So weit, so gut, so schön
Transcrição
So weit, so gut, so schön
travel Fernweh Raja Ampat, Indonesien David Doubilet gilt als einer der besten Unterwasserfotografen seiner Generation. Er lebt in Südafrika und im US-Bundesstaat New York Es kommt plötzlich, das Fernweh, nagt an der Seele, zehrt am Herzen – und bleibt. Fort, nur fort möchten wir dann. Zehn der renommiertesten Landschaftsfotografen der Welt zeigen uns ihre Sehnsuchtsorte. Dazu stellt sich Autor Stefan Nink jene Fragen, die jeder Reisende kennt: Was zieht uns hinaus in die Welt? Warum träumen wir vom Traumziel? Und was hoffen wir zu finden, wenn wir unterwegs sind? 28 The call of the wild, the unfamiliar and the deep Wanderlust tugs at our heartstrings when it comes – and refuses to budge. Then, nothing can keep us at home. Ten of the world’s best landscape photographers present their favorite places and author Stefan Nink ponders questions like: What draws us out into the world? Why do certain places fire our imagination? And what do we hope to find when we travel? Lufthansa Magazin 4/2012 Fotos: David Doubilet; G. Bell So weit, so gut, so schön Diese abgeschiedene Ecke der Erde, das Herz des Korallendreiecks, ist ein geheimer Garten Eden. Dichte Regenwälder reichen hinunter bis zu den planktonreichen Gewässern, in dem alle möglichen Formen des Lebens zu finden sind: von dem winzigen Seepferdchen bis hin zu den Mantas, die sich dutzendweise zum Wasserballett zusammenfinden. Seit Jahren tauche ich hier, und noch immer ist jeder Gang eine Entdeckungsreise. Dieses Bild habe ich nach einem Regenschauer aufgenommen. Ein großer Schwarm Köderfische funkelt unter der Oberfläche, während Fischer in ihren Einbäumen angeln. Das Foto ist übrigens keine digitale Komposition, ich habe es mit einer zweigeteilten Linse aufgenommen, die ich extra für diese Art der Unterwasserfotografie entwickelt habe. Sie ermöglicht mir, gleichzeitig über und unter Wasser zu fokussieren. David Doubilet is one of the world’s best underwater photographers. He lives in South Africa and New York State One of my favorite places to be is Raja Ampat, Indonesia, a secret Eden filled with life. Dense rain forest reaches down to plankton-rich waters that support many layers of life from the tiniest pygmy seahorse to groups of mantas that gather by the dozens in a feeding ballet. I have spent years diving here and each dive is still a voyage of discovery. This image was made just after a calm rain had passed. A large school of baitfish flashed beneath the surface while fishermen in their dugouts used handlines to fish. It’s not a digital composite, by the way. It’s called a half-and-half and is made with a split lens that I developed for my work and lets me focus above and beneath the water at the same time. 29 travel Fernweh Fotos: Peter Bialobrzeski; D. Zinn/laif Dhaka, Bangladesh Peter Bialobrzeski, Professor an der Hochschule für Künste Bremen, erhält im September den Dr.-ErichSalomon-Preis für Bildjournalismus 30 Lufthansa Magazin 4/2012 Sehnsucht im Frühjahr? Wohin? An einen thailändischen Strand? Schön, aber langweilig. Frische Luft? Auch okay. Aber dürfte ich es mir aussuchen, würde ich zurück nach Dhaka gehen. In eine Stadt, ach was, einen Moloch, der einen Anschlag auf alle Sinne verübt. Ja, man kann manchmal kaum atmen vor lauter Grobstaub, zwischendrin allerdings weht von irgendwoher der Geruch nach etwas, was man dringend essen sollte. Ich erinnere keinen Platz in der Hauptstadt von Bangladesh, der im Westen als „schön“ gelten würde. Dennoch ist jede Straßenecke, jedes Viertel ungeheuer faszinierend – wie dieser gänzlich unspektakuläre Ort am Rand der Altstadt. Bei Anbruch der Dämmerung beginnt er zu glitzern und zu vibrieren, dann transportiert er eine Energie, die in der sogenannten zivilisierten Welt vielleicht gerade noch im Kino erzeugt wird. Prof. Peter Bialobrzeski teaches at University of the Arts Bremen. He has been selected for the Dr. Erich Salomon prize 2012 Where am I drawn to in the spring? To the beaches of Thailand? Nice, but a little