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Dieser Text ist nur für den persönlichen Gebrauch der Teilnehmerinnen und
Teilnehmer der Jahrestagung bestimmt. Keine Weiterverteilung ohne Absprache mit
dem Autor – vielen Dank.
Religion im Netz
Das Internet als Religion, religiöse Diskurse und religiöse Praxis im Internet
Bernd-Michael Haese, Kiel
Vortrag auf der Jahrestagung 2012 der Konferenz der Bildungseinrichtungen
der Evang. Landeskirche in Württemberg
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
im Laufe der Vorbereitung dieser Tagung hat sich der mir zugedachte Vortragstitel immer mehr
versachlicht und ist bei einem knappen „Religion im Netz“ gelandet. Sie merken, dass ich
Anleihen genommen habe bei einem früheren Arbeitstitel, der das weite Feld gleich etwas
strukturiert. Verschiedene Weisen, wie sich Religion im Internet zeigt und wie sie gelebt wird,
haben sich in den letzten 10 Jahren vervielfältigt und sind ein Teil des bunten Treibens im Netz
geworden, die eigentlich kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Selbst in der
Kirche ist es kein Aufreger mehr, dass die Kommunikation über das Internet geführt wird, ja
dass eben auch gelebte Religion im Internet seinen Platz findet, wenn auch nach wie vor in sehr
überschaubarem Umfang. Von Zeit zu Zeit ploppt das Thema Internet in der öffentlichen
Debatte, aber auch in der Kirche und in der praktischen Theologie wieder heraus und wird zur
Schlagzeile. Die Zeit vom 1. März machte Social Media zum Leitthema, die vorletzte Ausgabe
der ZEITZEICHEN titelte „Ins Netz gegangen“ und nun auch diese Tagung, deren Planerinnen
und Planern eine prophetische Ader bescheinigt werden muss, wass aktuelle Themen angeht.
Die Frage einer inhärenten Religion des Internets kann ich relativ kurz abhandeln. Die
Unterscheidung von religiösen Diskursen und religiöser Praxis weist auf eine erste Trennlinie
hin, die bei der Betrachtung gelebter Religion im Internet häufig gezogen wird, die auch
zumindest in der Kategorisierung verschiedener religiöser Aktionen im Netz hilfreich ist.
Dennoch sind beide Spielarten von Religion im Netz an internettypische Kommunikation
gebunden und erleiden ihre Einschränkungen genauso wie sie die Vorteile nutzen. Als Anwort
auf die Frage, was das alles mit Kirche zu tun hat, mute ich Ihnen mit Schleiermachers Hilfe
einen etwas gewagten Exkurs zu. Ein Abschnitte, in dem ich dafür werben möchte, dass die
Möglichkeiten, die das Internet für Religion bietet noch sehr eingeschränkt gedacht und
umgesetzt werden, möchte ich an das Ende setzen, sie sind überschrieben mit dem Stichwort
Spielräume.
In einem einleitenden Kapitel stelle ich kurz die Situation dar, in der sich uns das Internet
aktuell darstellt. Da Sie gestern ausführlich über Social Media gearbeitet haben, brauche ich
lediglich ein paar kirchliche Persektiven ergänzen.
1. Das Internet der Gegenwart
Manchmal entlastet es ein wenig, wenn man sich vor Augen hält, in welchem atemberaubenden
Tempo sich das Internet entwickelt hat und wir – begeistert oder notgedrungen oder
irgendetwas dazwischen – mit dem Internet. Anders als noch vor etwas mehr 15 Jahren, als das
1
Internet noch nicht zur völlig fraglosen Selbstverständlichkeit unseres Lebens gehörte, gibt es
nur noch eine Hand voll Menschen, die nicht regelmäßig im Netz sind, die aktuelle ARD-ZDF
Onlinestudie spricht von etwa 25%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich in dieser Gruppe
nach wie vor unfreiwillige Offliner befinden, keineswegs nur Überzeugungsabstinente. Der
digital divide, der vor etwa 10 Jahren noch die Welt in On- und Offliner spaltete, spielt sich
heute zumeist in einer ganz anderen Kategorie ab: Nachteile droht der oder diejenige zu
erleiden, der keine Breitbandanbindung mit den technisch standardisierten Übertragungsraten
zwischen 1 und 6 MBit oder noch mehr hat. Wir haben einen eindeutigen Trend zum mobilen
Internet, die Zahl der mobilen Internetnutzerinnen und nutzer stieg allein im letzten Jahr von
13% auf 20%. Social Networks oder Social Communities nutzten 2011 bereits 43 % der Onliner
regelmäßig, damit sind sie nach Email und Suchmaschinen nur knapp hinter „einfach ziellos
durchs Netz surfen“. Erst danach kommt die zielgerichtete Nutzung von Informationen.
