicht stetig sind, sondern nur
operative Differentiale? Oder weil Abtastung wie Synthese wiederum
immer nur in der Zeit stattfinden können, weil jede Operation
zeitlich ist (demgegenüber steht die Provokation der
Quantenrechner: die gleichzeitige Rechnung sich überlagernder
Operationen), also natürlicherweise schon wieder Zeit
unterstellt / liefert? Kleinste Interferenzen: "Deux points
mathématiques, qui se topuchent, se confondent. Mais laissons de
côté ces subtilités" <ebd.> - hier aber bleibt Zeitkritik am Ball,
computeroperativ, die Grenze Bergsons.
<"Sampling" im diskursiven und/oder technischen Sinn; konvergiert
jedoch, wird dann urheberrehtlich relevant>
DAS TEMPOR(E)ALE IM PHOTOGRAPHISCHEN UND KINEMATOGRAPHISCHEN
APPARAT
Der photographische Schnappschuß und die Rückkehr der Aura als
Zeitmoment
Im photographische Schnappschuß wird der Zeitmoment selbst zur
TempAuralität im Sinne Walter Benjamins:
"An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirsgzug am Horizont
oder einem Zweige folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter
wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer
Erscheinung hat - das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges
atmen."59
["Das Glück des gelungenen Augenblicks oder eines überraschenden
Moments sei, so Benjamin, im Umgang mit Bildwerken nahezu
unmöglich geworden" <Ullrich 2013>; der von Lessing 1766
definierte "prägnante Moment" entfällt.]
"Bis heute steht die Polaroid-Ästhetik für die Beschleunigung von
59 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.,
Medienästhetische Schriften, Frankfurt/M. 2002, 309
Bildern und eignet sich daher als Vorbild gerade auch für die
digitale Bildkultur. Kein Wunder also, dass künstlich erzeugte
Polaroid-Effekte bei Smartphone-Nutzern besonders beliebt sind.
Wer einer Foto per Klick einen solchen Effekt verpasst,
unterstreicht damit seine Freude an einer hohen
Bildgeschwindigkeit – oder will die Empfänger der Foto daran
erinnern, dass ihnen das Glück schneller Teilhabe widerfährt."
<Ullrich 2013>
"Sind die Bilder erst einmal angekommen, und haben sie beim
Empfänger einen Moment der Freude über das Live-Dabeisein
ausgelöst, werden sie üblicherweise sogleich wieder belanglos, oft
nicht einmal gespeichert, sondern bei nächster Gelegenheit
gelöscht. Ihr Charakter ist dem eines Feuerwerks vergleichbar:
Eine zuerst noch überwältigend starke Kraft verglüht im Nu, ihre
Halbwertszeit ist äusserst gering. Dafür fungieren sie als Symbole
für eine Überwindung von Raum- und Zeitgrenzen" <Ullrich 2013>
"Für den, der eine Foto geschickt bekommt, ist wichtiger und
emotionaler als das, was er sieht, die Tatsache, ohne relevante
Zeitverzögerung mitzubekommen, was anderswo gerade geschieht. Und
es geht darum, wer einen daran teilhaben lässt. Nicht das Bild an
sich hat Bedeutung, sondern es zählt, wann, wo und wie es gesehen
werden kann. In einem klassischen Sinn gut gemacht brauchen die
Bilder also nicht zu sein; sie leben vor allem von ihrer
Aktualität. Manche Flüchtigkeit – ein verrutschter Bildausschnitt,
eine Unschärfe, grelles Gegenlicht – wird dann sogar vom Manko zum
Wert [...]."60
"'Live' ist kein Privileg des Fernsehens mehr, vielmehr verfügt
fast jeder Amateur inzwischen über die Möglichkeiten maximaler
Bildmobilität. Damit aber verändert sich der Charakter vieler
Bilder [...]. Statt auf Komposition oder Originalität zu achten,
geht es darum, das Live-Ereignis oder einen besonderen Moment
einzufangen und ein Flair von Spontaneität, Ausgelassenheit,
Sensation rüberzubringen."61
"Gleich in doppeltem Sinne stimmt damit nicht mehr, was lange Zeit
als das Besondere der Fotografie galt. Wenn Roland Barthes an
einem Foto vor allem gefiel, dass es ein «Es-ist-so-Gewesen»
verkörpere, also einen Moment der Vergangenheit als reale Spur
präsent mache, so geht es bei den meisten Bildern, die mit
Smartphones oder digitalen Kameras sowie den
Bildmanipulationsprogrammen entstehen, mittlerweile weder um
Vergegenwärtigung von Gewesenem noch um die Beglaubigung einer
Wahrheit. Gerade was vergangen anmutet, ist blosse Konstruktion
60 Ullrich 2013
61 Wolfgang Ullrich, Instant-Glück mit Instagram. Die Rückkehr der
Aura in der Handy-Fotografie, in: Neue Bücher Zeitung v. 10.
Juni 2013: www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/instantglueck-mit-instagram-1.18096066; Zugriff 15. Mai 2014
und als solche auch bewusst. Real hingegen ist höchstens noch die
Gegenwart der Bilder, ihr Live-Charakter. Ihre Botschaft ist dann
ein «Es-ist-gerade-So». Häufiger und aus der Sicht des
Bildproduzenten ist die Botschaft aber sogar in ein spielerischunverbindliches «Das-mache-ich-Gerade» oder «So-geht-es-mirGerade» verwandelt worden." <Ullrich 2013>
Kinematographie und das "Untote"
Archiving the present resultiert im Untoten. "Die Frage, wo das
Leben endet und der Tod beginn"; "seit dem 19. Jahrhundert gerät
das Lebendige gerade auch in seinen Randzonen und seinen
Überschneidungen mit dem Leblosen in den Blick" (medizinischer
Scheintod etwa). "Formen uneindeutiger Lebendigkeit" - Techniken
der Animation, lebendige Bilder / Wachsfiguren, präparierte Tiere.
"Es geht nicht um Leben oder Tod, sondern um jene beunrhigende
Zone dazwischen, die Naturwissenschfatler ebenso beschäftigt hat
wie bildende Künstler, Präparatoren im Museum oder die Pioniere
des Films."62
Kinematographische Animation resultiert im Effekt, daß - obgleich
es sich "in technischer Tatsächlichkeit"63 um die Wiedergabe einer
Folge unbewegter, einzeln produzierter und anschließend
zusammengefügter Einzelbilder handelt - der Eindruck von Bewegung
entsteht. Dies gilt hinsichtlich aller visuellen Merkmale eines
Objektes (Position, Form, Farbe, Textur, Beleuchtung) und der
Position der (virtuellen) Kamera in Relation zur Zeit.
Der kinematographische Gegenwartsentzug
Das Aufzeichnungsverfahren beim Film ist fotomechanisch, in
der Videotechnik elektromagnetisch bzw. digital.64 Der ganze
Unterschied auf dem konkreten Niveau der technischen Existenz ist
der zwischen Gegenwartsfixierung und -signal.
Bergson zufolge ist Kinematographie nichts als ein Simulacrum
wirklicher Bewegungs-Dauer, denn was sich hier auf Zelluloid
buchstäblich abspult, sind eingefrorene, chrono-photographisch
62 Publisher's announcement (August 2013) of Peter Geimer (ed.),
UnTot. Existenzen zwischen Leben und Leblosigkeit, Berlin
(Kulturverlag Kadmos) 2013; among other authors: Bernhard
Siegert
63 Eine Formulierung des Master-Studierenden der
Medienwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin Kai-Uwe
Jakob
64 Siehe Holger Rada, Grundlagen der Medienkommunikation - Design
digitaler Medien, Tübingen 2002, 58f
serielle Momentanbilder. Analog dazu beschreibt Bergson die
menschliche Kognition:
Dies ist der rhetorisch-technische "Kunstgriff" (Bergson) des
Erkennens: "Statt uns dem inneren Wesen der Dinge hinzugeben,
stellen wir uns außerhalb ihrer, um dies Werden künstlich zu
rekonstruieren."65
"Von der vorübergleitenden Realität nehmen wir sozusagen
Momentaufnahmen auf und weil diese die Realität charakteristisch
zum Ausdruck bringen, so genügt es uns, sie längst eines
abstrakten, gleichförmigen, unsichtbaren, auf dem Grunde des
Erkenntnisapparats <sic> liegenden Werdens aufzureihen, um
nachzubilden, was das Charakteristische dieses Werdens selbst ist.
Wahrnehmung, intellektuelle Auffassung, Sprache, sie alle pflegen
so zu verfahren. [...] wir tun nichts weiteres, als einen inneren
Kinematographen in Tätigkeit zu setzen. Derart also, daß alles
vorhergehende sich in Worten zusammenfaßt: der Mechanismus unseres
gewöhnlichen Denkens ist kinematographischen Wesens."66
"Zur Erzeugung der Identifikationstäuschung oder des sogenannten
'stroboskopischen Effektes' ist aber neben der Ähnlichkeit auch
eine genügend schnelle Aufeinanderfolge der Bilder notwendig, so
daß sie dem Bewußtsein ein 'jetzt' (in der 'psychischen
Präsenzzeit') vorliegendes, zusammengehöriges Ganze etwa in
demselben Sinne sind, in welchem man dies von den sukzessiven
Teilen eines gesprochenen Wortes oder von den Tönen einer Melodie
sagen kann. Die Bewegung wird dann unmittelbar wahrgenommen
(ähnlich wie beispielsweise die des Sekundenzeigers einer Uhr) und
nicht (wie die des Stundenzeigers) auf Grund eines reproduktiven
Erinnerungsaktes erschlossen."67
Das "moving still"
Ein früher Film von Alain Resnais drückt es in nachdrücklicher
schwarz/weiß-Ästhetik aus: Les Statues meurent aussi. Gelegentlich
posiert an frequentierten historischen Stätten in Metropolen eine
goldbemalte "lebende Statue", ein tableau vivant. "Verwackelte
Gegenwart": Was menschliche Wahrnehmung nicht (auf-)lösen kann,
ist die affektiv-kognitive Dissonanz zwischen dem Eindruck des
unbewegt-Statuarischen und dem Wissen um den lebendigen Körper
darin.
Ist das Bedürfnis nach symbolisch-technischer Fixierung von
65 Henri Bergson, Schöpferische Entwicklung, Jena (Eugen
Dietrichs) 1912, 309
66 Bergson 1912: 309
67 Willy Merté, Die Grundlagen der Kinematographie, in:
Naturwissenschaften Bd. 7, Heft 25 (1919), 435-443 (436)
Ereignisfolgen ein anthropologisch immer schon angelegter, oder
ist er prä-historisch im Sinne der These Vilém Flussers (und von
Jaynes), daß erst mit der linearen Schrift ein linearer Zeitfluß
zu Bewußtsein kam?
Eine dauerhafte Darstellung seqentieller Abläufe findet sich auf
einer von Archäologen im Iran entdeckten Tonschüssel; auf der Wand
sind fünf unterschiedliche Einzelbilder einer Bezoar-Ziege
aufgebracht. Dreht man diese Schüssel mit dem Daumen in
angebrachter Geschwindigkeit, entsteht die Illusion eines
fortlaufenden Films - oder technisch genauer formuliert die
chronophotographische Erfassung eines Bewegungspräparats im Sinne
der Encyclopedia Cinematographie des einstigen Instituts für den
Wissenschaftlichen Film in Göttingen: eine Ziege, die in die Luft
springt, nach Blättern eines Baumes schnappt und schließlich
wieder auf ihren Hufen landet. Doch schon diese Drehung ist
buchstäblich anachronistisch und dysfunktional."68
Stellt diese animierte Bildsequenz den Beginn des Bewegtbildes in
der Mediengeschichte dar69?
Im Vorderasiatischen Museum zu Berlin befindet sich ein
Symbolsockel aus dem antiken Mesopotamien, datiert auf 1243–1207
v. Chr.; einer Museumspublikation zufolge stellt dies "wohl das
früheste Zeugnis für die Wiedergabe eines Bewegungsablaufs" dar.
"In der Tat sehen hier die zwei Bewegungsphasen des Königs sehr
wie die Muybridge-Bildserien aus. Eine Art Ur-Kino [...]".70 Dieses
Szenario ist nicht nur iterativ im Bildmotiv, sondern zugleich
rekursiv - ein algorithmischer Selbstaufruf, der die mächtigsten
Prozessoren des Digitalcomputers herausfordert.
Um 1868 ließ John Barnes Linnett das späterhin in deutscher
Sprache vertraute "Daumenkino" unter dem Namen „The Kineograph a
new optical Illusion“ patentieren - das animierte photographische
Standbild. Der englische Begriff flipbook sagt es: der
Bewegtbildeindruck hängt höchst technisch am Format des Buches (im
Sinne des Kodex, nicht der Papyrusrolle).
Der Begriff der einer apparatebezogenen "Archäologie" taucht
pikanterweise zunächst auf das Kino bezogen auf.71
<cMEDARCH>
68 Siehe Siehe http://www.youtube.com/watch?v=IpAFmuSehRg
(Frühjahr 2014)
69 See http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-56299145.html
http://m.spiegel.de/video/video1073489.html#spRedirectedFrom=www&referrer=http:roadmovie46.blog.d
e/2012/03/29/geburt-kinos-geiste-fruchtbarkeitsgoettin-13329723/
70 Eine elektronische Kommunikation des Doktoranden der
Medienwissenschaft Nikita Braguinski (Berlin), 19. Mai 2014
71 C. W. Ceram, Eine Archäologie des Kinos (1965)
Die medienarchäologische These zu Haiko Daxls Videoinstallation Le
Cinéma – Le Train, ausgestellt im Rahmen von Media-Scape, der
Biennale für Zeitbasierte Künste in Zareb (September / Oktober
2012) lautet: Zwei oder drei Generationen müssen zugge- und
erfahren sein, d. h. den Landschaftsblick aus dem fahrenden
Zugfenster erfahren haben, um auf die Wahrnehmung bewegter
Kinobilder von Leinwand vorbereitet zu sein, ohne vollständig
irritiert zu sein (wenngleich der Wahrnehmungsschock unbewußt am
Werk bleibt). Das Motiv des ersten Kinofilms der Gebrüder Lumiere
1995 war - in unerbittlicher Konsequenz dieses Arguments - der
einfahrende Zug in Bahnhof von St. Nazaire als Selbsteferenz des
zügigen Bewegtbilds.
[Verschränkt ist die temporale Adaption der kinetischen
Wahrnehmung aus dem Sichtfenster des fahrenden Vehikels (ob
Kraftwagen, ob Zugabteil) mit der Erfahrung der Verspätung von
Zügen. Hier manifestiert sich die Differenz des Begriffs von nonlinearem, kanalverschlingenden Transport (von A nach B) im
Unterschied zur Philosophie und Ästhetik des "Reisens", wo der
Übertragungskanal geradezu zelebriert wird.
Kluge Reiseplanung kalkuliert - wie die Fahrplaner der Deutschen
Bahn - sogenannte "Karenzzeiten" sowie Zeitpuffer mit ein. Das
Zugfahren ist eine Konrketion des zeitlichen Verzugs, der aus der
Signalübertragung vertrauten "Laufzeit", des dynamischen Dt.]
[Sind sonische Ereignisse unmittelbarer zur Invarianz sinnlicher
Wahrnehmung als symbolisch kodierte, visuelle seh- bzw. lesbare
Signale? Sind musikalische Tonfolgen weniger kulturhistorisch
relativ als etwa das perspektivische Bild, das zu sehen eines
kulturtechnischen Trainings in der Epoche des Buchdrucks bedurfte,
um schließlich zum gelingenden perspektivischen Dispositiv des
Kinos zu führen? Die Differenz liegt hier zwischen sonischem
Affekt und programmiertem Effekt (nach einer Anregung Jan-Claas
van Treecks72). Das akustische Reale läßt sich als immediates
Signalereignis weniger durch kulturelle Kodierung kontrollieren
als die optische Wahrnehmung. Doch was läßt eine heutige
Musikaufführung von Kompositionen vor Stevins Zwölftonunterteilung
als "historisch" erklingen - eine invariante Vertrautheit, oder
eine kulturhistorische Entfernung73? Die musikalische Komposition
ist bereits semantisch kodiert, also eine Funktion des jeweiligen
kulturellen Wissens, mithin also mit einem historischen Index
versehen. Die Herstellung von "presets" in elektronischen
Klangmaschinen zeigt heutzutge eine solche Kodierung an.
Demgegenüber sind gehörphysiologische, akustische Wahrnehmungen
weitgehend invariant gegenüber dem jeweiligen historischen
72 Vorlesung Irritationen der Gegenwart, Humboldt-Universität zu
Berlin, 9. Juli 2014
73 Ein kritischer Einwand von Johannes Maibaum (Berlin) unter
Bezug auf die sogenannte Historische Aufführungspraxis in
musikalischen Konzerten der Gegenwart.
Kontext, etwa die Konsonanz- und Dissonanzempfindung.74]
<cZEITWEISPOSTHISTGESAMT>
Walter Benjamin verwendet im Wissen um die Zeitgebundenheit von
Weltwahrnehmung als Funktion ihrer jeweiligen Technikkultur den
Medienbegriff nicht exklusiv für mechanische oder elektronische
Apparaturen, sondern in einem seit Aristoteles vertrauten
erweiterten aisthetischen Sinn:
"Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der
gesamten Daseinsweise des historischen Kollektivs auch ihre
Wahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Wahrnehmung
sich organisiert - das Medium in dem sie erfolgt - ist nicht nur
natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt."75
Diese (noch einem vortechnischen Medienbegriff eher im Sinne von
milieu verpflüchtete) Analyse verbleibt ausdrücklich noch
innerhalb des historischen Diskurses. Unter hochtechnischen
Verhältnissen aber gilt diese Einsicht zugespitzt; das technische
Archiv der Wahrnehmung ist nicht nur geschichtlich bedingt,
sondern begründend für ganz andere Formen des emphatischen
Zeitbegriffs.