boring. The great outdoors? Why not, but if I could choose I would return to Dhaka, the capital of Bangladesh. It’s a city, no, a behemoth that bombards your senses so that you can hardly breathe. Grit clogs your throat, but then you catch a whiff of something you would like to eat immediately. I cannot think of any place in Dhaka that I would describe as “beautiful” in the Western sense. But every street corner, every section of the city is just fascinating – like this totally unspectacular spot on the edge of the old town. It sparkles and vibrates at dusk with the kind of energy that the so-called civilized world can only recreate in the movies. 31 travel Fernweh Fotos: Michael Martin Salzwüste Uyuni, Bolivien Der Münchner Michael Martin studierte unter anderem Geografie, innerhalb von fünf Jahren durchquerte und fotografierte er alle Wüsten der Erde 32 Lufthansa Magazin 4/2012 An einem kalten Winterabend geht über der Salzfläche der Vollmond auf, die Dämmerung lässt die Salzfläche violett aufleuchten. In der darauf folgenden Nacht wird die Temperatur auf unter minus 20 Grad Celsius fallen. Ich habe das gleiche wunderbare Gefühl, das mich auch in Sandwüsten erfasst: Zu sehen ist nichts als unberührte Natur. Sechsmal bin ich bisher in der Salar de Uyuni gewesen, immer im Südwinter, wenn die letzten Wasserreste auf der 12 000 Quadratkilometer großen Fläche verschwunden sind. Das Salz hat aufgrund der hohen Verdunstung Polygonmuster geformt, die sich bis zum Horizont ausbreiten. Die Seeufer sind fast menschenleer, nur an wenigen Stellen wird mit primitiven Werkzeugen Salz gewonnen. Viel wertvoller als das Salz sind im Handy-Zeitalter jedoch die Lithium vorkommen im See, die größten der Welt. Munich-born photographer Michael Martin spent five years traveling the world’s wastelands and taking photographs On this cold winter evening, the rising moon casts the Salar de Uyuni in a purple light. The following night, temperatures drop to below 20 °C. I have the same wonderful feeling here that I have in the desert: There’s nothing to see except pure, untouched nature. I’ve been to this 12 000-square-meter salt lake in Bolivia six times. I always go when it’s winter in the southern hemisphere and the last of the water has disappeared. A high evaporation rate creates polygon patterns of salt that stretch as far as the horizon. The shores are deserted but for the few people harvesting salt with primitive tools. But more important than salt in the age of the cell phone is lithium, of which Salar de Uyuni is the world’s most plentiful source. 33 travel Fernweh Fotos: Robert Bösch Ama Dablam, Himalaya Robert Bösch, diplomierter Geograf und Bergführer aus der Schweiz, arbeitet als freier Outdoor-Fotograf, unter anderem für Geo und den stern 34 Lufthansa Magazin 4/2012 Ein Traumberg in einer wilden und gewaltigen Traumbergwelt, umgeben von vier Achttausendern – Mount Everest, Lhotse, Makalu, Cho Oyu. Wie das Matterhorn, mit dem die Ama Dablam oft verglichen wird, hat dieser Berg nicht nur eine perfekte Form, sondern steht auch einsam und hoch über dem Tal. Die meisten Bergsteiger träumen davon, den Ama Dablam zu besteigen, leider auch für ganz viele, die die alpinistischen Fähigkeiten dafür nicht haben. Von Sherpas installierte Hochlager, Depots für Sauerstoffflaschen und Fixseile vom Einstieg bis zum Gipfel ermöglichen es ihnen, diesen Prestigeberg zu besteigen. Das Bild zeigt die Ama Dablam von ihrer weniger bekannten Nordseite. Das ist das Geheimnis dieser fantastischen Bergwelt: Abseits der bekannten Routen gibt es noch unendlich viel Sehnsuchtsland zu entdecken. Robert Bösch is an outdoor photographer. He does freelance work for well-known German magazines like Geo and stern Ama Dablam is a magical mountain in the wild and formidable Himalayas, surrounded by four eight-thousanders: Mount Everest, Lhotse, Makalu and Cho Oyu. Like the Matterhorn, with which it is often compared, Ama Dablam has a perfectly shaped peak and towers solitary above the valley. Most climbers dream of scaling Ama Dablam, as do, unfortunately, many other people with no alpine skills at all. They only make it to the top thanks to the high camps, stores of bottled oxygen and fixed ropes the sherpas have installed. This picture shows the lesser-known northern face of Ama Dablam. That’s what’s so special about this incredible range: There is no end to what you can discover off the beaten track. 