Gesprächsforen, Newsgroups und klassische Chats sind mit 21% der Nutzer schon lange
überholt.
Internet ist Social Media, so könnte man den Eindruck bekommen, auch wenn man die Themen
in den klassischen Printmedien analysiert. Meistens geht es um Facebook oder Google+,
SchülerVZ oder Twitter oder etwas Skandalöses wie WikiLeaks.
Für eine kirchliche Perspektive sind dabei vor allem drei Aspekte interessant: Erstens geht es
um einen informationsethischen Aspekt. Kirche als gesellschaftliche Kraft sollte den Wert einer
Selbstbestimmtheit der eigenen Daten und der Möglichkeit, auf deren Verbreitung und Nutzung
einzuwirken, nicht preisgeben. In den klassischen Social Networks kann davon derzeit nicht die
Rede sein. Ganz im Gegenteil geht die Entwicklung hin zu einer immer perfekteren
Verknüpfung einzelner Datenbrocken einschließlich Gesichtserkennung zu detaillierten Profilen
der Nutzerinnen und Nutzer, wenn auch nicht immer personenbezogen. Ich habe eben nicht in
der Hand, was ich für Informationen über mich preisgebe – es reicht, wenn andere es tun. Das
ist grundsätzlich kein Facebook-Problem, sondern ein Internetproblem, ja selbst in der guten
alten Printmedienzeit konnte ich Menschen durch Gerüchte schädigen, aber in der Dichte der
Vernetzung von Facebook & Co. ist das neu. Diese vernetzten Datensammlungen sorgen für die
wirtschaftliche Power der Unternehmen, die weitaus mehr als ihre Unkosten decken. Sie sind
der Grund, warum der ehemalige Ratsvorsitzende Wolfgang Huber seinen Facebook-Account
gekündigt hat – wenn es ihm denn tatsächlich gelungen sein sollte. Kirchliche Medienarbeit
sollte sehr deutlich machen, dass Facebook kein Club von dauerjugendlichen Computernerds
ist, sondern einer der profitabelsten und finanzschwersten Konzerne dieser Erde. Auf der
Startseite der Community von evangelisch.de steht erfrischend frech: „Dies ist kein
evangelisches facebook. ‚Freunde‘ kannst Du hier nicht sammeln – aber interessanten
Menschen mit sehr individuellem Profil begegnen und auf spannende Weltsichten treffen.“ Man
muss Facebook nicht dämonisieren. Besser ist es, die Nutzerinnen und Nutzer für ihre eigene
atemberaubende Freizügigkeit zu sensibilisieren, mit der sie auf den Button „ich bin mit den
Nutzungsbedingungen einverstanden“ klicken. Menschen, die vor 20 Jahren den Volkszählern
die Stirn geboten haben, wenn sie eine ziemlich begrenzte Datenauskunft haben wollten, setzen
heute täglich Informationen ins Netz, die sie zum gläsernen Menschen machen, den sie
seinerzeit so dringend verhindern wollten.1
Zum zweiten kann man nach der Kommerzialisierung des Internets in den 90ern eine erneute
1
Lankau, Ralf. 2011. Das Ich ist eine Datenspur. Identität als Realität im digitalen Kokon, in: Klaus-Dieter
Felsmann (Hrsg.), Mein Avatar und ich. Die Interaktion von Realität und Virtualität in der Mediengesellschaft,
München: KoPäd Verlag, 57–69: 58f.
