Pakt mit dem Teufel - Neue Zürcher Zeitung

Transcrição

Pakt mit dem Teufel - Neue Zürcher Zeitung
Nr. 2 | 27. Februar 2011
Louise Erdrich Schattenfangen | Jakob Arjouni Cherryman jagt Mr. White |
Hans Fallada Jeder stirbt für sich allein | Sybille Steinbacher Wie der Sex
nach Deutschland kam | Alfred Grosser im Interview | Helmuth James und
Freya von Moltke Briefe und Biografien | Weitere Rezensionen zu Heinrich
von Kleist, Walter Kohl, Karl Lüönd u. a. | Charles Lewinsky Zitatenlese
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Hochstapeln
gehört
zur Bildung.
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10 Literaturklassiker zum Thema Geld zusammengefasst zum Probelesen: zum Beispiel «Bekenntnisse des Hochstaplers
Felix Krull» von Mann. Als kostenlose Beilagen vom 27. März bis zum 29. Mai 2011 exklusiv in der «NZZ am Sonntag».
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Weltliteratur – 10 Klassiker zum Thema Geld in kompakter Form.
William
Shakespeare
«Der Kaufmann
von Venedig»
Gotthold Ephraim
Lessing «Minna
von Barnhelm»
Mit Unterstützung von
Johann Wolfgang
von Goethe
«Faust II»
Alexandre Dumas
«Der Graf von
Monte Christo»
Gustav Freytag
«Soll und Haben»
Fjodor M.
Dostojewski
«Der Spieler»
Richard Wagner
«Das Rheingold»
Pearl S. Buck
«Die gute Erde»
Arthur Miller
«Tod eines
Handlungs­
reisenden»
Thomas Mann
«Bekenntnisse
des Hochstaplers
Felix Krull»
In Kooperation mit
Mit Verstand zu geniessen.
Inhalt
Wenn der Drang
nach Freiheit
sich Bahn bricht
US-Autorin Louise Erdrich, 57, die unser Titelblatt ziert, verarbeitet in
ihrer Literatur viel aus ihrer eigenen Geschichte. Einer ihrer Grossväter
war deutscher Metzger, der andere Indianerhäuptling. Als sie den
irischen Anthropologen Michael Dorris heiratete, galten die beiden als
Vorzeigepaar multikultureller Literatur. Doch die Ehe scheiterte, und
der dem Alkohol verfallene Ehemann nahm sich das Leben.
Nach Romanen wie «Liebeszauber» und «Der Club der singenden
Metzger» legt Erdrich mit «Schattenfangen» einen Psychothriller vor:
Irene denkt sich ein grausames Spiel aus, als sie bemerkt, dass ihr Mann
Gil heimlich ihr rotes Tagebuch liest. Sie beschafft sich ein neues
blaues, das sie im Banksafe versteckt. Diesem vertraut sie ihre tiefen
Ehezweifel an. Im fiktiven Journal «betrügt» sie Gil und verachtet ihn.
Das Glamour-Paar hält in Wirklichkeit nur noch Hassliebe zusammen.
Den Mix aus rasender Eifersucht, Sex, Alkohol und Gewalt hat Erdrich
zu einer meisterhaften Story verarbeitet (Seite 7).
Um Sex geht es auch in anderen Neuerscheinungen. Eine davon – die
«zornigen Bekenntnisse» von Joumana Haddad, Herausgeberin des
ersten arabischen Erotik-Magazins (Seite 22) – führen ins Zentrum der
Aktualität dieser Wochen. Denn sie legen die Wurzeln des arabischen
Aufstandes in Nordafrika und im Nahen Osten frei: den unbändigen
Drang nach Freiheit und Selbstbestimmung. Urs Rauber
LouiseErdrich
(Seite7).
Illustrationvon
AndréCarrilho
Von Kathrin Meier-Rust
18 SybilleSteinbacher:WiederSexnach
Deutschlandkam
Von Fritz Trümpi
19 WalterKohl:Lebenodergelebtwerden
Von Gerd Kolbe
20 ThomasWelskopp:Amerikasgrosse
Ernüchterung
Von Kathrin Meier-Rust
Belletristik
KurzkritikenSachbuch
4 JakobArjouni:CherrymanjagtMr.White
Von Manfred Papst
6 WolfgangSchlüter:Dieenglischen
Schwestern
Von Martin Zingg
MusaBeksultanow:FerneGestadedesLebens
15 UlrikeStamm:DerOrientderFrauen
Von Geneviève Lüscher
PeterF.Drucker:Ursprüngedes
Totalitarismus
7 LouiseErdrich:Schattenfangen
Von Angelika Overath
8 Jean-PhilippeToussaint:WahrheitüberMarie
9 GwendolineRiley:JoshuaSpassky
Sachbuch
16 HelmuthJamesundFreyavonMoltke:
Von Irena Brežná
Von Stefana Sabin
Von Simone von Büren
KatharinaHenkel,LenaNievers:Franz
Radziwill
Von Gerhard Mack
10 HansFallada:Jederstirbtfürsichallein
Von Regula Freuler
11 AndreaCamilleri:Strengvertraulich
Von Christine Brand
WolfgangSchmidbauer:DaskalteHerz
GyörgyDalos:Gorbatschow.Menschund
Macht
NathalieHenseler:Gipfelgeschichten
Von Kathrin Meier-Rust
21 PeerTeuwsen:WohintreibtdieSchweiz?
Von Urs Rauber
Von Beatrix Mesmer
Von Beat Kappeler
22 JoumanaHaddad:WieichScheherazade
tötete
AbschiedsbriefeGefängnisTegel
FraukeGeyken:FreyavonMoltke
SylkeTempel:FreyavonMoltke
Von Susanne Schanda
KarlLüönd:ErfolgalsAuftrag
Von Charlotte Jacquemart
23 ViktorE.Kelner:SimonDubnow
Von Kathrin Meier-Rust
Von Klara Obermüller
24 GünterBlamberger:HeinrichvonKleist
PeterMichalzik:Kleist
Von Andreas Tobler
25 Tâdschos-Saltane:Memoiren.ImHaremdes
persischenSonnenthrons
KurzkritikenBelletristik
11 KatharinaBorn:SchlechteGesellschaft
Von Regula Freuler
Von Geneviève Lüscher
KonradPaulLiessmann:DasUniversumder
Dinge
Von Manfred Koch
GeorgesRodenbach:DastoteBrügge
Von Manfred Papst
26 WilliWinkler:DerSchattenmann
Von Manfred Papst
AliBabaunddievierzigRäuber
JensSteiner:Hasenleben
Eamonn mccabE / camEra PrEss / KEystonE
Von Regula Freuler
Interview
12 AlfredGrosser,Politologe
«Kein Witz, ich bin Moralpädagoge»
Von Urs Rauber
Kolumne
15 CharlesLewinsky
Das Zitat von Gustave Flaubert
JoumanaHaddadrechnetmitdemPatriarchatab.
Von Urs Rauber
DasamerikanischeBuch
StephanieCoontz:AStrangeStirring.The
FeminineMystiqueandAmericanWomenat
theDawnofthe1960s
Von Andreas Mink
Agenda
27 FrankWonneberg:GrandZappa
Von Manfred Papst
BestsellerFebruar2011
Belletristik und Sachbuch
AgendaMärz2011
Veranstaltungshinweise
Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) RedaktionUrs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin Meier-Rust (kmr.), Manfred Papst (pap.)
StändigeMitarbeitUrs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath,
Stefan Zweifel ProduktionEveline Roth, Hans Peter Hösli (Art-Director), Urs Schilliger (Bildredaktion), Manuela Klingler (Layout), Korrektorat St. Galler Tagblatt AG
AdresseNZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, E-Mail: [email protected]
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3
Belletristik
Rechtsextremismus Der deutsche Erzähler
Jakob Arjouni packt im neuen Roman ein heikles
Thema an. Und meistert seine Aufgabe souverän
Pakt mit
dem Teufel
Jakob Arjouni: Cherryman jagt Mr. White.
Diogenes, Zürich 2011. 168 Seiten,
Fr. 33.90.
Von Manfred Papst
Rick Fischer ist gerade einmal achtzehn
Jahre alt, doch sein Leben ist so gut wie
vorbei. Er sitzt im Knast, und da wird er
wohl noch lange bleiben. Denn es werden ihm fünf Tötungsdelikte zur Last
gelegt. Und er ist geständig. In dieser
hoffnungslosen Situation schreibt er an
den ihm zugeteilten Kriminalpsychologen, einen Doktor Layton. Er will sich
nicht herausreden. Er will sich nicht
rechtfertigen. Er will nur seine Geschichte erzählen.
Die Erzählperspektive ist weder neu
noch originell. Ein Angeklagter berichtet. Wie oft haben wir das schon gelesen! Doch das Rezept funktioniert –
zumal, wenn man es mit einem so souveränen Autor wie Jakob Arjouni zu tun
hat. Rick zeichnet Comics. Er versetzt
sich in einen Helden namens Cherry-
Jakob Arjouni
Regine MosiMann
Der 1964 in Frankfurt geborene Autor
Jakob Arjouni
machte sich zunächst als Verfasser von Krimis
einen Namen. Mit
22 Jahren veröffentlichte er den
Roman «Happy
Birthday, Türke»,
das erste seiner insgesamt vier Bücher
um den Privatdetektiv Kemal Kayankaya.
Seither hat er in rascher Folge Romane,
Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele geschrieben. Mehrere Jahre verbrachte er in Berlin. Heute lebt er mit
seiner Familie im Languedoc.
4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
man, der Verbrecher jagt und zur Strecke bringt. Auch solche, die sich in die
verschiedensten Gestalten verwandeln
können. Die unangreifbar sind wie
Phantome in Albträumen. Natürlich
wird er im Verlauf der Ermittlungen mit
dem Verdacht konfrontiert, seine Zeichnungen seien ein Hinweis auf seine Gewaltbereitschaft, doch er wehrt sich heftig gegen diese Unterstellung: Das
Zeichnen, sagt er, habe ihn die längste
Zeit davor bewahrt, in seiner trostlosen
Realität tätlich zu werden.
Dreiste Jugendbande
In seinem realen Leben steht Rick nämlich auf der Schattenseite. Er ist zwar
intelligent, sensibel und ehrgeizig. Aber
er kommt aus armen Verhältnissen und
hat nur die Hauptschule besucht. Beruflich hat er kaum eine Perspektive. Er
lebt in Storlitz, einem trostlosen Kaff
unweit von Berlin, bei einer Tante, umgeben von Verlierern der Wiedervereinigung und Globalisierung. Seine ehemaligen Schulkameraden hängen tagein,
tagaus vor dem Supermarkt herum,
klopfen rassistische Sprüche und saufen
sich voll. Sie leben von Schutzgeldern.
Auch Rick nehmen sie aus. Anfangs hat
er sich noch gewehrt – bis sie vor seinen
Augen seine Katze totgeschlagen haben.
Seither zahlt er. Er hasst die so trübe wie
dreiste Bande und geht ihr nach Möglichkeit aus dem Weg. Doch letztlich
bleibt er ihr ausgeliefert. Und eines
Tages machen die Kumpane ihm ein Angebot, das er nicht abschlagen kann.
Er soll tatsächlich eine Lehrstelle bekommen. Bei einem Gärtner in Berlin.
Das war schon immer sein Traum. Doch
die Anstellung ist an eine Bedingung gebunden: Rick soll sich in den Dienst
einer angeblich harmlosen Organisation
namens «Heimatschutz» stellen. Sowohl der Mann, der ihm die Stelle vermittelt, als auch der Lehrmeister gehören ihr an. Die Gruppierung ist ausländerfeindlich und antisemitisch, deklariert sich aber als gewaltfrei. Sie wolle,
sagt sie, mit Propaganda erreichen, dass
Verlierer der
Wiedervereinigung
und Globalisierung:
Jugendliche in
Brandenburg.
Deutsche vom Staat nicht schlechter behandelt würden als Zuwanderer.
Rick ist nicht wohl bei der Sache,
doch er geht den Pakt mit dem Teufel
ein. Anfangs denkt er, es wird wohl alles
nicht so heiss gegessen, wie es gekocht
wird. Er bekommt die Aufgabe zugeteilt,
im Rahmen seiner Arbeit einen jüdischen Kindergarten in unmittelbarer
Nachbarschaft des von ihm bearbeiteten
Geländes zu observieren und entsprechende Berichte abzuliefern. Wer geht
dort aus und ein, wie und von wem wird
die alte Villa bewacht?
Rick freundet sich über den Zaun hinweg mit einem kleinen Buben aus dem
Kindergarten an und glaubt, mit gelegentlichen nichtssagenden Rapporten
davonzukommen. Doch da täuscht er
sich gewaltig. Die Organisation nimmt
ihn immer fester in die Zange. Sie observiert ihn ebenso wie seine Geliebte. Die
geringste Pflichtverfehlung zieht drako-
RAINER WEISFLOG
nische Strafen nach sich. Und schliesslich nötigt der «Heimatschutz» den Erzähler, zu einer festgesetzten Stunde
eine Tasche mit Propagandamaterial im
jüdischen Kindergarten zu deponieren.
Rick ahnt, dass da ein übles Spiel mit
ihm gespielt wird. Und im letzten Moment entdeckt er, dass die Tasche vertauscht wurde. Sie enthält nicht mehr
Broschüren rechtsextremen Inhalts,
sondern einen Sprengsatz. Das aber
heisst: Seine Gruppe wollte ihn als unfreiwilligen Selbstmordattentäter einsetzen. Welch eine Infamie!
Diese Erkenntnis lässt Rick ausrasten.
Zunächst bewahrt er zwar einen kühlen
Kopf. Er zündet den Sprengsatz an
einem ungefährlichen Ort. Doch dann
kehrt er zu seinen Auftraggebern zurück
und bringt fünf von ihnen auf bestialische Weise um. Kurz darauf wird er verhaftet. Und aus dem Knast erzählt er uns
seine Geschichte.
Jakob Arjouni kommt vom Kriminalroman her. Seine vier Bücher um den
türkisch-deutschen Privatdetektiv Kemal Kayankaya machten ihn berühmt. In
ihnen zeigte sich der junge deutsche Erzähler (sein exotischer Name ist ein
Pseudonym) als selbstironischer Adept
der hartgesottenen Klassiker Dashiell
Hammett und Raymond Chandler.
Leser in der Zwickmühle
Bei diesem Rezept hätte er bleiben können. Doch genau das tat er nicht. Sobald
er bemerkte, dass er das Genre beherrschte, sagte Arjoini ihm Ade und
versuchte sich auf neuen Gebieten. Mit
«Magic Hoffmann» legte er eine originelle Berliner Geschichte vor, mit
«Hausaufgaben» einen meisterhaften
Schulroman, mit «Chez Max» ein launiges Buch aus der Zukunft, mit «Der heilige Eddy» einen so heiteren wie rasanten Schelmenroman. Und auch diesmal
überrascht uns Jakob Arjouni. Er schildert die Tristesse von Storlitz aufs Überzeugendste. Er porträtiert seine Figuren,
ohne sie voreilig zu verdammen. Und er
zeigt, in welche Bredouille ein ahnungsloser junger Kerl wie Rick gelangen
kann. Vor allem aber bringt er uns als
Leser selbst in eine Zwickmühle.
Zunächst sorgt er dafür, dass wir seinen Helden lieben. Wir bangen, hoffen
mit ihm. Wünschen uns, dass er seinen
Widersachern das Handwerk legt oder
ihnen mindestens entrinnt. Aber dann
geschieht etwas, das wir nicht erwartet
haben. Der sympathische Rick wird zum
Rambo. Er geht nicht zur Polizei, sondern greift zur Selbstjustiz und zur Kettensäge. Er richtet ein unsägliches Blutbad an. Und im Bericht an seinen Kriminalpsychologen notiert er scheinbar
ungerührt: «Wenn die Zeitungen schreiben, ich hätte meine Opfer verstümmelt,
ist das Unsinn. Es ist nun mal keines
ruhig sitzen geblieben, um sich einen
sauberen Schnitt verpassen zu lassen.»
Schon im Roman «Hausaufgaben»
(2004) hat Arjouni uns mit einem Helden konfrontiert, der nicht so unbescholten ist, wie es zunächst den Anschein macht. Das gelingt ihm auch jetzt
wieder. Wir folgen ihm im Glauben, einfach eine spannende Geschichte zu
lesen, und sitzen plötzlich moralisch in
der Klemme.
Arjouni schreibt mit leichter Hand,
präzis und unprätentiös, nah an der Umgangssprache. Seit jeher agiert er mit
einer Leichtigkeit und Eleganz, von der
viele seiner Zeitgenossen nur träumen
können. Seine Dialoge sitzen. Seine
Schilderungen sind so knapp wie anschaulich. Doch er benutzt diese Virtuosität, um uns an Abgründe zu führen.
Auch an unsere eigenen. Am Ende dieses eingängigen, scheinbar durchsichtigen Buchs lassen uns die Fragen nach
Ricks Schuld und unserer eigenen Gewaltbereitschaft nicht mehr los. ●
Jakob Arjouni liest am 14. März, 20 Uhr,
im Kaufleuten-Saal, Pelikanplatz 1, in
Zürich. Moderation: Manfred Papst.
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5
Belletristik
Roman Geschichte einer Glasharmonika quer durch
die Jahrhunderte
Wolfgang Schlüter: Die englischen
Schwestern. Eichborn, Berlin 2011.
408 Seiten, Fr. 33.50.
Von Martin Zingg
Der kunstvolle Spagat zwischen den
Epochen ist eine seiner Spezialitäten.
Wolfgang Schlüter kann sich in seinen
Romanen allein per Erzählphantasie
und Sprachgewalt in allen Zeiten niederlassen. Und immer geht es dabei um
Musik und um das, was Musik mit den
Menschen anstellt. Sein letzter Roman,
«Anmut und Gnade», handelte von
einer Oper von Jean-Philippe Rameau
und hatte den Grundriss einer Oper. In
Schlüters jüngstem Werk, «Die englischen Schwestern», werden die Kapitel
durch eine Tonleiter gegliedert, C-Dur
– und durch die Glasharmonika zusammengehalten.
Dieses etwas merkwürdige Instrument hat weder Tasten noch Saiten, aber
nebeneinander gefügte, gewölbte Glasschalen, eine pro Halbton. Mit feuchten
Fingern werden dem rotierenden Glas
Töne entlockt. Mozart komponierte für
das Instrument, später auch Haydn und
Beethoven. Heute ist das Instrument
weitgehend in Vergessenheit geraten,
aber es wird noch immer gebaut und gespielt. Wolfgang Schlüter macht es zum
geheimen Zentrum seines durch die Zeiten vagierenden Erzählunternehmens.
Zu Beginn des Romans treten zwei
Berliner auf, Schorse, der eigentlich
Georg heisst, und Werner. Die beiden
Zeitgenossen ereifern sich in eloquenter
Schnoddrigkeit über alles Mögliche.
Stadtzerfall oder Klopstock-Erstausgaben, alles kann zum Thema werden. Am
Ende des Romans werden wir den beiden wieder begegnen. Dazwischen
steigt der Roman, Kapitel für Kapitel,
von einem Halbtonschritt zum nächsten. Erst in die Tiefen der Geschichte,
liefert die eine Hälfte einer Erzählung,
und geht dann, mit der jeweils zweiten
Hälfte, wieder hoch, zurück in die Gegenwart.
Im Jahr 1973 macht ein Berliner Student Ferien in Neapel und berichtet seiner Geliebten von bizarren Begegnungen mit einem «Herrn im Panamahut»,
der ihm wiederum ein Papierkonvolut
überlässt, mit dem der Roman, durch
einen kühnen Sprung, im 18. Jahrhundert landet: Es erzählt Marianne Kirchgessner, zu Zeiten Mozarts geboren und
seit zweihundert Jahren am Leben, wenn
auch erblindet. In ihren frühen Jahren
konnte sie grosse Triumphe feiern mit
der Glasharmonika. Bald darauf sind wir
im Jahr 1798 und lesen den Bericht eines
jungen Militärarztes, der mit Admiral
Nelson unterwegs ist und die Seeschlacht bei Abukir überstanden hat.