35 travel Fernweh Fotos: Andreas H. Bitesnich, teNeues Verlag; S. Wuest Samode, Indien Andreas H. Bitensnich aus Wien hat sich einen Namen als Akt-, Porträt- und Reisefotograf gemacht, viele seiner Bilder sind schwarz-weiß oder koloriert 36 Lufthansa Magazin 4/2012 Rund 40 Kilometer nordwestlich von Jaipur im Staat Rajasthan liegt Samode. Viele der 8000 Einwohner leben sehr einfach, überall fliegen Abfälle aus den Fenstern, Schweine und Kühe laufen durch die Straßen wie in dem Film „Jabberwocky“ von Terry Gilliam. In Samode kann man Indien in seiner reinsten Form erleben: zum einen mit einer romantischen, piktoresken Seite, zum anderen mit der ursprüng lichen, einfachen Form des Lebens. Die Menschen kamen mir sehr offen, freundlich und neugierig gegenüber Besuchern vor. Als ich durch die Stadt gegangen bin, habe ich diesen Hinterhof entdeckt, zum Glück haben mir die Frauen gleich erlaubt, sie zu fotografieren. Wenn man auf Reisen geht, dann kommen diese Bilder auf einen zu, und die Momente ergeben sich von selbst. Andreas H. Bitensnich’s specialties are nude, portrait and travel photography. Most of his work is black-and-white or colorized Samode is roughly 40 kilometers northwest of Jaipur in Rajasthan state, India. Many of the 8000 inhabitants lead very simple lives. Garbage is simply thrown out the window, and cows and pigs roam the streets like in the Terry Gilliam movie Jabberwocky. Samode lets Westerners experience India in its purest form: romantic and picturesque on the one hand, but also very much reduced to simply getting by. I found the people very open, friendly and interested in visitors. These two women were kind enough to let me photograph them in their courtyard, which I came across while walking through the city. When you’re traveling, you don’t need to search for picture motifs. They seem to offer themselves to you, and opportunities arise out of the moment. 37 travel Fernweh Großer Arber, Bayerischer Wald Norbert Rosing arbeitet seit 1992 als professioneller Fotograf und publizierte Bildbände über deutsche Nationalparks momente kann ich überall auf der Welt empfinden: im Grand Canyon, im Yellowstone National Park, bei den Eisbären in Kanada oder einfach nur auf einem Berg in Deutschland. Der Zeitpunkt und das Auge des Betrachters sind das Entscheidende. Norbert Rosing is a professional photographer who has published books V ielleicht muss man sich das ja so vorstellen: Ein Abendessen zu Hause, die Kinder quengeln, die Frau schweigt, seine Gedanken sind schon bei den Aktenstapeln und den langweiligen Stunden in der Amtsstube am kommenden Tag. Es ist Sommer, warm, die Luft stickig im Erdgeschoss. Er hat keinen Appetit und geht hinauf ins Arbeitszimmer, stellt sich ans geöffnete Fenster und sieht in die Nacht hinaus. Dann hört er ein Signal, weit weg, es ruft die Reisenden herbei, der Kutscher möchte aufbrechen. Und Joseph von Eichendorff seufzt, nimmt einen Bogen Papier, schreibt oben „Sehnsucht“ hin und darunter: „Es schienen so golden die Sterne, am Fenster ich einsam stand. Und hörte aus weiter Ferne ein Posthorn im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte, da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitreisen könnte, in der prächtigen Sommernacht!