Non-epochal: Filmische Ausklammerungen
<cZEITWEISPOSTHIST-AUSGEKLAMMERT>
Im Filmrestaurationsprojekt von Reynold Reynolds sind die Lücken
(aus) der Vergangenheit zugleich narrativer Gegenstand wie
materieller Ausgangspunkt bei der Rekonstruktion der
wiederaufgefundenen Filmmaterialien des 1932 begonnenen, aber
unvollendeten Films Die Verlorenen. Die Lücken sind hier
einerseits historischer Art (Resultat der Filmzensur in der
Weimarer Republik); andererseits geht Reynolds radikal von dem,
was geblieben ist, aus: "Geschichte" - oder gerade nicht - "ist
das, was uns heute bleibt: die materiale Gegebenheit und
technische Praxis. Materialität und Technik erzählen <oder gerade
nicht narrativ> uns die eigentliche Geschichte der 'Verlorenen'"76;
dieser Titel gerinnt somit zur Allegorie der "Brüchigkeit und
Zerrissenheit von Film" <ebd.> als solcher. Eine Form des
buchstäblichen Zäsur auf speichertechnischer Signifikantenebene
74 Zu dieser Frage siehe xxx Sethares, xxx
75 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), in: ders., Gesammelte
Schriften Bd. I, Teilband 2, 439
76 Monika Wutz, Die Verlorenen: Zur Materialität und Brüchigkeit
von Geschichte am Beispiel der Restaurierung und Rekonstruktion
eines verlorenen Films, in: Mario Doulis / Peter Ott (Hg.),
REMEDIATE - an den Rändern von Film, Netz und Archiv, München
(Fink) 2013, 45-63 (63)
ist der durch die Filmzensur bedingt "blutige Schnitt", das
Ausschneiden und Weglassen kritischer Szenen. Dies ist trauma als
materielle Wunde, veranlaßt von der symbolischen Ordnung der
Zensur. Im Restaurationsprojekt aber geht es ebenso "um das
Auslassen und Ausgrenzen gesellschaftlicher Breiche sowie um das
Entlassen jüdischer und ausländischer Filmschaffender."77
Eskalationen der Chronophotographie: "sample & hold" und das
"animated GIF"
1881 konstruierte der Physiologe Marey ein photographische Gewehr,
welches zwölf Bilder in der Sekunde mittels einer rotierenden
Scheibe und Belichtungszeiten von 1/500 Sekunden zu belichten
vermochte. Sein Chronograph von 1883 aber ist keine
(vor-)wegweisende Apparatur auf dem Weg zum Film, sondern eine
Diskretisierung des Moments zum Zweck von Bewegungsanalyse:
Mehrfachbelichtungen mittels Aufnahmeintervallen durch Schlitze in
einer mit Handkurbel angetriebenen rotierenden Verschlußscheibe.
Eine Resynthese zur zeitverkehrten Projektion war damit
impliziert, tatsächlich jedoch nicht intendiert. Und wieder öffnet
sich die Schere von technischer Chronologik und kulturellem
Mediengeschick.
Chronophotographie als zeitdiskrete, sequentielle Abtastung der
Gegenwart in kleinsten Intervallen ist analytisch, nicht
projektiv. Die Speicherung der Momentaufnahmen in einer Frequenz
unterhalb des psycho-neuralen Gegenwartsmoments von ca. 3 Sekunden
auf photoempfindlichem Papier respektive Zelluloid dient damit der
instantanen Registrierung. Um an dieser Stelle nicht der
Suggestions des Achivbegriffs zu verfallen: Solch eine
unverzügliche Speicherung ist nicht "archivisch" (denn dies meint
eine administrative und / oder logische Struktur), sondern
sampling im technischen Sinn.
<cSPEICHERTHEORIE>
Das Sample-and-Hold-Modul im Prozeß der Wandlung von analogen zu
digitalen signalen "ist im Prinzip ein analoger Speicher"78 mit
Spannungsein- und -ausgang, sowie dem Trigger-Anschluß für die
Kopplung an den Taktgeber (clock).
"Der Eingang ist über einen elektronischen Schalter an einen
Kondensator gelegt, der wiederum über eine Entkoppelungsstufe mit
dem Ausgang verbunden ist. Im Normalzustand unterbricht der
Schalter diesen Weg. Wenn am Trigger-Eingang ein Spannngsübergang
von 0 Volt nach +5 Volt stattfindet, dann wird ein sehr kurzer
Impuls ausgelöst, der ganz kurz den Schalter betätigt, so daß der
77 Wutz 2013: 45
78 Florian Anwander, Synthesizer, Bergkirchen (Presse Project
Verlags GmbH) 2000, 107
Kondensator auf den Spannungswert aufgeladen wird, der gerade in
diesem Moment am Spannungseingang anliegt. Da der Schalter die
Verbindung sofort wieder unterbricht, kann eine Spannungsänderung
am Eingang die Spannung am Kondensator nicht mehr verändern. Am
Ausgang liegt nun konstant die zum Zeitpunkt der Trigger-Flanke am
Eingang anliegende Spannung vor. Sie wird im Kondensator
gespeichert. Dem Eingangssignal wird also eine Probe (eng. Sample)
entnommen und diese am Ausgang bereitgehalten (eng. Hold)"79
- also eine zeitkritische Momentaufnahme.
Recht eigentlich ist diese Operation der zeitkritische Kern
digitaler Informationsverarbeitung. Für der Sprung zwischen
binären Schaltzuständen ("0" und "1") prägte Norbert Wiener den
Begriff der "time of non-reality". Auf kleinste Zeitmomente
gefaltet lautet der Turing-Test: "Gegenwart oder schon
Vergangenheit?" - die Tempor(e)alität des medientechnischen
Kommunikationsereignisses.
Das animierte GIF, laut Wired-Magazin, "lässt uns anhalten und
einem einzelnen Moment im Zeitfluss nachgrübeln".
Dieser Moment aber ist ein Dt, ein Intervall. Womit wir beim
Zenon-Paradox sind, welches Bergson in Die schöpferische
Entwicklung thematisiert: den fließenden Moment, der von diskreten
Meßsystemen (Uhrtakt, sample-and-hold) nicht faßbar ist. Hier wird
die Bergsonsche Zeitbewgung (als Dauer) tatsächlich "angehalten" ist aber kein Innehalten.
Google+ verschmilzt zudem eigenständig mehrere hochgeladene
Serienfotos automatisch zur Animation.
Dazwischen trat dann die live-Übertragung in Broadast-Medium, was
im buchstäblichen Sinn die kreisförmige Ausbreitung
elektromagnetischer Wellen von Sender zu Empfangsantenne bedeutet;
für eine Epoche lebten Zuschauer und Zuhörer tatächlich in der
fernübertragenen Gegenwart.
Doch in Zeiten digitaler Telekommunikation kehrt das
Speichermoment(um) zurück - diesmal aber nicht als permanenter
fixierter photographischer Speicher, sondern als flüchtiger Moment
der Zwischenspeicherung. Digital also sind wir nie in der
Gegenwart.
Jakob von Uexküll zieht die Chronophotographie als "Photographie
bewegter Objekte" in der Beobachtung biologischer der
kinematographischen Bewegungsillusion vor.80
79 Anwander ebd.
80 Jakob von Uexküll, Leitfaden in das Studium der experimentellen
Biologie der Wassertiere, Wiesbaden 1905, 78. Dazu Katja Kynast,
Kinematographie als Medium der Umweltforschung Jakob von
Exkurs zur technisch begründeten Differenz von emulativer
(funktionslogischer) "Wiederauferstehung" eines Computerprogramms
und kinematographischer (Re-)Animation
E. T. - The Extraterrestrial (1982) gilt als "[...] der
maßgebliche 'Sargnagel' der ersten Computerspiel-Welle, die von
Mitte der 1970er- bis Anfang der 1980er-Jahre andauerte und in
einer ökonomischen Katastrophe endete. Im Zuge dessen wurden
Spielhard- und -software wortwörtlich 'zu Grabe getragen' und
harrten bis vor kurzem (2014) ihrer archäologischen
Wiederentdeckung."81
Demgegenüber findet sich in der Stummfilmzeit als häufiges
Verfahren die double exposure des Negativfilms zum dramaturgischen
Zweck der "Geistererscheinung" - noch ganz in der Tradition des
frühen spiritistischen Photographie. Film - die Aufzeichnung
lebendiger Bewegung - zeigt immer nur Geister; im Unterschied zur
elektronischen live-Kameraübertagung wird hier keine aktuale
Gegenwart (the present), sondern eine Erscheinung (presence)
gezeigt. So tritt etwa in einem Film aus der Frühzeit des
skandinaschen Kinos, im Stummfild The Phantom Carriage von V.
Sjöström der verstorbene Ehemann, begleitet vom Sensenmann als
Allegorie des Todes, geisterhaft wieder in sein Wohnhaus und wird
dort Zeuge des Selbstmords seiner eigenen Frau. Verzweifelt wendet
er sich an den Sensenmann mit der Bitte, dies zu verhindern;
dieser aber antwortet in einer Art Selbstthematisierung des
Filmregisseurs (gleich Homers Sängerselbstreflektion im SirenenMotiv): "I have no power over the living." Tatsächlich erstaunte
am frühen Film gerade die Optin der kinematographischen
Wiederauferstehung oder Zeitumkehrung - die aber immer nur eine
symbolische oder imaginäre ist.
Kinematographie ist immer schon Animation, niemals tatsächliches
Lebens- als Bewegungsbild. Genau dafür kritisierte Henri Bergson
den Film: Er vermag die Illusion von lebendiger Bewegung zu
erzeugen, ist aber tatsächich ihr technisch-mathematischer
Wahrnehmungsbetrug. Genau hier liegt die Rivalität zum Theater,
von dem sich der frühe Film - argumentiert in Hugo Münsterbergs
The Photoplay - medienästhetisch erst emanzipieren mußte. Auf der
Theaterbühne nämlich agieren lebendige Wesen, während es im frühen
Stummfilmkino als tableau aesthetique mit seinen langen
Uexkülls, in: kunsttexte.de Nr. 4, 2010 (14 Seiten);
www.kunsttexte.de. Hier: Seite 4
81 Aus dem abstract des Vortrags von Stefan Höltgen zum Thema
"It's more fun to compute!" - Theoretische und operative
Begriffsbestimmung von "Computerarchäologie".am 9. Juli 2014 im
Kolloquium Medien, die wir meinen
Schweigepausen (das von Eivind Rossaak identifizierte Stilmerkmal82)
immer nur ("Medien"-)Schatten sind. Hier wird der "lebensnahe"
Effekt zum epistemologischen Skandal.
Darauf antwortet der existenzialistische Film, etwa Ingmar
Bergmann, worauf schon Walter Benjamin hinweist, als er betont,
daß der Film als "optisch Unbewußtes" Aspekte des Lebendigen
aufzuweisen vermag, die dem menschlichen Auge im mikroskopischen
und mikrochronischen Bereich entgehen.
<begin cMEDZEIT-AFFEKT-IRRITAT>
High-Speed-Kameras machen im Sinne von Walter Benjamins Begriff
des "optisch Unbewußten" durch Super-Zeitlupen Vorgänge sichtbar,
die dem menschlichen Auge verwehrt sind. Weiterhin werden durch
Kamerabildübertagungen aus unbemannten Drohnen Ereignisse aus
einem Blickwinkel sichtbar, in welchen ein menschliches Auge nie
hingelangt. Diese Entbergung eines neuen "Archivs" findet auch im
Zeitfeld statt: Mobile, an den Körper geheftete GoPro Kameras, mit
denen vor allem Extremsportarten durch eine gefilmt werden,
ermöglichen durch diese Einstellung eine authentischere Abbildung
der subjektiven Zeiterfahrung.
In der Tat tritt hiermit an die Stelle der klassischen
Distanzierung der äußeren Wirklichkeit vom wahrnehmenden Subjekt
durch die Kamera (Kracauer, Cavell) nun die unmittelbare, geradezu
proaktive Partizipation. Es handelt sich nicht mehr um liveÜbertragung, sondern um ein unmittelbares Beteiligtsein an
Gegenwart in actu.
Die technologische Natur des digitalen Kamerabilds im Unterschied
zum klassischen Zelluloidfilm resultiert hier in einer
spezifischen Form von archiving the present
Ein Gesicht vermag Unbewußtes auszudrücken (Bela Balasz). Im
extremen close-up kommt die Kameramöglichkeit des Films im
Unterschied zum Dispositiv des Theaters zu sich; er zoomt
sozusagen die Schauspieler an die Zuschauer selbst und vermag
damit non-narrative Neben- oder Unterhandlungen zu liefern,
diesseits der eigentlichen Story.
In einem frühen norwegischen Stummfilm aber bezaubert nicht nur
die Tänzerin Asta Nielsen, sondern auch das blitzhafte Aufscheinen
photochemischer Störungen in der Kopie; hier wird das entropische
Ereignis zum Zeit-Film. Daß aber überhaupt in solcher Klarheit
noch eine Szene frühester Kinematographie sichtbar ist, verdankt
sich der damaligen Zensur, die den erotischen Tanz aus der
öffentlichen Filmversion Breiens entfernen ließ und als eine Art
82 Eivind Rossaak, Nahe dem Leben? Der skandinavische Filmstil:
Tableau, Zeit und Struktur, Henrik-Steffens-Gastvorlesung an der
Humboldt-Universität zu Berlin, 8. Juli 2014
Zeitkapsel aufbewahrte und damit bis heute rettete - eine
Benjamineske Erlösung der speziellen Art. Paranoia erzeugt die
sichersten Archive.
VERZÖGERTE GEGENWART: DAS ELEKTRONISCHE BILD (VIDEO UND TV)
"Wir finden oft eine Nachricht durch fremde Störungen verfälscht,
die wir 'Rauschen' nennen. Wir betrachten dann das Problem der
Wiederherstellung der ursprüngichen nachricht - der Nachricht mit
einer bestimmten Phasenvoreilung oder einer bestimmten Verzögerung
<...>."83
Der kinematographische Bewegungseindruck entsteht zwischen den
Bildern, die für einen Bruchteil der Sekunde durch den Mechanismus
des Malteserkreuzes im Projektor tatsächlich stillgestellt sind.
Im elektronischen Bild aber wandert die Bewegung ins (Halb-)Bild
selbst, durch das es (für menschliche Wahrnehmung) erst seine
Kohärenz erhält. Als solches aber ist es zwar präsent, doch nie in
der Gegenwart. Zu keinem Zeitpunkt liegt das elektronische Bild
vollständig vor, sondern wird zeilenweise "geschrieben" (analog)
respektive in Koordinaten als Matrix re-generiert (digital).
Die heuristische Fiktion des "Bildpunkts"
Es begann mit einer medienarchäologischen Irritation: Seit den
frühesten Einführungen in die Technik des analogen Fernsehens
zieht sich der Begriff des Bildelelements und die Illustration der
Bildpunktmatrix hindurch, um die Abtastung und Übermittlung des
elektronischen Bildes zu illustrieren.
Was aus heutiger Rück-Sicht - in der Epoche tatsächlicher "Pixel"
- ganz selbstverständlich erscheint, verwechselt nachträglich eine
heuristische Fiktion mit dem tatsächlichen Bildsignal. Bilden zwar
die sukzessiven Zeilen von TV-Halbbildern mithin ein Raster, ist
der Weg des Kathodenstrahls entlang der Zeile indes strikt
kontinuierlich. Hell- und Dunkelwerte werden nicht wirklich
diskret, sondern in ihren Signalflanken geschrieben. Was schon im
filmischen Bewegungsbild ein Betrug der menschlichen Wahrnehmung
ist - die Erzeugung eines Bewegungseindrucks durch 24 radikal
diskrete Bildfolgen pro Sekunde, flimmerfrei werdend durch die
intermittierende Flügelscheibe84 -, erscheint im elektronischen
83 Norbert Wiener, Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung
in Lebewesen und Maschine, Düsseldorf/Wien (Econ) 1963, hier
Ausgabe 1992, 25-62 (Einführung), hier: 37 [Norbert Wiener,
Cybernetics, or Control and Communication in the animal and the
machine, M. I. T. 1948]
84 Siehe Laura Mulvey, Death 24x a Second. Stillness and the
Moving Image, London (Reaktion Books) 2006
Bild potenziert, wo jeder Kader nicht nur in 2 Halbbilder, sondern
diese wiederum in sukzessive Zeilen zerfallen. An die Stelle der
photographischen Momentaufnahme tritt die dynamische Zeit-Schrift.
So ist der Fernsehzuschauer nie in einer mathematischen Jetztzeit,
sondern (er-)lebt den fortwährenden Moment in seiner dynamischen
Immanenz: das differentielle "Im Nu" (altgriechisch nyn). Der
Bildpunkt ist flüchtig: kein Raumelement, sondern Zeitsignal.
Zwischenfilm und Speicherbildröhre
In der Frühzeit des elektronischen Fernsehens, als die Kameras
kaum Tageslichtaufnahmen zu übermitteln vermochten, erzwang das
Zwischenfilmverfahren eine verzögerte Gegenwart: Auf dem höchst
lichtempfindlichen Speichermedium Film wurde die Szene
aufgenommen, um nahezu unverzüglich von einer elektronischen
Kamera abgetastet und versendet zu werden - im frühen deutschen
Übertragungssystem während der Berliner Olympiade von 1936 ebenso
wie im transatlantischen Paramount Intermediate Film System.85
Present Continuous Past(s) (Dan Graham 1974)
In Videoinstallation wie Dan Grahams Present Continuous Past(s)
manifestiert sich die Phänomenologie einer verdichteten Zeit. Der
geschichtsphilosophisch emphatische Zeithorizont, der sich im
Horizont zwischen tiefer Vergangenheit und weitreichender Zukunft
aufspannt, schrumpft zu Grenzwerten des aktualen
Gegenwartsfensters. Im Gegenzug aber wird die Gegenwart
entaktualisiert; an die Stelle der Jetztzeit treten Verzögerung,
das instantane Archiv sowie die vorweggenommene Zukunft.
"Es ist nie einfach, den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem
unmittelbare Gegenwart auf die Zeitachse aufgereiht wird, die wir
Geschichte nennen. Dan Graham und andere Exponenten der frühen
videokunst haben diesen Übergang in den 70er Jahren mittels Delay
zwischen zwei bandmaschinen sozusagen mikrotemporal vorgeführt
<...>. Das Experiment anschaulich nachzustellen, ist nur mit den
Geärten möglich, die in dieser Zeit in Gebrauch waren."86
Eine vormals irritierte Gegenwart wird damit in einer doppelten
Zeitlichkeit zugleich zur Irritation der Wiederaufführbarkeit
technischer Werke der Medienkultur. Hinzu tritt der Einsatz
85 Dazu Philip Auslander, Liveness. Performance in a mediatized
culture, London / New York (Routledge) 1999, 14
86 Johannes Gfeller (Projektleiter AktiveArchive an der Hochschule
der Künste Bern), Der Referenzgerätepool von AktiveArchive an
der HKB. Eine Basis für die historisch informierte
Wiederaufführung von Medienkunst (abstract)
zeitkritischer Zwischenmedien auf der konkreten Signalebene: etwa
der Timebase-Corrector, der für die Bildstabilität von antiken
Videobändern sorgt, die auf entsprechenden Abspielapparaturen
wieder in den Medienzustand versetzt werden (woraus sich nicht die
museale Aus- als Stillstellung, sondern der Imperativ einerd
medientheoretisch notwendig prozessualen Aufführung ableitet).
Wenngleich der technische Vollzug (am typengleichen Videorecorder)
gleichursprünglich ist, wird im re-enactment die entropische
(nicht: historische) Differenz sichtbar. Im Variable Media-Ansatz
hat die Erhaltung des Signals Vorrang vor dem Primat des
technischen Originals; der kuratorische Schachzug liegt hier
darin, von vornherein von der Nichterhaltbarkeit des materiellen
Originals auszugehen. Der "historisch informierten
Wiederaufführung von Medienkunst" (Gefeller) steht die
medienarchäologich informierte Variante beiseite, in ihrem Fokus
auf Signalintegrität (denn das Videomagnetband ist kein Bild-,
sondern Signalträger).