Und 1785 erfahren wir allerhand aus den
Aufzeichnungen des deutschen Landschaftsmalers Johann Peter Hofmeister,
der sich nach Italien aufmacht. 1761
schliesslich informiert der amerikanische Politiker Benjamin Franklin, wie er
die Glasharmonika erfunden hat. Zwei
Nichten Franklins, die Schwestern Anne
und Cecily Davies, haben viel zur Ver-
SUEDDEUTSCHE ZEITUNG / KEYSTONE
Im Halbtonschritt
Literarisches Leitmotiv: Benjamin Franklin spielt auf der Glasharmonika.
breitung des Instrumentes beigetragen,
sie sind die zwei «englischen Schwestern», die dem Roman den Titel geben.
Jede der sechs Erzählungen ist in
einer anderen Sprache, in einem anderen Duktus gehalten. Dabei werden Fakten und Fiktionen auf unterhaltsame
Weise amalgamiert, so dass sie sich
wechselseitig einfärben, und am Ende
hat man einen ziemlich ungewöhnlichen Roman gelesen. Das letzte Wort
haben die beiden Berliner Schnauzen.
Sie geben noch jovial einige Tricks preis,
mit denen der ausserordentliche Erzähler Wolfgang Schlüter operiert – aber
natürlich bleibt dieser Roman ein kleines Wunder. ●
Erzählungen Archaische Themen wie Tod, Blutrache und Liebe aus Tschetschenien
Wenn das Herz explodiert
Musa Beksultanow: Ferne Gestade des
Lebens. Erzählungen und Novellen aus
Tschetschenien. Deutsch von Marianne
Herold, Ruslan Bazgiev. Kitab,
Klagenfurt 2010. 190 Seiten, Fr. 24.50.
Von Irena Brežná
Die zeitgenössische tschetschenische
Literatur ist eingebettet in kollektive
Traumata und traditionelle Bräuche.
Das zeigt auch der Erzählband «Ferne
Gestade des Lebens» des Schriftstellers
Musa Beksultanow. Seine Helden haben
die stalinistische Deportation 1944 nach
Zentralasien (der Autor selbst wurde
1954 in Kasachstan geboren) sowie zwei
russische Kolonialkriege erlebt. Es geht
um Archaisches: Tod, väterliche Autorität, Ungehorsam, Gebot der Gastfreund6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
schaft, unerfüllte Liebe, Blutrache und
Barmherzigkeit.
Dass diese Gesellschaft streng kodiert ist, zieht sich als Konstante durch
die Texte. Wenn der Mann nur am Begräbnis seiner Mutter und seines Bruders weint, hält er sich an den ungeschriebenen nordkaukasischen Verhaltenskodex «adat». In dieser patriarchalen Welt sind zwischengeschlechtliche
Gefühle kanalisiert. Im Keller, wo sich
Menschen vor den Bomben verstecken,
sucht eine Mutter eilig einen Bräutigam
für ihre minderjährige Tochter, als
Schutz vor der drohenden Vergewaltigung durch die russischen Militärs. Dem
Wahnsinn des Krieges stellt sie den
Wahnsinn der arrangierten Heirat als
Ordnung entgegen. Weder die Verbannung noch die Kriegsgewalt haben die
Bräuche ganz durcheinandergewirbelt.
Die Erzählungen, die nun auf Deutsch
vorliegen, sind eine ethnologische Fundgrube. Das Übersetzerpaar Ruslan Bazgiev, ein tschetschenischer Islamwissenschafter, der in der Schweiz lebt, und
die Zürcher Historikerin Marianne Herold gewährt uns Einblick in eine raue
Welt, die gleichsam zart ist. «Das Herz
explodierte», sagt ein Protagonist. In
der Tat fliegt hier alles durcheinander
wie Granatsplitter – Gefühle, Gedanken
und Familien, die auseinandergerissen
werden. «Gute Menschen streben nicht
nach Macht», sinniert ein Erzähler über
die Sowjetzeit, doch das Entstehungsjahr des Textes ist 2009. Eine Chiffre? In
Diktaturen sind historische Stoffe unverfänglich. Der Autor lebt nämlich in
Grosny unter dem grausamen Personenkult des tschetschenischen Präsidenten
Ramsan Kadyrow. ●
Roman US-Autorin Louise Erdrich erzählt furios den Rosenkrieg eines Paars aus der Kunstszene
Mit einem fiktiven Tagebuch
täuscht sie ihren Mann
Aus dem Amerikanischen von
Chris Hirte. Suhrkamp, Berlin 2011.
239 Seiten, Fr. 27.50.
Von Angelika Overath
Minneapolis im Jahr 2007. Irene und Gil
sind ein attraktives Paar. In Haus und
Atelier führen sie (er der erfolgreiche
Maler, sie die um 13 Jahre jüngere Kunsthistorikerin) zusammen mit ihren wunderbaren Kindern Florian (13), Riel (11)
und Stoney (6) ein finanziell unbeschwertes, kreatives Familienleben. So
sehen es die anderen. Doch die Ehe
steht vor dem Scheitern. Mutter und
Vater agieren alltagstapfer noch als
funktionierende Alkoholiker, und die
Kinder wittern die kommende Katastrophe. «Schattenfangen» von Louise
Erdrich, die in North Dakota aufgewachsen und wie ihre Protagonisten indianischer Abstammung ist, führt in das
Psychodrama eines tragisch-bösen Ehekriegs. Die Hölle, das sind nicht die andern, wie Sartre einst meinte; die Hölle
sind die, die wir lieben.
Und Gil liebt. Er liebt die sinnliche
Irene, und seit er sie malt, geht es mit
seiner Karriere aufwärts. Zunächst
malte er den «Abdruck seines Mundes
auf ihrem Mund». Dann ihre Reife: «Irenes weiches, erschöpftes Fleisch nach
der Entbindung, ihre fieberheissen
Brüste, als die Milch einschoss, gewaltig
angeschwollen und so empfindlich …»
Und wenn Irene im Atelier stillte, arbeitete er an zwei Staffeleien gleichzeitig
wieder momenthaft erliegt. Betrügt Gil,
der treu Liebende, nicht seine Frau, weil
sie Mittel seiner Kariere ist? Und missbraucht die Frau nicht den Mann, wenn
sie sich im roten Tagebuch – einen Geliebten erfindend – in eine Erzählerotik
hineinschreibt, die sie quasi postkoital
zurücklässt?
und wechselte die Leinwand mit der
dem Kind jeweils dargebotenen Brust:
«Das war Glück.»
Das war Symbiose. «Hätte er nur eine
einzige Katzenwimper als Pinsel gehabt
und eine einzige Leinwand für sein ganzes Leben – es wäre ein Bild von Irene
geworden.» Auf die Dauer konnte das
nicht gut gehen. Irene fühlt sich von Gil
aufgesogen, ausgesaugt, ja missbraucht.
Er akzeptiert keine Distanz, und hier
setzt das Buch ein: Heimlich liest er in
ihrem roten Tagebuch. Eine gemeine
Rache, eine subtile Manipulation beginnt. Denn Irene mietet sich ein
Schliessfach in einer Bank und schreibt
ein blaues Tagebuch für sich. Das rote
aber führt sie für ihn. Er soll leiden.
Erotische Gewaltszenen
Ist blinde Liebe auch Hass?
Louise Erdrich ist eine Meisterin des
unmittelbaren Erzählens. Man könnte
«Schattenfangen» als Kabinettstück in
einer Unterrichtseinheit «storytelling»
lesen. Alles stimmt: der Countdown der
Handlung (Vernichtung des Gatten) und
das Wechselspiel der Motive: Schatten
als Bild der Seele, Bilder als Stellvertreter des bedrohten Ich, Malen als Missbrauchen, die Tierszenen als Abglanz
der Sehnsucht der Menschen. Aber auch
die retardierenden Elemente (die Kinder), die Komik (das Paar solidarisiert
sich vor der Paartherapeutin) und
immer wieder das dramatische Umschlagen in den einen unerwarteten Augenblick, der jede Gewissheit relativiert.
Hasst Gil nicht auch, wenn er blind
liebt? Liebt Irene Gil nicht doch, weil sie
der Macht seiner Leidenschaft immer
Louise Erdrich, 57, ist
deutsch-indianischer
Abstammung und lebt
in Minneapolis (USA).
Ihr neuer Roman
«Schattenfangen»
pendelt zwischen
Dokumentation und
Fiktion.
BETTINA STRAUSS
Louise Erdrich: Schattenfangen.
Louise Erdrich öffnet seltsame Winkel
in der Seelenfaltentiefe eines alten Paares, in denen Verachtung in Erregung
fliessen kann, bis dieses unreine Gemisch in glühender Wut sich entlädt.
Und manchmal treibt sie es weit. Als
Irene nach vielen Kämpfen endlich die
Scheidungspapiere auf den Esszimmertisch legt, verweigert sich Gil der Realität, zieht seine Frau statt dessen auf den
Boden und vergewaltigt sie: «Er stiess
ihre Jeans nach unten, über ihre Knie,
starrte sie hasserfülllt an, dann drang er
in sie ein und fickte sie wie ein Berserker, quer über den Fussboden, und als
sie mit dem Kopf gegen die Wand stiess,
kam er.» Und gleich der Umschlag: «Sie
kam erst später». Sie schleppt sich nämlich hinauf ins Badezimmer und onaniert nach dieser Erfahrung in der Badewanne «so viele Male, dass ihre Hand
einen Krampf bekam und sie lachen
musste.» Spätestens als sie sich jetzt von
Gil ein Tablett mit Champagner ins Badezimmer schieben lässt und das teure
Getränk als phallisches Zitat über die
Brust schäumen lässt, könnte es sein,
dass auch der Leser lachen muss.
Aber wer zuletzt lacht, ist doch die
Autorin. Denn im kurzen Schlusskapitel
bekennt sich Irenes Tochter Riel nun als
Autorin. Sie hat das blaue und das rote
Tagebuch und die kunsthistorischen
Notizen ihrer Mutter zum Indianermaler George Catlin zusammengefügt und
das Ganze als ihre Masterarbeit an der
University of Minnesota eingereicht.
Nun dankt sie den Schreib-Mentoren:
ein souveräner poetologischer Kommentar, der mit dem Machen von Kunst
und Kitsch spielt.
Gil, der Maler, war stolz darauf, der
figürlichen Malerei die Treue zu halten.
Seine Beherrschung der altmeisterlichen Techniken wirke «schon fast wieder radikal». So wirklichkeitstäuschend,
zwischen Dokumentation und Fiktion
schillernd, ist Louise Erdrichs Erzählen.
Sie tränkt modernen amerikanischen
Alltag mit archaischem Liebesirresein
und schafft den Sprung von der quietschigen Kinderkrempelecke in die offene Vagina. Das Schlussbild ist ein schattenloser Moment unter der hohen Mittagssonne, während die Sirenen des
Rettungsdienstes Madeline Island laut
auf- und abheulen. Und mit der Ankunft
verstummen. ●
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7
Belletristik
Roman Liebe, Sex, Tod und Feuer sind die Ingredienzen einer erotischen Geschichte des Verlangens,
geschrieben hat sie der französische Autor Jean-Philippe Toussaint
Marie geistert gleich doppelt
durch Regen und Nacht
mir in der Dunkelheit erschien, als habe
sie sich aus dem Reich meiner Träume
verabschiedet, um hier in Fleisch und
Blut in meiner Wirklichkeit zu erscheinen, als habe sie den Limbus meiner
Phantasie verlassen, wo ich mir gerade
vorstellte, was sie tat, denn jetzt stand
sie hier vor mir als Wirklichkeit aus
Fleisch und Blut. Marie durchquerte das
Zimmer und schlüpfte zu mir ins Bett,
schmiegte sich an mich. Ich spürte ihre
warme Haut an meinem Körper.» Und
damit erhält der Roman von Toussaint
ein erotisches Happyend.
Jean-Philippe Toussaint: Die Wahrheit
über Marie. Aus dem Französischen von
Joachim Unseld. Frankfurter
Verlagsanstalt, Frankfurt 2010.
190 Seiten, Fr. 30.50.
Von Stefana Sabin
Auch in diesem Roman von Jean-Philippe Toussaint bleibt der Erzähler ohne
Namen. Dafür aber gibt es zwei Frauen,
die beide Marie heissen. Die eine ist die
langjährige Geliebte des Erzählers, eine
überdrehte Modedesignerin, mit der er
Trennungen und Versöhnungen ausprobiert. Zuletzt hatten die beiden sich in
einem Luxushotelzimmer in Tokio – so
erzählt der frühere Roman «Sich lieben» von 2003 – getrennt, nachdem sie
derart leidenschaftlich miteinander geschlafen hatten, dass «der Boden erzittert ist und die Wände gewackelt
haben». Dann aber – so erzählt der
nächste Roman «Fliehen» von 2007 –
rief sie ihn an, während er in China mit
einer anderen Frau schlafen wollte, und
verhinderte nicht nur den sexuellen
Vollzug, sondern auch seine emotionale
Entfremdung von ihr.
Überladene Handlung
Tatsächlich hängt der Erzähler des Romans so sehr an Marie, dass auch seine
neue Geliebte – so erzählt der jetzige
Roman – Marie heisst. «Sicher konnte
ich zwischen Marie und Marie unterscheiden – Marie war nicht Marie –, aber
ich hatte plötzlich die Eingebung, dass
es mir nicht gelingen würde, mich in
zwei Hälften aufzuteilen, um gleichzeitig derjenige zu sein, der ich für jene
Marie war, die in meinem Bett lag, und
derjenige, der ich für Marie war – ihre
Liebe.» Schon nach wenigen Seiten verschwindet also die eine Marie aus seinem Bett und überlässt den Roman der
anderen Marie.
Dieser Roman fängt mit einer doppelten Liebesszene an: Marie und der Erzähler schlafen in ihren jeweiligen Wohnungen mit ihren jeweiligen momentanen Geliebten. Während Maries Geliebter nach einer schweren Herzattacke im
Notarztwagen weggebracht wird, eilt
der Erzähler zu Marie. Die Nacht ist
schwül und regnerisch, Marie ist immer
noch nackt und anlehnungsbedürftig,
und der Erzähler ist ihr zärtlich zugeneigt. Marie ist zwar «hin- und hergerissen zwischen widerstreitenden Gefühlen, zwischen Leidenschaft und Zurückhaltung», gibt ihrem «körperlichen Verlangen» nach und widersetzt sich ihm
8 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
SZENE AUS DEM FILM «THE NOTEBOOK» / DDP IMAGES
Von einem Bett ins andere
gleichzeitig – so kommen sie und der Erzähler sich näher, nur um sich gleich
wieder zu trennen.
Aber schon wenig später kommen sie
wieder zusammen. Denn Marie lädt den
Erzähler nach Korsika ein, wo sie den
Sommer im väterlichen Haus verbringt.
Nach mehreren gemeinsamen Tagen
und getrennten Nächten, bricht auf dem
Anwesen Feuer aus, und Marie ist wieder verstört, hilflos und anlehnungsbedürftig. Auch diesmal regnet es, auch
diesmal ist Marie fast nackt. Anders als
zu Beginn sind ihre Gefühle diesmal eindeutig. «… ich hörte die sich nähernden
Schritte, und ich sah, wie sich meine
Schlafzimmertür öffnete und Marie vor
Literarischer Kitsch:
Leidenschaft im
Regen.
Zwischen dem Anfangsregen in Paris
und dem Endregen auf Korsika gibt es
den Regen in Tokio. Denn zusammen
mit einem Pferdebesitzer, mit dem sie
nach der Trennung vom Erzähler eine
Affäre beginnt, verlässt Marie an einem
regnerischen Abend Tokio in einem
Frachtflugzeug, in dem das Rennpferd
transportiert wird. Diese Episode fungiert als Verlangsamungsmoment in der
vorhersehbaren Wiederannäherungsgeschichte zwischen Marie und dem Erzähler und liefert nach der Herzattacke
und vor der Feuerbrunst ein zusätzliches Drama, in dem ein Pferd vor der
Einschiffung ausbricht und erst mühsam
wieder eingefangen wird.
So ist die Handlung überladen (Liebe,
Sex, Tod, Regen, Feuer), und bleibt ohne
jede Spannung. Das liegt an der psychologischen Unglaubwürdigkeit der Figur
Marie, die oft die Augen niederschlägt,
unvermittelt weint und meistens nackt
ist. Eine bemüht umständliche Syntax
und unzählige Antinomien («Ich beschleunigte meine Schritte und verlangsamte sie gleichzeitig» oder «Es ist vielleicht sehr unpräzise zu sagen, dass ich
sie liebte, aber nichts anderes könnte
präziser sein») sind von jener vielsagenden Belanglosigkeit, die literarischen
Kitsch kennzeichnet.
Dazu passt, dass das Erotische nie
sinnliche Kraft entfaltet, sondern zumeist ins Ordinäre abgleitet: «… als mir
blitzartig bewusst wurde, dass ich zum
zweiten Mal in dieser Nacht meinen
Finger in den Körper einer Frau gesteckt
hatte.» Dass vom ersten Satz an der
französische Ausdruck «faire l’amour»
als «Liebe machen» wiedergegeben
wird, mag ein Zugeständnis an den Jugendjargon sein – und ist ein ständiger
stilistischer Stolperstein. Die derart unbeholfene Übersetzung trägt das ihre
dazu bei, unter der hochtonigen Oberfläche die inhaltliche Bedeutungslosigkeit zu erkennen. ●
Roman In Gwendoline Rileys drittem Buch taumeln junge Protagonisten in immer neue Affären
Fliehen hilft nicht weiter
mit ihrer Aufmerksamkeit bald nah bei
sich – bei ihrem unangenehm schlagenden Herz oder der Anspannung, die sie
«wie ein Jucken irgendwo hinter meinem Brustbein» empfindet – und dann
wieder ganz aussen, beim Himmel
«mattweiss wie ein sauberer Knochen»,
beim Gespräch zweier Mädchen in der
Bar, bei Joshuas sommersprossiger Haut
und schmalem Rücken.
Gwendoline Riley: Joshua Spassky.
Aus dem Englischen von Sigrid
Ruschmeier. Schöffling, Frankfurt a.M.
2011. 168 Seiten, Fr. 30.50.
Von Simone von Büren
Ohne Alkohol ging in Gwendoline Rileys international gefeierten Romanen
bisher gar nichts. Die jungen Protagonistinnen in «Cold Water» und «Krankmeldungen» arbeiten nachts in Manchesters Bars und betrinken sich bis
zum Vergessen. Sie sind sensibel und
sehnen sich nach Geborgenheit, geben
sich aber trotzig-cool und taumeln von
einer jämmerlichen Affäre zur nächsten.
Ihre Vergangenheit liegt in Pappkartons
unter dem Bett. Von einem besseren
Leben in Cornwall oder New York träumen sie höchstens.
Im neuen Roman der 1979 geborenen
Engländerin blitzt der Alkohol aber fast
nur noch in Erinnerungssequenzen auf.
Im Unterschied zu ihren literarischen
Vorgängerinnen lässt Natalie, eine
27-jährige Autorin, Pubs, Gin und Regennächte hinter sich und bricht auf
nach den USA. Sie hat schon oft versucht wegzugehen, und ist doch immer
wieder in ihrer Wohnung gelandet:
«Jeder Fluchtweg führte zurück.»
Coolness und viel Alkohol
Dabei ist sie eindeutig weniger abgebrüht und trotzig als Rileys frühere Figuren. Sie behauptet zwar anfangs noch,
«nur zufällig» in die USA gekommen zu
sein, aber als sie am zweiten Tag mit Joshua ins Kino geht, ist schon «alles er».
Das mag zu tun haben mit dem akuten
Bewusstsein von Endlichkeit, das den
ganzen Roman durchzieht. Natalie liest
alte Briefe und erinnert sich an den Tod
ihrer Eltern; sie trifft sich mit Joshua in
Asheville, wo Zelda Fitzgerald bei einem
Krankenhausbrand ums Leben kam; sie
überhört das Gespräch zwischen einem
alten Mann und einem Soldat auf Heimurlaub aus Afghanistan. Sie denkt darüber nach, «wie Menschen enden müssen» und kann nicht schlafen, weil sie
sich vorstellt, wie im Alter «mein Körper wie Nudelteig aussieht.»