“ Ein seltsames Gefühl, dieses Fernweh. Überfällt einen plötzlich, wie aus dem Nichts. Nagt an der Seele, zehrt am Herzen, braucht lange, bis es in den Kopf gelangt ist, wo es sich aber auch nicht gut 38 on Germany’s national parks On late winter afternoons when the last chair lift has departed, a divine silence descends over the Bavarian Forest ski area. This is my time. The nuances of color, light and shadow, the depth, and the distance to the trees change with every few steps, creating new, more intense images. Südgeorgien, Antarktis Der amerikanische Naturfotograf Art Wolfe hat 65 Bücher herausgegeben, zwei seiner Bilder zieren US-Briefmarken The flaming sun sinks inexorably into the red mist, immersing the landscape in an unearthly glow. I can experience such moments of sheer bliss all over the world: in the Grand Canyon, in Yellowstone National Park, among the polar bears in Canada, and here, on a German mountaintop. It’s all a question of timing and having a good eye. in Worte fassen lässt. Stattdessen bleibt es vage: eine unbestimmte Sehnsucht nach der Fremde, nach anderer Luft, nach anderem Licht. Nach dem Land hinter den sieben Bergen oder der Welt, die jenseits des Zaunes beginnt, wo das Gras viel grüner erscheint. Fort, nur fort möchte man dann. Dass sich gleichzeitig ein Gefühl des Überdrusses für jenen Ort einstellt, an dem man sich gerade befindet, macht das Fernweh umso schlimmer. Wie bei Eichendorff, der nach einer reisefreudigen Jugend als Familienvater und Beamter nur noch träumen konnte von der Welt hinter dem Horizont. Warum reisen wir eigentlich? Was wollen wir da draußen in der Ferne? Wenn es stimmt, was der französische Denker Blaise Pascal gesagt hat, dann kommt das ganze Unglück der Menschen nur daher, dass sie partout nicht still in ihren Zimmern sitzen bleiben können: Warum zieht es uns trotzdem hinaus in die Welt, manchmal sogar, wenn wir gerade erst zurückgekommen sind? Für viele Menschen sind Reisen zuallererst Urlaube. Kleine Fluchten aus dem Alltag, dem Trott, dem gewohnten Leben. Wir freuen uns auf die Ferne, weil uns unser Leben zu Hause nicht gefällt, der Wecker um halb sieben, der ständige Regen, die Kollegen, der Chef, der Strafzettel unterm Scheibenwischer, all die kleinen Bosheiten und Zwänge und Selbstkasteiungen eines ganz normalen Tages. Nicht zu spät ins Bett, nicht zu viel Alkohol, selbst die Kalorienzufuhr will beachtet werden. In den Ferien ist das alles nicht mehr Lufthansa Magazin 4/2012 Die Insel im Südatlantik, rund 160 Kilometer lang und bis zu 30 Kilometer breit, ist mein absoluter Lieblingsort. Sie liegt etwa 1400 Kilometer östlich von Argentinien und gehört zum Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland. Was so fasziniert? Südgeorgien ist ursprünglich, man kommt den wilden Tieren unglaublich I Fotos: Norbert Rosing; Art Wolfe; S. White/ Art Wolfe Stock Am frühen Abend, wenn im Winter die letzte Gondel zu Tal gefahren ist, senkt sich eine göttliche Stille über das geschäftige Gipfelgebiet im Bayerischen Wald. Dies ist meine Zeit. Die Veränderungen von Farbe, Licht und Schatten, die Tiefe, die Nähe vor den Bäumen ergeben auf jedem Meter ein völlig neues, noch intensiveres Bild. Die glutrote Sonne senkt sich unaufhaltsam in den roten Nebel und taucht die Landschaft in unwirkliches Licht. Diese Glücks- magine this scenario: A man is sitting at the dinner table, his children are grouchy, his wife is silent and his thoughts return to the stacks of files on his desk and all the work that awaits him in the office the next day. It is a warm summer evening and the downstairs room feels airless. He climbs the stairs to his study, where he stands at the open window, gazing out into the night. Then, far off, he hears a coachman signal to his passengers. Joseph von Eichendorff sighs, takes a sheet of paper from his desk and writes the word “Longing” at the top. Then he continues: “The stars were so golden and glistening; I stood by the window alone, To songs of the post-horn listening, O’er silent moorland blown. My heart within me was burning. To travel—ah, what delight! I thought in my secret yearning, In the glorious summer night.” Curious, this sense of longing, this feeling of wanderlust that suddenly comes over you out of the blue. It gnaws at your soul, tugs at your heart, and is hard to put into words. It remains a vague yearning for the unknown, for a breath of fresh air, for a new quality nahe, und die Landschaft ist traumhaft schön. Gletscherwasser