2
Tendenz feststellen, den Nutzern das Medium aus der Hand zu nehmen. Facebook oder Google
warten nicht, bis Sie nach etwas fragen, sie schaffen Fakten, und überzeugen Sie, dass Sie das
haben wollen. Sie müssen nichts tun, wenn Sie eine Partnerschaftsvermittlung wollen, es reicht,
wenn irgendein friend das als interessant markiert hat.
Das Internet ist in der Mediengeschichte – wie übrigens auch der Rundfunk am Anfang des
letzten Jahrhunderts – mit der Hoffnung auf eine Demokratisierung der Gesellschaft verknüpft
worden. Das Medium Internet befreit den Mediennutzer endgültig aus seiner Rolle als Rezipient
und bringt den öffentlichen Dialog gesellschaftsbewusster Individuen nach vorne. Ja, das
stimmt, alles das kann das Internet, besser als alle Vorgängermedien, aber es passiert nicht von
selbst. Nicht das Medium macht die Demokratie, sondern demokratische Menschen, die
medienkompetent agieren. Nicht das Internet schafft den selbstbestimmten Menschen, sondern
Menschen können mit Hilfe des Internet besser zu ihrer Selbstbestimmung finden und sie leben.
Nicht das Social Network macht Menschen sozial, sondern ihre Lust an der Sozialität. Das
Verhältnis zwischen eigenem Engagement und erzieltem Effekt kehrt sich gerade um. In den
Foren und Newsgroups des Web 2.0 musste man immerhin noch selbst den Anfang machen und
suchen oder fragen, in den Social Networks bekommt man einen Fertigmix von Informationen
und Tweets vorgesetzt, die man einfach gut finden muss, weil alle anderen, die so sind wie man
selbst, es auch gut finden. Wenn man das nicht möchte, muss man sich – wie wir gestern abend
gehört haben – aktiv wehren. Der Medientheoretiker Norbert Bolz kommentiert das mit denm
Worten: „Das 21. Jahrhundert hat also nicht mehr das Problem des Massenkonformismus durch
Massenmedien, sondern das Problem der Gleichgesinntheit in digitalen Echokammern.“2
Kirchliches Handeln muss dieser Verengung eines Bewusstseinshorizonts entgegenwirken. Zum
Beispiel erstens durch ein wenig digitalen zivilen Ungehorsam: Sie müssen nicht in Facebook
sein, um ein informierter Mensch zu sein (wobei ich nach dem Statement der jugendlichen
Teilnehmerin der gestrigen Abendrunde stocke zumindest für d en Bereich der IngroupInformation stocke), es könnte allerdings sein, dass Sie über andere Informationen verfügen als
Ihre Freunde. Sie müssen nicht allem zustimmen, was sich dort anbietet – Facebook muss man
lernen, vor allem, welche Kästchen man bei der Anmeldung nicht markieren sollte. Zweitens
gibt es Möglichkeiten, Themen und Trends in den Social Networks aktiv zu setzen, den Strom
der Mehrheitsmeinung zu durchbrechen und damit auch einer gesellschaftlich noch zu
lernenden Kommunikationskultur in den neuen sozialen Medien zu dienen.3 Wolfgang Huber
hat Facebook verlassen, Heinrich Bedford-Strohm pflegt in dieser Absicht den eigenen
Facebook-Account. Die evangelische Jugend Württemberg wagt sich offensiv und mutig mit
einem eigenen Social-Media-Referenten in den Dschungel der digitalen Welt.4 Man kann
drittens den kommerziellen Anbietern einen Teil vom Kuchen wegnehmen und die Infrastruktur
für soziale Netzwerke selbst vorhalten. Technisch stellt das kein Problem dar, Software dafür
gibt es frei verfügbar. Nur, wenn die Nutzer selbst Anbieter der Plattformen sind, ist die
Wahrscheinlichkeit zu kalkulieren, dass die Daten nicht in die falschen Hände geraten. In der
netzkritischen Szene wird derzeit eine solche „Konterrevolution“ ausgerufen, und die Kirche
wäre nicht schlecht beraten, neben der Offensivtaktik in den verbreiteten Netzwerken auch auf
2
Bolz, Norbert. Jeder ist seines Clickes Schmied. Warum uns mit der Privatheit in der Internetgesellschaft auch
die bürgerliche Freiheit abhanden kommt, Süddeutsche Zeitung 28./29.8.2010: V 2/3.