Natalie ist nicht mehr zwanzig. Zeit
ist nicht endlos vorhanden. Cool- oder
Betrunkensein sind keine Dauerrezepte
gegen Verletzlichkeit. Die ewige Flucht
taugt nicht. Die Alternative ist noch unklar. Sie hat zu tun mit Sich-Einlassen,
mit dem Wieder-Lebendig-Werden aus
dem Dostojewski-Zitat am Anfang des
Romans und mit Verletzlichkeit – aber
das alles würde die junge resolute Frau
doch nur mit einer sarkastischen Bemerkung abtun. ●
Magischer Realismus Was in der Welt geschieht
Doch dieses Mal geht sie weniger von
etwas weg als auf etwas zu: auf den titelgebenden Joshua Spassky, mit dem sie
Erinnerungen an zu viel Alkohol und
«aufgeblasenes Gerede in der eisigen
Nachtluft» verbinden und mit dem sie
bei aller Skepsis noch nicht abgeschlossen hat. Romantiker sind beide nicht:
«Von allen Häusern tropft die Fäulnis
gescheiterter Liebe», lautet der erste
Satz von Natalies neuem Buch. Joshua
arbeitet an einem Stück über «die
grundsätzliche Unvereinbarkeit von
Mann und Frau».
Und doch treffen sie sich – in Asheville, North Carolina. Natalie hat das Trinken unterdessen aufgegeben, Joshua
möchte «tendenziell nüchtern» sein,
sieht aber schon bei seiner Ankunft aus
«wie das letzte Stückchen Eis, das gleich
vom Stiel fällt», und trägt die WhiskeyFlasche im Rucksack mit sich. Im Hotelzimmer, im Park, in Gesprächen über
Literatur, Familien und F. Scott Fitzgeralds exhumierte Leiche beginnen die
beiden die Erinnerung an klammkalt
durchzechte Nächte mit der Gegenwart
heisser, klarer Tage zu überschreiben.
Riley lässt Natalie aus der Ich-Perspektive erzählen, in einem lakonischen
spröden Ton, der manche Passagen wie
ein Edward-Hopper-Bild anmuten lässt.
Sie schildert Intimes ironisch und getarnt mit Verweisen auf Dostojewski,
Sartre und Denis Johnson. Dadurch holt
sie den Leser gleichzeitig an sich heran
und hält ihn auf Distanz. Sie selbst ist
PRO LITTERIS
Intimes ironisch erzählt
Der Himmel ist in tiefes Rot getaucht. Flieger kreisen
bedrohlich über den Häusern. In einer Wolke
schweben engelsgleiche Erscheinungen. Die ländliche
Szenerie ist ein gigantisches Spektakel. Und dennoch
scheint einzig die Frau in dem winzigen Häuschen
davon Notiz zu nehmen. Sie hat die Hände fast wie
zum Gebet gefaltet und schaut ergeben nach oben.
Die beiden Männer sind in die Lektüre vertieft. «Der
Zeitungsleser sieht die Welt nicht mehr», hat Franz
Radziwill das Gemälde von 1950 benannt. Die
surreale Szene steht für vieles im Werk des 1895 in
der Wesermarsch geborenen Malers. Mit seinem
magischen Realismus hat er in den 1920er-Jahren
Otto Dix fasziniert und die Neue Sachlichkeit
bereichert, die dem Jahrzehnt zwischen den beiden
Weltkriegen einen unterkühlten Ausdruck gab. Vor
allem aber hat er sich auf seinen Bildern einen
spätromantischen Fluchtraum aus der harten Realität
geschaffen. Der in sich gekehrten Frau gibt er einen
Blick für das, was in der Welt geschieht, die auf
Informationen versessenen Zeitgenossen lässt er die
Bedrohungen der Industriegesellschaft wie das, was
sie daraus erretten könnte, verkennen. Dabei hat
Radziwill auf der Suche nach einem Raum hinter der
Wirklichkeit, diese persönlich verfehlt. Er war trotz
Malverbot bis zur Denunzierung von Mitbürgern
überzeugtes NSDAP-Mitglied. Gerhard Mack
Katharina Henkel, Lena Nievers (Hrsg.): Franz
Radziwill. Wienand, Köln 2011. 208 Seiten,
zahlreiche Abbildungen, Fr. 56.90.
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9
Belletristik
Roman Über sechzig Jahre nach Hans Falladas Tod wird eines seiner Bücher zum internationalen
Bestseller und erscheint nun erstmals in ungekürzter Fassung
Mitmachen, schweigen
oder dagegenhalten?
Hans Fallada: Jeder stirbt für sich allein.
Hrsg. und Nachwort von Almut
Giesecke. Aufbau, Berlin 2011.
704 Seiten, Fr. 30.50.
Es sind eigenartige Wege, die manch ein
Buch bis zu seiner Anerkennung nimmt.
Der während der Besatzungszeit entstandene Roman der jüdischen Autorin
Irène Némirovsky «Suite française»
wurde nach über 60 Jahren veröffentlicht: ein Bestseller. Ähnliches, wenn
auch weit weniger Spektakuläres widerfuhr einem Buch von Rudolf Ditzen, berühmt als Hans Fallada (1893–1947), dem
1932 mit «Kleiner Mann – was nun?» der
Durchbruch gelang. Über 60 Jahre nach
dem Tod Falladas und ebenso lange seit
dem ersten Erscheinen des Buches 1947
wurde «Jeder stirbt für sich allein» letztes Jahr zum internationalen Bestseller.
In England sind bisher über 300 000
Exemplare verkauft worden. Sogar auf
die hebräische Bestsellerliste gelangte
dieses Werk eines Mannes, der während
des zwölf Jahre dauernden Tausendjährigen Reichs zwischen Mut, innerem
Exil und Anpassertum changierte und
erst zuletzt, so scheint es, eindeutige
Worte fand. Das zeigt das nach jahrelanger Entzifferungsarbeit 2009 publizierte
Tagebuch, das Fallada 1944 während
einer Haftstrafe in Geheimschrift geschrieben hatte. Eine Regierung von
«Hysterikern, Psychopathen, Monomanen und Sadisten» nennt er darin das
Hitler-Regime – ein Satz, der ihn den
Kopf gekostet hätte.
Von Angst und Mut
Eindeutig seine Worte auch in «Jeder
stirbt für sich allein». 1945 hatte Johannes R. Becher, Dichter und späterer
DDR-Kulturminister, Fallada die Gestapo-Akte eines bemerkenswerten Falles
gebracht. Darin ging es um das Berliner
Ehepaar Elise und Otto Hampel, das von
1940 bis 1942 Anti-NS-Parolen auf Postkarten schrieb und diese in der Stadt
verteilte. 1942 wurden die beiden verhaftet, fünf Monate später hingerichtet.
Im Roman heissen sie Anna und Otto
Quangel. Das Buch verhandelt auch
ihren Fall, aber weit mehr als das. Die
866 Typoskriptseiten sind das erste
Buch eines deutschen Schriftstellers
zum Thema Widerstand gegen Hitler;
ein Buch, das in die Hinterhäuser Berlins schaut, in die Fabriken. Angst ist
sein grosses Thema. Angst und Mut.
«Jeder stirbt für sich allein» erzählt in
Short-Cut-Manier die Schicksale mehrerer Menschen, deren Wege sich immer
10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
DAS BUNDESARCHIV, NJ
Von Regula Freuler
Vorlage für Falladas
Roman: Elise und
Otto Hampel nach
ihrer Verhaftung
durch die Gestapo
im September 1942.
Sie wurden 1943
hingerichtet.
wieder kreuzen. Neben dem Arbeiterehepaar Quangel ist da die Briefträgerin
Eva Kluge und der von ihr getrennt lebende Mann Enno, ein schamloser
Nichtsnutz. Da ist die Jüdin Rosenthal,
der in absoluter Zurückgezogenheit lebende Kammergerichtsrat a. D., die Partei-fleissigen Widerlinge der Familie
Persicke, der Kleinkriminelle und Denunziant Emil Barkhausen und sein
Sohn Kuno-Dieter.
«Mutter! Der Führer hat mir meinen
Sohn ermordet», beginnt die erste Postkarte, welche die Quangels schreiben,
zuerst jeden Sonntag eine, dann mehrere. Ihr Inhalt indiziert die Perspektive
des Romans: jene der einfachen Leute,
deren Söhne nicht verschont werden
wie der Nachwuchs der Parteibonzen.
Mitmachen, Widerstand leisten, schweigen und ausharren – welche Haltung ist
die richtige in dieser ungerechten Welt?
Diese Frage ist Thema vieler Dialoge.
«Ich nehm keinem was dadurch, dass
ich glücklich bin», sagt an einer Stelle
ein junger Mann, der sich aus allem Politischem raushalten will. «Doch, du
stiehlst!», widerspricht ihm seine Frau.
«Du stiehlst Müttern ihre Söhne, Frauen
ihre Männer, Mädchen ihren Freund, solange du duldest, dass die täglich zu
Tausenden erschossen werden, und
machst nicht einen Finger krumm, um
dem Morden Einhalt zu tun.»
Wie Herausgeberin Almut Giesecke
im kundigen Nachwort festhält, wollte
Fallada das Roman-Projekt anfangs «je
länger je weniger» schmecken. Zu
«trostlos» der Stoff und seine Protagonisten. Nach einem Spitalaufenthalt infolge eines Nervenzusammenbruchs
kam er jedoch rasch voran: Zwischen
September und November 1946, in we-
niger als vier Monaten, verfasste Fallada
«die gewünschte Schmonze», wie er am
5. November 1946 an den Leiter des Aufbau-Verlages schrieb. Und nicht ohne
Stolz: «Endlich wieder ein Fallada!»
Bevor man sich mit dem Lektorat
über eine Fassung letzter Hand einigte,
starb Fallada an Herzversagen, nicht zuletzt an den Folgen jahrelanger, immer
wiederkehrender Alkohol- und Drogensucht. Die Gutachten, die vor der Publikation entstanden sind, fielen alle negativ aus. Was jetzt bei dem späten internationalen Erfolg so gelobt wird, nämlich eine hochgradige Realitätsnähe,
wurde damals vermisst. Eine solche sei
ausgeblendet worden, das Buch «ein Zuhälterroman mit politischem Aufputz.
Damit will niemand in Deutschland
etwas zu tun gehabt haben.»
Das Buch erschien trotzdem, wenngleich mit politisch orientierten Glättungen. So wurde fast ein ganzes Kapitel
gestrichen, das die anfänglich Hitlerfreundliche Haltung der Quangels enthält. «Sie waren sich immer einig gewesen», liest man jetzt im vollständigen
Text, «als er [Otto] mit seiner kleinen
Tischlerwerkstatt verkracht war, dass
der Führer den Karren aus dem Dreck
gerissen hatte.» Einer der beiden Gründe, weshalb sie nicht der Partei beigetreten waren, war ihr Geiz: Es reute sie der
Beitrag. Anna war freiwillig Mitglied
der NS-Frauenschaft geworden und
hatte dort einen Posten übernommen.
Ein Stück Selbstkritik
Schwanken in der politischen Haltung
und bequemes Mitläufertum waren in
einer Zeit der Entnazifizierung, wie
Giesecke schreibt, nicht erwünscht.
Doch genau das interessierte Fallada am
Stoff, und er hat es in durchaus unterhaltungsschriftstellerischer Weise zu vermitteln gewusst, die viele kleine Gemeinheiten in Form gnadenloser Beobachtungen enthält: «Jeder stirbt für sich
allein» ist ein gruseliger Pageturner.
Aufgrund des späten, aber fulminanten internationalen Erfolgs gibt der Verlag nun erstmals das Originalmanuskript, das in der Staatsbibliothek liegt,
von dessen Existenz aber bisher nichts
bekannt war, heraus. Wer das Buch zum
ersten Mal liest, staunt über seine Offenheit in jeder Hinsicht. Wer es bereits
kennt, mag es laut Giesecke als «rauer
und derber» empfinden.
Für Fallada ist es wohl auch ein gutes
Stück Selbstkritik. Den Namen Fallada
lieh der Schriftsteller sich aus dem
Grimm-Märchen «Die Gänsemagd», in
dem ein Pferd namens Falada vorkommt,
das auch nach seinem Tod noch die
Wahrheit sagt. ●
Belletristik
Roman Krimiautor Andrea Camilleri
macht einen Abstecher in die Geschichte
Mussolini
und der
schwarze Prinz
Kurzkritiken Belletristik
Katharina Born: Schlechte Gesellschaft.
Eine Familiengeschichte. Débutroman.
Hanser, München 2011. 268 Seiten, Fr. 29.90.
Georges Rodenbach: Das tote Brügge.
Roman. Deutsch von Dirk Hemjeoltmanns.
Reclam, Stuttgart 2011. 130 Seiten, Fr. 14.50.
Die 37-jährige Katharina Born ist die
Tochter des früh verstorbenen, postum
zu Ehren gekommenen Nicolas Born,
dessen Werk sie seit 2003 herausgibt.
Nun legt die Übersetzerin und Journalistin ihren ersten Roman vor, aus dem
sie 2009 in Klagenfurt vorlas und dafür
den Ernst-Willner-Preis gewann. Es sind
grosse Themen, die Katharina Born verhandelt: Inzest, Krieg, Liebe, Wahnsinn.
Dreh- und Angelpunkt ist die postume
Herausgabe des Manuskripts eines früh
verstorbenen Autors. Nicht nur da kann
die Autorin aus der eigenen Erfahrung
schöpfen. Man kann nur bewundern,
wie souverän sie in vier Erzählsträngen,
die ab 1865, 1933, 1967 und 2007 chronologisch geführt werden, durch das Buch
navigiert. Nirgendwo entdeckt man
sprachliche Unsicherheit. Die Gefahr,
die historischen Romanen in Form von
Klischees innewohnt, weiss sie mit kühlem Erzählton zu umschiffen.
Regula Freuler
Dieser kleine symbolistische Roman,
der immer einmal wieder neu entdeckt
wird, ist ein typisches Werk des Fin de
Siècle. Die nebelverhangene belgische
Stadt, die melancholische Natur entsprechen der Seelenverfassung des Helden. Hugues Viane, ein Witwer, ergibt
sich in Brügge der Trauer um seine verstorbene Gattin. Er betreibt einen regelrechten Kult um sie – bis er in der
Schauspielerin Jane Scott einem Ebenbild der Verblichenen begegnet und in
eine Affäre mit fatalem Ausgang gerät.
Das 1892 erstmals erschienene Buch ist
reiner Jugendstil. Es besticht durch die
Eleganz seiner Sprache, die seinen hemmungslosen Weltschmerz ins Ästhetische erhebt. Und nicht zuletzt ist das
charmante kleine Werk eine Hommage
an die wunderbare Stadt Brügge mit
ihren Grachten, Kirchen, Museen, malerischen Häuserzeilen und legendären
Gasthäusern.
Manfred Papst
Ali Baba und die vierzig Räuber.
Erzählungen aus 1001 Nacht. C. H. Beck,
München 2011. 391 Seiten, Fr. 34.90.
Jens Steiner: Hasenleben.
Débutroman. Dörlemann, Zürich 2011.
287 Seiten, Fr. 30.50.
Natürlich gibt es exaktere deutsche
Übersetzungen der Erzählungen aus
Tausend und einer Nacht. Vollständigere sowieso: Man denke nur an die gewaltige Leistung von Enno Littmann. Dennoch hat auch diese Neuausgabe der
orientalischen Geschichten ihre Berechtigung: Johann Heinrich Voss (1751–1826),
der Übersetzer Homers und Vergils, hat
eine Auswahl der persisch-arabischen
Erzählungen, die auf indische Quellen
zurückgehen, ins schmiegsame Deutsch
seiner Epoche übertragen. Er ging von
der französischen Übertragung aus, die
Antoine Galland Anfang 18. Jahrhundert
vorgelegt hatte. Seine Nacherzählung,
die nun in gepflegter Auswahl vorliegt,
bietet dem philologisch toleranten Leser
in der kundigen Edition von Ernst-Peter
Wieckenberg eine unbeschwerte Wiederbegegnung mit einem unerschöpflichen Werk der Weltliteratur.
Manfred Papst
Jens Steiner, 36, in Zürich als Verlagslektor tätig, wagt viel in seinem Début: ungewöhnlich das Thema, eigenwillig die
Sprache. Im Zentrum des ersten Teils
steht Lili, die mit 17 Mutter wurde und
mit 19 gleich noch einmal. Als Alleinerziehende führt sie fortan ein Nomadenleben. Ihr Wahlspruch: «Mir wird doch
noch was einfallen!» Aber wie ergeht es
den Kindern dabei? Vieles erfährt man
aus der Sicht der zu Beginn 11-jährigen
Emma, kaum etwas vom introvertierten
Werner. Die zweite Hälfte des Buches
spielt zehn Jahre später. Feinfühlig erzählt Steiner, wie sich das Schicksal von
Eltern in Kindern wiederholen kann. Es
ist eine zögerliche, distanzierte Sprache,
die der Autor für seinen Stoff entwickelt
hat. Und durch den Wechsel der Hauptfiguren entsteht eine Lücke, die unbefriedigt lässt. Keine einfache Lektüre,
aber eine nachdenklich stimmende.
Regula Freuler
Andrea Camilleri: Streng vertraulich.
Aus dem Italienischen von Sigrid Vagt.
Nagel & Kimche, München 2011.
263 Seiten, Fr. 29.90.
IPP / CINETEXT
Von Christine Brand
Die Geschichte beginnt mit einem Brief.
Absender ist das italienische Aussenministerium, Adressat der Rektor der
Bergbauschule Vigàta. Der Betreff über
der delikaten Anfrage lautet: «Prinz
Grhane Solassie». Der Prinz, Neffe des
äthiopischen Kaisers Negus, beabsichtigt, im faschistischen Sommer 1929 in
Sizilien Bergbau zu studieren. Eine diplomatisch heikle Angelegenheit! Doch
der exotische Gast ist trotz seiner dunklen Hautfarbe im Land des Duce hoch
willkommen: Denn zur gleichen Zeit
plant dieser die Expansion seiner Kolonien in Afrika und wittert im kaiserlichen Neffen einen Fürsprecher. Eine
Konstellation, die etliche Getreue Mussolinis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs bringt. Denn der Prinz, ein
Bonvivant, der am Laufmeter Herzen
bricht, schröpft nicht nur die Kasse des
Duce, sondern weigert sich gleichzeitig,
nach dessen Pfeife zu tanzen.
Nicht nur der Inhalt, auch die Form
des neuen Romans von Andrea Camilleri ist abenteuerlich: Es gibt keine erzählte Handlung, der Leser muss sich die
Geschichte aus einzelnen Puzzlestücken – aus Briefen, Gesprächsprotokollen, Zeitungsartikeln – selber zusammensetzen. Was am Anfang etwas mühsam erscheinen mag, wird schliesslich
zum Vergnügen. Und obwohl Camilleri
seinen Hauptprotagonisten mit dem unsteten Lebenswandel nicht ein einziges
Mal selbst zu Wort kommen lässt, gewinnt der schwarze Prinz letztlich auch
das Herz des Lesers.
Andrea Camilleri, dessen erfolgreichste Figur Commissario Montalbano ist, gelingt mit «Streng vertraulich»
ein humorvolles Spiel aus Realität und
Fiktion. Denn den äthiopischen Prinzen gab es tatsächlich. Doch die
grösste Portion der Geschichte
entstand in Camilleris Kopf –
was nicht bedeutet, dass die
Vorkommnisse aus der Luft gegriffen sind. Camilleri sagt dazu:
«Wenn auch die wichtigsten
Geschehnisse frei erfunden
sind, wahr bleibt dennoch das
Klima
echter,
allgemeiner
Dummheit, die halb Farce, halb
Tragödie, jene Zeit geprägt hat.»
Gleichzeitig trifft Camilleris
Kritik mitten ins Herz des heutigen Italien. ●
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11
Interview
Seit 60 Jahren bemüht sich der Politologe Alfred Grosser um die
deutsch-französische Verständigung, kritisiert als Jude die israelische
Politik und schreibt als Atheist für katholische Zeitungen. Urs Rauber
hat den geistreichen Aufklärer in Paris besucht
«Kein Witz, ich bin
Moralpädagoge»
Bücher am Sonntag: Herr Grosser, Sie sind am
1. Februar 86 geworden. Wie haben Sie Ihren
Geburtstag gefeiert?
Alfred Grosser: Ich war eingeladen als Gast zu
einem Abendessen im Palais des Präsidenten
der französischen Nationalversammlung, das er
zu Ehren von Norbert Lammert, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages, gegeben hatte.
Lammert hat mich zu meiner Überraschung mit
dem Hinweis angekündigt, dass heute mein Geburtstag sei.
Gab’s in Ihrem Leben einen Geburtstag, an dem
Sie gedacht haben: Nun wirst du aber alt?
Nein. Ich behalte die Devise des Hauses Krupp:
Rast ich, so rost ich!