"The meaning of 'live'" (Paddy Scannell) und "die fehlende
Halbsekunde" (Herta Sturm)
<cZEITKRITDELAY>
Schall breitet sich in Luft bei 20° Celsius mit 343 Metern/Sek.
vergleichsweise träge aus; demgegenüber war die Geschwindigkeit
von Licht seit jeher das ultimative Maß für Jetztzeit selbst. 1911
führt W. Stern den Begriff der Präsenzzeit für eben jenes
Intervall zwischen zwei Stimuli ein, innerhalb dessen noch ein
einheitlicher Impuls empfunden wird, nicht zwei disjunkte
Empfindungen.87 Die akustische Reizverarbeitung im Menschen vermag
Impulsfolgen unter etwa einer zehntel Sekunde kaum noch zu
unterscheiden; die sonische Hörschwelle vom Knacken zum Ton liegt
in diesem Bereich. Optische Reize werden hingegen schon ab etwa
0,04 Sekunden Dauer wahrgenommen88
- eine zeitkritische Täuschung der Wahrnehmung, Lessings
"prägnanter Moment" als Mikro-différance, die den Betrachter zur
aktiven Interpolation verleitet.89
87 W. Stern, Die differentielle Psychologie, Leipzig 1911; dazu der
Eintrag "Präsenzzeit" von Carlos Kölbl, in: Nicolas Pethes /
Jens Ruchatz (ed.), Gedächtnis und Erinnerung. Ein
interdisziplinäres Lexikon, Reinbek (rowohlts enzyklopädie)
2001, 455f
88 Ernst Pöppel, Grenzen des Bewußtseins. Wie kommen wir zur Zeit,
und wie entsteht Wirklichkeit?, Frankfurt (Insel Verlag) 2000,
35ff
89 Siehe auch Jimena Canales, A Tenth of a Second. A History,
Chicago/London 2009; dies.: Die Geschwindigkeit des Empfindens.
Philosophie im Zeitalter der Bewegungstechnologien, in: Bernhard
J. Dotzler / Henning Schmidgen (Hg.), Parasiten und Sirenen.
Das führt zur Verunsicherung in der Gewißtheit der klaren Trennung
von Gegenwart und Vergangenheit. Erstere ist nicht akut und
zugepitzt aktual, kein Jetztmoment, sondern immer schon auf
Zwischenspeicherung, mithin: Jetztvergangenheit angewiesen.
Umgekehrt für der online-Anschluß von Datenbanken zu einer
Immediatheit des Archivs, der es dem historischen Diskurs
entreißt. Niklas Luhmann (im Anschluß an Spencer Browns Diktum
"draw a distinction")
Je weniger kleinste Momente der Zeitverzögerung als Manipulation
reiner Gegenwart bemerkbar sind, desto wirksamer sind sie im Sinne
von Jacques Lacan: "Je mehr er nichts bedeutet, umso
unzerstörbarer ist der Signifikant."90
Kurz vor Mitternacht deutscher Zeit fiel am 13. Juli 2014 in den
letzten Minuten der Verlängerung des Endspiels um die FIFAFußballweltmeisterschaft in Rio de Janeiro das von einer
<"Signal-">Flanke vorbereitete Siegestor der deutschen Mannschaft
durch Mario Götze. Kleinste Momente der Zeitverzögerung im
Unterschied zum kairotischen, also günstigen Moment von
Rechtzeitigkeit kommen bei der Radio- und TV-Überragung solcher
Ereignisse ins Spiel - die Frage der digital gerechneten
"Echtzeit".
In phänomenologischer Hinsicht aber unterscheidet sich die
Publikumssituation im Rundfunk nicht von der in Theater und Kino:
"Wer den <sic> Fußballmatch abhört, tut es als erregter
Parteigänger, meint ihn als wirklich stattfindenden und weiß
nichts vom 'Als ob' der <Übertragungs->Kunst."91
Das klassische "Zeitgefälle" (Anders) zwischen Bilderzeugung und
Betrachtung fällt hier fort. TV-Bilder sind nicht einmal mehr
Momentaufnahmen, sondern Momentbilder. Gegenwart, so befragt
Anders den Begriff, schrumpft zur konkreten "Situation", zur
bloßten Anzeige formaler Simultaneität <Anders 1961: 131>.
So beschreibt Anders das Prinzip der elektromagnetischen Sendung;
dessen Medienbotschaft ist, "das nur oder beinahe nur
Gleichzueitige so zuzustellen, daß es als echte Gegenwart wirke"
Zwischenräume als Orte der materiellen Wissensproduktion,
Bielefeld (transcript) 2008, 83-106
90 Jacques Lacan, Der Signifikant als solcher bedeutet nichts, in:
ders., Die Psychosen. Das Seminar Buch III, hg. v. Jacques-Alain
Miller, Berlin (Quadriga) 1997, 217-231 (220)
91 Günther Anders, Die Welt als Phantom und Matrize.
Philosophische Betrachtungen über Rundfunk und Fernsehen, in:
ders., Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1961,
131
<ebd.>. Das TV-Bild ist ein "Zwischending zwischen Sein und
Schein" - also to metaxy im ontologischen Sinne, ein "Phantom"
<133>. Die Übertragung selbst ist hier die (Zeit-)Botschaft: das
scheinbare Verschwindung der Kanal-Distanz, das Gegenstück zur
Entarchivierung. Indem Gegenwart als "live" die Distanz
dissimuliert, entspricht diese scheinbare Gegenwart umgekehrt
proportional ihrer Direktarchiverung.92
„Live“ wurde als eine der ureigensten Eigenschaften des Fernsehens
verstanden, solange eine Speicherung der übertragenen Bilder nicht
möglich war. Dies änderte sich mit der Magnetbandaufzeichnungbis
Ende der fünfziger Jahre (AMPEX Videorekorder). Durch die
Möglichkeit der Nachbearbeitung ging der auratische, temporale
Affekt des Live-Charakters, den das Fernsehen seither gegenüber
den Erzählzeiten des Speichermediums Film auszeichnete, teilweise
verloren, um im Nachrichtenkanal CNN etwa im Zeitformat der
"breaking news" in zweiter Ordnung wieder einzukehren.
Im Begriff des Live-Fernsehens schwingen der Eindruck von
Zeitgleichheit, aber auch der Überbrückung räumlicher Entfernung
mit. Vor dem Hintergrund der Digitalisierung wird diese
Überbrückung konkret, im Unterlaufen von Zeitverzögerung durch
intelligente Kodierung.93
Zur Zeitstruktur der live-Übertragung der Terrorattacke New York,
11. September
11. September 2001: Private Videokameras übermitteln die ersten
Bilder von der Flugzeugattacke auf das World Trade Center in New
York. Der Autor weilte auf einem Dokumentarfilmsymposium in Riga,
als er plötzlich vor den Fernseher im Tagungsbüro gerufen wurden.
Welch ein Kontrast, nach all den Debatten über die Gefahren der
Globalisierung in der Dokumentarfilmästhetik durch die Übermacht
des Fernsehens, und alle Medientheorien wurden wahr. Von der CNNMattscheibe liefen stundenlang Bilder- und Nachrichtenstreaming in
Endlosschleife. Für Moment war der Eindruck traumatisch, und das
Warten auf ein kommendes Ereignis zeitigte die Ratlosigkeit im
Umgang mit aufgeschobener Zeit.
Was heißt es, wenn ein Dok-Filmfestival derart von der
92 Siehe auch Thorsten Lorenz, Das Zittern des Körpers. Medien als
Zeitmaschinen der Sinne, in: Gerhard Chr. Bukow / Johannes
Fromme / Benjamin Jörissen (Hg.), Raum, Zeit, Medienbildung.
Untersuchungen zu medialen Veränderungen unseres Verhältnisses
zu Raum und Zeit, Wiesbaden (Springer) 2012, 23-45
93 Siehe Bernhard Vief, Die Inflation der Igel. Versuch über die
Medien, in: Derrick de Kerckhove / Martina Leeker / Kerstin
Schmidt (Hg.), McLuhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien
und Kultur im 21. Jahrhundert, Berlin (transcript) 2008, 213-232
Wirklichkeit eingeholt wird? "Willkommen in der Wüste des Realen",
wird der Protanist Neo im Film The Matrix von Morpheus begrüßt,
als er unversehens aus der errechneten Weltillusion erwacht. "Zu
spät gekommen. Nur noch Ruinen."94
Zeit selbst fungiert als Kriterium des Realen im Moment der
Katastrophe; diese repräsentiert „that which cannot be contained
within <...> an ordering of temporality“95; gerade für das
Fernsehen ist sie damit das Gegenteil des Archivs.
Da war sie, die reine Signalästhetik des live-Fernsehens,
unredigiert, nicht von Programmen zerhackt, ein Moment des
Direktanschlusses an die Realität (und es kann immer nur ein Modus
des Anschlusses, nie das Miterleben von Wirklichkeit selbst sein,
deren Wesen Kurzschluß ist). "Die Breaking News im Fersehen
versuchen die Realität abzubilden - in einem Dokumentarfilm würde
die Realität hinterfragt werden."96
<cBOTV2>
In der Bilderflut, welche die Terroristenattacke auf das World
Trade Center in New York am 11. September 2001 auslöste, kam die
Iterabilität-ohne-Differenz, das Kennzeichen des elektronischen
Archivs, ins Spiel - mit Videoaufnahmen jubelnder Palästinenser
der Reuters Television Agency auf dem Nachrichtenkanal CNN, die
kurz darauf als re-play von 1991 im Internet desavouiert wurden.
Eine Verschleifung klassischer Zeitebenenen zwischen (a)live und
recorded on tape: "That is perhaps most uncanny when you hear a
program about someone who is dead, and that person´s voice is
broadcast and is as `real´ sensorially, as `present´, as those who
are speaking `today´ and who are alive."97
Die Gegenwart der (Medien-)Ereignisse am 11. September 2001
bildete eine "Heterochronie" im Sinne Foucaults:
1. Einschlag des ersten Flugzeugs in Turm A der Twin Towers in New
York. Mit der Einmaligkeit des Ereignisses korrespondiert die
(weitgehend unkommentierte) Direkt-live-Übertragung durch das
Fernsehen.
2. Einschlag des zweiten Flugszeugs in Turm B. Damit wird aus dem
signulären Ereignis die Iteration.
3. Die Struktur der Iteration spiegelt sich in der fortwährenden
TV-Ausstrahlung der Ereignisfolgen (Doppelschlag) als loops
94 Eintrag eines Amerikaners im Gästebuch von Edzell Castle,
Schottland
95 Doane 1990: 233
96 Julia Vismann, E-mail vom 22. September 2001
97 Samuel M. Weber, Mass Mediauras: Essays on Art, Technics and
Media, Publications of the Power Institute, Sydney, Stanford UP
1996, 160
"Pre Record Modus" und instant replay
<begin cMEDZEIT-AFFEKT-IRRITAT>
Der Pre Record Modus" harrt noch eines Wikipedia-Eintrags, hat
also noch nicht Eingang in den Diskurs der Medienkultur gefunden,
und findet sich bislang nur in Form von Bedienungsanleitungen,
also auf der medienarchäologischen Ebene technischer Schriften,
als latentes Medienwissen.
Mit diesem Modus können Photos nicht nur in dem Moment der
händischen Auslösung aufgenommen werden, sondern präemptiv, in
Form einer Aufnahme von bis zu 30 Photos pro Sekunde vorweg. Im
getakteten Sampling kann diese zeitgekapselte Gegenwart dann im
Pufferspeicher der digitalen Kamera zwischengespeichert werden,
noch bevor der Auslöser gedrückt wird.
"Bei schnellen und überraschend" - also im Sinne der
Nachrichtentheorie höchst informativ - "eintretenden Ereignissen,
ist diese Funktion ein Garant dafür dennoch den perfekten Moment
festzuhalten."98
Das Zeitmaß der Medienkultur ist nach 100 Jahren Kino noch die
kinematographische Bildwechselfrequenz: ein Indiz der NichtHistorisierbarkeit jenes scheinbar historischen Mediums.
"Das 25ste Foto entpricht dann dem Foto, welches im Auslösemoment
gemacht wurde. Sie haben also neben dem Foto des Auslösemoments
noch 24 weitere Fotos zur Auswahl, die vor dem Auslösemoment
entstanden."
Zeit(aus)schnitte durch Zeitversetzung (Dt): "Die ungeliebten
Werbeblöcke sind <...> spätestens seit der Erfindung des HarddiskRecorders für den Zuschauer kein Problem mehr. Durch diese
Technologie ist jeder in der Lage, einen Film bereits anzuschauen,
noch während man ihn aufeichnet. Die Aufnahme wird dabei zu Beginn
der Ausstrahlung gestartet und man setzt sich einfach etwa eine
Viertelstunde später vor den Fernseher, der immer dann 'vorspult',
sobald Werbung gesendet wird."99 Die Metaphorik ist hier noch die
analoge Zeit der Videobandmaschine (im Sinne der "Spuuule" in
Beckett's Drama Krapp's Last Tape); tatsächlich aber ist die
technische Bewegung bereits non-linear im Unterschied zum intakten
Bewußtsein des Zuschauers vom linearen Zeitfluß. "Die Werbeblöcke
werden einfach in Echtzeit übersprungen" <ebd.> - ein Begriff, der
98 http://de.exilim.eu/de/tips/prerecord; Abruf 2. Juni 2014
99 Falko Blask / Ariane Windhorst, Zeitmaschinen. Mythos und
Technologie eines Menschheitstraums, München (Atmosphären
Verlag) 2005, 101
auf die digitale Aufzeichnungspraxis verweist.
Zeitachsenmanipulation erfolgt ebenso durch die aus der analogen
Videorekordertechnik vetraute rewind function. In der privaten
Medienzeitaneignung führen neue Aufzeichnungs- und
Empfangstechnologien zu einer "transition from unidirectional time
flow (from present to future) to multidrectional time flow"100, auf
den technischen Punkt gebracht im start-over button.
Mit dem praktizierten Oxymoron des instant replay und der fast
unverzüglichen vielfachen Wiederholung und slow motion eines TVübertragenen Fußball-Torschusses wird ihm genau jene auratische
Einzigartigkeit genommen, die in der reinen live-Übertragung (etwa
die Radioreportage des Endspiels der Fußballweltmeisterschaft in
Bern 1954) angelegt ist.
"Fussballgucken funtioniert nur bei Liveübertagungen wirklich",
hieß es bereits im Oktober 2001 in einer Rezension zum Buch des
Aufmerksamkeitstrainers Matthias Pöhm Vergessen Sie alles über
Rhetorik (Landsberg am Lech: mvg-Verlag, 2001)."101
"Die fehlende Halbsekunde" der Unmittelbarkeit einer liveÜbertragung führt zur nervlichen Spannung, weil die
Signalverarbeitung durch das Hirn überbeansprucht ist. Deutlich
entspannender ist es, den Fernsehton abzuschalten und der liveÜbertragung im (noch-)Analogradio (FM) zu lauschen, die um einige
Sekunden schneller überträgt und damit auditiv (also in jenem
Organ, das zeitkritische Momente viel effektiver und sensibler zu
verarbeiten vermag als das Auge) schon ent-spannt, was das Auge
dann erst sieht.
ALGORITHISCHE ENTFESSELUNG DES ZEITREALS
Das (medientechnisch faßbare) Reale / Unbewußte
Die mediale Aufnahme einer Spurensicherung des UnwillkürlichRealen beginnt, vor allem Eye-Tracking, bereits mit der
Photographie als dem ersten Neuen Medium überhaupt: "Dies
Hundertstel oder Tausendstel einer Sekunde, das man zur Belichtung
braucht, fährt wie ein Blitz hinein in das Dickicht der Welt und
langt hervor was unausdenkbar ist: den Zufall."102 Tatsächlich ist
100 Mira Moshe, Media Time Squeezing: The Privatization of the
Media Time Sphere, in: Television & New Media 13(1), 2012, 68-86
(74)
101 Paraphe "miel", in: Die Zeit Nr. 42 vom 11. Oktober 201, S. 90
102 Dolf Sternberger, Über die Kunst der Fotografie, in: Wolfgang
Kemp, Theorie der Fotografie, Bd. II (1912-1945), München
(Schirmer/Mosel) 1979, 228-240
es das Optisch-Unbewusste,103 das sich durch die kurzen Klicks des
Belichtungsmechanismus aus dem dreisekündigen Wahrnehmungsfenster
des Menschen herauslöst104, "ungeahnte Details preisgibt und die
Zeit auf einer Ebene erfasst, auslöscht oder anhält, für welche
die menschliche Wahrnehmung zu langsam ist."105
"Wunds Psychologie "will vom medialen Realen eigentlich nichts
wissen"106 - wie es als Zeitreal in Form eines Tachistoskops in
Wunds Labor operativ war <226>.
Was alltglich Praxis im Umgang technischer Speicher-,
Verarbeitungs und Übertragungsmedien ist, geht nur scheinbar wie
selbstverständlich von der Hand. Vielmehr steht die Gegenvermutung
im Raum, daß ein regelrechter Schock des vertrauten
Gegenwartsbegriffs aus hochtechnischen, zeitkritischen
Verhältnissen resultiert, der im kulturellen Unbewußten längst
noch nicht verarbeitet ist - bis hin zur Infragestellung des
herkömmlichen Erzählt-, Subjekt- und Geschichtsdiskurses als
effektivsten literarischen Formen von Zeitbewältigung in der
Moderne.
Die Gegenwart in Echtzeit "muß sich gänzlich an ihn <sc. den
Augenblick> ausliefern und ohne Zeit zu ver/lieren sich ihm
erklären. Anders die Erzählung."107
<cPADERMETHPHONO>
Tatsächlich lassen sich Menschen auf der Ebene der
Präsenzwahrnehmung täuschen; Medien dissimulieren den Mechanismus
dieser Vergegenwärtigung zugunsten der reinen Empfindung und
zeitigen damit (zumal in Form von Signalwiedergabe im High
Fidelity-Bereich) technisch induzierte Hyperpräsenz. Nicht die
strukturale, zeitlose Logik der Zeichen ist hier am Werk (der
semiotische Begriff von An- und Abwesenheit); vielmehr operieren
103 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit, xxx, 36, sowie ders., Kleine Geschichte der
Photographie, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner
technischen Reproduzierbarkeit, xxx, 50
104 Zum menschlichen Wahrnehmungs- bzw. Gegenwarts- und
Integrationsfenster von 3 Sekunden Vgl. Pöppel, Ernst: Grenzen
des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, dtv,
Stuttgart 1987
105 Markus Müller, Das Wesen von Zeit in der Photographie im
Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit, schriftliche
Hausarbeit (Modulabschlußprüfung) im Magisterteilstudiengang
Medienwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin, Oktober
2009, 4
106 Annette Bitsch, Diskrete Gespenster. Die Genealogie des
Unbewussten aus der Medientheorie und Philosophie der Zeit,
Bielefeld (transcript) 2009, 225
107 Walter Benjamin, Der Erzähler, in: ders., Gesammelte
Schriften, Frankfurt/M. 1972ff, Bd. II.2, 439ff
analogtechnische Medien in indexikalischen Verhältnissen auf der
Signalebene selbst.