3
Siehe Wefing, Heinrich. „Wir! Sind! Wütend!“ Die Zeit Nr. 10, 1. März 2012.
4
Siehe dazu Zeilinger, Thomas. Der Bischof zeigt Gesicht. Die evangelische Kirche sollte in den Sozialen
Netzwerken den Dialog pflegen, Zeitzeichen (Heft 3/2002), 31–33.
3
diese Schiene zu setzen.5 Dabei sollte sie sich nicht davon abschrecken lassen, dass die
erwartbaren Nutzerzahlen auch nicht annähernd an die Big Player heranreichen werden. Ganz
im Gegenteil kann Kirche ihre besondere Stärke in der sozialen Kommunikation besser in
kleinen und mittleren Gemeinschaften ausspielen. Die Nutzer haben gestern eindeutig erzählt,
dass sie das 800-Millionen-Netzwerk hauptsächlich in kleinen und mittleren
Kommunikationssettings nutzen: Familien, Bekanntenkreise, Mitschüler, Mitstudenten.
In einer dritten Perspektive auf die Vorherrschaft der Social Networks erwächst für die Kirche
eine neue Begleitungs-, um nicht zu sagen Seelsorgeaufgabe: Was tue ich, wenn ich nicht genug
likes in Facebook bekomme? Die jugendliche Identitätsfindung wird mit Facebook nicht
prinzipiell anders als früher, aber ein Stück härter. Auch Erwachsene sehen sich durch
FaceBook & Co. einem Kommunikations- und Beziehungsdruck ausgesetzt, der nicht
unreflektiert bleiben darf. Nach christlichem Verständnis sind auch Beziehungen, die man
verliert und nicht weiter pflegt oder pflegen kann, eine wertvoller Bestandteil der eigenen
Biographie, man braucht nicht unbedingt FaceBook, um Menschen um keinen Preis aus den
Augen zu verlieren, wenn man das möchte.
Quintessenz: Das Internet war nie etwas anderes als Social Media, selbst zu Zeiten, als nur
ausgesuchte Forschungsstätten und Universitäten sowie ein paar staatliche Einrichtungen
Zugang zum Internet hatten. Die erste Überlastung des noch jungen Netzes in den frühen 70er
Jahren war ein Online-Spiel, das die Forscher in ihrer Freizeit über ihre Institutscomputer
spielten. Selbstbestimmte Kommunikation war der Zweck des Internets als es erfunden und
gestaltet wurde und periodisch erinnern sich Netizens daran: Nach der Phase der
Kommerzialisierung einerseits und dem Wettbewerb um die schönste, blinkendste, bunteste
Webseite – was nicht jedem Anbieter gelang – kam mit dem Begriff des Web 2.0 die Wende
„back to the roots“: Nicht Schönheit und Vielfalt der Funktionen war darin das Ziel, sondern die
kompromisslose Zweckdienlichkeit für das „Mitmach-Web“: Jede und jeder sollte nicht nur
Dinge lesen, sondern schreiben können, auch ohne Grundkurs in HTML oder Javascript. In
dieser Zeit wurden Foren, Blogs und Wikis salonfähig und das Internet tatsächlich zu einem
gesellschaftlichen Diskussionsforum. Das sollten wir für uns und für die Gesellschaft nicht
wieder untergehen lassen, in dem wir das Medium wenigen Konzernen überlassen
2. Die Religion des Internet
Als das Internet erwachsen wurde und auch Kirchen bzw. religiöse Gruppen die Chancen
erkannten, die das Internet barg, wurden auch dem Internet selbst theologische Qualitäten
zugewiesen. Die Benutzung des Internet wurde zum spirituellen Akt des Medienzeitalters, das
Netz selbst zur transzendenten Größe, die früher Gott hieß. Unterstützt wurde das durch eine
Übertragung von klassischen Attributen der christlichen Gotteslehre auf Eigenschaften, die
nunmehr die „Metaphysik des Internet“ repräsentierten.6 So wie Gott ist das Netz
allgegenwärtig und ortsunabhängig, als größte Ansammlung des menschlichen Wissens
repräsentiert es eine moderne Form von Allwissenheit. Im Netz gibt es keine Zeitlichkeit, es ist
5
Siehe Neumann, Linus. Für Umstürze ungeeignet. Der Mythos der Facebook-Revolution ist nicht nur falsch,
sondern auch gefährlich, Zeitzeichen (Heft 3/2012), 28–30.