Ihr neues Buch heisst «Die Freude und der Tod».
Warum ein so heiterer Titel?
Die Freude durchzieht das Buch, da ich mein
ganzes Leben mit Freude gelebt habe, auch mit
einigen Schwierigkeiten. Und der Tod war mir
seit dem Tod meines Vaters, als ich neun Jahre
alt war, jeden Tag ein Ansporn.
Ein Ansporn?
Es bleibt wenig Zeit – also nicht mit Kleinigkeiten den Alltag vergeuden. Das habe ich mir gesagt, als ich 20 wurde.
Alfred Grosser
Alfred Grosser, geboren 1925 in Frankfurt a. M.,
flüchtete mit seiner jüdischen Familie 1933 nach
Frankreich, wo sie später die französische
Staatsbürgerschaft erhielt. Von 1956 bis zu
seiner Emeritierung 1992 war er Professor am
Institut d’études politiques in Paris. In Deutschland wurde Grosser, der sich um die deutschfranzösische Verständigung verdient gemacht
hat, vor allem durch seine Radio- und Fernsehauftritte (u.a. in Werner Höfers «Internationalem
Frühschoppen») bekannt. Zu seinen wichtigsten
Büchern zählen «Die Bonner Demokratie»
(1960), «Geschichte Deutschlands seit 1945»
(1974), «Politik in Frankreich» (1980) und «Die
Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf
die Christen» (2005). Grosser erhielt 1975 den
Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
Am 11. März erscheinen bei Rowohlt seine
Lebenserinnerungen «Die Freude und der Tod»
(292 Seiten, Fr. 30.50).
12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
Bedrückt Sie nichts am Älterwerden?
Ich hatte letztes Jahr zwei kleine Operationen
– eine davon als Folge einer Entzündung durch
Krankenhaus-Bakterien. Ansonsten war ich nie
krank. Möglicherweise geht alles gut.
Fürchten Sie sich vor dem Tod?
Überhaupt nicht. Das trennt mich von meiner
Frau, die eine gläubige Katholikin ist. Für mich
«Eine meiner Rollen ist
diejenige, die Juden davon
zu überzeugen, dass Israel
nicht immer recht hat.»
bedeutet der Tod nach dem Diktum eines alten
Griechen: Wenn ich da bin, ist der Tod nicht da
– und wenn der Tod da ist, bin ich nicht mehr.
Und Angst vor dem Leiden?
Das ja. Seit ein paar Jahren habe ich Alpträume,
mehr als in jungen Jahren. Was hätte geschehen
können, wenn mich die Gestapo geholt hätte?
Den letzten Alptraum beschreibe ich im Buch:
Ich bin mit anderen Männern irgendwo. Es
kommt die Gestapo herein und sagt: «Hosen
herunter – alle Beschnittenen abführen.» Solche Träume verfolgen mich erst, seit ich 80 bin.
Hatten Sie immer Glück im Leben?
Mein Vater ist gestorben, als ich Kind war,
meine Schwester, als ich 16 war. Nach der Befreiung von Marseille im Krieg haben meine
Mutter und ich etwas gehungert. Das alles
haben wir überstanden. Erst später habe ich bemerkt, welche Risiken der Direktor der katholischen Schule eingegangen ist, der mich als Lehrer aufgenommen hatte.
Sie wurden mit 22 Beamter auf Lebenszeit und
mit 31 Jahren Professor in Paris. Was ist der
Schlüssel zu Ihrer Erfolgssträhne?
Ich weiss es nicht. Ich war auch ein Jahr bei der
Unesco und vier Jahre Assistent an der Sorbonne. Das habe ich alles gern gemacht, bei der
Unesco weniger, weil man da nicht reden darf.
Im deutschsprachigen Raum sind Sie vor allem
als Redner und Debattierer bekannt geworden.
Ich erinnere mich, dass mein Vater in den 60er
Jahren am Sonntag kurz vor 12 jeweils den Fern-
seher einschaltete, während die Mutter in der
Küche den Braten zubereitete. Im «Internationalen Frühschoppen» von Werner Höfer kommentierten fünf Journalisten aus vier Ländern das
Weltgeschehen. Sie sassen bei uns zu Tisch!
Ja, da war ich oft dabei. Dazu eine kleine Geschichte: Ich war an einer Tagung in München,
die fast bis Mitternacht dauerte. Danach hatte
ich Hunger und ging zum Würstchenverkäufer.
Der sieht mich an und sagt: «Ich kenn Sie doch
– bei Höfer!» Höfer war überglücklich, als ich
ihm das später erzählt habe. Das schönste aber
war, dass mir später nach der Wiedervereinigung Leute aus der DDR wie etwa Dieter Althaus, der lange Ministerpräsident in Thüringen
war, gesagt haben: «Für uns waren Sie ein Begriff. Sie traten immer mutig für die Bevölkerung ein und waren hart mit dem Regime – anders als viele Sozialisten und Protestanten.»
Reisen Sie immer noch viel?
Viel mehr in Deutschland als in Frankreich. In
Deutschland bin ich ein Teil des öffentlichen
Lebens geworden.
Ihre Lieblingsbeschäftigung, haben Sie einmal
gesagt, sei reden vor einem Publikum. Dabei
verschonen Sie dieses nicht mit Kritik. In Ihren
Erinnerungen schreiben Sie: «Es ist mir immer
eine Freude, ein Publikum durch eine Bosheit zu
provozieren.» Was steckt dahinter?
Der Wille, dass die Leute einsehen, worin sie
schlecht sind. Am Jahrestag des Kriegsbeginns
war ich Gast der katholischen Kirche in Köln.
Dabei habe ich sehr kritisch über die Haltung
der Kirche im Jahr 1933 gesprochen. Am nächsten Tag war ich eingeladen vom Deutschen Gewerkschaftsbund nach Dortmund. Dort habe
ich sehr böse über die Rolle der Gewerkschaften 1933 gesprochen. Das ist pädagogisch. Hätte
ich den Katholiken gesagt, wie schlecht die Gewerkschaften, und den Gewerkschaften, wie
übel die Kirchen waren, wäre das demagogisch
gewesen.
Empfinden Sie sich als Erzieher des Menschengeschlechts?
Bei einer Karl-Jaspers-Tagung in Heidelberg
musste sich jeder vorstellen: der Theologe
stellte sich als Theologe vor, der Soziologe als
Soziologe und so weiter. Dann drehten sich alle
zu mir und fragten: Und was bist Du? Ich antwortete: Moralpädagoge. Alle haben gelacht,
aber ich bleibe dabei.
Jerome SeSSini / Le Figaro / DukaS
Das Herz des europäischen Intellektuellen Alfred Grosser schlägt für Frankreich: «Ich bin total Franzose – auch weil ich mich selbst überschätze.»
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13
Interview
Flugzeug schnipseln. Die geht durch alle Kont­
rollen.
Und was passiert mit den Ausschnitten?
Die wandern in verschiedene Schubladen zu­
hause – nach ein paar Monaten geht dreiviertel
in den Papierkorb, weil es überholt ist. Ganz
weniges behalte ich in Ordnern auf. Auch für
dieses Buch habe ich viele Ausschnitte benutzt.
Timur EmEk / AP
Vielleicht noch ein Wort zum Aufstand in den
arabischen Ländern …
Das ist sehr schwer zu beantworten. Die Situa­
tion verändert sich jeden Tag. Da wage ich
nicht zu antworten. Immerhin wird in diesen
Ländern nun gegen die Korruption gekämpft.
Auch in Frankreich gibt es das – auch wir könn­
ten eines Tages eine Revolution erleben.
«Ein bisschen heuchlerisch»: Alfred Grosser begrüsst Dieter Graumann in der Frankfurter Paulskirche, 9.11.2010.
Ein Stichwort für Ihr Wirken ist Aufklärung.
Alle meine Bücher sind dazu da, um aufkläre­
risch auf die Leser zu wirken. Aber Aufklärung
mit Wärme. Keine kalte Vernunft.
Ein weiteres zentrales Anliegen ist Ihre Vermittlung zwischen Deutschland und Frankreich.
Bei der Auszeichnung mit dem Friedenspreis
des deutschen Buchhandels hiess es: Mittler
zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen
Ungläubigen und Gläubigen und zwischen Eu­
ropäern und Menschen anderer Kontinente.
Das letztere ist allerdings etwas übertrieben.
Wenn Sie zwischen Frankreich und Deutschland
wählen müssten, wofür schlägt Ihr Herz mehr?
Für Frankreich! Ich bin total Franzose, spreche
auch besser französisch als deutsch.
Im neuen Buch schreiben Sie, die französische
Kultur habe den Hang zur Selbstüberschätzung,
die deutsche den zur Selbstbemitleidung.
Ich bin ja auch Franzose, weil ich mich selbst
überschätze. Eine andere Rolle, die ich eben­
falls gerne spiele, ist jene, Juden davon zu über­
zeugen, dass Israel nicht immer recht hat.
Das haben Sie am 9. November letzten Jahres mit
Ihrer Rede in der Frankfurter Paulskirche getan.
Ja, ich habe zum Gedenken an die Reichs­
pogromnacht gesprochen. Ich war allerdings
ein bisschen heuchlerisch. Dieter Graumann,
designierter Präsident des Zentralrats der
Juden in Deutschland, hat mich in seiner Rede
davor angegriffen, ohne mich namentlich zu er­
wähnen. Nach meiner Rede bin ich auf ihn zu­
gegangen, habe ihm die Hand geschüttelt und
ihm auf die Schulter geklopft. Und die Fotogra­
fen waren glücklich. Ich kann nicht hassen.
Aber Sie lieben die kleinen Provokationen?
Ich habe mich auch in der Schweiz öfters
schlecht benommen. Der Polizeivorstand von
Zürich drohte sogar, mich auszuweisen.
Aus welchem Anlass?
Der Ringier Verlag hatte mich 1981 aus Anlass
der Lancierung von «Die Woche» und
«L’Hebdo» eingeladen, in Zürich und Lausanne
zu sprechen. Damals habe ich gesagt, die
Schweiz sei nie neutral gewesen. Sie habe
immer gewollt, dass Hitler besiegt und Stalin in
Schach gehalten werde, aber sie wollte einfach,
dass andere dafür sterben. Die andere Provoka­
tion habe ich in St. Gallen begangen vor Banki­
ers, als ich sagte, die Schweiz sei ein Land der
14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
Hehlerei. Wenn hinterzogene Steuergelder auf
Schweizer Banken liegen, ist das Hehlerei.
Sie machen ein ganzes Land für etwas haftbar,
was einige wenige Banken tun.
Aber die Schweiz lebt von diesem Geld.
Nicht die Schweiz, sondern einige Bankinstitute.
(lacht verschmitzt).
Bei solch kleinen Boshaftigkeiten schimmert Ihre
Freude am Meinungsstreit durch.
Natürlich. Schlimm wird’s erst, wenn es ge­
schrieben wird. Wenn ich eine Bosheit vor
einem Publikum sage, lächle ich dazu, mache
eine Handbewegung – und alle wissen, dass es
wohlwollend gemeint ist. Beim Niederschrei­
ben muss es etwas abgeschwächt werden.
«Die Schweiz war nie
neutral. Sie wollte immer,
dass Hitler besiegt wird,
aber sie wollte, dass andere
dafür sterben.»
Wollen Sie die Welt verändern?
Das macht jeder. Ich habe es etwas mehr getan
als andere. Wenn Sie in der Metro die Leute an­
lächeln statt stur dazusitzen, haben Sie schon
ein bisschen die Welt verändert.
Auf welchen Gebieten haben Sie die Welt
verändert?
Vor allem im gegenseitigen Verständnis zwi­
schen Deutschland und Frankreich. Dann durch
die Pädagogik bei meinen Studenten. Laurence
Parisot, die Präsidentin unseres nationalen Un­
ternehmerverbandes Medef, hat neulich gesagt,
ich hätte ihr die Ethik beigebracht. Aber da ich
finde, sie habe eine schlechte Ethik, ist dies ein
unverdientes Kompliment.
Sie sind leidenschaftlicher Medienkonsument,
lesen täglich zwei deutsche und vier französische
Tageszeitungen und ein halbes Dutzend Wochenmagazine. Haben Sie eine spezielle Lesetechnik?
Ich habe das Glück, sehr schnell lesen zu kön­
nen. Wenn ich zum Beispiel auf der letzten
Seite der «Süddeutschen» drei Zeilen entdecke,
die etwas Interessantes enthalten, schneide ich
sie aus. Sehen Sie, hier habe ich eine Spielzeug­
schere aus Plastic, damit kann ich sogar im
Eine Revolution in Frankreich?
Immer mehr Menschen ganz unten erkennen,
wie die Lage ganz oben ist. Wenn jemand einen
Betrieb schlecht führt und dann mit ein paar
Millionen Euro abgefunden wird, registriert
man das. Auch in unseren Vororten. Dazu gibt’s
ein Sprichwort: Was ist der Unterschied zwi­
schen Ordnung und Unordnung? Unordnung
ist dort, wo nichts am rechten Platz ist. Ord­
nung, wo am rechten Platz nichts ist. Die jun­
gen arabischen Franzosen in den Banlieues
haben nicht die geringste Chance. Sie sind ar­
beitslos, werden diskriminiert und kennen die
Polizei nur durch Kontrollen. Wieso sollen sie
sich an die Ordnung halten? Natürlich wird eine
Revolte hier nicht so gewaltig sein wie in Tune­
sien oder Ägypten, weil sie begrenzt bleibt.
Sie sind kein Gruppenmensch, sondern bezeichnen sich als moralisierenden Einzelgänger – wie
Albert Camus: «solidaire et solitaire». Was
verstehen Sie darunter?
Ich habe immer gesagt, man solle einer Partei
beitreten, obwohl ich nie in einer Partei war.
Man solle in die Gewerkschaft eintreten, auch
wenn ich nie Mitglied einer Gewerkschaft war.
Es gibt zwei Gemeinschaften, denen ich nicht
angehöre, in denen ich aber mitwirken darf: als
Franzose in Deutschland und als Atheist im
französischen Katholizismus. Ich bin seit 1955
ständiger Mitarbeiter der einzigen grossen ka­
tholischen Zeitung «La Croix».
Was ist jüdisch an Ihnen ausser Ihrer Herkunft?
Furchtbar wenig. Ein Mitempfinden für die
Opfer der israelischen Politik. Weil meine vier
Grosseltern Juden waren, bin ich mehr davon
berührt, wenn Israel schlecht handelt, als wenn
es Australien tut.
Sie schreiben, dass Ehrfurcht eine zentrale
Tugend für den Humanismus sei. Was heisst das?
Die Ehrfurcht vor den Schwachen. Viele Intel­
lektuelle verachten einfache Leute, die sich
nicht so gut ausdrücken können. Ich habe
immer Respekt gegenüber meinen Studenten
empfunden. Ehrfurcht nicht nach oben, nicht
gegenüber meinem Präsidenten. Wohl aber
Treue gegenüber den Institutionen, das schon.
Im Gegensatz zu den meisten meiner Kollegen,
die als Professoren sehr individualistisch den­
ken. Ich war zum Beispiel lange Vorsitzender
des Elternrats der Grundschule in unserem
Viertel. Das gehört zu meiner Verantwortung
gegenüber dem Staat.
Aus jeder Zeile Ihres Buches spricht Optimismus.
Erstaunlich angesichts der Probleme dieser Welt.
Ich bin intellektuell Pessimist und genetisch
Optimist. Verglichen mit unseren Hoffnungen
von 1950 ist in Europa nicht alles erfüllt worden.
Von der damaligen Wahrscheinlichkeit her ist
mehr als erhofft erfüllt worden. l
Kolumne
GAËTAN BALLY / KEYSTONE
Charles Lewinskys Zitatenlese
Charles Lewinsky,
64, ist Schriftsteller,
Radio- und TV-Autor
und lebt in Frankreich.
Seine Adventsparodie
«Der Teufel in der
Weihnachtsnacht» ist
2010 bei Nagel &
Kimche neu aufgelegt
worden.
Lebe dein Leben
ordentlich und so
gewöhnlich wie
ein Spiessbürger,
damit du in deinem Werk wild
und originell sein kannst.
Kurzkritiken Sachbuch
Ulrike Stamm: Der Orient der Frauen.
Reiseberichte deutschsprachiger
Autorinnen. Böhlau 2010. 368 S., Fr. 70.90.
Peter F. Drucker: Ursprünge des
Totalitarismus. Karolinger Verlag,
Wien 2010. 238 Seiten, Fr. 38.90.
Bücher über Frauen, die im 19. Jahrhundert allein oder als Begleiterinnen ihrer
Männer durch den Orient reisten, sind
populär – seien es Bildbände mit sepiabraunen Fotos oder neu aufgelegte Reisebeschreibungen. Die vorliegende Studie widmet sich den Frauen, die ihre
Erfahrungen als Schriftstellerinnen verarbeitet haben. Es waren Frauen, die
sich den damals üblichen gesellschaftlichen Konzeptionen von Weiblichkeit
auf radikale Weise entzogen hatten. Aus
Zürich stammte z. B. Regula Engel-Egli
(1761–1853), die ihren Mann auf den napoleonischen Kriegszügen bis nach
Ägypten begleitete; ihr Reisebericht war
ein Erfolg und erschien in zwei Auflagen. Als wissenschaftliche Untersuchung eher ein Fach- denn ein Sachbuch,
ist «Orient der Frauen» in einem entsprechenden Jargon gehalten, der das
Lesen des an und für sich interessanten
Textes nicht eben erleichtert.
Geneviève Lüscher
Auch Bücher haben ihr Schicksal. Lange
bevor Peter Drucker, geboren 1909 in
Wien, zum bekannten Ökonomen und
Management-Theoretiker wurde, hatte
er als junger Mann ein Buch zur Machtergreifung Hitlers geschrieben. «The
End of Economic Man» erschien 1939 in
den USA und wurde ein Grosserfolg.
Nun liegt diese frühe Analyse des Totalitarismus zum ersten Mal in deutscher
Sprache vor. Mit dem Homo oeconomicus, dessen Ende Drucker sieht, ist das
Vertrauen in die rationale Ordnung der
Welt gemeint und die Hoffnung auf
Fortschritt durch rationales Verhalten.
Im Zusammenbruch dieses Vertrauens
sieht Drucker den Grund für Hitlers
Sieg. Eine erstaunlich frühe «Dialektik
der Aufklärung» also, lange vor jener
der linken Denker Horkheimer und
Adorno, und lange vor der grossen Katastrophe, die der junge Peter Drucker
vorausgesehen hat.
Kathrin Meier-Rust
Wolfgang Schmidbauer: Das kalte Herz.
Von der Macht des Geldes. Murmann,
Hamburg 2011. 214 Seiten, Fr. 30.50.
György Dalos: Gorbatschow. Mensch und
Macht. Eine Biografie. C. H. Beck,
München 2011. 288 Seiten, Fr. 30.50.
«Angenehm kühl» sei ein Herz aus
Stein, erklärt der Holländer-Michel dem
armen Kohlemunk-Peter, denn weder
Angst noch Schrecken oder törichtes
Mitleiden poche an ein solches Herz. Im
neuen Buch des Münchner Psychotherapeuten Wolfgang Schmidbauer führt
Wilhelm Hauffs Märchen «Das kalte
Herz» als roter Faden durch eine Erkundung der Fähigkeit zur Empathie. Eine
stark an Geld, Konsum und Leistung orientierte Gesellschaft schade der Umwelt und der Innenwelt des Menschen,
sagt Schmidbauer. Sein kluges Buch
handelt von den Ursachen für steigende
Ängste und Depressionen, von zunehmendem Mobbing und Stalking als Anzeichen fehlender Empathie, von einem
schwachen Selbstgefühl, das die Kränkungen des Lebens nicht mehr aushält
und in den Teufelskreis narzisstischer
Perfektionsansprüche gerät.
Kathrin Meier-Rust
Am 2. März wird Michail Gorbatschow
80. Mit der von kritischer Sympathie getragenen Biografie des ungarischen Autors György Dalos liegt erstmals eine
Würdigung des letzten sowjetischen
Partei- und Staatschefs vor, die sich
weitgehend auf russische Quellen stützt.