Jacques Lacans "medienarchäologisch orientierte Psychoanalyse"
ruft "stets die Unmöglichkeit einer Materialisierung und
Identifizierung des Realen, sei es implementiert in
Elektronenröhren oder korpsifiziert in menschlichem Sein, in
Ereinnerung und versäumt weiter niemals die Differenzen, die sich
zwischen einer digitalen Maschine und einem subjektiven Medium wie
dem Unbewussten auftun"108.
<cCYBERFRANK>
Lacan, der die Analoge von digitalen Schaltern und Denkoperationen
im Anschluß an Claude Shannon für die Psychoanalyse
weiterentwickelt hat, konzipiert das Unbewußte als eine Prozedur
des Realen in der Zeit, die gerade nicht neurobiologisch
verifizierbar ist.109
Das Re(medi)ale ist etwas Anderes als remediation im Sinne von
Bolter / Grusin. Das Reale ist für Lacan eine "unerfahrbare
Dassheit" (Bitsch 2008: 143) und kann nicht direkt kommuniziert
werden; es tritt vielmehr als mediales Reales in Erscheinung110 - im
Techno-Traumatischen. Real ist, was sich der symbolischen Ordnung
entzieht. Das Reale ist gerade im Entzug strukturbildend.111 Das
Momentum des Realen, wie es nach Lacan von der Realität
ausgeklammert bleibt, tritt in jenen traumatischen Momenten
hervor, in denen die Illusion der narrativisierbaren, symbolischen
Ordnung "zerbirst"112 - als Zeitreal. Meßapparaturen such diesen
Moment dennoch zu fassen. Die Sammlung Historischer Meßgeräte aus
dem ehemaligen Psychological Laboratory an der Harvard University
birgt u. a. einen "Sense-of-time apparatus", konstruiert von der
Firma E. Zimmermann, Leipzig (ca. 1890).
Die manipulative Macht seitens technischer Medien ist nicht
schlicht das Resultat diskursiver, außenseitiger Steuerung,
sondern gründet primär in den mikrotemporalen Bereich der
Sinnestäuschung. Die Analyse dessen, was hier prozessiert und
"entschieden" wird, resultiert notwendig in einer
Akzentverschiebung des Begriffs von Medienkritik, die den Anspruch
der Kritischen Theorie sowohl aktualisiert als auch
transzendiert.113
Genau hierin liegt die Macht der signalaufzeichnenden Medien, im
Unterschied zum buchstäblich symbolischen Regime des Archivs: Im
108Bitsch 2009: 422
109Siehe Lacan 1991 und Bitsch 2009
110 Bitsch 2008: 221
111Julia Meier, Die Tiefe der Oberfläche. David Lynch - Gilles
Deleuze - Francis Bacon, Berlin (Kulturverlag Kadmos) 2013, 23
112 Meier 2013: 24
113 Dazu die Dissertation von Christopher Lorenz, xxx
Moment des Abspiels (als Wiederaufruf magnetischer Latenz) wird
von menschlichen Sinnen Präsenz wahrgenommen.
Was heißt "Kommunikation unter Anwesenden" (Niklas Luhmann) in
Zeiten von Livestreams?
Am 2. Juli 2014 widmeten sich in der Akademie der Künste zu Berlin
eine Installation und ein Gespräch der "realen und digitalen
Präsenz": glDrawArrays(reality). Die online-Ankündigung (Kontakt:
BUREAU N cultural communications): "In der letzten <...>
Veranstaltungen des 'Vorbereitungsbüros' zum Programmschwerpunkt
'Schwindel der Wirklichkeit' <...> wird die analoge Gesprächsrunde
am Hanseatenweg digital – und damit global. Im digitalen Jetzt
bespielen und definieren zugeschaltete Gäste die erweiterte
Realität. Das auf Onlinemedien spezialisierte Berliner Design- und
Entwicklungsbüro Ape Unit nutzt dabei das experimentelle Aufnahmeund Inszenierungskonzept, das es für die Live-Streams der
wöchentlichen Gesprächsrunden entwickelt hat. Ape Unit
konfrontiert die Prinzipien der realen Präsenz mit jenen der
digitalen Präsenz"
- und hebt damit den vermeintlichen Gegensatz zwischen dem
temporalen Jetzt und der auratischen Erscheinung als "Gegenwart"
auf.
Zur vorangehenden Gesprächsrunde hieß es in der Ankündigung: "Die
Veranstaltung wird parallel im VIDEO LIVESTREAM auf
www.schwindelderwirklichkeit.de in Echtzeit ausgestrahlt."
Der Schwindel liegt hier in der Suggestion reiner Gegenwart dizzy present.
Die Echtzeitausstrahlung (im Unterschied zur klassischen "live"Sendung) macht das Thema, den thematischen Inhalt der
Gesprächsserie frei nach McLuhan zum eigentlichen Ereignis, zur
"Botschaft" des Mediums: Wir sind nicht mehr Souverän unserer
eigenen Gegenwart.
Zwischen(-)Speichern und Übertragen: Das Archiv in Bewegung (die
GoPro-Kamera)
Kleinste Momente der Zwischenspeicherung definieren das Wesen der
"digitalen" Gegenwart, im Unterschied zur "live" übertragenen
tele-medialen Gegenwart. Genau hierin wurzelt (medienarchäologisch
gesprochen) das traumatische Momentum der Irritationen von
Gegenwart.
Mobile, an den Körper geheftete Kameras, mit denen derzeit vor
allem Extremsportarten gefilmt werden, ermöglichen durch diese
Einstellung eine Abbildung radikal subjektiver Zeiterfahrung.
Diese mobile Digitalkamera resultiert - radikaler noch als die
einstige Befreiung vom schwerfälligen Fernsehübertragungsapparat
durch den transportablen Videorekorder (Nam June Paiks "Portapak")
als Beginn von Medienkunst - in einem Akzentwechsel von der
Speicherung zur Direktübertragung von Gegenwart; ganz im Sinne der
Diagnose von Eivind Rossaak gerät hier das Archiv in Bewegung.114
Die starre Kamera-Aufzeichnung des filmischen Apparats
(korrespondierend mit dem photographischen Standbild im Alltag)
weicht dem mobilen Sampling der Gegenwart - und zwar nicht
schlicht im ästhetisch-collagierenden, sondern aisthetischen Sinn.
Entscheidend wird hier die Frage nach der technischer BildwechselFrequenz in Kopplung an den menschlichen Visus. Medienarchäologie
verweist in diesem Zusammenhang an die Zuschauerreaktionen der
allererste Filmvorführung eines einfahrendes Zuges 1895; der
Wahrnehmungsaffekt war schockhaft und erinnert daran, wie die
menschliche Wahrnehmung immer erst allmählich auf den Stand der
medientechnischen Möglichkeiten trainiert wird. Eine drastisch
erhöhte Bildfrequenz ist für Spezialeffekte und dynamische Momente
im Actionfilm erforderlich, ansonsten aber
wahrnehmungsphysiologisch problematisch. Außerhalb von
Extremmomenten aber erweist sich das Produzentenversprechen einer
höheren Abtastrate geradezu als dysfunktional. Der Kinofilm Der
Hobbit - Eine unerwartete Reise, mit 48 frames per second gedreht,
wurde vom Publikum vielmehr als Irritation der
Gegenwartswahrnehmung empfunden. Die objektive Annäherung der
Abtastrate an kontinuierliche Bewegung im physikalischen Sinn (das
technische Äquivalent zur Differentialrechnung115) wird
dysfunktional zum Trägheitseffekt der Bildwahrnehmung durch die
menschliche Netzhaut,
<siehe MONITORANADIG>
parallel zur Diskussion um die Versprechen der HD-Technologie.
Technische Bilder, welche an Detailschärfe die Realität selbst
noch überbieten, "heizen" die Wahrnehmung (im Sinne McLuhans) auf
und resultieren in der Überanstrengung eines Sinneskanals.
Als 1975 Steve Sasson für Kodak die erste Digitalkamera auf s/wCCD-Sensorbasis mit einer Auflösung von 0,1 Megapixeln
präsentierte, vergingen bis zur Speicherung des Einzelbildes noch
23 Sekunden - auf der vom Homecomputerbereich (Commodore 64)
vertrauten Datasette, also ein "sonisches" Bild der Gegenwart.
Abb.: Digitalkamera auf Toncassettenbasis (1975)116
114 Eivind Rossaak (Hg.), The Archive in Motion, Oslo (Novus) 2010
115 Siehe xxx zu Hollerith-Karten als Kinematographie, in:
Festschrift 25 Jahre DeHoMAG, xxx
116 http://tech-kid.com/first-digital-camera-steve-sasson.html
High-Speed-Kameras mit ihren Möglichkeiten extremer Zeitlupen sind
nicht länger exklusive Praktiken kostspieliger wissenschaftlicher
Labore, sondern in den privaten Extrembewegungsbereich
eingedrungen. Walter Benjamin hat die "Dynamik der
Zehntelsekunden" als Aufsprengung der Enge bürgerlicher Welten und somit als Mikrorevolution ihrer Zeit- und Raumideologie gedeutet.117 Die aktuelle Mikrokameratechnik entfesselt das optische
Unbewußte endgültig:
<cPHOTARCHHU>
"Es ist ja eine andere Natur, welche zur Kamera als welche zum
Auge spricht; anders vor allem so, daß an die Stelle eines vom
Menschen mit Bewußtsein durchwirkten Raums ein unbewußt
durchwirkter tritt"118 - das (von Ernst Jünger so benannte) zweite
Bewußtsein, jenes Dritte der Medien, die zwischen Kultur und Natur
treten. Durch Zeitlupen, Vergrößerungen erschließt die
Photographie dem Menschen eine Welt, die er selbst nicht kannte;
"von diesem Optisch-Unbewußten erfährt er erst durch sie, wie von
dem Triebhaft-Unbewußten durch die Psychoanalyse"119 Damit lassen sich Vorgänge sichtbar machen, die dem menschlichen
Augensinn durch seine Physiologie (Trägheit des Nachbilds)
ansonsten unzugänglich sind. Diese Entbergung eines neuen
"Archivs" findet vor allem im Zeitfeld statt.
Die neue Form von Medientheater ist nicht mehr der ergänzende
Auftritt technischer Medien auf der Theaterbühne, sondern die
Kopplung des Menschen an das Medium selbst - die mediasphere. Es
handelt sich hier um eine dramatisch neuartige Form der Aufnahme
und Abbildung von Realtität, "die eine noch stärkere Immersion
ermöglicht"120.
In der Tat tritt an die Stelle der klassischen, von Kracauer
formulierten Distanzierung der äußeren Wirklichkeit vom
wahrnehmenden Subjekt durch die Kamera nun die unmittelbare,
geradezu proaktive Partizipation. Es handelt sich nicht mehr um
live-Übertragung, sondern um ein unmittelbares Beteiligtsein an
117 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen
Reproduzierbarkeit. Zweite Fassung [1936], in: Rolf Tiedemann /
Hermann Schweppenhäuser (Hg.), Walter Benjamin. Gesammelte
Schriften. Erster Band. Zweiter Teil, 3. Aufl. Frankfurt/M.
(Suhrkamp) 1999, 499 f.
118 Walter Benjamin, Kleine Geschichte der Photographie, in:
Gesammelte Schriften Bd. II/1, Frankfurt/M. [*1972], 2. Auf.
1989, 371. Dazu Michael Wetzel, Verweisungen. Der semiologische
Bruch im 19. Jahrhundert, in: Friedrich Kittler / Christoph
Tholen (Hg.), Arsenale der Seele, München (Fink) 19xxx, 71-95
(86ff)
119 Benjamin ebd.
120 E-mail Marieluise Külz, Ende März 2014
Gegenwart in actu.
Die technologische Natur des digitalen Kamerabilds im Unterschied
zum klassischen Zelluloidfilm resultiert hier in einer
spezifischen Form von archiving the present.
Theatralische Präsenz: Körper und Stimme
<begin cMEDTHEA>
Im Verhältnis von Theater und digitalen Medien bricht die
Nostalgie nach dem realen Körper auf der Bühne gegenüber seiner
Immaterialisierung wieder durch.121
"Trotz des scheinbaren Sieges der Computerfachmänner über die
Regisseure und der maschinellen Funktion über das ästhetische
Objekt kehrt plötzlich das Verdrängte des Körpers und der
menschlichen Präsenz, der Stimme und des Textes zurück [...]. Was
hervorschaut, ist der Körper des Schauspielers, der einen
Augenblick der Regelmäßigkeit der Maschine ausgesetzt war, der
Körper des Maschinisten, der begehrende Körper des Zuschauers. Der
Schauspieler ist immer für die Störung im Bild der Bühne
verantwortlich, sein unbeugsamer Fremdkörper setzt sich trotz des
aseptischen Dispositivs der Bühnenmaschinen, Videos oder Computer
durch, und so findet er einige seiner alten Möglichkeiten wieder:
Präsenz, Stimme, biologischer Rhythms, physische Leistung."122
Licklider zufolge ist in der Mensch-Machine-Symbiose ersterer das
"noisy, narrow-band device"123.
Hängt performative Ästhetik an der körperlichen Präsenz, im
Unterschied zur gegenwartsmächtigen Signalgebung operativer
Medien?124
"Das Theater-Ereignis ist <...> eine grundsätzlich andere Realität
als ein Medien-Ereignis. Seine Darstellungsstrukturen beruhen auf
anderen Zeit-'Maßen' als die der Medien mit ihren technisch
rasenden Geschwindigkeiten. Die gleichsam erdverhaftete
121Dazu der Beitrag Joachim Fiebach in: Martina Leeker (Hg.),
Maschinen, Medien, Performances. Theater an der Schnittstelle zu
digitalen Welten, Berlin (Alexander) 2001
122 Patrice Pavis, Die zeitgenössische Dramatik und die neuen
Medien, in: Früchtl / Zimmermann (Hg.) 2001: 240-259 (245)
123 Licklider, Human-Machine Symbiosis, xxx (1960)
124 Siehe Doris Kolesch, Ästhetik der Präsenz: Theater-Stimmen,
in: Josef Früchtl / Jörg Zimmermann (Hg.), Ästhetik der
Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und
gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2001, 260274
Körperlichkeit, die Tätigkeit im Theater bestimmt, schafft eine
wesentlich andere kommunikative Situation und vermittelt andere
Erfahrungen als Mediatisierung..125
<end cMEDTHEA>
Insistiert auch die Sängerstimme gegenüber technischer
Tonbearbeitung ? Die Transposition männlicher in weibliche Stimmen
in Echtzeit durch effektive, in zeitkritischem Assembler
programmierten Prozessoren (Kittler's Harmonizer) aber resultiert
im digitalen Morphing von Männer- und Frauenstimme für die
Filmstimme von Farinelli als Rekonstruktion einer Kastratenstimme
aus dem 18. Jahrhundert.126
"Time-Sharing"
<begin ModMEDZEIT-WS-2015>
<modCOMP-TIME-SHARING>
Als sich zur Kurztagung "Time After Time" – 50 Jahre Time-Sharing.
im hiesigen Medientheater am 3. Oktober 2015 Akademiker und
Praktiker zusammenfanden, um die ersten Momente von digitalem und
algorithmischem Time-Sharing zu diskutieren, war dies 1.) im
besten Sinne wissenschaftlicher Analyse. Zum Medientheater aber
wird es 2.), wenn Zeit nicht nur zwischen Menschen geteilt wird,
sondern auch zwischen Menschen und Computern. Dies war die
mediendramaturgische Situation des Tagungsthemas: Menschen und
Computer teilen nicht mehr die gemeinsame Gegenwart, sondern diese
wird in hintereinandergeschachtelte Intervalle geteilt.
Neben dieser performativen Zeit aber bestimmt heutzutage 3.) die
operative Zeit von Time-Sharing einer Gesellschaft, die nur aus
Computern besteht, unsere Lage.
In den Formen des World Wide Web ist die von Teilhard de Chardin
einst prognostizierte "Noosphäre", also eine den Globus umfassende
elektronische Denksphäre, netzwerktechnisch wie als Gebrauchsweise
längst zur Chronosphäre geworden. Diese Chronosphäre ist
"Historismus" im Sinne von Martin Heideggers Deutung der
Rundfunkmedien.
<modZEITKRITSIEGEN>
125 Joachim Fiebach, Kommunikation und Theater. Diskurse zur
Situation im 20. Jahrhundert, in: ders., Keine Hoffnung. Keine
Verzweiflung. Versuche um Theaterkunst und Theatralität, Berlin
(Vistas) 1998, 85-183 (167)
126 Dazu K. Ludwig Pfeiffer, Operngesang und Medientheorie, in:
Kolesch / Krämer (Hg.) 2006, 65-87 (66). Siehe ferner Roland
Barthes, Die Rauheit der Stimme, in: ders., xxx
Um die dynamische, zeitkritische Praxis von Time-Sharing und
Packet-Switching im Internet zu verstehen, versetzen wir uns
zunächst in eine buchstäblich medienarchäologische Situation:
unter Wasser, in ein U-Boot, an das Sonar-Gerät. Ein Sonar erzeugt
einen sonischen Impuls, oftmals "Ping" genannt, der durch
Hydrophone gesendet und seiner Reflexion wieder empfangen wird nur, um daraus Distanzen zu errechnen. <...> Es gibt also eine
handelnde Welt der petites perceptions, die nicht mehr für
Menschensinne stattfinden. Pseudo-Echtzeitlokalisierung von
Objekten im Warenkreislauf (etwa RFID) geschieht in der
Vektormatrix von Raum - Zeit - Frequenz - Kodierung.
Es war Alan Turing, der für die elektrotechnische Verkörperung
seiner symbolischen Maschine radikal definierte: "Treat time as
discrete", und für die von-Neumann-Architektur unserer
alltäglichen Computer gilt auch in Zeiten der sogenannten "postdigitalen" Medienkultur unerbittlich: "one bit at a time". Im
(nach Konrad Zuse benannten) rechnenden Raum regiert das
Zeitregime strikter Sequentialität in der Datenverarbeitung;
Antikollisionsverfahren sortieren Information zeitkritisch durch
ihre Einteilung in diskrete Zeitschlitze. Time slicing als
Eskalation von time-sharing (im Konzept Lickliders) ist längst
generelle Praxis in der Rechner- und Telekommunikation geworden,
bis in den Mobilfunk.
So öffnen und schließen sich unaufhörlich Zeitfenster für Ja/NeinEntscheidungen.
Gleichzeitig, zu diesem neuen Verständnis von Computernutzung
findet ein telekommunikationstechnischer Paradigmenwechsel von
„leitungsorientierten“ zu „paketvermittelten“ Konzepten statt
(Leiner 2000).