fließt in den eisigen subantarktischen Atlantik. Hunderttausende Königspinguine, Pelzrobben und See-Elefanten sind hier ebenso zu Hause wie Albatrosse und Sturmvögel. Die Insel ist wahrlich ein Paradies für wilde Tiere, Menschen sind hier nur Außenseiter. Nature photographer Art Wolfe has published 65 books. Two of his photos have been on U.S. stamps South Georgia is my favorite location on the planet. Roughly 160 kilometers long and no more than 30 kilometers wide, the island is a territory belonging to the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland and lies around1400 kilometers east of Argentina. South Georgia is special because it is primordial. The wildlife is unbelievably accessible and the landscape is absolutely gorgeous. Glaciers feed into the icy waters of the subantarctic Atlantic Ocean and hundreds of thousands King penguins as well as fur seals, elephant seals, and other birds such as albatross and petrels call the island home. South Georgia is indeed a wildlife paradise and a place where humans are the outsider. of light, or simply for the world on the other side of the fence, where the grass is rumored to grow greener. Away! The overriding urge is just to get away. And the feeling that one’s present location is a place of utter tedium makes the restlessness even more difficult to bear – just as it must have been for the German poet, who had traveled widely in his youth and was now confined to an existence as a family man and civil servant for whom only dreams of the world beyond the horizon remained. Why do we travel at all? What do we hope to find? If what the French philosopher Blaise Pascal said is true, then all human evil stems from our inability to sit still. What draws us out in the world and why do we sometimes feel like setting out again the moment we return? For many people, travel is a matter of taking a vacation. It’s an escape from the routine of our everyday lives. We look forward to visiting a foreign place because we are unhappy with our lives at home: the early-morning alarm clock, the bad weather, our co-workers, the boss, the parking tickets we keep finding on our windshields. Not to mention all the constraints imposed by an ordinary day like watching what you eat, how much you drink and making sure you get to bed on time. When “getting away from it all” suddenly none of this matters. “I’m on vacation!” we say, as though a parallel universe had opened up and offered us freedom as an all-inclusive package 39 travel Fernweh Weil ich mich eigentlich nicht auf einen Sehnsuchtsort festnageln lasse, muss ich mich dem gedanklich langsam annähern – und Sie mit mir. Mein Sehnsuchtsland ist Kenia. Die Hochebene der Masai Mara, die Strände am Indischen Ozean, der Regenwald: Die Vielfalt ist einmalig. Mein Favorit ist der Norden des Lan- [d ] wichtig. „Ich bin doch im Urlaub!“, sagen wir. Als ob sich ein Paralleluniversum aufgetan hätte. Vierzehn Tage lang, all inclusive. Die Flucht aus dem Alltag aber ist nur ein Reisegrund, und oft ist es nicht der wichtigste. Fernweh ist ein Kunstwort, es leitet sich von Heimweh ab, seinem Gegenpart, zwischen diesen beiden Polen sind viele von uns ein Leben lang unterwegs. Wer Fernweh bekommt, benötigt dazu zunächst einmal Heimat: Um die sprichwörtlichen Hummeln im Hintern zu spüren, muss man zuvor irgendwo lange genug gesessen haben. Und dann? Braucht es Neugier. Wissbegierde. Manchmal Mut. Vielleicht auch Gottvertrauen. Und die Ahnung, am Ziel der Reise etwas zu entdecken, von dem man oft nicht genau sagen kann, was es ist, bevor man es gefunden hat. Möglicherweise kann man tief in die Seele eines Volkes blicken, wenn man seine Sehnsuchtsziele betrachtet. In den Fünfzigerjahren träumten die Deutschen von Capri, an grauen Fernsehsonntagen, wenn auf dem Bildschirm Wiener Schauspieler „O sole mio!