Auf Erinnerungen engster Mitarbeiter
wie Alexander Jakowlew, Anatolij
Tschernjajaew, Walentin Falin, Nikolaj
Ryschkow und seiner 1999 verstorbenen
Frau Raissa. Dalos ist ein glänzender Stilist, der die teils operettenhaften Szenen
im Moskauer Politbüro mit Ironie und
Sarkasmus schildert und gleichzeitig
das Geschehen an der sowjetischen Peripherie, in den Satellitenstaaten, im
Auge behält. Gorbatschows Aufstieg
und Fall sowie der Zusammenbruch des
«Reichs des Bösen» (Ronald Reagan)
bietet immer noch Stoff für eine faszinierende Lektion der Zeitgeschichte.
Urs Rauber
Gustave Flaubert
Es war einmal ein Schriftsteller, der sah
aus, wie ein Dichter auszusehen hat.
Obwohl er schon viele Jahrzehnte
sein ausschweifendes Leben führte,
waren seine Haare noch nicht ergraut,
und seine Frisur war rund um die Uhr
so fotogen zerwühlt, als habe er gerade
zehn Runden mit seiner Muse gerungen
und sie nur ganz knapp nach Punkten
besiegt. Er trug immer eine Sonnenbrille, die war in einer legendären Schlägerei zu Bruch gegangen und er hatte sie
– so uneitel war er! – mit Leukoplast geflickt. Wenn er die schwarzen Gläser
aber abnahm, und des Dichters Aug, in
holdem Wahnsinn rollend, in die Runde
blitzte, dann fielen junge Damen beiderlei Geschlechts reihenweise in Ohnmacht.
Einmal war er mit einer Schönheitskönigin verheiratet gewesen, nur gerade so lang, wie man braucht, um von
der Hochzeitskapelle in Las Vegas nach
Reno zum Scheidungsrichter zu fahren,
und einmal hatte eine echte Prinzessin
aus unerwiderter Liebe zu ihm Selbstmord begehen wollen. (Oder er hatte
zumindest nicht dementiert, dass sie
die Überdosis Schlafmittel seinetwegen
geschluckt hatte.)
In Bayreuth schritt er als Einziger in
Jeans über den roten Premierenteppich,
und in Hafenkaschemmen kannten ihn
raubeinige Gesellen beim Vornamen
und erinnerten sich an wilde Abenteuer, die sie gemeinsam auf hoher See erlebt hatten.
Wenn ihn aber ein Reporter dort aufstöberte – niemand wusste zu sagen,
wo die anonymen Tipps immer wieder
herkamen – dann gab es schon einmal
eine handfeste Prügelei, und so mancher Fotograf trug am nächsten Tag
stolz sein blaues Auge wie einen Orden
ins Pressehaus.
Es wurden viele Geschichten über
ihn erzählt, und wenn ein Mikrofon in
der Nähe war, erzählte er sie auch gern
selber. Einmal hatte er ein Jahr in einem
tibetanischen Kloster gelebt und ein
anderes Mal ein paar Monate wegen
Drogenhandels in einem algerischen
Gefängnis gesessen. Auf seiner HarleyDavidson fuhr er mit den Hells Angels
übers Land, und wenn ihn jemand in
seiner Privatmaschine zu einer Galerieeröffnung nach New York mitnehmen
wollte, bestand er darauf, dass drei Flaschen seines persönlichen Whiskys mit
an Bord waren.
Er führte ein bewegtes Leben, und
nicht nur die Feuilleton-Seiten, sondern
auch die Klatschspalten waren voll
davon.
Nur zum Schreiben,
das muss man verstehen,
zum Schreiben kam er
überhaupt nicht.
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15
Sachbuch
Zweiter Weltkrieg Unveröffentlichte Briefe und zwei Biografien zeigen die Opposition des adligen
Ehepaars Freya und Helmuth James von Moltke gegen den deutschen Nationalsozialismus
Vereint im
Widerstand
Helmuth James und Freya von Moltke:
Abschiedsbriefe Gefängnis Tegel.
September 1944–Januar 1945. Hrsg.
Helmuth Caspar von Moltke und Ulrike
von Moltke. C. H. Beck, München 2011.
608 Seiten, Fr. 43.50.
Frauke Geyken: Freya von Moltke.
Ein Jahrhundertleben 1911–2010. C. H.
Beck, München 2011. 287 Seiten, Fr. 30.50.
Sylke Tempel: Freya von Moltke.
Ein Leben. Ein Jahrhundert. Rowohlt,
Berlin 2011. 220 Seiten, Fr. 30.50.
Von Klara Obermüller
Eigentlich deutet wenig darauf hin, dass
aus diesen beiden jungen Menschen einmal etwas so Besonderes werden würde.
Sie, eine behütete Bankierstochter aus
Köln, er, ein adliger Gutsherrensohn aus
Niederschlesien, lebten ihr Leben zunächst ganz im Rahmen ihrer Herkunft
und ihres Standes. Er studiert Jura und
bereitet sich auf die spätere Übernahme
des Familiensitzes Kreisau vor, sie verlässt die Schule mit der Mittleren Reife,
ohne recht zu wissen, was einmal aus ihr
Deutscher Widerstand
Die Opposition gegen das nationalsozialistische Regime bestand aus vielen
Gruppierungen. Zu den bekanntesten
gehören: die Bekennende Kirche um
Pastor Niemöller, die Weisse Rose um
Hans und Sophie Scholl, die Rote Kapelle
und der Kreisauer Kreis um Helmuth
James von Moltke und Peter York von
Wartburg. Am meisten publiziert wurde in
letzter Zeit über die Offiziere des 20. Juli
1944 um Ludwig Beck und Claus Graf
Schenk von Stauffenberg, die als einzige
neben dem Einzeltäter Georg Elsner ein
Attentat gegen den Führer wagten.
16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
werden soll. Charakterlich sind sie sehr
verschieden: sie ist voller Optimismus,
den Menschen und dem Leben zugewandt, er eher skeptisch, reserviert und
der Tradition seiner Familie verpflichtet. Was sie verbindet, ist ihre demokratische Gesinnung, der Glaube an christliche Werte – und eine grosse innere
Freiheit. Als die beiden sich im Sommer
1929 zum ersten Mal begegnen, ist für
Freya Deichmann augenblicklich klar:
dieser Mann oder keiner. Wenig später
spricht auch er in einem Brief an sie von
«der Überzeugung, dass Sie alles, was
ich Ihnen sagen könnte, schon wissen
und daher verstehen».
Damit nahm eine Liebe ihren Anfang,
der nichts, keine räumliche Trennung,
keine politische Bedrohung, ja nicht einmal der Tod etwas anhaben konnte. Gemeinsam entschlossen sie sich zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Gemeinsam bereiteten sie sich darauf vor, die Konsequenzen ihrer politischen Haltung zu tragen. Die sichere
Hinrichtung schon vor Augen schrieb er
ihr: «Trotzdem nehme ich keinen Abschied von Dir, mein sehr liebes Herz,
weil ich zu sehr das Gefühl habe, nun
werde ich Dir auch im Tode so verbunden bleiben, dass ein Abschied eine Gotteslästerung wäre.»
Helmuth James von Moltke und seine
Frau Freya waren Kopf und Seele des sogenannten Kreisauer Kreises, einer Vereinigung von Gegnern des Nationalsozialismus, die sich Gedanken über eine
Neuorientierung Deutschlands nach
dem verlorenen Krieg machten, die Anwendung von Gewalt jedoch, im Gegensatz zu den Männern des 20. Juli, grundsätzlich ablehnten. «Wir werden gehenkt, weil wir zusammen gedacht
haben», schreibt von Moltke in einem
Brief aus der Haft. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Stolz und bestärkte ihn in
der Gewissheit, dass die Nazis ihm gegenüber letztlich machtlos waren. Sie
konnten ihm das Leben nehmen, das ja,
nicht aber seine Überzeugung, seinen
Glauben – und seine Liebe zu Freya. In
Briefen, die sie von seiner Verhaftung
am 19. Januar 1944 bis zu seiner Hinrichtung am 23. Januar 1945 fast täglich
wechselten, hat das Paar sich dessen gegenseitig versichert.
Dank der Unerschrockenheit des Gefängnispfarrers Harald Poelchau haben
diese Briefe ihren jeweiligen Bestimmungsort erreicht. Freya von Moltke
selbst gelang es, sie bis Kriegsende in
den Bienenstöcken von Kreisau zu verstecken. Später hat sie Teile davon zur
Veröffentlichung freigegeben. Die sogenannten Abschiedsbriefe aus dem Gefängnis Tegel jedoch hielt sie als ganz
persönlichen «Schatz» bis zu ihrem Tod
vor einem Jahr unter Verschluss. Jetzt
aber sind sie, sorgfältig ediert von ihrem
Sohn und ihrer Schwiegertochter, in
Buchform erschienen, zeitgleich mit
zwei ihr gewidmeten Biografien, die sie
ebenfalls erst nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte. Zusammen mit von
Moltkes Gefängnistagebuch sowie früheren Briefen aus der Haft stellt diese
Korrespondenz ein einmaliges Zeugnis
politischer Intelligenz und menschlicher Integrität dar.
Schreiben um den Tod
Zentrale Themen des Briefwechsels
zwischen Freya und Helmuth von Moltke sind, neben Fragen der Verteidigung
und Problemen des täglichen Lebens,
die Liebe, die Gegenwart Gottes und der
unmittelbar bevorstehende Tod. Dieser
vor allem. Denn aller religiösen Gewissheit zum Trotz ist von Moltke immer
wieder schweren Anfechtungen ausgesetzt. «Diese Stunden sind so, dass ich
mich nach dem Henker sehne», schreibt
er einmal. Und auch Freya war wohl öfters verzagt, als sie in ihren Briefen an
ihn zugeben wollte. Beide empfanden
sie die Tatsache, dass Helmuth fast ein
Jahr lang inhaftiert blieb und auch nach
seiner Verurteilung nicht sofort hingerichtet wurde, zwar als Geschenk von
ganz besonderem Wert. Doch die Ungewissheit, das dauernde Hin und Her
zwischen gläubiger Todesbereitschaft
und kreatürlicher Todesangst, machte
ihm vor allem schwer zu schaffen. Jeder
Brief, den sie sich schrieben, konnte der
letzte sein und den andern unter Umständen schon nicht mehr erreichen.
Hätte er im Angesicht des Todes nicht
zu diesem tiefen Gottvertrauen gefunden und wäre für beide nicht dieses fast
mystisch zu nennende Gefühl der Verbundenheit gewesen, es wäre wohl nicht
so oft von «Glück» die Rede, wie dies in
den letzten Briefen vor der Hinrichtung
der Fall ist.
Nachlass Joachim WolfgaNg voN moltke
Weibliche Perspektive
Freya und Helmuth von Moltke (1. und 2. von links) heiraten im Oktober 1931 in Köln. Hier mit ihren beiden Müttern.
Dass es jetzt dank der beiden Biografien
möglich ist, auch mehr über Freya von
Moltke selbst zu erfahren, ist sehr zu begrüssen. Sie war, wie viele andere Frauen des Widerstands auch, nicht einfach
nur die Gattin an seiner Seite; sie war
von allem Anfang an in all seine Aktivitäten einbezogen und hat alle seine Entscheidungen aus innerer Überzeugung
mitgetragen.
Anders hätte sie es wohl nicht geschafft, inmitten der Kriegswirren zwischen Berlin und Niederschlesien hin
und her zu pendeln, ihn mit Lebensmitteln und Büchern zu versorgen, seine
Verteidigung zu organisieren und
gleichzeitig die beiden Kinder zu betreuen und in Kreisau zum Rechten zu
sehen. Sie tat es mit bewundernswerter
Selbstverständlichkeit und einem Lebensmut, der ihr später vermutlich half,
nicht in der Erinnerung zu erstarren,
sondern das Vermächtnis ihres Mannes
im internationalen Begegnungszentrum
von Neu Kreisau für die Nachwelt
fruchtbar zu machen.
Unabhängig voneinander zeigen die
beiden Biografien eine Frau, der eine
Art innerer Kompass den Weg wies und
die in ihrer lebensbejahenden Art auch
noch aus dem grössten Schmerz Kraft
für sich und andere zu schöpfen vermochte. Die beiden Autorinnen gehen
allerdings auf recht unterschiedliche
Weise vor: Frauke Geyken legt eine
gründlich recherchierte und wissenschaftlich einwandfrei dokumentierte
Arbeit vor, während Sylke Tempel sich
mehr als Erzählerin versteht, die geschickt arrangiert und vor allem anschaulich machen will, was die bis anhin
männliche Perspektive auf den Kreisauer Kreis ausser acht gelassen hatte.
Dabei geschieht bei der Lektüre der
zwei Biografien über Freya von Moltke
etwas Ähnliches wie bei denjenigen
Helmuths: Den Zauber, der von diesen
beiden Menschen ausging, spürt man eigentlich erst dann so richtig, wenn sie
selbst das Wort haben und zueinander
sprechen: von ihren politischen Überzeugungen, von ihren religiösen Gewissheiten und von ihrer Liebe, die er
einmal in die Worte fasste: «Nur wir zusammen sind ein Mensch. Wir sind ein
Schöpfungsgedanke.» l
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17
Sachbuch
Zeitgeschichte Wie der Erotikboom nach 1945 die Bundesrepublik eroberte
Mit den Sexheftchen meldeten
sich die Sittenwächter
Sybille Steinbacher: Wie der Sex nach
Deutschland kam. Der Kampf um
Sittlichkeit und Anstand in der frühen
Bundesrepublik. Siedler, München 2011.
575 Seiten, Fr. 42.90.
Von Fritz Trümpi
«Sex sells» – das war nach dem Ende
des Zweiten Weltkrieges auch in
Deutschland die Devise, die dem kriegsversehrten Land erst einmal einen wahren Sexheftchen-Boom bescherte: Sechs
Millionen sollen davon bis Ende der
1940er-Jahre auf den Markt gekommen
sein, die von rund 140 verschiedenen
Erotikverlagen gedruckt und verlegt
wurden. Doch mit dem Erotik-Boom
meldeten sich auch Deutschlands Sittenwächter zu Wort und machten sich
daran, ein auf Kaiserreich und Weimarer
Republik zurückgehendes «Schmutzund-Schund»-Gesetz neuer Wirksamkeit zuzuführen.
Dieses Spannungsfeld hat die deutsche Zeithistorikerin Sybille Steinbacher in akribischer Feinarbeit ausgelotet
und fördert weit über das Kernthema
hinausreichende Erkenntnisse zutage,
die für das historische Verständnis der
jungen Bundesrepublik von zentralem
Interesse sind. Über die Sexualitätsdebatten lassen sich nach Steinbacher
nämlich grundlegende gesellschaftspolitische Ausgangspositionen erkennen:
«Sittlichkeit versus Freiheitsrechte lautete früh die Kernkonstellation.» Während die einen überzeugt davon waren,
kaum ein Zufall, dass der Aktionismus in
Sachen Schmutz und Schund zeitlich
mit der Wiedereingliederung einstiger
Nationalsozialisten in den Beamtenapparat der Bundesrepublik zusammen
gefallen sei, meint Steinbacher. Denn
die Strafverfolgung von «Schmutzverlegern» habe angesichts des grossen
Booms auf dem Erotikmarkt einen Tätigkeitsbereich für ehemalige NS-Beamte geschaffen, die ab 1951 ihren Dienst
wieder aufnehmen konnten.
In der Tat dürften sie einiges zu tun
gehabt haben, zumal die Autorin in der
jungen Bundesrepublik nicht weniger
als drei «mediale Sexwellen» ausmacht.
Ausser dem bereits erwähnten Sexheftchen-Boom war dies zunächst der Wirbel um den amerikanischen Sexforscher
Alfred C. Kinsey, der zu Beginn der
1950er-Jahre in Europa ebenso populär
wie umstritten war. Kinseys Diagnose:
Die sexuellen Normen entsprächen
längst nicht mehr der Realität. Daran
anknüpfend forderte er die Aufhebung
der bis anhin sakrosankten Unterscheidung von «normalem» und «abnormalem» sexuellen Verhalten und redete
der Entpathologisierung von Homosexualität das Wort. Eine dritte «Sexwelle» entspann sich 1966 um die anachronistische Indexierung des 200 Jahre
alten Erotikromans «Fanny Hill» – zu
einem Zeitpunkt, als an Plakatwänden
längst freizügige Werbung prangte und
zahlreiche Illustrierte allwöchentlich
spärlich bekleidete Frauen auf ihr Titelbild setzten. Diese sich völlig zuwiderlaufenden Gleichzeitigkeiten – eine zunehmend aufgeklärt-liberalistische Praxis im Umgang mit Sexualität sowie die
umso rigider eingeklagten Sittlichkeitsnormen – waren für die junge Bundesrepublik symptomatisch.
eine «befreite Sexualität» zeuge von
einer fortschrittlichen und liberalen Gesellschaft, sahen andere im Festhalten
an der Sittlichkeit eine sozial heilende
Kraft und damit die Basis für den geistigen Wiederaufbau des Landes.
Dass die Sittlichkeitsdebatten im
Deutschland der frühen Nachkriegsphase besonders leidenschaftlich ausgetragen wurden, sieht die Autorin darin begründet, dass sich damit der «moralische Reflexionsbedarf in Bezug auf die
NS-Vergangenheit» habe abarbeiten lassen. In diesem Zusammenhang verweist
sie auf den «literarischen Jugendschutz»
als einer zentralen Figur in der Rhetorik
der Sittenwächter und der Justiz. Dadurch nämlich liess sich auf kulturellem
Gebiet wiederherstellen, was politisch
nach Kriegsende kaum möglich war:
moralische Unbescholtenheit.
Kampf gegen Unzüchtiges
In ihren Ausführungen greift die Autorin zeitlich weit zurück, bis ins Kaiserreich. Denn zumindest um eine Institution kommt nicht herum, wer sich mit
deutscher Sexualitätsgeschichte befasst:
Der «Volkswartbund» kämpfte seit seiner Gründung 1898 an vorderster Front
mit, wenn es darum ging, gestrenge Sittlichkeitsnormen zu prägen und in die
Praxis umzusetzen. Und er war es auch,
der sich unmittelbar nach dem Ende der
NS-Diktatur wiederum besonders aktiv
um eine strenge Normierung der Sittlichkeit und um die Bekämpfung alles
«Unzüchtigen» bemühte. Damit arbeitete er der Justiz in die Hände: Es sei
Vom Versandhandel
zu Selbstbedienungsläden: In den 1970erJahren baute Beate
Uhse Europas grössten Erotikkonzern auf.
FRIEDRICH RAUCH / INTERFOTO
Kulturelle Modernisierung
18 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
Die Liberalisierung der sexuellen Sphäre konnten die Sittlichkeitswächter
indes genauso wenig verhindern wie
den damit eng verknüpften Aufstieg der
Erotikindustrie. Beate Uhse ist hierfür
ein beredtes Beispiel. Von sexualreformerischen Gedanken inspiriert agierte
die ehemalige Kampffliegerin zunächst
als Beraterin für Verhütungs- und Abtreibungsfragen, stieg jedoch alsbald ins
Erotik-Versandgeschäft ein, eröffnete
Selbstbedienungsläden mit einem vielfältigen Sexartikel-Sortiment und begründete damit Europas grössten Konzern der Erotikbranche. Die Kommerzialisierung des Sex, so Steinbachers
Resümee, stand eben in unmittelbarer
Beziehung zur gesellschaftlichen Modernisierung: «Fortschritt war die kulturelle
Orientierungsnorm der Zeit, und Erotikkonsum entwickelte sich zum Symbol
gestiegenen Lebensstandards.» ●
Deutschland Wie Kinder unter der Politik-Versessenheit der Väter leiden. Für Sohn Walter war
Helmut Kohl nie Familienvater, sondern Clanchef der CDU
Immer nur «Der Sohn vom Kohl»
Walter Kohl: Leben oder gelebt werden.
Schritte auf dem Weg zur Versöhnung.
Integral, München 2011. 273 Seiten,
Fr. 29.90.
Es ist Mode geworden. Söhne schreiben
über ihre Väter, und keineswegs zu
deren Vorteil. Walter Jens widerfuhr es
posthum. Lars Brandt, der zweite Sohn
von Willy Brandt, griff zur Feder. Walter
Kohl, Helmut Kohls Ältester, folgt jetzt.
Doch während der junge Brandt ironisch und literarisch anspruchsvoll auf
Distanz zum Vater ging, bringt Walter
Kohl seinen Zorn und seine ganze Verzweiflung über das gestörte Verhältnis
zum Übervater, dem weltweit angesehenen Bundeskanzler, zu Papier. Er liefert
ein Psychogramm des Vaters, aber mehr
noch seiner selbst, seiner Selbstzweifel
und seiner Neigung, sich in die Opferrolle zu fügen.