Warum nun der Blick zurück auf das, was vor 50 Jahren mit dem
Dartmouth-Time-Sharing-System in die Welt kam? "Retro" (das gilt
auch für das hier gastgebende Festival) ist im
medienarchäologischen Sinne nicht schlicht Nostalgie nach einer
noch haptisch erfahrbaren Rechnerwelt. Der Rückblick auf Urszenen
von Time-Sharing macht jene delikaten Rhythmen, die in heutigen
Netzwelten hochfrequent geschehen, wieder durchschaubau. Mag sich
die Rechengeschwindigkeit und Komplexität auch gesteigert haben,
was fortwährend gilt - und damit eben noch nicht "historisierbar"
ist - ist die Struktur dieser Zeitverwaltung. So sind wir
gleichzeitig in einem historischen und unhistorischen Verhältnis
zu jenen Jahren, derer wir heute gedenken."
<end Mod§ MEDZEIT-WS-2015>
Subliminal oder verschwiegen? High Frequency Trading an der Börse
Nach der Blitzhaftigkeit eines Börsencrash (schneller als
Echtzeit, aus menschlicher Gegenwartswahrnehmung) bleibt nur die
"historische" Analyse, sprich Nachträglichkeit:
<cBLITZTRANSFER>
"'Nehmen wir uns eine Woche Zeit und schauen wir, was wir
finden.'"
Das "Ausbremsen", die bewußte Verlangsamung, ist die Zeitfigur der
akademischen Analyse und gleichzeitig eine gegen-elektronische
Strategie.
Um einen Flash Crash an der Börse zu analysieren, wurde die Minute
untersucht, als der jähe Kurssturz begann. "In Sekunde 44 war die
Auftragsrate explodiert. Hunsader extrahierte die Sekunde und
tastete sich darin herum wie in einem Geisterhaus. Bei 75
Millisekunden fand er den Anfang. Ein Datensturm, der an die
Kapazitätsgrenze des Börsensystems ging."
Erst Aufzeichnung und re-play erlauben die besonnene Analyse - wie
schon Léon-Scott den Phonautograph dafür entwickelte, die
flüchtige phonetische Artikulation durch kymographische
Aufzeichnung der lesenden Analyse zugänglich zu machen. Beim
Vergleich des Datenstroms mit der Börsenberichterstattung im
Fernsehsender CNN fiel auf, dass die scheinbaren EchtzeitKursangaben, die über den Börseninformationsdienst liefen,
tatsächlich verzögert waren - was nur möglich ist, weil Echtzeit
gerechnete, gepufferte Gegenwart, nicht live-Signalübertragung ist
und damit time axis manipulation auf algorithmischer Basis
erlaubt.
Während die Experten den Dow Jones Index also noch im Fall sahen,
erholte dieser sich bereits wieder. "Wer in diesem Moment
verkaufte, verlor alles. Und der Käufer machte ein Vermögen.
Als Hunsader den Zeitlupenblick (also den zeitkritischen
Beobachtungsabstand) wieder vergrößerte, identifizierte er Muster,
die sich über Stunden, Tage oder Wochen wiederholten. "Hier
erteilten und löschten Maschinen in einer Sekunde zehntausendmal
dieselbe Order, oder sie erhöhten Gebote in Einserschritten von
einer einzigen Aktie auf 100 und gingen dann genauso wieder
zurück, abermals innerhalb von Millisekunden, wieder und wieder.
"Die Nanex-Software konnte diese Anomalien als Formen darstellen
<...>. Schnell bemerkten sie, dass diese Muster nicht nur den
Zweck hatten, das System zu manipulieren, sondern sich selbst
vertuschen
<time-critical, micro-temporal "camouflage" - Zeitlöcher>
und obendrein langsamere Algorithmen übertölpeln sollten. War der
Flash Crash absichtlich herbeigeführt worden, indem man die New
Yorker Börse mit Aufträgen „verstopfte“ und verlangsamte, damit
superschnelle Maschinen die so entstehenden flüchtigen
Kursdiskrepanzen zum Zuschlagen nutzen konnten?"
Der Begriff cache memory nennt in aller Direktheit das Wesen von
kurzfristiger Zwischenspeicherung.
<copy BLITZTRANSFER>
"Es begann damit, dass die NYSE einen „Hülse“ genannten Raum
baute, in dessen Mitte der „matching engine“ stand – ein zentraler
Server, der Daten sammelt und gegen eine Gebühr an Marktteilnehmer
weitergibt. Gegen eine höhere Gebühr jedoch konnten
Hochfrequenzhändler ihre eigenen algorithmischen Computer
ebenfalls in der „Hülse“ unterbringen. Und weil aller Platz in
Hülse 1 auf diese Weise schnell verkauft war, wurde eine zweite
gebaut. Als dann die Händler in Hülse 2 sich beklagten, dass sie
weiter vom „matching engine“ entfernt seien, begann eine MontyPython-hafte Komödie. „Ich fand das sehr witzig“, lacht der
Ingenieur ins Telefon, „denn ein Fuß Kabellänge entspricht einem
Zeitunterschied von einer Nanosekunde – das ist eine
Milliardstelsekunde. Und als diese Beschwerden aufkamen, konnten
die meisten Maschinen, um die es ging, Nanosekunden nicht einmal
darstellen.“ Wer darüber lacht, den erinnern die Fachleute daran,
dass Computer nicht arbeiten wie wir. Unser Konzept von Zeit
bedeutet ihnen nichts. Eine Nanosekunde kann genauso gut eine
Sekunde sein oder ein Jahrhundert."
<cBLITZTRANSFER>
Manche finden, der Aktienmarkt sei mittlerweile für fast überhaupt
niemanden mehr verständlich. Professor Neil Johnsons Fachgebiet
sind komplexe Systeme, und er analysiert an der Universität Miami
seit Jahren die Finanzmärkte. Bis vor kurzem teilte er die
Ansicht, um Märkte zu verstehen, müsse man langfristige Trends
untersuchen; was im Stunden-, Minuten- oder Sekundenmaßstab
passiere, sei bloßes Rauschen, statistisch unerheblich. Doch als
er von Hunsaders Recherchen erfuhr, wurde Johnson neugierig. Er
flog nach Chicago, wo ihn die Nanex-Daten gleichermaßen
faszinierten wie erschütterten. Die erstaunlichste Entdeckung für
ihn war eine Konzentration von „Mini-Flash-Crashs“ bei Bankaktien
wie Goldman Sachs, Morgan Stanley, JP Morgan und Lehman Brothers
im unmittelbaren Vorfeld der Finanzkrise von 2008/2009. „Das
erschreckt mich, ehrlich gesagt, immer noch“, sagt er. „Denn es
deutet auf eine Verbindung hin zwischen dem, was auf der Ebene von
Sekundenbruchteilen geschieht, und dem, was im Maßstab von Monaten
vor sich geht. An dem Punkt sah das Ganze plötzlich wie ein
Ökosystem aus. In einem Ökosystem gibt es Raubtiere jeder Größe
<...>"
TEMPORALISIERUNG DER REINEN GEGENWART
Henri Bergson zufolge ist jede aktuale Wahrnehmung immer schon
auch eine Funktion der vergangenen Wahrnehmungen, mithin also eine
differentielle Gegenwart.
Tatsächlich ist bereits "das Wahrnehmen eines bestimmten
Informationsanfalls und die spätere Reproduktion dieser zeitlich
vorausgegangenen Wahrnehmung in Form der Aussage der
Wieder/gabevorgang."127
<ModZEITWEISKLANG>
An der Kirchturmuhr, welche die Zeit in Serien von Glockenschlägen
anzeigt, ist phänomenologisch erfahrbar, daß Ort und Impuls nicht
zugleich meß- und wahrnehmbar sind. Dieser sonische
Gegenwartshorizont, der präsenzerzeugende Medien so
wirkungsmächtig ins Spiel kommen läßt, ist in der Neurobiologie
als das sogenannte Gegenwartsfenster von rund 3 Sekunden vertraut:
jene zeitkritische Schwelle, diesseits derer menschliche
Wahrnehmung diskrete Signale oder Impulse (Töne oder Takte) noch
zu einem zusammenhängenden Ganzen integrieren (oder auch
differenzieren) kann. Wo endet hier die real erfahrene Gegenwart,
und wo beginnt die Kognition in einer Pseudogegenwart zu leben,
wie es die Psychologie nennt?128 Vertraut ist dieses parasemantische
Gefüge ebenso aus der mündlichen Poesie, nämlich der Länge einer
Verszeile - etwa der homerische Hexameter.129
Zeit ist in Signalverzögerungsleitungen vergleichbar dem
elektrischer Widerstand am Übertragungswerk. Im Integrierten Chip
bilden Leitungen einen solchen Widerstand, denn sie verschlingen
Signallaufzeit.130
Aufgehobene Gegenwart (das Beispiel der Bibliothek)
Der Kehrwert zur Verzögerungsleitung in der Übertragung ist die
Aufhebung. "Aufhebung" meint hier die schiere Zeitanfälligkeit der
127 Christian Koristka, Magnettonaufzeichnungen und
kriminalistische Praxis, Berlin (Ost) (Ministerium des Innern,
Publikationabteilung) 1968, 22f
128 Siehe Horst Heinze, Die psychologische Weltformel. Mysterium
und Martyrium unserer Sprache in der Zeitlosigkeit, Münster
(LIT-Verlag) 2010, 90
129 Dazu Alexander Grau, Zeitpunkte, Zeitfenster, Zeiträume. Wie
das Gehirn unsere Wahrnehmung organisiert, in: Klaus-Dieter
Felsmann (Hg.), Der Rezipient im Spannungsfeld von Zeit und
Medien, München (kopaed) 2008, 37-44 (41)
130 Ein Protyp von Hewlett Packard sucht dem durch memristive
Technologie zu begegnen.
aufspeichernden Materie, die etwa in Form eines Tonträgers eine
transduction des Schallereignisses bereitstellt, um sie dann in
den Übertragungskanal zu schicken. Statt einer aktiven technischen
Übertragung aber ist es hier die schiere Zeit als Dauer, welche
Störungen (physikalischen Verfall, Dekompostion, Störungen von
Außen) bewirkt.
<begin cARC-BIB-DIFFERENZ>
Uwe Jochum betont, daß Bibliotheken zwar Bücherspeicher sind,
diese Speicherung jedoch nicht um einer Übertragung willen
geschieht:
"Eine Buch-Ausleihe ist etwas anderes als eine Buch-Übertragung,
jedenfalls dann, wenn man `Übertragung´ hier im Sinne einer
technischen Übertragung (wie beim Radio usw.) versteht. <...> Ich
würde davor warnen, die technischen Metaphern allzuschnell auf die
Bibliothek zu übertragen. Dann verflüssigt sich nämlich das
Phänomen und wird allzu glatt zu einem historischen Vorläufer des
Computers."131
Dies gilt auch für das Museum zwischen Archiv, Depot, Lager und
Ort der Ausstellung, der Präsentation, der diskursiven
Schnittstelle: "Der Witz ist, daß sich in der Bibliothek Gelesenes
zu Ungelesenem verhält. Das Speichern ist daher zunächst ein
Aufbewahren auf unbestimmte Zeit und keine Lagerhaltung, die auf
einen prompten Abruf zielt <...>"132, was im Sinne des
informationstheoretischen Entropiebegriffs die
Unwahrscheinlichkeit erhöht - Latenz on demand.
"Da man sinnvollerweise nur das Eintreten künftiger Ereignisse mit
Wahrscheinlichkeiten charakterisieren kann (vergangene Ereignisse
liegen ja fest!), ist auch die Informationsentropie nicht ein Maß
für eine vorhandene (aktuelle), sondern für eine künftige
Information. Sie ist [...] ein Maß für eine beseitigbare
Ungewissheit, sie ist potentielle Information Hp, nicht aktuelle
Information Ha [...]."133
Vergangenheit ist das in den Speicherzustand überführte,
wohingegen die bestehende Ungewißheit die Aufrechterhaltung eines
anarchivischen Zustands bedeutet.
"Es ist diese kleine Differenz, die die Bibliothek eben nicht zu
131 Uwe Jochum (Fachreferent an der Universitätsbibliothek
Konstanz), E-mail vom 12. Mai 1998
132E-mail Uwe Jochum, Universitätsbibliothek Konstanz, 14. Mai
1998
133 Peter C. Hägele, Was hat Entropie mit Information zu tun?,
http://www.uniulm.de/~phaegele/Vorlesung/Grundlagen_II/_information.pdf
(Zugriff März 2013)
einem Übertragungsmedium oder Kanal macht, sondern das Übertragen
aussetzt. An diesem Punkt des Aussetzens geschieht aber das Neue:
daß man a) stutzt <...> und b) etwas Neues findet, nämlich etwas
ganz Altes, was schon lange da war, aber immer übersehen wurde,
weil es von den Datenströmen, an die man sich gewöhnt hatte,
überdeckt worden war."134
Im Unterschied dazu hängt Googles Page-Rank-Algorithmus auch vom
Nutzer(wissen) ab.
Damit ist die Bibliothek nach dem Prinzip des Luhmann´schen
Zettelkasten als Generator von unerwartetem Wissen, also
Information definiert, und mithin der Raum des Katechontischen
eröffnet.
<end cARC-BIB-DIFFERENZ>]
Auf Dauer gestellte Gegenwart? Das "Recht auf Vergessenwerden" und
Googles Suchmaschine
Die unmittelbare Archivierung von Gegenwart heißt, eine momentane
Gegenwart auf Dauer zu stellen - auch wenn diese Dauer im
Zwischenspeicher ein so kurzes Intervall darstellt, daß sie
sogleich zum Verschwinden kommt. Läßt sich, was Walter Benjamin
1936 für das Kunstwerk diagnostizierte (der Verlust seiner
Einmaligkeit in Raum und Zeit), durch digitale Reproduzierbarkeit
(Ko-Originalität vielmehr: "Originalkopie") in einen anderen,
quasi archivischen Zeitraum heben (wie die Web-Server von Google
das neue Weltarchiv des Internet als Katalog und Index
darstellen)? Einerseits digitale Flüchtigkeit im WWW, andererseits
Wiederholbarkeit = Wiederaufrufbarkeit (Adressierung mit
elektronischer Blitz-Geschwindigkeit).
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) urteilte am 13. Mai 2014 zum
"Recht auf Vergessenwerden" gegen die Übermacht der
algorithmischen Suchmaschinen. Doch was auf Eigeninitiative fortan
gelöscht werden muß, bleibt womöglich auf den Google-Servern
weiterhin an irgendeiner Stelle gespiegelt. Das Internet ist eine
Replikationsmaschine.
So klagtee ein Spanier gegen Google (2010); die Suchmaschine aber
nimmt dies ihrerseits als Ankündigung in ihren Such-Index auf. Die
Google-Software grast das WWW ab ("harvesting"). Durch eine
kleine technische Anweisung an Google ist es zwar juristisch
möglich, den Selbstbezug aus dem Index zu löschen; das Problem
aber liegt in der Differenz zwischen lokalem (nationalem) Recht im
Gegensatz zur Zentrale des Konzerns in den USA und seinen
134 E-mail Uwe Jochum (Universitätsbibliothek Konstanz), 14. Mai
1998
transnational verteilten Server-Farmen. Welches Recht also findet
bei Internationalen Konzernen Anwendung? Gibt es ein Recht auf
Vergessenwerden? "Wer speichern kann, der kann auch löschen",
kommentierte EU-Kommissarin Vivian Rehding.135
<cSPEICHERSEM-SS-14>
Sortieralgorithmen bedürfen der vorherigen Speicherung ihrer
Datenobjekte; so muß auch die Suchmaschine Google vorab Webseiten
auf ihren Serverfarmen archiviereb, um sie effektiv indizieren und
damit zeitkritisch nahezu unmittelbar abrufbar machen zu können.
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer Speichertheorie,
welche etwa Zyklen und Zugriffszeiten in dichtgepackten Speichern
thematisiert (Memory Timing und Refresh Rate). Fokussieren wir
also die zeitkritischen Timingparameter der internen Abläufe im
Computer:
"Der Parameter tRCD (RAS-to-CAS delay, row-to-column delay)
beschreibt bei einem DRAM die Zeit, die nach der Aktivierung einer
Wortleitung (activate) verstrichen sein muss, bevor ein
Lesekommando (read) gesendet werden darf. Der Parameter ist
dadurch bedingt, dass das Verstärken der Bitleitungsspannung und
das Rückschreiben des Zellinhaltes abgeschlossen sein muss, bevor
die Bitleitungen mit den Datenleitungen weiterverbunden werden
dürfen.
Der Parameter CL (CAS latency, auch tCL) beschreibt die Zeit,
welche zwischen der Absendung eines Lesekommandos und dem Erhalt
der Daten vergeht.
Der Parameter tRAS (RAS pulse width, Active Command Period, Bank
Active Time) beschreibt die Zeit, die nach der Aktivierung einer
Zeile (bzw. einer Zeile in einer Bank) verstrichen sein muss,
bevor ein Kommando zum Deaktivieren der Zeile (Precharge,
Schließen der Bank) gesendet werden darf. Der Parameter ist
dadurch gegeben, dass die Verstärkung der Bitleitungsspannung und
das Rückschreiben der Information in die Zelle vollständig
abgeschlossen sein muss, bevor die Wortleitung deaktiviert werden
darf. [...]
Der Parameter „tRP“ („Row Precharge Time“) beschreibt die Zeit, die
nach einem Precharge-Kommando mindestens verstrichen sein muss,
bevor ein erneutes Kommando zur Aktivierung einer Zeile in der
gleichen Bank gesendet werden darf. Diese Zeit ist durch die
Bedingung definiert, dass alle Spannungen im Zellenfeld
(Wortleitungsspannung, Versorgungsspannung der Leseverstärker)
abgeschaltet sind und die Spannungen aller Leitungen (insbesondere
die der Bitleitungen) wieder auf ihrem Ausgangsniveau angekommen
sind.
135 Artikuliert im Deutschlandradio 13. Mai 2014
Der Parameter „tRC“ („Row Cycle Time“) beschreibt die Zeitdauer,
die zwischen zwei aufeinander folgenden Aktivierungen zweier
beliebiger Zeilen in derselben Bank verstrichen sein muss. Der
Wert entspricht weitgehend der Summe der Parameter tRAS und tRP und
beschreibt somit die minimal notwendige Zeit, um eine
Speicherzeile aufzufrischen."136
DAS JETZT ALS ZAHL, KLANG UND FREQUENZ
Zeitfluchten und ihre numerische Analyse
"Was immer ertönt, geht vorbei, und man wird darin nichts finden,
das man wieder in Gebrauch nehmen könnte."137 Dieses unerbittliche,
in Zeiten des Barock immer wieder allegorisch thematisierte
Geschehen flüchtiger Gegenwart ("tempus fugit") ist mit Photo-,
Phono- und Kinematographie gebannt worden; deren ästhetischer
Retro-Effekt ist vielmehr eine neue Emphase des
Unwiderbringlichen. Sergiu Celibidache als Konzertdirigent
widersetzte sich notorisch der phonographischen Aufzeichnung:
"Er legt sehr viel Wert darauf, das sich Musik im jetzt ereignet.