“ schmetterten, als gebe es kein Morgen oder zumindest kein Venedig. Capri! Der Name allein verhieß Sonne statt Regen, Dolce Vita statt Wirtschaftswunder-Maloche, Urlaubsflirts statt Spießbürgerlichkeit. Und nach Capri nährten andere – angebliche – Inselparadiese die Sehnsucht. Zuerst Mallorca oder Ibiza, später dann auch ferne Eilande wie Barbados und die Dominikanische Republik. Dann kamen die Metropolen: London, Paris, San Francisco, alles 40 des. Nur mit Mühe zu erreichen, bis heute völlig unberührt und überwältigend. Dort befindet sich der Aruba Rock, er ist einer der ganz wenigen von Menschenhand unberührten Orte auf der Welt, wo ich, wie fast nirgendwo sonst, die unglaubliche Schönheit und magische Kraft der Natur genießen kann. Traumziele, alles Projektionsflächen einer Sehnsucht nach der großen, weiten Welt. Wenn Udo Jürgens sang, er sei noch niemals in New York gewesen und auch nicht auf Hawaii, dann nickten die Menschen und sagten: Ach, da würde ich auch gerne einmal hin. Und heute? Sind die Sehnsuchtsziele der Deutschen meist Destinationen, deren Landschaften offenbar ein Bedürfnis nach Weite und Leere stillen: Tibet, die Mongolei, Australiens Outback, die Antarktis. Möglicherweise hat die Sehnsucht nach der menschenleeren Stille in diesen Ländern etwas mit der Enge und dem Lärm bei uns zu tun. Mit dem Gefühl, als Mensch nur dann wachsen und werden zu können, wenn die Welt um einen herum auch genügend Platz dafür lässt. Vielleicht auch mit der Ahnung, am Ende doch nur ein winziges Wesen auf diesem gewaltig großen Planeten zu sein. Überhaupt geht es beim Reisen ja meist auch darum, etwas von sich selbst (wieder) zu finden – und dadurch vielleicht ja auch das, was man „Glück“ nennt. Das gelingt in der Fremde, wo man permanent im inneren Dialog mit sich selbst ist, tatsächlich oft besser als zuhause. Deswegen ist jede Reise auch ein Aufbruch ins eigene Ich. Deswegen finden wir Reiseführer langweilig, in denen Sätze stehen wie „Die St. Matthias-Kirche ist ein Musterbeispiel gotischer Architektur und wegen der geschnitzten Altarbilder des Lothringer Meisters Hans Friedebein berühmt.“ Denn so etwas hat nichts mit uns zu tun, und ganz bestimmt nichts mit unseLufthansa Magazin 4/2012 Das erste Mal war ich in den Siebzigerjahren hier. Schon damals war die Küste rund um Big Sur ein besonderer Ort, weil man ihn mit dem kalifornischen Traum und einer lebendigen künstlerischen Szene verband. Deshalb hatte ich hier eine Stadt erwartet, aber die gab es natürlich nicht. Stattdessen schlängelt sich der berühmte Highway No. 1 die Küste entlang, unterwegs hat man spektakuläre Ausblicke. Nur wenige Menschen leben hier, weil die Landschaft so rau und felsig ist. Das Bild habe ich von einem Hügel aus gemacht – am Morgen, als sich Wolken mit dem Dunst vom Meer vermischten. Dieser Ort ist wirklich magisch, auch durch das Licht. Übrigens habe ich hier geheiratet, Jahre bevor das Bild entstanden ist. Fran Lanting is an award-winning nature photographer. He grew up in for the space of fourteen days. But “getting away” is just one reason to travel, and it’s perhaps not the most important one. Wanderlust is the opposite of homesickness and many of us spend our lives moving between them. To feel wanderlust, you need to have a place that you call home. And to notice the proverbial ants in your pants, you need to have been sitting still for long enough. What else is required? Well, a portion of curiosity, a thirst for knowledge, and sometimes courage. Maybe even faith in God. And an inkling that you will discover something at your journey’s end, even if you cannot say what until you have found it. Perhaps we can learn something about a nation by exploring its people’s dreams. In the 1950s, the Germans spent wet, gray Sundays in front of the TV, imagining life on the island of Capri as mandoline-strumming Viennese actors gave full-throated renditions of “O sole mio!” in scenic grottos. The name “Capri” held the promise of sun, dolce vita (not the hard slog that fed the economic miracle), exotic romance. Other island destinations fired the German imagination, too: Majorca and Ibiza, and eventually more distant places like Barbados and the Dominican Republic. Big cities followed: London, San Francisco, Hong Kong – dream destinations