Nun kann man darüber streiten, ob
das Privatleben prominenter Politiker
an die Öffentlichkeit gezerrt gehört.
Jede Generation sieht das anders. Das
Phänomen aber existiert. Familienleben
findet bei den Grossen der Politik nicht
statt, es fehlt an der Hinwendung zu den
Kindern zumal in einer Zeit, da sie den
Vater als grosses Vorbild und Ratgeber
brauchen. Sohn Walter bringt es auf die
kurze Formel: «Seine wahre Familie
heisst CDU, nicht Kohl.» Sein Vater
fühle sich in einem archaischen Sinne
als der Clanchef eines Stammes, der sich
CDU nenne. Das Desinteresse des Vaters verführt den Autor zu subtiler
Rache.
Über weite Strecken referiert er über
Helmut Kohl, als urteile er über einen
weitgehend Unbekannten, den er nur
aus dem Fernsehen kennt. Bei Lars
SVEN SIMON / ULLSTEIN BILD
Von Gerd Kolbe
Szenen für den Fotografen: Vater und Sohn Kohl 1973 beim Fussballspiel.
Brandt findet sich Ähnliches. Der Vater
wird bei ihm nur mit dem Kürzel «V.»
erwähnt. Sohn Lars berichtet vom gemeinsamen Frühstücken, bei dem sie
aber das Sprechen weitgehend dem Papagei überliessen. Walter Kohl schmerzt
bis heute, dass der Vater mit den Kindern sonntags zwar die Kirche besuchte,
aber nach der Messe nur Zeit für treue
Anhänger, Autogrammjäger und ein
kleines Bad in der Menge hatte. Der
junge Kohl wollte seiner selbst wegen
geachtet werden, wollte «der Walter»
sein, war aber stets nur der «Sohn vom
Kohl», und das im negativen Sinn.
Schon am ersten Schultag liessen ihn
die anderen Sechsjährigen ihre Abneigung spüren. Oft setzte es Hiebe. Bei der
Bundeswehr wird der Gefreite Kohl von
einem Fähnrich dreimal über die Hindernisbahn gejagt statt einmal wie seine
Kameraden. Am schlimmsten war für
Kohls Kinder die Zeit des RAF-Terrors.
Keinen Schritt konnten die beiden ohne
Bewacher tun. Die Eltern wussten nicht,
wie sie es ihrem Sohn sagen sollten. Bis
eines Tages drei hochrangige Sicherheitsbeamte erschienen, um Walter mit
dem Gedanken vertraut zu machen, dass
er entführt werden könne. Man werde
auf jeden Fall versuchen, ihn freizukaufen, erfuhr der damals 13-Jährige, aber
nur «so bis maximal fünf Millionen
Mark». Das Trauma, nur diese Summe
wert zu sein, hat Walter Kohl aber nie
überwunden.
Es gab Zeiten, da wollte er seiner unheilbar kranken Mutter in den Freitod
folgen. Trotz allen Spannungen betreute
er alsdann den Vater, beklagte aber, dass
dieser ihn so behandle «wie in Kanzlerzeiten seine Mitarbeiter». Es kam zum
Bruch. Walter Kohl hat sich gedanklich
mit dem Vater versöhnt, dieser aber
wohl nicht mit ihm. Das engste Verhältnis zueinander hatten die beiden kurioserweise zur Zeit des Mauerfalls. Sohn
Walter begleitete den Kanzler beim ersten Gang durchs Brandenburger Tor. Als
wütende DDR-Bürger gegen den Ostberliner Ministerpräsidenten Hans Modrow handgreiflich wurden, rief die
Stasi den hochgewachsenen jungen
Mann an Kohls Seite zu Hilfe. Man hatte
ihn für einen Kollegen vom Bundeskriminalamt gehalten. Mehr als dies aber
gibt Walter Kohls Buch an Anekdotischem nicht her. ●
Eine Hommage an den Theatermagier des 20. Jahrhunderts!
Herbert Wernicke
Regisseur, Bühnenbildner, Kostümbildner
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Visionäre, grandiose und suggestive Bühnenräume
von Herbert Wernicke zeigt dieser reich bebilderte Band.
<wm>10CEXKIQ6AMAwF0BOt-b9bw0olDLUggHACgub-igSDeO71Hib4TG092hYEiiVmZq1hXkRVg04ZyICyKMgR1ZzFM-LfaZrTDizACcpz3S9Uod0xXQAAAA==</wm>
Christian Fluri (Hrsg.) in Zusammenarbeit mit Iris Becher und Marianne Wackernagel.
2011. 260 S., 350 Abb., Leinen mit Schutzumschlag. sFr. 119.–. ISBN 978-3-7965-2590-2
Schwabe Verlag Basel
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 19
Sachbuch
Kulturgeschichte Der Versuch, in Amerika den Alkoholkonsum zu verbieten, führte zu neuen
Problemen: Schmuggel und florierende Verbrecherorganisationen
Das Experiment der Prohibition
ist misslungen
band enorme Summen und führte zu
einer engen Verflechtung illegaler und
legaler Geschäfte. 1931 zählte die Schattenwirtschaft doppelt so viele Beschäftigte wie 1919 der gesamte Alkohol- und
Gastwirtschaftssektor.
Thomas Welskopp: Amerikas grosse
Ernüchterung. Eine Kulturgeschichte der
Prohibition. NZZ Libro, Zürich 2010.
660 Seiten, Fr. 70.90.
Von Beatrix Mesmer
Gepantschte Getränke
Da weder Produzenten noch Konsumenten sich mit den rigorosen Verboten
abfanden, entwickelten sich bereits in
den ersten Jahren der Prohibition verschiedene Strategien, wie die trinkfreudigen Amerikaner trotzdem versorgt
werden konnten: Neben dem Schmuggel
von hochprozentigem Alkohol auf dem
Seeweg und über die kanadische Grenze
florierte die Herstellung von teils giftigen Surrogaten, die in einem klandestinen Vertriebsnetz an kaufkräftige Privatleute oder in Nachtlokale gelangten.
Diese «Ökonomie der Prohibition»
20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
Gangstersyndikate boomen
Die Kriminalisierung des Trinkens veränderte die amerikanische Gesellschaft
grundlegend. Die hohen Risikoprämien
im Geschäft mit der Prohibition liessen
kleine Strassengangs zu eigentlichen
Gangstersyndikaten aufsteigen, die in
Städten wie Chicago und New York
auch die Politik infiltrierten. Bestechung und Korruption wurden alltäglich, zugleich verwischten sich die
Grenzen zwischen verbotenen und tolerierten Vergnügungen. Die «goldenen
Zwanzigerjahre» boten dem Jazz und
Schweizer Berge Wie die Gipfel zu ihren Namen kamen
ROMAN KOCH
Das in den USA von 1920 bis 1933 geltende nationale Alkoholverbot ist ein Musterbeispiel dafür, dass gut gemeinte Eingriffe in das Konsumverhalten der Bevölkerung meist zu neuen Problemen
führen. In seiner Kulturgeschichte der
Prohibition zeigt der an der Universität
Bielefeld lehrende Historiker Thomas
Welskopp auf, was für Kollateralschäden der Versuch anrichtete, den Amerikanern das Trinken abzugewöhnen. Er
nimmt einerseits die Akteure ins Visier,
die den Verbotsgesetzen den Boden bereiteten, anderseits die Profiteure, die
mit der Umgehung dieser Gesetze zu
Geld und Einfluss kamen.
Die Kampagne gegen den Alkohol
wurde seit dem frühen 19. Jahrhundert
von einer Koalition aus christlichen
Temperenzvereinen und einer politisch
motivierten Bewegung gegen Trinkstuben geführt, die vor allem von Neueinwanderern als Treffpunkt genutzt wurden. Mit ihrem vordergründig moralund sozialreformerischen Argumentarium, das tiefer liegende Ressentiments
einer durch Integrationsschwierigkeiten
verunsicherten Gesellschaft bediente,
gewann die «Anti-Saloon League» rasch
Breitenwirkung. Schon bevor sie auf nationaler Ebene die Festschreibung des
Alkoholverbots in einem Verfassungszusatz durchsetzte, hatte sie in einer
Reihe von Einzelstaaten Erfolg. Erst mit
der Formulierung der Ausführungsgesetzgebung, die Herstellung, Transport
und Verkauf von alkoholischen Getränken verbot, wurde jedoch deutlich, wie
tief die Prohibition in die Grundrechte
und die Eigentumsgarantie eingriff.
freizügigeren Moden eine Bühne, aber
auch Repression und Gewaltexzessen. Je
offensichtlicher das Scheitern der Verbotspolitik wurde, desto deutlicher
zeichnete sich ein Umschwung der öffentlichen Meinung ab. Einzelne Bundesstaaten liessen ihre Ausführungsgesetze auslaufen, und nach dem Beginn
der Weltwirtschaftskrise wurde der Ruf
nach Streichung des Verfassungszusatzes lauter. 1932 gewannen die Demokraten mit dem Wahlslogan «Repeal» (Aufhebung) die Präsidentschaftswahlen.
Welskopps Buch ist nicht nur als Darstellung eines misslungenen Experiments eine lohnende Lektüre, es vermittelt auch aufschlussreiche Einblicke in
die Mechanismen der amerikanischen
Innenpolitik. ●
Beatrix Mesmer ist emeritierte Professorin für Zeitgeschichte der Uni Bern.
Wie Holzspäne ragen seine Felsnadeln in den Himmel.
Doch der «Gross Spanort» (siehe Bild) könnte seinen
Namen auch vom mittelhochdeutschen Wort «span»
für Streit bekommen haben, liegt er doch im Urner
Reusstal ganz hinten, fast an der Grenze zu
Obwalden, und Grenzen führen bekanntlich zu Streit.
Späne oder Span – wie so oft lässt sich die Herkunft
eines Namens nicht eindeutig bestimmen. Berggipfel
haben ihre Namen als letzte in der Familie der
Flurnamen bekommen, die Zahl der schriftlichen
Quellen ist schmal, oft bleibt nur der Volksmund. Die
Schwyzer Germanistin und Journalistin Nathalie
Henseler hat 70 Bergnamen, ihre Deutung und
Geschichte zusammengetragen. Das Ergebnis ist eine
Zeitreise in die Schweizer Bergwelt mit Bildern von
heute, von den Mythen über den Dammastock,
Schimbrig, das Sidelhorn und den Rofeien bis zum
Matterhorn, das seinen Namen ganz unspektakulär
von der Matte im Tal hat. Kathrin Meier-Rust
Nathalie Henseler: Gipfelgeschichten. Wie die
Schweizer Berge zu ihren Namen kamen. Faro,
Lenzburg 2010. 178 Seiten, Fr. 44.90.
Zukunft Kühne Visionen erwiesen sich in der Vergangenheit oft als Fehlprognosen. Auch eine neue
Sammlung von Zukunftsentwürfen verheddert sich im Helvetozentrismus
Die Schweiz von morgen
Peer Teuwsen: Wohin treibt die Schweiz?
Zehn Ideen für eine bessere Zukunft.
Nagel & Kimche, Zürich 2011 (erscheint
am 7. März). 160 Seiten, Fr. 22.90.
Vor genau einem Jahr stellte man 10 Vortragsrednern die Frage: Wohin treibt die
Schweiz? Diese hoffentlich sorgfältig
ausgewählten Schweizer müssen ausgesprochene Umstandskrämer sein, weil
ausser zweien alle weit in der Vergangenheit graben, längst Gesagtes und Geschriebenes wiederholen, aber die Frage
der Zukunft in drei Zeilen beantworten,
wenn überhaupt. Doch es gibt zwei Ausnahmen.
Diese nach vorne blickenden Autoren
vorweg. Der Architekt Jacques Herzog
nennt eines der wirklichen Probleme,
das wie alle grossen gesellschaftlichen
Herausforderungen den Rahmen der
Schweiz weit übersteigt. Wie soll die
Schweiz mit dem immer knapperen,
überbeanspruchten Raum, mit der
Landschaft umgehen? Die Schweiz habe
kein Bild von sich und schwanke daher
ohne Konzept in dieser Frage. Doch
Herzog gibt Verfahrensrezepte. Die Gemeindeautonomie mit ihren alle drei Kilometer ausgeschiedenen kleinen Bauzonen ist die Schwelle gegen die Verdichtung, gegen die urbane künftige
Schweiz. Positives Gegenbeispiel bleibt
immer noch die S-Bahn Zürich, welche
der metropolitanen Region den Wettbewerb mit den anderen europäischen
Zentren aufzunehmen erlaubte.
Für Basel sähe Herzog zum einen eine
ähnlich auszubauende Zentralfunktion,
zum andern etwa einen städtebaulichen
Neuanfang in einer Seenlandschaft aus
den nahen Kiesgruben und dem Rhein.
Ein neuer Föderalismus kann diese
grösseren Ordnungen schaffen, und
Herzog spricht das stets Verdrängte gelassen aus, dass man dann eben auch in
gewissen Randgebieten und Tälern
nicht mehr investieren solle.
Herzog & Gugerli
Den zweiten, brauchbaren Zukunftsbeitrag bringt David Gugerli, Professor für
Technikgeschichte an der ETH Zürich.
Er schwört allen bombastischen Visionen ab und äussert Skepsis gegenüber
der Prognostizierbarkeit. Seine Beispiele verfehlter Zukunftsentwürfe sind umwerfend – atomar betriebene Autos oder
Weltraumstädte aus den 60er-Jahren,
der hochgejubelte und zehn Jahre später
schon kränkelnde Euro. Dann kommt
der Hammersatz: «Zukunftsentwürfe
sagen nichts über die Zukunft aus, aber
sie sprechen Bände über die Gegenwart,
in der sie entstanden sind.» Die Schweiz
KARL MATHIS / KEYSTONE
Von Beat Kappeler
gesamt «eine offene, einflussreiche und selbstbewusste
Schweiz». So viel Diplomatie
wird sicher niemand widersprechen.
Jakob Tanner ächzt als
Historiker den alten 68erTraumata entlang. Aufgescheucht werden die «geistige Landesverteidigung», die
Söldner, die Kuh, «Festung
Schweiz», Steueroase, Bankgeheimnis, Christoph Blocher und Martin Ebner. Das
und viel anderes aus der Requisitenkammer wars dann.
Wohin
diese
schlimme
Schweiz denn treibe, bleibt
offen. Immerhin stellt Tanner
in diesen Sachen eine «Lernblockade» und eine helvetozentrische Sicht fest und
dürfte durchaus selbstkritisch sich damit eingeschlossen haben.
Roger de Weck seinerseits
muss tief in der Vergangenheit graben, um sich den EUBeitritt zu wünschen. Wer es
wagt, dagegen zu sein, «verteufelt» Europa, pflegt «Steuerchauvinismus» und verbreitet «Tabus». Die Parade
zu diesen Lamentos findet
Gugerli, indem er sagt, «die
Angriffe auf die gängigen
Selbstbilder der Schweiz hatten oft den eigentümlichen
Effekt, dass sie – ihrer kritischen Stossrichtung zum
Trotz – ganz wesentlich» zur
Verhärtung beigetragen haben. Die meisten Autoren verheddern
sich im «Helvetozentrismus», sie können sich nicht vom real existierenden
Ländchen, von seinen Tagesdebatten
lösen und die Meere oder Flächen sichten, in welchen es treibt, treiben wird.
Braves Modell der
Schweiz: Bundeshaus
im Swssminiatur-Park
in Melide (TI).
ist kein einmal beschlossenes und ausgeführtes Projekt, sondern sie ist das
Produkt immer wieder aufgeworfener
und parallel laufender Debatten. Seit
der Verfassung von 1848 waren solche,
nicht von Anfang an geplante Projekte
das Zivilgesetzbuch, das Obligationenrecht, die Sozialversicherungen, der
Proporz, das Arbeitsrecht. Gugerli gibt
dann seinerseits Verfahren vor, nicht
Ziele: eine sorgfältige Gegenwartsanalyse, der Abwurf von Ballast – darunter
auch bei ihm die Autonomie kleinster
Gemeinden – und dann eben «Gedankenexperimente», um diese vorwärts
führenden, vielen Bereichsdebatten anzustossen.
Ehrlicherweise muss man auch der
Aussenministerin und gegenwärtigen
Bundespräsidentin Micheline CalmyRey zubilligen, in ihrem Beitrag Vorschläge zu bringen. Allerdings keine
neuen. Denn einerseits wünscht sie dem
Lande künftig ein aussereuropäisches
Standbein, andererseits einen Platz auf
dem europäischen Kontinent, und ins-
Der Boden wird knapp
Dazu gehören ganz klar der Boden, der
Raum, von Herzog angesprochen, sowie
die anderen knappen Umweltressourcen, dann aber auch die neue Welt der
Netze, wie sie Medien, Strom, Bahn, Geschäftsmodelle, Standorte zerstören
und neu gewichten. Sodann das grandiose Scheitern aller Grossstaaten des
Westens, bankrott nach 50 Jahren Umverteilung und Nachfragesteuerung, EU
und USA eingeschlossen. Dazu gehören
auch Europas Alterung und Bedeutungslosigkeit gegenüber den aufstrebenden Ländern. Diese Fragen treiben
die meisten Staaten künftig um. Die
Schweiz sollte eigene, zündende Antworten finden. Dieses Buch bietet nur
wenig dazu. ●
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21
Sachbuch
Libanon Joumana Haddad schreibt furios gegen islamische Doppelmoral
Eine arabische Frau liest de Sade
Joumana Haddad: Wie ich Scheherazade
tötete. Bekenntnisse einer zornigen
arabischen Frau. Verlag Hans Schiler,
Berlin 2010. 124 Seiten, Fr. 27.90.
«Scheherazade war mir noch nie sonderlich sympathisch», schreibt Joumana
Haddad in ihren autobiografischen «Bekenntnissen einer zornigen arabischen
Frau». Die Erzählerin aus der ursprünglich persischen Märchensammlung
«1001 Nacht» gilt als literarische Heldin,
ist es ihr doch gelungen, den König, der
sie töten wollte, mit ihren Geschichten
Nacht für Nacht von seiner Absicht abzuhalten und so ihr Leben zu retten.
Scheherazade wird für ihre List im Osten
wie im Westen gleichermassen verehrt.
Nicht so von der 1970 in Beirut geborenen libanesischen Autorin und Journalistin Joumana Haddad. Sie habe
Scheherazade mit blossen Händen erwürgt, schreibt sie. Mit der ganzen Wut
einer arabischen Frau über die Verbote,
Einschränkungen und Lügen, mit denen
sie aufgewachsen ist. Sie sieht in Scheherazade keine Heldin, sondern «nichts
weiter als ein nettes Mädel mit einer
lebhaften Fantasie und einem ausgeprägten Verhandlungsgeschick», kompromissbereit und sanft, kurz: das Klischee einer Frau. «Wo bleibt da der Widerstand?», ruft die streitbare Autorin,
die zuletzt mit der Herausgabe des ersten arabischen Erotik-Magazins «Jasad»
provoziert hat.
Den fehlenden Widerstand gegen patriarchalische Strukturen und den Man-
SOPHIE HENKELMANN / LAIF
Von Susanne Schanda
gel an Zivilcourage macht sie ihren arabischen Geschlechtsgenossinnen zum
Vorwurf. Zugleich räumt sie in ihrem
Essay mit den gängigen Vorurteilen
über «die arabische Frau» auf, indem
sie von sich schreibt und provokativ erklärt: «Eine arabische Frau … liest de
Sade.» Obwohl Haddad in einem konservativen christlichen Elternhaus aufwuchs, fanden sich in der Bibliothek
des Vaters Bücher wie «Justine», «Lolita» und «Sexus», wenn auch gut versteckt im obersten Regal. Die Lektüre
von verbotener erotischer Literatur im
Alter von zwölf Jahren hat die Autorin
für Tabus und Doppelmoral in ihrer Gesellschaft sensibilisiert und zugleich ihr
Brechen Tabus:
moderne junge Frauen
in Teheran.
eigenes Schreiben geprägt. So kritisiert
sie die im Nahen Osten nach wie vor
praktizierte Verheiratung minderjähriger Mädchen mit erwachsenen Männern als «institutionalisierte Pädophilie». Religion, und zwar die christliche
ebenso wie die islamische, hält sie für
ungesund, wenn sie aus dem spirituellen Bereich in den privaten und öffentlichen Bereich des Lebens vordringe.