Damit ist die Qualität musikalischen Erlebens nicht durch die
Präzision des Musikers definiert, mit der er seine vorgegebene
Partitur umzusetzen vermag, sondern vielmehr von dem, was das
Sich-Ereignende in unserem Bewusstsein auszulösen vermag. Das
Lauschen einer aufgezeichneten, bekannten Musik stößt die
antizipatorischen Funktionen im Gehirn an, wodurch unsere
Konzentration auf das jetzt zerstreut wird."138
Mary Ann Doanes Analyse kinematographischer Formen der
Reproduktion von Präsenz, die sie der grammatischen Zeitform des
"historischen Präsenz" zuordnet (strukturverwandt der "vergangenen
Zukunft") blendet die präsenzgenerierende Macht phonographischer
Klangmedien ausdrücklich aus.139 Doch für die akustische Wahrnehmung
gilt zugespitzt die Unbestimmtheitszone zwischen erweiterter
136 Eintrag en.wikipedia.org "Dynamic random-access memory" =
http://de.wikipedia.org/w/index.php?
title=Dynamic_Random_Access_Memory&printable=yes; Zugriff 14. Mai
2014
137 Johannes Keppler, zitiert nach: Günter Grosse, Von der
Edisonwalze zur Stereoplatte. Die Geschichte der Schallplatte,
Berlin 1989, 7
138 Thilo Hinterberger, Kommunikation mit Signalen aus dem Gehirn,
in: Barbara Könches / Peter Weibel (Hg.), unSichtbares.
Algorithmen als Schnittstellen zwischen Kunst und Wissenschaft,
Bern (Benteli) 2005, 262-285 (284)
139 Doane 2002: 235 (Anm. 5)
Gegenwart und archivisch latenter Präsenz: Wo hört auditive
Gegenwart auf, und wo beginnt das sonizistische (als nur nur noch
implizit akustische) Archiv? Mit der neuronalen oder technischen
"Aufzeichnung". In diesem Sinne legt Hans Blumenberg größten Wert
auf "die Differenz von Retention (Gegenwarts<vor>behalt) und
Memoria", so "daß man Husserls Spiel mit dem Ausweichausdruck für
Retention als 'frischer Erinnerung' nicht hinnehmen darf"140.
Die physiologische Wahrnehmung von Tonfolgen im Menschen bewirkt
kognitiv einen das reine Jetzt notwendig übergreifenden
Melodieeindruck, obgleich doch jeder akustische Impuls im Moment
seines Erklingens auch schon wieder entschwindet. Dieses Vermögen
zur "Protention" (Husserl) vollzieht - vor aller technischen
Komputation - in der Kopplung von analytischem Gehör (Fourier /
von Helmholtz) mit dem auditiven Kortex eine erfahrungsgestützte
probabilistische Kalkulation, eine "Errechnung" im Sinne Heinz von
Foersters.
"Die Fourier-Darstellung hat noch eine weitere - man kann sagen
durch die Natur bedingte Bedeutung -, das Ohr zerlegt
unwillkürlich Klänge sehr ähnlich dem Fourier-Verfahren in ihre
Teilklänge. Nach dem von G. S. Ohm <sc. 1843> aufgestellten <...>
Satz empfindet das Ohr nur rein sinusförmige Schwingungen als
reinen Ton, jeden anderen Vorgang löst es in die entsprechende
Reihe von sinusförmigen Komponenten auf und empfindet ihn als
Summe von reinen Tönen."141
<cZEITWEISMATH>
Aristoteles definiert in Buch IV seiner Physik (219b 1-2): "touto
gar estin ho chronos, arithmos kineseos kata to proteron kai
hysteron" - "das also ist die Zeit, die Zahl der Bewegung
unterschieden nach Vorher und Später". Ist dieses Dasein einmal
als Bewegung definiert und diese Bewegung abzählbar, läßt sich
Zeit frequentativ berechnen. Digitale Medienverhältnisse
generieren damit "Zeit(en)", im Sampling als zeitdiskreter
Abtastung des welthaftigen, kontinuierlichen Signals.
Diese Verschränkung von Bewegung und Messung verabschiedet sich
Gilles Deleuzes Kino-Theorie im Namen des Zeit-Bildes.
<cMEDZEIT-WS-2014>
Hängst die "Aura" an der Präsenz? Und wenn ja, an welchem Typus
von Präsenz - klangtechnischer oder menschlicher?
War die "Kälte" des exakten elektronischen Sound einmal eine
140 Hans Blumenberg, Zu den Sachen und zurück. Aus dem Nachlaß,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007, Kapitel XII "Retention und
Erinnerung", 207-xxx (207)
141 Ferdinand Trendelenburg, Klänge und Geräusche. Methoden und
Ergebnisse der Klangforschung, Schallwahrnehmung, grundlegende
Fragen der Klangübertragung, Berlin (Julius Springer) 1935, 13
Befreiung von der menschlichen Idiosynkrasie, wird diese nun
künstlich wieder eingeführt.
Digitale Audiotechnik hat nicht zur Demystifikation, sondern zum
re-entry der von Benjamin definierten "Aura" geführt <Goodwin
1990: 272> - das Simulakrum von media witnessing (Anwesenheit des
Mediums in signalgetreuer Wiedergabe, nicht mehr des
Realpublikums).
<begin cSCHWINGSON>
1960 stellt die Firma Bulova (USA /CH) ein Armbanduhrwerk ohne
Unruhe vor; eine Stimmgabel mit 300 Hz trieb das Werk mechanisch
an, also ein zeitanzeigendes Gegenstück zu Hermann von Helmholtz'
Einsatz elektromechanisch rückgekoppelter Stimmgabeln als
Meßgerät. Anstelle des Tick-Tack hörte man ein Summen. Wurde seit
der Scholastik (und im Grunde schon mit dem antiken
Zackenradwerkbetrieb des "Mechanismus von Antikythera" als
Astrolab) das Universum mechanistisch als Uhrwerk modelliert,
tritt dementsprechend heute ein Schwingungsmodell: Der Klang der
Superstrings142.
Exkurs zu Heinrich Heidersbergers Rhythmogrammen
Das "sonische" Bild ist implizit klangzeitlich.143 Das "gestimmte"
Bild144 ist etwa das Oszillogramm der Stimmung von
saiteninstrumenten; dem entsprich im Elektronischen das tuning ,
das Abstimmen von Schwingkreisen.
<begin cALGO-RHYTHMUS>
"Rhythmus ist das Gelingen von Form unter der (erschwerenden)
Bedingung von Zeitlichkeit."145 Der Rhythmus ist an den zeitlichen
Verlauf gebunden, stellt aber seinerseits ein "Zeitobjekt" im
Sinne Husserls dar: "Unter Zeitobjekten im speziellen Sinn
verstehen wir Objekte, die nicht nur Einheiten in der Zeit,
sondern die Zeitextension auch in sich enthalten."146
142 So der Buchtitel von Frank Grotelüschen, München: Deutscher
Taschenbuch Verlag, 3. Aufl. 2001
143 Siehe Bill Viola, Der Klang der Einzeilen-Abtastung, in: xxx
144 Siehe die Ausstellung 'heinrich heidersberger: rhythmogramme das gestimmte bild' in der Petra Rietz Salon Galerie, Berlin,
April bis Juli 2014
145 Hans Ulrich Gumbrecht, Rhythmus und Sinn, in: ders. / KarlLudwig Pfeifer (Hg.), Materialität der Kommunikatin,
Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 714-729 (717)
146 Edmund Husserl, Die Vorlesungen über das innere Zeitbewußtsein
aus dem jahre 1905, in: ders., Zur Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins (1893-1917), Den Haag 1966, 3-98 (23)
(Hoch-)Technische Konfigurationen, im Vollzug als "Medien"
definiert, sind nicht schlicht "zeitbasiert" (die sogenannten
time-based media) in der aristotelischen oder newtonischen Zeit;
vielmehr stellen sie selbst Protagonisten der Zeit dar, mithin:
chrono-poietisch.
Die von Husserl erwähnte "Zeitextension" ist die Ausdehung der
scheinbar punktförmigen Jetzt-Zeit von Gegenwart auf das Re- und
Protention umfassende Gegenwartsfenster, wie es Neurophysoiologie
und Signalverarbeitung definieren.
Das zeitige "jetzt", das "Nu" (Walter Benjamin), existiert
pikanterweise in der Akustik. Zur Ermittlung der Nachhallzeit in
geschlossenen Räumen (definiert als "die Zeit, innerhalb welcher
der Schalldruck im Raum nach dem Abschalten der Schallquelle auf
den tausendsten Teil, bzw. der Schalldruckpegel um 60 dB
abgefallen ist"147), kommen Impulsantworten zum Einsatz: der
idealiter unendlich kurz dauernde Dirac-Impuls.
["Jedes Schallereignis kann als Überlagerung von Einzelimpulsen
unterschiedlicher Intensität dargestellt werden. Da der äraum als
lineares Übertragungssystem von der Schallquelle zum Empfänger
betrachtet werden kann, enthält die Impulsantwort, also das
Resultat einer Anregung unendich kurzer Dauer (Dirac-Impuls), alle
Informationen über die Übertragungseigenschaften dieses
Systems."148]
Husserl bezieht sich nicht von ungefähr auf das Tonereignis, womit
zugleich auch hochtechnische, elektronische Medienprozesse als
implizit sonisch erwiesen sind:
"Wenn ein Ton erklingt, so kann meine objektivierende Auffassung
sich den Ton, welcher da dauert und verklingt, zum Gegenstand
machen, und doch nicht die Dauer des Tons oder den Ton in seiner
Dauer. Dieser als solcher ist ein Zeitobjekt."149
"Die Rekurrenz bestimmter Klangfarben / Klanghöhen läßt sich an
bestimmten Stellen eines rhythmischen Musters (als Alliteration,
Assonanz oder Reim) erwarten."150 Optische Muster wie der MoiréEffekt sind deren Kehrwert.
Frequenz bildet den Kehrwert von Zeitsignalen, als die
mathematische Operation der Fourier-Transformation - aber keine
Transsubstatiation im epistemologischen Sinne.
147 Stefan Weinzierl, Beethovens Konzerträume. Raumakustik und
symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen
Konzertwesen, Frankfurt/M. (Erwin Bochinsky Verlag) 2002, 137
148 Weinzierl 2002: 145, Anm. 1
149 Husserl 1905 / 1966: 23
150 Gumbrecht 1988: 719
"In der Verdichtung wird jegliches zeitliche Nacheinander in die
Gleichzeitigkeit eines Spektrums verwandelt. Etwas, das als KlangFolge ('Palette') eingespielt wird, kehrt als Klang-Farbe wieder.
Nicht nur die Tonhöhe, sondern jeder Bestandteil eines Klanges
einschließlich aller Ein- und Ausschwingungsvorgänge wird
bestimmend für die resultierende Farbe. Der zeitliche Verlauf ist
vom spektralen nicht mehr unterschieden. Zeit selbst ist mit Farbe
identisch geworden. f (Frequenz) = t (Zeit)."151
<end cALGO-RHYTHMUS>
"Durch 'Rückwärts' vorwärts": Tonbandeffekte
Eine Folge von verschiedene Ereignissen verschmiert im
menschlichen Gegenwartsfenster zu einer undifferenzierten
Gesamtheit: "Es konnte mittels akustischer und optischer Reize
gezeigt werden, daß eine zeitliche Ordnung unterhalb einer
Schwelle von 30 ms nicht mehr unterschieden werden kann."152 Selbst
eine Ordnungsumkehr der Information innerhalb dieses Fensters wird
von Probanden nicht wahrgenommen: Eine auf ein Tonband
aufgezeichnete Rede wurde in 30 ms-Stücke zerschnitten, die
einzelnen Stücke umgekehrt und in derselben Reihenfolge, wie sie
das Originalband hatte, wieder zusammengeklebt. "Die
Versuchsperson konnte zwischen der modifizierten Rede und dem
Originalband akustisch keinen Unterschied feststellen."153
Das einstige Internationale Artistenmuseum im Brandenburgischen
Klosterfelde barg das Originaltonband (eine Spezialanfertigung)
für die damalige technische Gegenkontrolle der Darbietungen von
Katja Nick, die museal durch ihr Bühnenkleid auf einer
Schaufensterpuppe anweste.
Jene Frau vermochte Sprache (die eigene wie auch fremde) nicht nur
vor-, sondern auch rückwärts zu sprechen und zu singen - eine
Mimesis des Menschen an das Vermögen grammophoner Medien zur
Zeitachsenmanipulation, und nahezu ein akustischer TuringtestMaschinenzustand. Die radiakle Entkörperlichung der menschlichen
Stimme ist eine tatsächliche Transformation des akustischen
Ereignisses. Das Magnettonband speichert menschliche Laute anders,
als sie im menschlichen Gedächtnis haften, denn sie laufen dort
nicht durch den Kehlkopf und Stimmapparat, sondern durch Mikrophon
und Lautsprecher. Im Berlin der 1920er Jahre vernimmt das junge
151 Peter Ablinger, in: Musikprotkolle Graz, 2xxx, 452 [= Sabine
Sanio / Christian Scheib (Hg.), Übertragung - Transfer Metapher. Kulturtechniken, ihre Visionen und Obsessionen,
Bielefeld (Kerber) 2004 ???]
152 Klose 2002: 358
153 Klose 2002: 359
Mädchen - so die Schilderung einer Schlüsselszene im Kaufhaus
KadeWe 1928 - den Dialog eines Jungen mit seiner Mutter: "eine
Sprache, die ich nicht verstehen konnte, die aber von der
vornehmen Frau verstanden und beantwortet wurde. Es ist weniger
der Klang denn der Geräuschcharakter, der sie anspricht: "Ich
konnte mich nicht satthören an den rollenden Rrrs, den Zisch- und
Kehllauten"154 - Artikulation als Signalereignis, die sich nicht
(wie im Fall der Vokale) musisch dissimuliert. In der symbolischen
Ordnung des Alphabets ist schon angelegt, was sich dann als das
Andere aller Schriftpädagogik artikuliert:
Zeichenmanipulierbarkeit und Rekombinatorik. "Die Zeit kam, da wir
in der Schule unsere Namen umdrehten" <ebd>: Hier wiederholt sich
die Urszene dessen, was die Leistung des altgriechischen
Vokalalphabets darstellt.155
"Das war der Schlüssel zur fremdsprachigen Seligkeit. <...> Ich
beschränkte mich nicht auf Namen, ich versuchte, alles umzudrehen.
Ich achtete darauf, daß ich rückwärts dieselbe Silbe betonte wie
beim Vorwärtssprechen, wobei ich als Kind bereits folgende
Vorstellung hatte: Vor meinem geistigen Auge sah ich eine
Schallplatte, deren <sic> Tonabnehmer vom Zentrum nach außen lief
und alles rückwärts wiedergab, als auch den Satzbau" <Nick 1997:
12>
- buchstäblich phonographische Halluzinationen. Das Medium
schreibt dem Menschen ab dem Moment seine Zeitweisen vor, wo er
selbst zum phonographischen Automaten wird:
Als ich eines Tages <...> wieder einmal den Versuch machte, fließend rückwärts
zu sprechen, konnte ich es plötzlich mühelos! Ich brauchte mir nichts mehr
geschrieben vorzustellen oder zu denken. Ich hörte, wie es rückwärts klingen
mußte, und sprach es ganz einfach. <ebd.>
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ist Katja Nick Beamtin im
Auswärtigen Amt. Dort wird sie in der Neujahrsnacht 1941/42
unversehens zu Reichsaußenminister Ribbentrop berufen, um ihm dort
rückwärtige Neujahrsgrüße auszusprechen. Dessen Adjutanten haben
bereits zehn gleichlautende Sätze auf Notizblöcken notiert, um
eine Kontrolle und einen Beweis für diese Darbietung in der Hand
zu haben. Zur Performance kommt es nicht, da Rippentrop
kurzfristig zu einem Frontbesuch aufbricht; eine Stunde später
trägt Nick bereits wieder Akten durch die dunklen Bürogänge. Ein
schwacher Lichtschein durch eine nur angelehnte Tür lockt sie an
und führt zu jener Urszene, die den medientechnischen Umschlag von
der symbolischen Ordnung des Alphabets zur Aufzeichnung des Realen
auslöst:
154 Katja Nick, Durch "Rückwärts" vorwärts, Berlin (Wiesjahn)
1997, 11
155 Siehe W. E. / Friedrich Kittler (Hg.), Die Geburt des
Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift - Ton - Zahl im
Medienverbund, München (Fink) 2006 (Reihe Kulturtechnik, Bd. 5)
"Je näher ich kam, desto deutlicher vernahm ich ein monotones
Gemurmel; es kam vom Funkabhördienst. Ich trat ein und sah, wie
eine englischkundige Kollegin aus dem Radio Gesprochenes auf ein
Tonband aufnahm. Diese Technik war mir völlig unbekannt. Sogleich
schoß mir durch den Kopf, ob man nicht durch Rücklauf der
Bandteller rückwärts gesprochenes würde vorwärts hören und
verstehen können. Ich bat, für einen akustischen Versuch noch
einmal wiederkommen zu dürfen. Die Abhörerin war einverstanden
[...]."156
Versuchsweise spricht Nick ein Gedicht von Eugen Roth rückwärts
auf das Tonband, und nach Vertauschen der Bandteller erklingt es
tatsächlich wieder sprachgerecht. Der Toningenieur mit dem
treffenden Namen Eugen Knall verhilft ihr schließlich zu einem
dauerhaften "Beweis-Tonbandgerät" für die Bühnendarbietung. Was
sich hier spricht, ist nicht mehr die symbolische Ordnung des
Alphabets, sondern der akustische Signalfluß des Realen.
Tatsächlich gesprochene Sprache in vokalalphabetischen Symbolen zu
notieren ist das Eine, nämlich eine Kulturtechnik; sie als
Geräusch von einer kontinuierlichen Tonspur ablaufen zu lassen,
etwas höchst Verschiedenes.
SONO-TRAUMATIK
Der sono-traumatische Affekt
"Zur Diskussion stehen dabei keineswegs die Fotos von einem
Ereignis, sondern die Livebilder", kommentierte Paul Virilio die
CNN-Berichterstattung ("breaking news") der Attacke auf das World
Trade Center in New York 2001.157
Signalübertragende, -speichernde und damit auch -wiedergebende
Medien rufen auf ihrer medienarchäologischen
(präsenzirritierenden) Ebene einen chrono-traumatischen Choque
hervor, denn es ist dieses technologische Momentum selbst, welches
"jede Unterscheidung zwischen psychischer Zeit und chronologischer
Zeit außer Kraft"158 setzt. Dies gilt insbesondere für das (von
Elsaesser beharrlich ausgeklammerte) phonographische (mithin
sonische) Momentum.