onto which they projected their longing for the big, wide world. Today, Germans yearn to visit places that satisfy a need for space: Tibet, Mongolia, Antarctica, the Australian outback. Perhaps [e ] Fotos: Michael Poliza; H. Ruby; Frans Lanting; P. Schraub Aruba Rock, Kenia Michael Poliza, ehemaliger IT-Unternehmer aus Hamburg, ist vor allem durch seine Luftaufnahmen bekannt geworden Big Sur, USA Der preisgekrönte Naturfotograf Frans Lanting, in Rotterdam aufge wachsen, lebt heute in Santa Cruz, Kalifornien A former IT specialist in Hamburg, Michael Poliza is famous for his aerial photography I’ve never actually had and still don’t have an absolute favorite destination, so please bear with me as I try to narrow things down. My favorite country is Kenia. I love the Masai Mara Plateau, the beaches along the Indian ocean, the rainforest. Such diversity is really unique. I like the northern part of the country best. It’s very difficult to reach but the landscape is overwhelming and to this day entirely untouched. That’s where you’ll find Aruba Rock. It really is one of the very few places on earth that has remained untouched by human hand. It’s also one of the only places in the world, where I have witnessed such incredible beauty and where nature feels like a magical force. Rotterdam but now lives in California. I first visited the Big Sur coast in the early ’70s. There was something special about it then because it was associated with bohemian culture So I expected to find a town there, but of course there isn’t any town. There’s just the famous Highway 1, which snakes along the coastline with spectacular views. Very few people live there because it is so rugged and isolated. I took this picture from the hilltop looking down the coast. The morning clouds were mixing with the mist from the sea. It is magical, also the light conditions. Actually, this is the spot where I got married, too – years before I took the picture. our longing for stillness and solitude has to do with the noise and overcrowding we experience at home; with the idea that we need space in order to develop as a person. Or perhaps it even stems from the realization that we are ultimately just tiny beings on an incredibly large planet. Essentially, it appears, such journeys are really about (re)discovering something about ourselves – and maybe even that thing we call happiness. It is indeed an easier undertaking abroad, where we are constantly engaged in an inner dialogue, than at home. That is why we find such travel-guide descriptions as: “St. Mathew’s Church is a prime example of Gothic architecture and famous for its altar ornaments carved by Hans Friedebein, the master carpenter from Lorraine,” so very boring. Most of the time, thiskind of information has little relevance to our lives and even less to our feeling of wanderlust. If you’ve got the travel bug, you’ll want to explore yourself, and find out for yourself what’s fun or inspiring or thought-provoking about your destination when you get there. Our longing for faraway places is also a desire to get to know ourselves better and discover what enriches us. “I hate everything that merely instructs me without augmenting or directly invigorating my activity,” Goethe once wrote. Like his contemporaries Alexander von Humboldt and Georg Forster, Goethe was someone, incidentally, whose “heart within (him) was burning.” Whereas Humboldt spent many years traveling in South America and 41 travel Fernweh [d ] rem Fernweh. Wer daran leidet, der will vor Ort herausfinden, was gefällt, unterhält, inspiriert oder zum Nachdenken anregt. Die Sehnsucht nach der Ferne ist auch eine Sehnsucht danach, sein eigenes Ich auszuloten und zu bereichern. „Übrigens ist mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit zu vermehren oder unmittelbar zu beleben“, schrieb Goethe. Der übrigens – ähnlich wie seine Zeitgenossen Alexander von Humboldt und Georg Forster – auch einer von denen war, denen das „Herz im Leibe entbrennte“. Während Humboldt einige Jahre in Südamerika unterwegs war