Heftig wendet sich Joumana Haddad
gegen den «religiösen Exhibitionismus» und die «Obszönität der Religion» und führt aus: «Wer sich vor aller
Augen der Liebe hingibt, wird wegen
Erregung öffentlichen Ärgernisses bestraft oder landet sogar im Gefängnis.
Ich träume von einer säkularen, unverseuchten Welt, in der man allen, die ihre
religiöse Überzeugungen zu einem Karneval ausarten lassen, die gleiche Behandlung zukommen lässt.» Das sind
deutliche Worte, die der Autorin viel
Feindschaft einbringen.
Eine tiefgehende gesellschaftliche
Analyse liefert Joumana Haddad in
ihrem Essay nicht. Dafür schreibt sie
viel zu subjektiv. Doch gerade in ihrer
radikalen Selbstbezogenheit und ihrem
Furor wirkt sie glaubwürdig, weil sie die
eigene Erfahrung als Basis ihrer Erkenntnisse offenlegt. Mit ihrem auf Englisch verfassten Text spricht sie einerseits ein westliches Publikum an und
korrigiert Klischees über die arabische
Frau. Andrerseits appelliert sie an den
Widerstandsgeist der arabischen Leserinnen, sich nicht kleinkriegen und einlullen zu lassen durch Gehirnwäsche
und Geschichten wie diejenige von
Scheherazade. ●
Firmengeschichte Unter Christoph Blocher stieg die Ems-Chemie zum Weltkonzern auf
Arbeitsplätze an der Peripherie
Karl Lüönd: Erfolg als Auftrag.
Ems-Chemie: Die Geschichte eines
unmöglichen Unternehmens.
Stämpfli, Bern 2011. 168 Seiten, Fr. 39.–.
Von Charlotte Jacquemart
Das neue Buch über die Ems-Chemie ist
ein Auftragswerk der Besitzer-Familie.
Angeregt von der aktuellen Ems-Chefin
Magdalena Martullo-Blocher, hat Autor
Karl Lüönd Zugang gehabt zu Dokumenten, die einem Aussenstehenden
wohl verwehrt gewesen wären. Der
Preis dafür: Das Buch ist keine kritische
Auseinandersetzung mit der Ems-Geschichte oder deren Exponenten, sondern tendiert dazu, die Geschehnisse
leicht glorifizierend zu erzählen. Dass
Lüönd die Leistungen der Firmenspitze
als überdurchschnittlich einordnet,
scheint allerdings richtig. Zweifellos
22 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
gehört der ehemalige Besitzer der EmsChemie, Christoph Blocher, zu den erfolgreichsten Unternehmern der jüngeren Schweizer Geschichte.
Der wirtschaftshistorische Inhalt des
Buches nimmt dadurch allerdings keinen Schaden. Im Gegenteil: die Lektüre,
die von vielen Bildern aus dem Firmenarchiv bereichert wird, lohnt sich. Das
Buch ist nicht nur lebendig geschrieben,
sondern zeichnet die Geschichte eines
Industrieunternehmens nach, die aussergewöhnlich ist und deren umsichtigen Strategen Lob gebührt. An peripherer Lage im Kanton Graubünden haben
es der Gründer Werner Oswald und später Christoph Blocher nicht gescheut,
erhebliche finanzielle Risiken auf sich
zu nehmen, um industrielle Arbeitsplätze nicht nur zu schaffen, sondern auch
langfristig zu erhalten.
Seit den ersten Tagen im Jahr 1936, als
die Holzverzuckerungs AG (Hovag) ge-
gründet wurde, war dauernde Innovation nötig, um das Überleben zu garantieren. Keine Woche verging, in der man
nicht vorwärts schaute und Überlegungen traf, wie die Welt von morgen aussehen würde, welche Nischenprodukte
mit hoher Wertschöpfung nachgefragt
würden und in welchen Teilen der Welt
Produktionsstätten aufzubauen seien.
Rund die Hälfte der Produktion befindet
sich heute noch in der Schweiz. EmsKunststoffe finden sich nicht nur in
diversen Industrieprodukten, sondern
auch in vielen Gütern des täglichen Bedarfs wie Lebensmittel und Kosmetika.
Dass der Chemiekonzern heute dabei
verstärkt auf ausländische Arbeitskräfte
angewiesen ist, entbehrt angesichts des
Kampfes des Politikers Blocher gegen
die Überfremdung nicht einer gewissen
Ironie. Den Verdiensten des Unternehmers Blocher aber wird das Buch von
Karl Lüönd gerecht. ●
Biografie Der grosse jüdische Historiker Simon Dubnow (1860–1941) teilte das Schicksal des
russischen Judentums, aus dem er stammte
Assimilation als Verrat
Biografie. Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen 2010. 661 Seiten, Fr. 115.–.
Von Kathrin Meier-Rust
«Ich wärme mich nicht nur, sondern
verbrenne mich am Scheiterhaufen der
Geschichte.» Die Worte, die der jüdische Historiker, Politiker und Theoretiker Simon Dubnow im Januar 1918 im
kalten, hungernden Petrograd in sein
Tagebuch schrieb, sind nicht nur prophetisch. Sie treffen auch ins Herz des
Dilemmas dieses grossen Gelehrten, der
Zeit seines Lebens fast zerrissen wurde
zwischen gesellschaftspolitischem Engagement und wissenschaftlicher Arbeit. Der russische Historiker Viktor E.
Kelner, der an der Europäischen Universität in St. Petersburg lehrt, präsentiert
eine erste umfassende Gesamtdarstellung seines Lebens und Wirkens, die
nun mit Unterstützung des Simon-Dubnow-Institutes in Leipzig, auch auf
Deutsch vorliegt.
Simon Dubnow kam 1860 im Schtetl
von Mstislaw in Weissrussland zur Welt,
sein Vater war Holzhändler, der Grossvater Talmudgelehrter. Er besucht den
Cheder, die orthodoxe Gemeindeschule
mit ihrem rigide-abstrakten TalmudDrill – er wird lebenslang vehement
gegen die «widernatürliche ignorante
Chedererziehung» und für eine weltliche jüdische Schule kämpfen. Bald liest
der wissbegierige Knabe heimlich die
verbotene Literatur der jüdischen Aufklärung, welche die russischen Juden
Weder in einer Rückkehr zur Tradition, noch in der Assimilation, noch in
Zionismus und Emigration – so die damals heftig diskutierten Positionen
unter den russischen Juden – sah Dubnow nämlich eine Lösung für die von
Pogromen und wachsendem Antisemitismus immer stärker bedrängte «russländische Judenheit», damals etwa sechs
Millionen Menschen. Vielmehr war er
überzeugt, dass einzig jener «geistige
Nationalismus», der das Judentum über
Jahrhunderte in der Diaspora hatte
überleben lassen, es auch in Zukunft erhalten werde.
Nur eine kulturell-geistige Autonomie könne den Juden Immunität verschaffen gegen den «Bazillus der Assimilation», den «der Wind der Diaspora» in sich trage. Dass seine drei Kinder,
wie so viele Juden damals, der sozialistischen Bewegung beitraten, bereitete
ihm als überzeugtem Gegner des Sozialismus grossen Schmerz. Die Heirat seiner Tochter Olga mit einem Russen jedoch verwand er nie – Assimilation war
und blieb für Dubnow ein Verrat.
Im sicheren Gespür für den kommenden Terror gelingt Dubnow 1922 die
Ausreise nach Berlin. Hier, im Zentrum
der jüdisch-russischen Diaspora, vollendet Dubnow sein eigentliches Lebenswerk, eine zehnbändige «Weltgeschichte des jüdischen Volkes», die gleichzeitig in mehreren Sprachen erscheint.
Doch schon 1933 muss der inzwischen
weltweit geehrte 73jährige Gelehrte
abermals fliehen. Er wählt Riga, trotz
Einladungen nach Amerika und Palästina. Hier schreibt er noch seine Autobiografie, in Riga teilt er schliesslich das
Schicksal des osteuropäischen Judentums, dem seine lebenslange Forschung
und Sorge galt: Im Dezember 1941 wird
der 81jährige Dubnow beim Abtransport
aus dem jüdischen Ghetto ermordet.
Seine letzten Aufzeichnungen aus dem
Ghetto sollen vergraben worden sein –
sie wurden nie gefunden.
damals, hundert Jahre nach den westeuropäischen, gerade zu erreichen begann.
Nur zwei Jahre kann Dubnow eine russische Dorf-Schule besuchen, alle Versuche, in ein russisches Gymnasium zu
kommen, das den Zugang zur Universität ermöglicht hätte, scheitern. Dubnow
stillt seinen Bildungshunger als Autodidakt, lernt französisch, deutsch und englisch, liest sich jahrelang durch die Klassiker der Weltliteratur.
Rastloser Arbeiter
Kaum 20 zieht der Provinzler nach
St. Petersburg, ohne Aufenthaltserlaubnis, die nur akademisch gebildete Juden
zusteht, beginnt in jüdischen Zeitschriften zu publizieren und an den politischen Debatten der jüdisch-russischen
Intelligenzia teilzunehmen. Er gründet
eine Familie, die er fortan mit rastloser
geistiger Arbeit unterhalten muss:
15 Stunden habe er täglich in seinem Arbeitszimmer gearbeitet, kein lautes Spiel
seiner Kinder geduldet, selbst in den
Sommerwochen auf dem Lande, erinnert sich die älteste Tochter Sofia.
Über Jahrzehnte ist Dubnow als Publizist, Kritiker, Herausgeber und Historiker des Judentums tätig, zunächst in
Odessa, dann im litauischen Wilna, ab
1906 wieder in St. Petersburg, wo er an
den politischen Ereignissen lebhaft teilnimmt und die Jüdische Volkspartei
gründet. Er kämpft politisch für die
rechtliche Emanzipation der Juden, wissenschaftlich für eine säkularisierte jüdische Geschichtschreibung, korrespondiert und disputiert mit dem gesamten gebildeten Judentum seiner Zeit.
Simon Dubnow
beim Verpacken
seiner Bücher vor
der Ausreise aus der
Sowjetunion nach
Deutschland (1922).
Ausufernd und anspruchsvoll
THE ARCHIVES OF THE YIVO INSTITUTE FOR JEWISH RESEARCH, NEW YORK
Viktor E. Kelner: Simon Dubnow. Eine
Viktor Kelner präsentiert eine gewaltige
intellektuelle Biografie: zahllose Werkzitate und Dokumente, lange Briefe werden im Haupttext abgedruckt, die nicht
nur Dubnows Gedankenwelt, sondern
auch die innerjüdischen und politischen
Debatten jener Zeit akribisch abbilden.
Die realen Lebensumstände – Familie,
Alltag, Reisen – verschwinden nahezu in
diesem Kompendium, das manchmal
ausufernd wirkt und entsprechend anspruchsvoll zu lesen ist. Und doch sind
es gerade die hier so reichhaltig versammelten Quellen, die das enorme geistige
Universum der ostjüdischen Intelligenzia zum Leben bringen. Denn, so sagte
es Simon Dubnow: «Das wahre Schaffen
eines Historikers zielt auf die Erinnerung an die Toten.» ●
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 23
Sachbuch
Literatur Heinrich von Kleist war nach
eigenem Bekunden «auf Erden nicht zu
helfen». Er beging Selbstmord
Leben in
Projekten
Günter Blamberger: Heinrich von Kleist.
Die Biografie. S. Fischer, Frankfurt a.M.
2011. 597 Seiten, Fr. 37.90.
Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger,
Seelensucher. Propyläen, Berlin 2011.
576 Seiten, Fr. 41.90.
Von Andreas Tobler
Werk der Superlative
Michalzik hat seine Kleist-Biografie für
«den ganz normalen Leser» geschrieben, also fürs breite Publikum. Ihm will
er Kleists Leben und Werk so anschaulich wie möglich nahebringen: Wie sah
Kleist aus? Wie sprach er? Wie hatte er
es mit dem Geld? Das sind Fragen, denen
Michalzik in kurzen Exkursen nachgeht.
In der eigentlichen Biografie geht er so
vor, dass er das Leben seines Protagonisten aus dem Jahr 1799 heraus zu erklären versucht, in dem Kleist den Entschluss fasste, Abschied vom Militär zu
nehmen. Alle weiteren Etappen – die
Beziehung zu Wilhelmine von Zenge,
die Würzburger Reise, die Kant-Krise,
das Ansiedlungsvorhaben in der
Schweiz – versteht er dann als Schritte
auf dem Weg zum Schriftsteller.
Eingeflochten in die Lebensbeschreibungen sind Interpretationen, in denen
Michalzik mit Superlativen die besondere Qualität von Kleists Werken zu vermitteln versucht: In der «Penthesilea»
sieht er «den heftigsten Lustmord der
Literaturgeschichte», die «Hermannsschlacht» ist «wahrscheinlich das gewaltbereiteste Kriegspropagandadrama,
das je verfasst worden ist», und der Artikel über den «Mönch am Meer» ist der
«inspirierteste Aufsatz zu Caspar David
Friedrich, wahrscheinlich zur deutschen
Romantik überhaupt». Michalziks zugute halten kann man, dass es ihm als ers24 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
Das noch heute
gepflegte Grab
des Schriftstellers
Heinrich von Kleist
(1777–1811) in Berlin
Wannsee, wo sich der
34-jährige Autor das
Leben genommen hat.
MAX BOOM / AKG IMAGES
Wie vor vier Jahren, als Gerhard Schulz
und Jens Bisky mit ihren ausgezeichneten Lebensdarstellungen um den Lorbeer fochten, steigen auch zum 200. Todestag zwei hochkarätige Kleist-Biografen in den Ring. Diesmal treffen aufeinander: Günter Blamberger, Professor für
Neuere Deutsche Literatur an der Universität Köln, Präsident der Heinrichvon-Kleist-Gesellschaft und Herausgeber des Kleist-Jahrbuchs. Ihm gegenüber: Peter Michalzik, Theaterkritiker
und Redaktor bei der «Frankfurter
Rundschau», Autor einer umstrittenen
Biografie des Suhrkamp-Verlegers Siegfried Unseld und Verfasser eines lesenswerten Buches über den Schauspieler
und Regisseur Gustaf Gründgens.
tem aufgefallen ist, dass sich Kleist und
Henriette Vogel bei ihrem Doppelselbstmord in eine Position begaben (auf
Knien und in Rückenlage), die an die
«Sterbende heilige Magdalena» von
Simon Vouet erinnert, ein Gemälde, das
Kleist 1807 in der Kirche Saint-Loup in
Châlons-sur-Marne gesehen hatte.
Leider verheddert sich Michalzik in
seinen apodiktischen Urteilen wiederholt in Widersprüche. Über die von
Kleist
herausgegebenen
«Berliner
Abendblätter» schreibt er: «Die erste
Tageszeitung Berlins, wie immer behauptet wird, waren die ‹Abendblätter›
[…] nicht.» Was hier widerrufen wird,
behauptet Michalzik zwanzig Seiten
zuvor: «Sozusagen im Alleingang führte
er [Kleist] die Tageszeitung in Berlin
ein.» Ob Kleist die Tageszeitung in Berlin eingeführt hat, ob er in der Schweiz
oder erst in Königsberg zum Schriftsteller wurde und ob die «Abendblätter» als
eine Feuilleton- oder eine BoulevardZeitung anzusehen sind, darüber wird
sich Michalzik nicht einig.
Anders ausgerichtet ist Günter Blambergers Kleist-Biografie: Blamberger
bettet Kleists Leben in den historischen
Kontext ein. So kann er deutlich machen, dass Kleists beständige Unbeständigkeit typisch ist für seine Generation,
die in eine Zeit hineinwuchs, in der «die
ständische Gesellschaft allmählich entsichert» wurde. Es kam zu einem Zuwachs an Möglichkeiten, aber auch zu
Unsicherheiten und Orientierungsverlusten: Kleist wurde zu einem «Projekt-
macher», der wiederholt seine Lebenspläne anpasste oder neue entwarf. Aufgrund dieser Einsicht unternimmt
Blamberger den überzeugenden Versuch, Kleists Leben aus der «Erlebnisperspektive», also immer aus dem jeweiligen Moment heraus und nicht auf
ein später erreichtes Ziel oder auf den
Selbstmord hin zu beschreiben.
Neue Einsichten
Durch die Einordnung in den historischen Kontext entkräftet Blamberger
auch Fehleinschätzungen, wie zum Beispiel jene, dass Kleists Briefe an Wilhelmine von Zenge als «ein einzigartiges
Zeugnis für die Unterdrückung der
Frau», so Michalzik, zu verstehen sind.
Dagegen kann Blamberger aufzeigen,
dass sich in diesen Briefen die «historische Problematik des Übergangs von
der aristokratischen Ehekonzeption zur
bürgerlichen Neigungspartnerschaft»
zeigt. Da Blamberger im Unterschied
zum Theaterkritiker Michalzik auch auf
eine der Schlüsselinszenierungen eingeht – Claus Peymanns Bochumer «Hermannsschlacht» – und in einem kurzen
Kapitel Kleists Nachruhm sowie die unrühmliche Geschichte der Kleist-Gesellschaft darstellt, ist seiner Biografie ganz
klar der Vorzug zu geben: Mit ihren starken Werkinterpretationen und ihrem
explorativen Gestus kann Blambergers
Biografie neben der eleganten Darstellung von Gerhard Schulz bestehen, die
hier nochmals mit allem Nachdruck
empfohlen wird. ●
Memoiren Die Erinnerungen einer Prinzessin liefern überraschende Einblicke in ein Frauenleben
in Persien am Ende des 19. Jahrhunderts
Dem Harem entronnen
Tâdsch os-Saltane: Memoiren. Im Harem
des persischen Sonnenthrons. Hrsg. und
Nachwort von Siegfried Weber. Osburg,
Berlin 2010. 270 Seiten, Fr. 30.50.
Von Geneviève Lüscher
Frau in einem
persischen Harem,
um 1890.
GILLOT / ULLSTEIN BILD
Der Untertitel des Buches könnte in die
Irre führen: Wer glaubt, in eine orientalisch-farbenprächtige Welt aus 1001
Nacht einzutauchen, wird enttäuscht
werden. Der Harem, wie er hier beschrieben wird, entspricht in keiner Art
und Weise den schwülstigen Fantasien
westlicher Reisender, die in dem verbotenen Ort die Erfüllung ihrer geheimsten Wünsche sahen.
Tâdsch os-Saltane kommt als Tochter
des Kadscharen-Schahs 1884 in Teheran
zur Welt; ihre Mutter ist eine von vier
Hauptfrauen. Die Prinzessin wächst in
einer unermesslich reichen Umgebung
auf, die ihr alles bietet, was sich ein Kind
nur wünschen kann. Aber das Leben innerhalb der Mauern des Golestân-Palasts ist geprägt durch die Rivalitäten
und das Machtgerangel der etwa 700
Frauen – Ehefrauen und Bedienstete.
Auch 80 Kinder und 40 Eunuchen leben
im Harem. Die Prinzessin wird von
einer schwarzen Sklavin und einem Kindermädchen erzogen, zu den leiblichen
Eltern besteht kaum Kontakt. Ihre Bildung beklagt sie als rudimentär, aber sie
lernt Französisch und bedient sich eifrig
in der Palastbibliothek, wo auch europäische Werke stehen. Mit neun Jahren
wird sie verheiratet, vier Jahre später
zieht sie zu ihrem gleichaltrigen Gatten.
Die monogame Ehe wird 1907, nach vier
Kindern und einer Abtreibung, geschie-
den. Erst 1914 schreibt sie ihre Erinnerungen auf, in denen sie sich aber über
ihr weiteres, offenbar recht schwieriges
Leben ausschweigt.
Der Herausgeber Siegfried Weber ist
den Spuren nachgegangen, und es empfiehlt sich, sein über 70 Seiten umfassendes Nachwort zuerst zu lesen. Der
Heidelberger Iranist liefert auch Informationen zur Situation Persiens, das um
die Jahrhundertwende von politischen
Erschütterungen heimgesucht wird. Er
zeigt, dass die Memoiren stark subjektiv
geprägt sind, vieles weglassen, anderes
überhöhen. Der hoch emotionale, bisweilen distanzlos geschriebene Text
zeichne ein verzerrtes Bild. Aber dennoch: Tâdsch os-Saltane ist die erste
Frau im Iran, die ihre Erinnerungen zu
Papier gebracht hat und uns damit Ein-
blick in ein persisches Frauenleben gibt.