Akustische Ereignisse bilden jene Momente des Realen, welche beim
Erwachen aus dem Traum die entscheidende Rolle spielen. "Dieses
Reale kann in dem Vorfall vorgestellt werden, dem kleinen
156 Nick 1997: 26
157 Der Mann, der am 11. September nicht vor dem Fernseher saß:
Ein Interview (Jürg Altwegg) mit Paul Virilio, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 20. September 2001, Nr. 219, p. 49
158 Elsaesser a. a. O.
Geräusch, dem Kleinwenig Realität, das uns zeigt, daß wir nicht
träumen."159
Die "Weihnachtsringsendung 1942 des Großdeutschen Rundfunks in
Berlin steht für die sonische Artikulation einer traumatisch
verzerrten Form der körperlosen Radiostimmen - und zugleich der
Stimmen des Radios selbst.160
In Form des telephonischen Klingeltons brach Telekommunikation in
die Privatsphäre ein. Bislang wurde dort die Tageszeitung gelesen,
aber im symbolischen Regime, d. h. kognitiv distanziert und von
der Lesezeit her selbstbestimmt (zeitsouverän). Demgegenüber der
Telephonton: "Der Laut, mit dem er [...] anschlug, war ein
Alarmsignal, das nicht alleine die Mittagsruhe meiner Eltern
sondern das Zeitalter, in dessen Herzen sie sich ihr ergaben,
gefährdete."161
Die Störung ist hier die technische Möglichkeitsbedingung für
gelingende Kommunikation.
Im Vernehmen der Telephonstimme fühlte sich Walter Benjamin
"gnadenlos der Stimme ausgeliefert, die da sprach. Nichts, was die
Gewalt, mit der sie auf mich eindrang, milderte. Ohnmächtig litt
ich."162
Tatsächlich meint Präsenz in der Technik der Telekommunikation den
für Sprachverständlichkeit entscheidenden Frequenzbereich zwischen
1 kHz und 5 Hz.163
Das gemeine Ohr ist "im Feld des Unbewussten die einzige Öffnung,
die nicht zu schließen ist"164.
Der akustisch gewaltsame (akouein) Klingelton als enonciation des
Telephons ist ein techno-traumatischer Einbruch von und in
159Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, in:
ders., Das Seminar. Buch XI [1964], übers. und hrsg. von Norbert
Haas, 2nd ed. Olten / Freiburg i. Br. (Walter) 1980, (66)
160 Siehe Dominik Schrage, "Singt alle mit uns gemeinsam in dieser
Minute". Sound als Politik in der Weihnachtsringsendung 1942, in:
Daniel Gethmann / Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien,
Berlin (diaphanes) 2005, 267-285
161 Walter Benjamin, Das Telefon, in: ders., Berliner Kindheit um
1900, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1987, 18
162 Walter Benjamin, Berliner Kindheit um Neunzehnhundert, in:
Gesammelte Schriften, Bd. IV, hg. v. Tillman Rexroth,
Frankfurt/M. 1972, 235-304 (243)
163 Eintrag "Präsenz", in: Gerd Klawitter, Funk-Lexikon. Begriffe
aus der Funktechnik leichtverständlich erklärt, Meckenheim
(Siebel) 2. überarb. u. erw. Aufl. 2001
164 Jacques Lacan, Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten
1978, 178
Präsenz, als tatsächliche Signalmusik.165 Dieser Weck- und
Klingelton (vergleichbar der Einrichtung des Briefkastenschlitzes
an Türen in Privathäusern166) überlebt als Earcon.
"A signal is <...> deliberately placed by the utterer within what
he believes to be the filed of sensuous attention of another
person"167, doch diese utterance ist anderer Natur denn die
semiotische oder diskursive Aussage. Techno-traumatisch ist der
un-menschlich induzierte Affekt, vom Medium herkommend. Die
telekommunikative Signalisierung des Telephons bricht die
Vorherrschaft der persönlichen Präsenz: "Ohnmächtig litt ich, daß
sie mir die Besinnung auf meine Zeit, meinen Vorsatz und meine
Pflicht zunichte machte."168 Benjamin schreibt von seinem "Ergeben"
<ebd.> gegenüber der apparativ induzierten, also genuin
medienzeitlichen Situation. Dies gilt - den Wandlungen des
technologischen Dispositivs zum Trotz - selbst noch als
simulierter Telephonton vom mobilen Telephon aus. Dieser technotraumatische Einbruch des Realen (dessen metaphysischer Ausdruck
"Präsenz" ist) hat eine medienarchäologische Urszene:
<cTELEPHON>
Alexander Graham Bell mißverstand den Bericht über Helmholtz'
Resonatoren dahingehend, daß Töne telegraphisch übertragen werden
können; am 2. Juni 1876 resultiert dies tatsächlich mittels eines
ungewollten Kurzschlusses in der Wandlung von akustischen
Tonschwingungen in elektrische Induktionsschwingungen.169 Insofern
ist der Erfinder zweifach "Subjekt" dieser Findung: einmal als
emphatisches Subjekt, das willentlich Experimentalanordnungen zum
Zweck solcher Versuche installiert; gleichzeitig aber passiert ein
genuines Medienereignis durch ihn, macht ihn gleichsam zum
Untertanen ("Subjekt"), wenn nicht gar metaphorisch: "Medium", der
Anordnung. Es passiert, ein Durchschlag, eine Irruption der
"geschichtlichen" Entwicklung. Gekoppelt an elektrophysikalische
Anordnungen wird der emphatische Mensch Teil eines kybernetischen
Systems (für welches Bruno Latour eher metaphorisch verunklärend
den Begriff der "non-human agencies" setzt). Diese Form von
Mensch-Technik-Kopplung ist keine Entfremdung des Menschen,
sondern das Hervorrufen einer ursprünglichen Technizität im
165 Südenglische "sound mirrors" bildeten im Zweiten Weltkrieg
einen Wall von akustischer Verteidigung. Zu akustischer
Kriegsführung, also wahrlich sono-traumatischen Ereignissen,
siehe Steve Goodman, Sonic Warfare. Sound, Affect, and the
Ecology of Fear, MIT Press 2009
166 Dazu Siegert, Relais, xxx 1993
167 C. J. Ducasse, Symbols, Signs and Signals, in: The Journal of
Symbolic Logic, Bd. 4 (1939), 44
168 Benjamin 1987: 19
169 Wolfgang Hagen, Gefühlte Dinge. Bells Oralismus, die
Undarstellbarkeit der Elektrizität und das Telefon, in: Stefan
Münker / Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/M.
(Surhkamp) 2000, 35-60 (50)
Menschen (Kapps "Organprojektion"-Ansatz, umgekehrt gelesen). Der
technisch induzierte Affekt ruft etwas im Menschen hervor, was
darin schon angelegt ist - eher re-call.
"Die Stillen im Lande heißt ein Radiohörspiel, das <...> Glenn
Gould im Jahre 1973 aus Tonbändern von einer Reise in den Norden
<sc. Kanadas> collagiert hat, damals noch in Handarbeit"170
- eine symbolische Operation der Collage, die vielmehr nur auf
materialer Ebene des "blutigen Schnitts" eine Wunde (Trauma)
darstellt.
Die Gegenwärtigkeit der akustischen Situation, mithin das Reale
von stimmhaften Frequenzen durchschneidet die historische Distanz,
wenn das Tongenerationsmedium (die technische Sirene, engl.
aerophone) auf ihr Objekt (den homerischen Sirenengesang) trifft:
"Das Ohr ist ein Organ der Angst", schreibt Ludwig Feuerbach im
Kontrast zum distanzierenden Augenblick als "Organe der Kritik und
des Skeptizismus"171. Schalten wir also analytisch um, vom
animierten "Bewegt"bild zum primären Beweger Schall:
Stimmaufnahmen. "Wo eine Stimme uns erreicht - vorausgesetzt, sie
ist nicht technisch reproduziert - , sind wir 'dabei gewesen'."172
Friedrich Kittler rät, "dass vielleicht auch die Archäologie sich
trennen sollte von dem Glauben, Augen seien bessere Zeugen als
Ohren. Ich glaube es nicht."173
<cZEITWEISKLANG>
In markanter Differenz zu Lacans Deutung des immediaten
Spiegelstadiums in der frühkindlichen Ich-Werdung174 ist die
170 Petra Kipphoff, Das Ohr hat Angst (über die Klanginstallation
The Murder of Crows von Janet Cardiff und George Bures Miller in
der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin, in: Die Zeit,
20. März 2009
171 As quoted by Petra Kipphoff, Das Ohr hat Angst (über die
Klanginstallation The Murder of Crows von Janet Cardiff und
George Bures Miller in der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof,
Berlin, in: Die Zeit, 20. März 2009
172 Sybille Krämer, Die "Rehabilitierung der Stimme". Über die
Oralität hinaus, 269-295 (285). Siehe auch Hans-Thies Lehmann,
Prädramatische und postdramatische Theater-Stimmen. Zur
Erfahrung der Stimme in der Live-Performance, in: Kunst-Stimmen,
ed. by Doris Kolesch / Jenny Schrödl, Berlin 2004, 40-68
173 Friedrich Kittler, Das Alphabet der Griechen. Zur Archäologie
der Schrift, in: Knut Ebeling / Stefan Altekamp (Hg.), Die
Aktualität des Archäologischen in Wissenschaft, Medien und
Künsten, Frankfurt/M. (Fischer) 2004, 252-260 (260)
174 Siehe Kaja Silverman, The acoustic mirror. The female voice in
psychoanalysis and cinema, Bloomington, Indiana (Indiana
University Press) 1988
Konfrontation mit der eigenen Stimme keine imaginäre
Zusammensetzung dessen, was ansonsten als zerstückelt oder
partiell erfahren wird (der eigene Körper und der der Mutter),
sondern eine logodezentristische Irritation, begründet im
Zeitverzug.
<cZEITWEISKLANG>
Es gibt eine anthropologische Angst vor der Stimme, wenn sie nicht
in ihrer domestizierten symbolischen Form als alphabetischer Text,
sondern als medientechnisch reproduzierbares Klangereignis
widerfährt, wie es Samuel Becketts Einakter Krapp's Last Tape
(1959) anhand von Tonbandprotokollen der Tagebuchstimme
medientheatralisch zur Aufführung brachte, buchstäblich: Signale
aus der Vergangenheit.
Die "Form der Schallplatte" sowie deren phonographischen
"Nadelkurven" (Theodor W. Adorno) erlaubte noch die Versöhnung der
technischen Klangaufzeichnung mit den vertrauten Kulturtechniken
der Schrift - bis hin zur Namensgebung von Edisons und Berliners
Apparaturen. Damit bricht die elektromagnetische Aufzeichnung und
induziert einen Schock im kulturellen Unbewußten.
<cMEDNIETZSCHE2KORR>
1888 veröffentlicht der Maschinenbauer Oberlin Smith in The
Electrical World seinen Aufsatz "Über einige mögliche Formen des
Phonographen" als Fortschreibung von Edisons mechanischem
Schallaufzeichnungsverfahren:
"Ein Elektromagnet soll einen magnetisierbaren Tonträger, z. B.
einen Seidenfaden mit eingewebten Stahldrahtstücken, im Rhythmus
der von einer Membrane aufgefangenene und in elektrische Ströme
umgewandelten Schallwellen magnetisieren. Bei der Wiedergabe
sollen dann umgekehrt die magnetischen Impulse elektrische Ströme
erzeugen und diese wiederum eine Lautsprechermembrane in
Schwingungen versetzen."175
In diesem präzisen Kurzschluß zwischen Vergangenheit und Gegenwart
wird aus der historischen Distanz ein induktives Verhältnis.
Mediengedächtnis, wie es Nietzsche hier vorschwebt, erzeugt so
eine eigentümliche Präsenz der Vergangenheit auf dem Niveau der
Sinneswahrnehmung selbst - der ungeheure Schock für die am Begriff
der Historie trainierten Philosophien der Zeit des Symbolischen
zugunsten einer Zeit des Realen, die den elektronischen Medien
eignet. Der Bruch verläuft Ende des 19. Jahrhunderts ebenso durch
Nietzsche hindurch wie zwischen Phonograph und Magnetton selbst.
Sprünge in Signalen, besonders in Schwingungskurven, ließen sich
bis zu Zeiten Leonard Eulers nicht berechnen, sondern nur
willkürlich zeichnen; Euler nennt diese traumatischen Momente das
175 Zitiert nach: Friedrich Naumann, Vom Akakus zum Internet. Die
Geschichte der Informatik, Darmstadt (Primus) 2001, 127
schockartige Sein des Schalls. Erst mit Fourier werden auch diese
als reguläre Funktionen von t berechenbar.176
Das Freudsche "Trauma" hängt insbesondere am Akustischen: hörbare
Geräusche, Signale.
<cZEITWEISKLANG>
Akustische Eindrücke passieren in der menschlichen Wahrnehmung
nach ihrer Signalkodierung im Gehör zunächst den im Vorderhirn
angesiedelten Thalamus, bevor sie zum Neo-Cortex gelangen, wo die
bewußte Verarbeitung stattfindet. Zweck dieser Türhütung ist die
Filterung: "Dabei spielt die affektive Bewertung der Eindrücke
eine zentrale Rolle, und zwar deshalb, weil die Eindrücke affektiv
schneller verarbeitet werden als bewußt."177 Zeitkritische Prozesse
stehen auf Seiten des Affekts.
Verzögerte Gegenwart: "In Verlängerung von Freuds Ausführungen zum
zeitlichen Selbstvorlauf der Affizierung betont auch Jacques
Lacan, dass der Affekt immer erst nachträglich bemerkt wird. Er
ist 'verrutscht' (wie eine Schiffsladung), er driftet" <...>"178 wie Elektronen in hochtechnischen Systemen.
Sobald menschliche Wahrnehmung an technische Medien gekoppelt ist,
unterliegt sie deren Zeitgebung - "wo uns Hören und Sehen
vergeht".179 Und "[w]ir täuschen uns leicht im Bereich der
Wahrnehmungen, wenn wir uns im Affekt befinden."180 Eine der
filmischen Projektion verwandte, flickernde Gegenwart: "Der Affekt
ist in dieser Sehweise ein Intervall, er ist das, was schon ist,
aber noch nicht in Aktion, das, was bereits vorbei ist, aber noch
nicht bewusst [...]."181
176 Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken der
neuzeitlichen Wissenschaften 1500-1900, Berlin (Brinkmann &
Bose) 2003, 217ff
177 Martin Klaus, Wenn es warm wird an der Stirn, in: Frankfurter
Allgemeine Zeitung Nr. 290 v. 13. November 1995, N6, unter Bezug
auf: David S. Miall, Anticipation and feeling in literary
response: A neuro-psychological perspective, in: Poetics 23
(1995)
178 Ott 2010: 393, unter Bezug auf: Jacques Lacan, L'angoisse,
Séminaire X, Paris (Ed. du Seuil) 2004 (deutsche, nicht
publizierte Übersetzung von Gerhard Schmitz)
179 Kittler, Real Time Analysis 1993: 192
180 Aristoteles, Über Träume, in: ders., Kleine
naturwissenschaftliche Schriften, Stuttgart (Reclam) 1997, 119
181 Marie-Luise Angerer in ihrer Rezension von Brian Massumi,
Ontomacht. Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen,
Berlin (Merve) 2010, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft,
online http://www.zfmedienwissenschaft.de, September 2010; hier
unter Bezug auf: Brian Massumi, The Bleed. Where the Body meets
Image, in: John C. Weichman (Hg.), Rethinking Borders,
Minneapolis / London (University of Minnesota Press) 1996, 29
Gemäß Brian Massumi ist Affekt "ein Loch in der Zeit, gefüllt mit
Bewegungen und Resonanzen"182 - mithin also sonischer Natur, ein
Zeitreal. Zeit affiziert hier das Subjekt. Die Plötzlichkeit von
Zeit ist die Form oder vielmehr dynamis des Affekts - im
Unterschied zum Raum, der als gegebene Dauer hingenommen wird.
Mithin manifestiert sich das Zeitreal im zeitkritischen Feld, als
zugespitzte Unverborgenheit. G. W. F. Hegel identifizierte
seinerzeit diesen verbund aus Ton, Zeit und Affekt. Die Zeit als
Verinnerlichung hingegen "nennt sich Gedächtnis"1.
Der kinematographische Nachbild-Effekt, die Superposition von
Sinnesreizen (Henri Bergson), und die sonische "Tonverschmelzung"
im Sinne von Wilhelm Wundt weben hier eine dichte Gegenwart.
Anders die technische Wahrnehmung: Um Radiostimmen zu erhalten,
muß der Empfänger exakt auf die entsprechende Frequenz eingestellt
sein: Resonanz als das eigentliche Ereignis für den gelingenden
Empfang.183
Absenz versus Appräsentierung: Phonographisch induzierte
Halluzination von Vergangenheit
<modPADERMETHPHONO>
Mit dem Phonographen wurde eine uralte Archiv-Fiktion zur
Wirklichkeit - nämlich das halluzinatorische Vernehmen der Stimmen
von Toten.184 Hier geschieht temporale Epiphanie als das, was
durchscheint und durchklingt. Zugleich aber wird das symbolische
Regime des Archivs damit unterlaufen, denn es ist nicht die
kodierte Artikulation als Schrift, sondern technische
Signalaufzeichnung, welche erstmals das, was gemeinhin als
Lebensäußerung augen- und ohrensinnlich erfahren wird, tatsächlich
speichert.185
<modPADERMETHPHONO>
182 Angerer 2007: 65, in Paraphrasierung von: Brian Massumi, "The
Autonomy of Affekt", in: Paul Paton (ed.), Deleuze. A Critical
Reader, Cambridge, Mass. 1996, 217-239
183 Siehe auch Wolfgang Hagen,̧"Körperlose Wesenheiten". Über die
Resonanz der Radio-Stimme, in: Karsten Lichau / Viktoria
Tkaczyk / Rebecca Wolf (Hg.), Resonanz. Potentiale einer
akustischen Figur, München 2009, 193-203
184 Zu den Stimmhalluzinationen des Historikers der Französischen
Revolution Jules Michelet siehe W. E., Das Rumoren der Archive,
Berlin (Merve) 2002
185 Paradox einer Mündlichkeit, deren Seit dem Vokalalphabet soll
die Musikalität oraler Poesie schriftlich, also phonographisch
avant la lettre überliefert werden; siehe Barry Powell 2004 über
Homer
Mit der wiederholten Abrufbarkeit dauerhaft gespeicherter
akustischer Signale erfolgt eine massive Verschiebung im
Zeithaushalt dessen, was bislang kulturelles - und damit im Sinne
Ernst Cassirers symbolbezogenes - Gedächtnis hieß; die
Vergangenheit rückt in den Verfügungsbereich, mithin den
Arbeitsspeicher einer erweiterten Gegenwart, von der seitdem eine
ganze Rundfunkindustrie lebt.
Gegenwartsanalyse geht hier in Speichertheorie über, wie es die
Neurowissenschaft (etwa E. Tulving) definiert: Neuronales
Geädchtnis ist nichts Anderes als der Nach-Effekt einer
Stimulation, die sich zu einem anderen Zeitpunkt (wieder)
artikuliert - verzögerte Gegenwart.