und Forster mit James Cook die Welt umsegelte, ließ sich Goethes Sehnsucht bereits jenseits der Alpen stillen, im Land, „wo die Citronen blühn“. Gut möglich, dass seine Gedichte die Italien-Sehnsucht der Deutschen begründet haben. Es sind wohl auch diese Suche nach uns selbst und ihre Erkenntnisse, die uns Rückschläge auf Reisen meist gut wegstecken lassen. Denn oft genug enttäuschen die Ziele unserer Sehnsucht, weil die Realität nicht viel mit dem zu tun hat, was wir uns vorgestellt haben. Dass die Exotik der Fremde im Zeitalter der Globalisierung vielerorts einem unerbetenen Gefühl des Wiedererkennens gewichen ist und man exakt seinen Lieblings-Latte mit einem Spritzer Karamell, Zimtpulver und Sojamilch überall zwischen Seattle, Dubai und Kuala Lumpur bekommen kann, setzt dann eben nur andere Überlegungen in Gang. Vielleicht ja auch die über die Frage, ob man seinem Fernweh überhaupt nachgeben sollte. Fernweh jedenfalls scheint überall zu existieren, klassen-, kultur-, wie länderübergreifend, sein Ziel allerdings ist standortabhängig. Im Reisebüro des Flughafens auf Tahiti werden Last-MinuteReisen nach Irland, Schottland oder Norwegen angeboten. Das sind die Sehnsuchtsziele für all diejenigen, die schon an einem Sehnsuchtsort zuhause sind. Lufthansa Tipp Machen Sie sich auf und fliegen Sie mit Lufthansa zu Ihrem ganz persönlichen Sehnsuchtsort. Mehr Informationen zum aktuellen Streckennetz finden Sie im Internet und in diesem Heft auf den Seiten 90 bis 93. Wie viele Meilen Ihnen für einen Hin- und Rückflug gutgeschrieben werden, können Sie online unter meilenrechner.de ermitteln. Don’t let us tell you where to go: Pick a place, book your flight, pack your bags and let Lufthansa take you to wherever you’ve always wanted to go. Check online or turn to pages 90–93 of this magazine for details of Lufthansa’s route network. Visit meilenrechner.de to calculate how many miles you can earn for a return flight. lufthansa.com Forster sailed around the world with James Cook, Goethe slaked his thirst for foreign parts a little closer to home, just south of the Alps, in the land “where the lemon trees blossom.” In fact, it may well be that his poems sparked the German longing for Italy. Often enough, unfortunately, our dream destinations don’t turn out to be quite what we envisioned. And for some it’s quite natural these days to stop and ponder whether we really should give in to our wanderlust at all, when we discover that a sense of déjà vu just as often replaces our delight in the exotic and new; and when we can order the selfsame caramel latte with cinnamon dust and soy milk in every major city from Seattle to Dubai to Kuala Lumpur. But the desire to travel appears to be universal, regardless of class, culture, country or period in time. Wanderlust is a global phenomenon athough the places we feel most drawn to naturally depend on where we’re starting from. A travel agency at Tahiti Airport advertises last-minute trips to Ireland, Scotland and Norway. These, then, are the dream destinations of those who already inhabit one. [e ] Wer zum ersten Mal den Duft von Pinien und Lavendel riecht und aus dem Grau Nordeuropas in die Sonne Südfrankreichs reist, kann sich dem Zauber der Region kaum entziehen. Für mich ist diese marode Scheune das vollkommene Provence-Bild. Wenn ich es zeige, fragt mich jeder, wo das war, und ich antworte: „In meinem früheren Leben in Frankreich, wo das Leben noch gelebt wird.“ Christian Heeb is a Swiss photographer, who lives in Mexico and the U.S. Few people who travel to the sunny south of France from gray north- 42 ern Europe and smell the pine and lavender for the first time are able to resist the region’s magic. For me, this tumbledown barn is the essence of Provence. When people ask me where it is, I say: It’s in France, where I lived in an earlier life, and where people know what it means to live.” Lufthansa Magazin 4/2012 Fotos: Christian Heeb; R. Heeb Provence, Frankreich Der Schweizer Christian Heeb lebt seit Jahren in Oregon, USA, und bei El Sargento in Mexiko