Nach ihrer Scheidung, der zwei weitere Ehen folgen, beginnt Tâdsch osSaltane sich für die Frauenrechte im
Iran einzusetzen und entfernt sich
damit immer weiter von Familie und
Religion. Da sie eine Schönheit ist, fehlt
es auch nicht an Verehrern, was ihrem
Ruf zusätzlich schadet. Sie wird massiv
belästigt. Weber erwähnt drei Selbstmordversuche. Nach und nach entgleitet ihr offenbar der Boden unter den
Füssen, sie gerät in finanzielle Nöte.
1936 stirbt sie krank, einsam und verarmt in Teheran.
Tâdsch os-Saltanes Ansichten, die sie
zum Teil auch zu leben versuchte, sind
bemerkenswert. Neben einer ungeschminkten Kritik an den herrschenden
Zuständen, an Korruption, Vetternwirtschaft und Umweltverschmutzung, fordert sie Gleichwertigkeit für Mann und
Frau, Erziehung durch die Mutter, Bildung für Frauen, Abschaffung des
Schleiers: «Dass die Frau verschleiert
ist, richtet das Königreich zugrunde, es
ist sittenwidrig und würdelos.» Insgesamt ein Frontalangriff auf die herrschende Gesellschaft, der sie letztlich
überfordert.
Ihre feministischen Forderungen verhallten aber nicht ungehört. Progressive
Frauenverbände wurden gegründet, öffentliche Schulen gebaut und Zeitschriften herausgegeben, in denen gegen die
rückständige Geistlichkeit angeschrieben wurde. Unter Reza Pahlavi wird
1936 der Schleier verboten, und sein
Sohn Schah Mohammad Reza Pahlavi
verschafft den Iranerinnen 1962 das
Wahlrecht – fast zehn Jahre bevor es die
Schweizerinnen erhielten. ●
Alltagsgegenstände Philosoph Konrad Paul Liessmann zeigt, was es an Dingen zu entdecken gibt
Was sehen Sie an einer Schneeschaufel?
Konrad Paul Liessmann: Das Universum
der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen.
Zsolnay, Wien 2010. 207 Seiten, Fr. 26.90.
Von Manfred Koch
Philosophen behandeln, wie man gerne
sagt, die letzten Dinge: die Ordnung der
Welt, der Sinn des Lebens, unseren Umgang mit dem Tod. Für Konrad Paul
Liessmann ist der Philosoph aber nur da
ganz Philosoph, wo er sich auch mit den
vorletzten Dingen abgibt, den realen,
handgreiflichen Gegenständen, mit
denen wir täglich zu tun haben. «Alles
fliesst» lautet ein berühmter Satz von
Heraklit, der für das Zeitwesen Mensch
sicher seine Berechtigung hat. Aber das
ist eben nur die halbe Wahrheit, und so
beginnt Liessmann seine zwölf Essays
«zur Metaphysik der Gebrauchsgegenstände» durchgängig mit dem GegenSatz: «Alles ist da.»
Wir sind umgeben von Dingen, die so
selbstverständlich sind, dass wir uns
über die existenzielle Bedeutung, die sie
für uns haben, kaum jemals Gedanken
machen. Liessmann lädt ein zu Expeditionen in die alltägliche Wahrnehmungswelt. Wie begegnet uns gewöhnlich eine
Verkehrsampel, eine Schaufensterauslage, eine Hausfassade auf dem Weg zur
Arbeit? Was geschieht, wenn wir auf
dergleichen aufmerksam werden, wenn
wir anfangen, das tiefe Türkisgrün der
Ampel zu geniessen oder uns in die
Anschauung des Fassadenmusters zu
verlieren? Grundsätzlich alles kann, wie
Liessmann zeigt, zum Gegenstand ästhe-
tischer Betrachtung werden. Vor diesem
Hintergrund versteht man besser, wie
die moderne Kunst es geschafft hat, ein
Pissoir, eine Schneeschaufel, eine Klomuschel durch blosse Versetzung ins
Museum – als «Ready-made» – zu
Kunstwerken zu adeln.
Ein Höhepunkt des klugen, pointiert
geschriebenen Buchs ist die Liebeserklärung des Autors an sein Rennrad, in
der es ihm gelingt, Heideggers Begriff
der «Kehre» am Beispiel eines Serpentinen bezwingenden Velofahrers zu veranschaulichen. Ein anderer ist die abschliessende Glosse über das Geld als
jenes abgründige «Ding an sich», das in
unserer Gesellschaft das Universum der
Dinge so strahlend repräsentiert, dass
sie uns auf beschämende Weise gleichgültig geworden sind. ●
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 25
Sachbuch
Geschichte François Genoud (1915–1996) pendelte zwischen Rechts- und Linksextremismus
Mysteriöses Wirken im Hintergrund
Willi Winkler: Der Schattenmann.
Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse
Leben des François Genoud. Rowohlt,
Berlin 2011. 352 Seiten, Fr. 30.50.
Von Urs Rauber
Der Westschweizer Bankier François
Genoud war eine merkwürdige Figur.
Als sich der graumelierte 81-Jährige im
Mai 1996 in seinem Haus in Lausanne
von seinen Freunden mit einem tödlichen Cocktail verabschiedete, nahm die
Öffentlichkeit keine Notiz von ihm. Nur
in einer revisionistischen Zeitschrift erschien ein kurzer Nachruf auf den «Verleger, Revolutionär und Gläubigen».
Seit der Sohn eines Lausanner Papeteristen als 17-Jähriger Adolf Hitler begegnet war – der Führer hatte dem Jugendlichen 1932 in Bonn die Hand geschüttelt –, war dieser ein glühender
Anhänger der Nationalsozialisten. Nach
dem Krieg verhalf Genoud Nazi-Ange-
hörigen zur Flucht, lebte von den Nutzungsrechten der Goebbels-Tagebücher
und Hitlers politischem Testament und
half Eichmanns Verteidigung beim Prozess in Jerusalem 1961 mitfinanzieren.
Fast nahtlos wechselte er in den
1950er-Jahren ins Lager der Linksextremen, begeisterte sich für die arabische
Revolution und den algerischen Freiheitskampf – gemeinsame Basis war der
Hass auf Israel. Er gründete in Genf die
Banque Commerciale Arabe, die erste
arabische Bank im Ausland, freundete
sich mit Ben Bella, mit PFLP-Führer
Wadi Haddad (dem «gefährlichsten Terroristenchef der 70er-Jahre») und mit
Top-Terrorist Carlos an. Kurz vor seinem Tod gestand Genoud, dass er bei
der Lufthansa-Entführung nach Aden
1972 höchstpersönlich die ErpresserBotschaft der Palästinenser nach Köln
gebracht habe.
François Genoud führte ein Leben im
Hinter-, nicht im Untergrund. Er stand
offen zu seiner Bewunderung für Hitler
und Goebbels, für Carlos und die Rote
Armee Fraktion, ohne sich je an Gewalttaten zu beteiligen und strafbar zu machen. «Rohe Gewalt wäre ihm stillos
erschienen», schreibt Biograf Willi
Winkler über den charmanten und eleganten Herrn alter Schule.
Das Buch, ein minutiöser Report, ist
quellenmässig hervorragend dokumentiert. Einzelne Klischee-Sätze wie «Nur
ein Schweizer konnte so leicht für den
Befreiungskampf fremder Völker entflammbar sein, ein Schweizer, den die
eigene Machtlosigkeit schmerzt» wirken zwar unbeholfen, trüben aber nicht
den positiven Gesamteindruck. Winklers differenziertes Urteil weist über
den Einzelfall hinaus: «Genoud ist eine
einmalige und trotzdem beispielhafte
Figur, an der sich die ganze Unsicherheit der Nachkriegszeit zeigen lässt: das
Schwanken zwischen Links und Rechts,
das Liebäugeln mit der Gewalt, die Möglichkeit, mit Ideologie, wie extrem auch
immer, viel Geld zu verdienen.» ●
Als Oberschülerin hat Betty Goldstein
ein literarisches Magazin mitbegründet. Nach 1938 machte sie am elitären
Frauen-College Smith durch linksradikale Essays auf sich aufmerksam. Sie
verliess Smith mit einem Summa-cumlaude-Abschluss in Psychologie und
schrieb dann für Gewerkschaftszeitungen. Inzwischen mit dem Werbetexter
Carl Friedan verheiratet, konnte die erfolgreiche Journalistin nach der Geburt
ihres zweiten Kindes 1952 ihre Karriere
bei populären Frauenzeitschriften fortsetzen. Doch elf Jahre später führte sich
Betty Friedan (1921–2006) in ihrem
Weltbestseller The Feminine Mystique (deutsch: Der Weiblichkeitswahn. Rowohlt-Taschenbuch, 2002) als
«normale Hausfrau in einem Vorort»
ein, die «eine seltsame Unruhe, Unzufriedenheit und Sehnsucht» nach einem sinnvollen Leben quält. Die
Autorin stellt sich als Opfer eines Frauenbildes dar, das Amerikanerinnen eine
Existenz als Gattin und Mutter vorschreibt, die sich ihrem Mann bewusst
unterordnet und auf Erfüllung in Beruf
und Gesellschaft verzichtet.
Betty Friedans Thesen und ihre eigene
Vita scheinen sich zu widersprechen.
Doch die renommierte Soziologin
Stephanie Coontz erklärt, dass die
Autorin ihre linke Vergangenheit im
Dunkeln lassen musste, um damals
überhaupt eine Öffentlichkeit zu finden. Auch so hat «The Feminine Mystique» wütende Kritik selbst unter
Frauen provoziert, die Friedan als
Männer-Hasserin verunglimpften. Dabei hat die Feministin zeitlebens betont, dass die Frauenemanzipation für
26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27. Februar 2011
GREG SMITH / AP
Das amerikanische Buch Betty Friedan und der «Weiblichkeitswahn»
Marsch amerikanischer Feministinnen
von New York nach
Houston, rechts im
roten Mantel Betty
Friedan (November
1977).
Autorin Stephanie
Coontz (unten).
sie die Grundlage glücklicher Ehen darstellt. Coontz hat zum 90. Geburtstag
der Feministin am 4. Februar mit
A Strange Stirring. The Feminine
Mystique and American Women at
the Dawn of the 1960s (Basic Books,
222 Seiten) eine vielbeachtete Studie
vorgelegt, die Friedans Werk in seine
Epoche einordnet und dessen Wirkungsgeschichte darstellt. Coontz hat
dazu zahlreiche Interviews mit damaligen Leserinnen von «The Feminine
Mystique» geführt und den umfangreichen Nachlass Friedans ausgewertet.
Wie die Book Review der «New York
Times» lobt, zieht Coontz ihre bis heute
umstrittene Protagonistin «vom Himmel herunter und aus der Hölle empor».
So erklärt die Soziologin gleich eingangs freimütig, dass sie sich bei ihren
Recherchen zunächst an Friedans Eigenlegende ebenso gestossen hat, wie
an der Tatsache, dass «The Feminine
Mystique» schwarze Frauen oder
weisse Arbeiterinnen ignoriert. Doch
indem sich Friedan zu einer «Hausfrau
in den Vororten» stilisierte, sprach sie
laut Coontz eine breite Schicht von
Amerikanerinnen an, die am stärksten
vom sozialen Wandel der Nachkriegszeit betroffen wurden: Junge, weisse
Frauen, die an der Seite ihrer Männer
in die Mittelklasse aufgestiegen waren,
aber ihre Vororts-Idylle rasch als Sackgasse wahrnahmen. Für sie wurde «The
Feminine Mystique» zu einem Erweckungserlebnis, das sie bis heute prägt.
Coontz schildert die kaum noch nachvollziehbaren, legalen und sozialen
Hürden, die selbst gebildeten Frauen
wie Friedan bis in die 1980er-Jahre im
Wege standen. Sie macht aber auch
deutlich, dass Friedans Thesen um 1960
in der Luft lagen. Dies geht aus Dokumenten im Nachlass Friedans hervor,
die zeigen, dass ihr Verlag vom Erfolg
ihres Buches überzeugt war und diesen
nach allen Regeln der PR-Kunst vorbereitet hat. Dabei geisselt das Werk gerade die Marketingmethoden der
Konsumgüterindustrie, die die Unsicherheiten der «Vororts-Frauen» gezielt ausschlachtet. Hier zieht Coontz
in ihrem Schlusskapitel Vergleiche zur
Gegenwart: Heute fühlten sich Amerikanerinnen nicht mehr zu einer Existenz als «Heimchen am Herd» genötigt.
Dafür seien sie einer «hottie mystique»
und einer «supermom mystique» verfallen – junge Frauen wollen möglichst
sexy erscheinen und sich danach als
Mütter gegenseitig mit Spitzenleistungen übertreffen. ●
Von Andreas Mink
Agenda
Musikgeschichte Wonnen des Vinyls
Agenda März 2011
Basel
Donnerstag, 3. März, 19.30 Uhr
Ingeborg Gleichauf: Max Frisch – Jetzt
nicht die Wut verlieren. Lesung, Fr. 20.–.
Lesegesellschaft Basel, Münsterplatz 8,
Reservation: Tel. 061 261 43 49.
Alex Capus:
Léon und Louise.
Lesung, Fr. 12.–.
Thalia, Freie Strasse 32,
Tel. 061 264 26 55.
ANDRÉ ALBRECHT
Mittwoch, 9. März, 20 Uhr
Montag, 21. März, 19 Uhr
Maxine Hong Kingston: I Love a Broad
Margin to My Life. Lesung und Gespräch
auf Englisch, Fr. 17.–. Literaturhaus,
Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50.
Bern
Mittwoch, 2. März, 18 Uhr
Sämtliche bekannten 898 Einzelpressungen aus aller
Welt, die oft winzige Abweichungen zeigen, werden
nachgewiesen; zudem werden die LP-Aufnahmen
kritisch mit späteren CD-Pressungen verglichen.
Zu sämtlichen Alben gibt es Texte zur Entstehungsund Wirkungsgeschichte. Ein Eldorado für Freaks!
Manfred Papst
Frank Wonneberg: Grand Zappa. Internationale Frank
Zappa Discology. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin
2010. 160 Seiten, 1450 Abbildungen, Fr. 109.–.
Sachbuch
1 Diogenes. 208 Seiten, Fr. 25.90.
2 Hanser. 320 Seiten, Fr. 26.40.
3 Hanser. 192 Seiten, Fr. 26.90.
4 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 30.70.
5 Hanser. 224 Seiten, Fr. 27.50.
6 Blanvalet. 512 Seiten, Fr. 26.90.
7 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 32.50.
8 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 34.50.
9 Nagel & Kimche. 160 Seiten, Fr. 23.90.
10 Hoffmann und Campe. 320 Seiten, Fr. 33.25.
1
2
AT. 144 Seiten, Fr. 39.80.
3 Dorling Kindersley. 360 Seiten, Fr. 35.80.
4 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 23.50.
5
Goldmann. 544 Seiten, Fr. 30.90.
6 Dorling Kindersley. 288 Seiten, Fr. 42.90.
7 Nagel & Kimche. 256 Seiten, Fr. 29.90.
8 Südwest-Verlag. 64 Seiten, Fr. 24.90.
9 List. 220 Seiten, Fr. 33.90.
10
Brockhaus. 1216 Seiten, Fr. 48.90.
Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil.
Melinda Nadj Abonji : Tauben fliegen auf.
Philip Roth: Nemesis.
Sandra Brown: Süsser Tod.
Martin Suter: Der Koch.
Ken Follett: Sturz der Titanen.
Alice Schmid: Dreizehn ist meine Zahl.
Asta Scheib: Das Schönste, was ich sah.
Mittwoch, 23. März, 20 Uhr
Susanna Schwager: Ida. Lesung, Fr. 12.–.
Thalia im Loeb, Spitalgasse 47/51,
Tel. 031 320 20 20.
Sonntag, 6. März, 17 Uhr
Belletristik
Alex Capus: Léon und Louise.
Yusuf Yesilöz: Hochzeitsflug. Buchvernissage, Fr. 15.–. ONO, Kramgasse 6, Vorverkauf: www.onobern.ch.
Zürich
Bestseller Februar 2011
Martin Suter: Allmen und die Libellen.
Mittwoch, 9. März, 20 Uhr
Erich Hackl: Familie Salzmann. Lesung,
Fr. 15.–. Theater am Neumarkt, Neumarkt 5, Tel. 044 267 64 64.
Dienstag, 8. März, 19.15 Uhr
Anna Staiger Eichenberger, Annette Gröbly:
tibits at home.
La Lupa und Silvana Schmid:
Die Stimme der Wölfin.
Lesung und Gespräch, Fr. 25.–.
Le Pain Quotidien, Römerhofplatz, [email protected].
Jamie Oliver: Jamie unterwegs.
Dienstag, 15. März, 20 Uhr
Richard D. Precht: Wer bin ich – und wenn ja,
wie viele? Goldmann. 400 Seiten, Fr. 24.90.
Rhonda Byrne: The Power.
Richard D. Precht: Die Kunst, kein Egoist zu
sein.
Jamie Oliver : Jamies 30-Minuten-Menüs.
Amy Chua: Die Mutter des Erfolgs.
Peter Stamm: Seerücken. Lesung,
Fr. 28.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1,
Tel. 044 225 33 77.
Donnerstag, 17. März, 20 Uhr
Wladimir Kaminer: Meine kaukasische
Schwiegermutter. Lesung, Fr. 30.–. Kaufleuten, Pelikanplatz 1, Tel. 044 225 33 77.
Donnerstag, 24. März, 20 Uhr
Matthias Zschokke: Lieber Niels. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus,
Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00.
Anne Haupt: Muffins & Cupcakes.
Natascha Kampusch: 3096 Tage.
Duden. Die deutsche Rechtschreibung.
25. Auflage.
Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 15. 2. 2011. Preise laut Angaben von www.buch.ch.
Bücher am Sonntag Nr. 3
erscheint am 27. 3. 2011
Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am
Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60
oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange
Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11,
8001 Zürich, erhältlich.
27. Februar 2011 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27
KEYSTONE
Frank Zappa (1940–1993) war einer der originellsten
Köpfe in der Geschichte der Rockmusik: ein
innovativer Bandleader und glänzender Gitarrist, ein
umtriebiger Komponist, der sich auch in Jazz und
Klassik auskannte, ein ätzender Gesellschaftskritiker
und Mann von anarchischem Humor. Frank
Wonneberg, Autor der Standardwerke «Labelkunde
Vinyl» und «Vinyl Lexikon», hat dem Musiker nun
eine umfassende Diskografie gewidmet, welche die
45 Alben Frank Zappas in Wort und Bild vorstellt.
Klaus Merz, Melinda Nadj Abonji: Von
Sprachbildern und Wortklängen. Lesung
und Gespräch, Fr. 10.–. Schweizerische
Nationalbibliothek, Hallwylstrasse 15,
Reservation: www.ticketportal.com.
Mit Verstand lesen
heisst mit der Seele geniessen.
Gottfried Schatz
Feuersucher
229 S., 21 Zeichnungen,
gebunden.
George G. Szpiro
Verflixte Mathematik
der Demokratie
212 S., 40 Abb.,
gebunden.
Wie verteilt man Parlamentssitze auf eine Partei mit 23,6% Stimmenanteil?
Szpiros Buch führt auf kurzweilige Art von Platon bis Pukelsheim in die Geschichte
des mathematischen Problems ein. Auch für Nichtwähler sehr lesenswert.
Eine einmalige Mischung aus literarischem Vergnügen und wissenschaftlichem
Thriller. Die fesselnde Lebensgeschichte des weltweit renommierten Biochemikers
Gottfried Schatz.
Fr. 48.–
Fr. 34.–
<wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0NjQzMAAA0TXeKw8AAAA=</wm>
<wm>10CEXKMQ6AIBBE0RNBZhYWxC0RK2KhxhMYa-9faWwsfvPyezf1-Kpt2dtqBKI6Bia8XtRLVhtEPGI2CLOAHJkDCCnJ_tvVyW3ADBygv8_rAYgp3-9dAAAA</wm>
Ottmar Bucher
Kopfwelten
192 S., 262 farb. Abb.,
gebunden.
Stefan Flückiger,
Martina Schwab
Globalisierung:
die zweite Welle
184 S., 66 Tab. u.
Grafiken, broschiert.
«Bucher zeigt anschaulich und verständlich auf, wie Verallgemeinerungen,
Stereotype und Glauben unsere Eindrücke verfälschen und unser Bewusstsein
beeinflussen.» 20minuten
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