<cPHONARCHIV-HORN>
Der menschliche Hörsinn ist unfähig zur historischen Wahrnehmung
von Stimmen aus der Vergangenheit. Jedes akustische Signal ist dem
Ohr als Zeitsinn gleich-präsenz. Die Ermöglichung, Musik als
vergangene hören und wahrzunehmen zu können, verdankt sich nicht
neuronalen, sondern phonotechnischen Engrammen. Antonin Artauds
Stimme auf Schallplatte ist seine Phono-Präsenz als purer Effekt
des Apparats. Die schwarze Venylplatte selbst schweigt wie eine
archäologische Tonscherbe, an deren Rillen Walter Benjamin (in
seinem Aufsatz Der Erzähler) noch die Spur des Töpfers
entzifferte.
Eine Quellenkritik phonographischer Stimmen
Einerseits ist es die Stimme, welche in einer
(phono-)logozentristischen Kultur "so untrüglich Zeugnis ablegt
von menschlicher Anwesenheit"; andererseits wirkt mikrotraumatisch
kaum etwas so verstörend "wie die Erfahrung, dass eine als Index
lebendiger Präsenz gedeutete Stimme sich als technische
Aufzeichnung, als die geistergleiche Stimme eines Toten erweist".186
Aus Sicht des technischen Kanals ist der ontologische Unterschied
aufgehoben; medienarchäologisch nicht von ungefähr wurden
Stimmenübertragung (als Telephonie) und Stimmenspeicherung
(Phonographie) fast zeitgleich erfunden.187
Marcel Proust hat die raumzeitliche Aura der elektrifizierten
Stimme seiner Großmutter, die "Realpräsenz dieser so nahen
Stimme"188 am Telephon beschrieben: "<...> aber nur die Stimme war
186Doris Kolesch / Sybille Krämer, Stimmen im Konzert der
Disziplinen, in: same authors (eds) 2006: 7-15 (7)
187Darauf verweist Thomas Macho, Stimmen ohne Körper. Anmerkungen
zur Technikgeschichte der Stimme, in: Kolesch / Krämer (eds
2006: 130-146 (140)
188 Proust 1996: 184
bei mir, so ungreifbar wie die geisterhafte Erscheinung, die mich
vielleicht wieder aufsuchen würde, wenn meine Großmutter tot
wäre."189
Im ersten Moment kommuniziert der Erfinder des Phonographen,
Thomas Alva Edision, mit dem technischen Artefakt selbst; sein
Sprachtest heißt "Hullo". Ins kollektive Gedächtnis übergegangen
ist sein semantischer Test: das Kindergedicht Mary had a little
lamb. Beim Anhören aus online-Quellen mag es die Anschauung der
Originalaufnahme haben; erst die vollständige Überlieferung mit
der Anmoderation von Edision selbst gibt den Hinweis darauf, daß
es von ihm - immerhin mit eigener Stimme - nachgesprochen wurde.
In Samuel Becketts Einakter Krapp's Last Tape kommentiert derselbe
Mann mit gealterter Stimme beim Abhören seine früherer
Stimm"tagebuch"eintragungen.
<cPADERMETHPHONO>
Um das Publikum von der sonischen Treue phonographisch
dargebotener Reproduktion von Musik zu überzeugen, wurde 1916
folgende Experimentalanordnung in New Yorks Carnegie Hall
inszeniert.190 Zu einer analogen Inszenierung von menschlicher
Stimmperformance versus apparativer akustischer Operativität heißt
es im gleichen Jahr im Boston Journal: "It was actually impossible
to distinguish the singer's living voice from its re-creation in
the instrument."191
Der Chrono-Sirenismus von His master´s voice, also die durch
technische Speicherung und Reproduktion induzierte,
präsenzerzeugende "Illusion von Dabeisein" (Peter Wicke)
<cPADERMETHPHONO>
Es bedeutete einen kulturellen Schock, als Menschen und andere
Lebewesen durch den Phonographen in die Lage versetzt wurden, dem
Realen der Stimme von Verstorben zu lauschen, als sei eine
Telephonleitung ins Jenseits gelegt. Eine kanonische Urszene für
dieses neuen Zeitgestells bildet der Hund, der am Trichter eines
Phonographen der Stimme seines Herrn lauscht (featuring Nipper192).
189 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit [Marcel
Proust, Frankfurter Ausgabe, hg. v. Luzius Keller, Werke II],
Bd. 3: Guermantes, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1996, 186
190 Artikel "Edison Snares Soul of Music", in: New York Tribune v.
29. April 1916, 3
191 Zitiert nach: Emely A. Thompson, Machines, Music, and the
Quest for Fidelity. Marketing the Edison Phonograph in America
1877-1925, in: The Musical Quartely Bd. 79 (1995), 132. See
Peter Wicke, Das Sonische in der Musik, in: Das Sonische. Sounds
zwischen Akustik und Ästhetik, in: PopScriptum 10 (2008),
online http://www2.huberlin.de/fpm/popscrip/themen/pst10/index.htm
192 Die Szene wurde von The Gramophone Company Ltd. Hayes,
Middlesex, 1910 als Warenzeichen eingetragen. Siehe Mladen
Was erklingt hier: Mensch und/oder Maschine? Das Gehör des Hundes
ist durch diese Signalwahrnehmung irritiert. Und vice versa:
"›Eines Tages kam ein Hund hier vorbei und bellte in den Trichter‹
berichtet Edison ›und dieses Bellen wurde in phantastischer
Qualität reproduziert. Wir haben die Walze gut aufgehoben und nun
können wir ihn jederzeit bellen lassen. Dieser Hund mag von mir
aus sterben <...>,‹ fügt er in fast Schrecken erregendem Ton und
mit weit ausholender Handbewegung hinzu, ›aber wir haben ihn ‒
alles, was Stimme hat, überlebt.‹"193
Diese Irritation widerfährt Menschen ebenso: einmal auf der
synchronen Ebene der Mensch-Maschine-Differenz, doch ebenso
diachronisch. Nipper in Francis Barrauds Gemälde von 1895 ist
(unter Ersatz des Reproduktionsmediums durch sein technisches
Nachfolgemodell) zum Logo der Grammophon-Gesellschaft geworden.194
Gleich einem elektromagnetischen Feld oszilliert die Stimme, die
nicht körperlos ist, sondern ihren Körper von einem biologischen
in den medientechnischen Leib gewechselt hat, hier zwischen
räumlicher und zeitlicher Abwesenheit ihrer ursprünglichen
Signalquelle; der Herr von "His Master's Voice" ist nicht nur
geographisch entfernt, sondern möglicherweise schon tot. Das
glattpolierte Holz, auf dem im Bild die Hund-Maschine-Kopplung
aufgestellt ist, ist als Sargdeckel deutbar; das Reale bleibt auch
im technischen Medium bei der Leiche. Das ultimative Kriterium
aller bisherigen Historie, die Unterscheidung von Leben und Tod,
wird durch Aufzeichnungsmedien analoger Signale zum Turing-Test
umformuliert: zur Frage nach dem Lebendigkeitsstatus des
akustischen Phänomens. Es kommt mit der Affizierung des inneren
Zeitbewußtseins von Menschen durch signaltechnische
Aufzeichnungsmedien zu einer fundamentalen Verstimmung der
historischen Kognition: Vernommen wird aisthetisch die Präsenz
eines Menschen (verkörpert durch seine Stimme), gewußt aber wird
dennoch kognitiv seine Vergangenheit - als Tod oder andere
Abwesenheit. Hier findet auf der Ebene der Zeitachsenverschiebung
(also hinsichtlich des zeitlichen Kanals als indirekte
Vergegenwärtigung von Vergangenheit) statt.
Eine Art sonischer Turing-Test: Vermag das menschliche Gehör über
Dolar, Eine Theorie der Stimme, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 2007,
102 f.
193 John Durham Peters, Helmholtz und Edison. Zur Endlichkeit der
Stimme, in: Friedrich Kittler / Thomas Macho / Sigrid Weigel
(eds), Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und
Mediengeschichte der Stimme, Berlin (Akademie) 2002, 291-312
(304)
194 Dazu Curt Riess, Knaurs Weltgeschichte der Schallplatte,
Zürich (Droemer/Knaur) 1966. Siehe auch Jonathan Sterne, The
Audible Past. Cultural Origins of Sound Reproduction, Durham /
London (Duke University Press) 2003
die Authentizität einer Stimmaufnahme zu entscheiden? Als
Digitalisat hat es seine Autorisierung in entropischer Hardware
verloren. Schauen wir die Nahaufnahme einer Schallplattenrille;
sichtbar ist die indexikalischen Spuren der Historizität, der
unverwechselbarer Fingerabdruck des Schallwellenereignisses, der
im Digitalisat (das verlustfrei kopierbar ist) als Serie von pits
and lands auf CD-Spuren verlorengeht. Die historische Datierung
hängt jedoch am physikalischen Index, anders als "digitale
Forensik". Ein Digitalität bedarf zu seiner Autorisierung des
archivischen Kontexts; das physikalische Dokument (konkret hier in
der doppelten Bedeutung von record) trägt seine historische Spur
an sich. Mehr denn je sind digitale Tondokumente abhängig von der
Autorisierung durch die archivische Institution als Garant
überprüfbarer Metadaten. Das Historische ist eine Funktion
historiographischer Zuschreibung.
Technische Speichermedien, so die These, sind indifferent dem
Diskurs von Tätern oder Opfern gegenüber. Zwar hat Heinrich
Himmler in seiner Geheimrede vor SS-Gruppenführern in Posen am 4.
Oktober 1943 die Löschung der Spuren des Genozids zum Programm
erklärt: "Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn
100 Leichen beisammenliegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000
daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei <...> anständig
geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals
geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unsere
Geschichte."195 Doch die Medienkultur des 20. Jahrhunderts
unterläuft diese Aussage, von der wir nur wissen, weil sie
signaltechnisch, obgleich geheim, auf Schallplatte aufgezeichnet
wurde. Nur so konnte sie Romoald Karmaker in seinem Film Das
Himmer-Projekt als Text, gesprochenen durch einen Schauspieler
(Zapatka), wieder einspielen - und hat die
gedächtnismedienkulturell Chance zur Aufklärung über die
eskalierte Lage gegenwärtiger Medienkultur zugleich auch wieder
verspielt, weil hier die Struktur des technischen Archivs hinter
der Schauspielermaske (persona) propospopoietisch zum Verschwinden
kommt.
Der Einbruch des Tons in das Bewegtbild von Film und Fernsehen
(mit Adorno)
Bedarf Kinematographie der akustischen Supplementierung? "Die
Musik wurde gleichsam als Gegengift gegen das Bild eingeführt";
damit hat man "dem Zuschauer das Unangenehme ersparen wollen, daß
die Abbilder lebendiger, agierender und gar redender Menschen
vorgeführt werden, die doch zugleich stumm sind. Sie leben und
leben zugleich nicht, das ist das Geisterhafte, und Musik will
weniger ihr fehlenden Leben surrogieren <...>, als vielmehr die
195 Prozeß Hauptkriegsverbrecher, Dok. PS-1919, 64ff
Angst beschwichtigen, den Schock absorbieren."196
Und weiter: "Auch der Spielfilm ist stumm. Seine Personen sind
nicht redende Menschen, sondern redende Bilder <...>. Die Worte
kommen ihnen in einer Weise aus dem körperlosen Munde, die jeden
Unbefangenen beunruhigen muß. Zwar sind auch diese Worte,
gegenüber den natürlichen, im Klang weitgehend modifiziert, aber
doch nicht entfernt im gleichen Maße Bilder von Stimmen wie die
Fotografien Bilder von Menschen. Diese technische Disparatheit von
Bild und Wort wird durch ein tiefer liegendes Moment verschärft.
Alle Rede im Film hat etwas Uneigentliches. Das Urprinzip des
Films, seine 'Erfindung' ist, Bewegungen zu fotografieren"197
- und dies im Sinne der aristotelischen Definition von Zeit als
Maßzahl von Bewegung - was Bergson als metrische Zeit gegenüber
der inneren Zeitempfindung (Dauer) kritisiert.
"Diese Prinzip ist von solcher Eigengewalt, daß alles, was nicht
in visuelle Bwegung aufgelöst ist, gegenüber dem immanenten
Formgesetz des Films heterogen und starr wirkt. <...> Die
fundamentalen Divergenzen von Wort und Bild werden vom Unbewußten
des Betrachters registiert und die aufdringliche Einheit des
Tonfilms, der sich als lückenlose Verdopplung der ganzen Außenwelt
mit all ihren Elementen aufspielt, als erschlichen und brüchig
wahrgenommen."198
Theodor W. Adorno beschreibt das Fernsehbild im ausdrücklichen
Unterschied zur Kinoleinwand (seiner Zeit, nicht den flachen
Großbildschirm), das im Sinne McLuhans "kalte", weil detailarme
elektronische Bild (im Gegensatz zu HDTV): "Einstweilen dürfte das
Minaturformat der Menschen auf der Fernsehfläche die gewohnte
Identifikation <...> behindern. Die da mit Menschenstimmen reden,
sind Zwerge. Sie werden kaum in demselben Sinn ernst genommen wie
die Filmfiguren."199 Günther Anders aber mag eine signaltechnische
aufgezeichnete Stimme, selbst von einem Kindergrammophon kommend,
als Originalgröße wahrgenommen werden. Die Stimme wird von
Audiomedien besser als nahezu vollständig erfaßt; hierin liegt
ihre präsenzgenerierende Kraft. Caruso von Edisonwalze wird nicht
als Zitat wahrgenommen wie sein photographisches Portrait,
aufgedruckt der Verpackung der Walze.
Die im Klang verdichtete Erinnerung des Holocaust
Geoffrey Hartman richtete an der Harvard University ein
elektronisches Zeitzeugenarchiv zum Holocaust ein. Handelt es sich
196 Theodor W. Adorno / Hans Eisler 1976b: 74 f.
197 Adorno / Eisler 1976b: 75
198 Adorno / Eisler 1976b: 75f
199 Adorno 1953a: 508f (<zitiert nac diss. Lorenz>
beim Videorecording von Holocaust-Zeugen überhaupt um einen neuen
Typus von "historischer Quelle", oder vielmehr um eine Alternative
zur Historiographie?
Aus medienarchäologischer Sicht interessiert nicht exklusiv die
ethisch unsagbare Betroffenheit (Shoah-Diskurs), sondern das
techno-traumatische Zeitreal, das aus einem solchen
Mediengedächtnis mit aufblitzt. Anhand der HolocaustGedächtnismedien wird in zugespitzter Form deutlich, wie der
Temporaleinfluß von Speichertechniken auf menschliche Wahrnehmung
eskaliert. Was in der konkreten historischen Situation des
Holocaust gründet, soll auf seine medienarchäologische
Mitbegründung hin untersucht werden, denn neben die spezifischen,
an das Ereignis des Holocaust gebundene Symptome treten die
medieninduzierten Zeit-Affekte. Damit gilt es zugleich eine
technologische Mitzeugenschaft zu identifizieren; ent-humanisieren
diese Techniken das Gedächtnis? Info-Radio (Radio BerlinBrandenburg) vermeldete am 2. November 2013 den faux-pas von
"Auslandszahlungen an Tote" durch die deutsche Rentenversicherung;
die digitale Verwaltung vermag in der Adressierung von Menschen
als Namen nicht zwischen Tod und Leben zu unterscheiden. Die
Fixierung auf den Inhalt eines Mediums aber macht "der Wesensart
des Mediums gegenüber blind"200.
"Zum großen Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963-65) waren 318
Zeugen angereist, darunter 181 Auschwitz-Überlebende. Vor dem
Frankfurter Schwurgericht erzählten sie, wie das Morden
funktionierte, [...] kaum einmal stotternd oder gar schluchzend,
sondern gefasst, oft über viele Stunden."201
Das ist nun online nachhörbar: auf Tonband-Mitschnitten, die unter
www.auschwitz-prozess.de zugänglich sind.
"Die Richter in Frankfurt hatten ein Tonband laufen lassen <...>.
Hessens Justizminister rettete die Bänder später vor dem
Schredder. Ein halbes Jahrhundert später haben Forscher um das
Frankfurter Fritz-Bauer-Institut die Mitschnitte
nun sortiert und aufbereitet, als Audiostream mit zusätzlichen
Bildern und Erklärungen. <...> Wie Dr. Konrad Morgen, SS-Richter,
der seinen Besuch in den Gaskammern und Krematorien [...]
schildert, 'eine sachliche, neutrale, technische, wertfreie
Atmosphäre' habe im Innersten der Mordfabrik geherrscht [...]. Gerade war dort ein
'Transport' vernichtet worden, also eine
Gruppe von 1000 bis 2000 Menschen. 'Es war alles spiegelblank,
geleckt, und einige Häftlinge in Monteuranzügen, die polier200 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding media
[*AO 1964], Dresden et al. (Verl. d. Kunst) 1995, 23
201 Ronen Steinke, Auschwitz-Zeugen im O-Ton. Fritz-Bauer-Institut
stellt Audiostreams ins Netz, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 231,
Montag, 7. Oktober 2013 , Feuilleton, 13
ten da ihre Armaturen, machten sich da künstlich Bewegung. Sonst
war alles still und leer.' <...> Der Vorsitzende Richter Hans Hofmeyer sagte in seiner fünfstündigen Urteilsbegründung: 'Es wird
wohl mancher unter uns sein, der auf lange Zeit nicht mehr in die
frohen und gläubigen Augen eines Kindes sehen kann [...].' Gar
nicht fest ist diese Stimme, wie man nun hören kann. Sie bricht,
mitten im Satz."
Steht der technische Abbruch einer Rede - bedingt etwa durch das
Ende der Magnetbandspule - zu solcherart semantischen
Zusammenbrüchen und psychosomatisch bedingten Sprechpausen in
irgendeinem korrelativen Zusammenhang? Oder verführt das
semantische Gehör - wie am Ende des vorliegenden Artikels ablesbar
- zur quasi-traumatischen Bedeutungsaufladung dessen, was schlicht
ein technisches Verhältnis - die Endlichkeit der Magnettonspule ist?
Weder die literarische Form der Erzählung noch die Philosophie
einer sinnbehafteten Geschichte vermag "die Differenz zwischen
psychischer Zeitlichkeit und linearer, chronologischer Zeit"202 zu
überbrücken. "'Trauma' bezeichnet <...> nicht nur die Verzögerung
zwischen einem Ereignis und seiner (hartnäckigen, obesssiven)
Wiederkehr, sondern auch eine Umkehrung von Affekt und Bedeutung
über diesen Bruch in der Zeit hinweg."203 Die Dissonanz zwischen
kognitiv-historischem Zeitbewußtsein und medieninduzierten,
präsenzerzeugenden Zeitaffekten kulminiert im Techno-Trauma.
202 Elsaesser 2007: 198
203 Elsaesser 2007: 199