6
Siehe Hartmut Böhme. 1996. Zur Theologie der Telepräsenz, in: Frithjof Hager (Hrsg.), KörperDenken.
Aufgaben der historischen Anthropologie, Berlin, 237–249. Böhme spricht allerdings ausdrücklich vom Internet als
der „technischen Erscheinungsform Gottes“. Ihm geht es um die – zumeist verdeckten – „wildgewordenen“
religiösen Grundierungen von Technik und ihre Inszenierungen.
4
immer verfügbar (24/7), immer ist jemand ansprechbar und die Zeit, die man im Netz verbringt,
ist nicht mit dem normalen Zeitempfinden zu erfassen – eine Ahnung von Ewigkeit. Neu war
diese Idee nicht, denn schon Teilhard de Chardin hat die Idee der „Noosphäre“ als
eschatologisches Entwicklungsziel einer christlich gedeuteten Evolution „Punkt Omega“
genannt. Marshall McLuhan hat den Begriff in die Medienwissenschaft übernommen und die
Noosphäre als durch die technischen Medien geschaffenes „Gehirn und Bewusstsein für die
Menschheit“ vorhergesagt. Mit dem Internet wird diese Idee wieder theologisch.
Diese moderne „Netztheologie“ ähnelt, wo man sie beobachten konnte, gnostischen und
apokalyptischen Religionen. Ein bestand ein scharfer Dualismus zwischen dem Internet als
reiner Geistigkeit und der belasteten und unreinen Erde. „Die religiösen Motive des Cyberspace
führen dazu, die Welt ihrem Elend zu überlassen und Cyberspace als Möglichkeit der
Weltflucht in eine Sphäre des Reinen anzubieten – jenseits des endlichen Leibes und der
sterbenden Erde.“7 so argwöhnte Hartmut Böhmisch noch 1996.
Der Begriff des „Avatar“, der digitalen Spielfigur des Users oder der Userin im Netz, wurde
verschiedentlich als Hinweis auf die Tendenz der Selbstvergottung von Netzbewohnerinnen und
-bewohnern gewertet. Avatare bezeichnen in der indischen Mythologie die körperlichen
Repräsentanzen der auf Erden wandelnden Götter – sicher keine zufällige Wortwahl. Die
zugehörige Spiritualität braucht keine besonderen Foren und keine besonderen Angebote, das
Surfen im Netz, das zeitlose Eintauchen und die unbegrenzte Teilhabe an der gigantischen
Informationsflut sorgen für das Gefühl der kosmischen, alles vereinenden Netzexistenz.
Man kann erstens die theologische Schwäche dieser Theologisierung des Internet aufdecken.
Die göttlichen Attribute wie Allwissenheit und Allmacht sind gerade nicht als unermessliche
Steigerung ihrer menschlichen Konkretionen zu denken, sondern nur in ihrer kategorialen
Verschiedenheit und vor allem in ihrer Bezogenheit auf das Wesen Gottes, die Liebe. Man muss
zweitens nach der Brauchbarkeit des zugrundegelegten Religionsbegriffs fragen: Nach Tillich,
in dessen theologischem System die Kultur stets im Blick ist, muss man dieser Religion des
Cyberspace das Prädikat des Dämonischen anheften. Ein innerweltlich Hervorgebrachtes kann
nicht adäquat das sein, „was Menschen unbedingt angeht.“ Auch mit der soziologischen
Leitdifferenz des religiösen Systems von Transzendenz und Immanenz hapert es gewaltig.
Drittens sind außertheologische Argumente heranzuziehen: Medienhistorisch betrachtet ist die
überzogene theologische Aufladung einer neuen Medientechnologie typisch. Sie gab es zum
Beispiel auch bei der Erfindung des Buchdrucks und der Photographie.8 Das Neue ist eben
tremendum et fascinosum, insbesondere im Medienbereich, wo es stets um Wirklichkeit und
Symbolisierung geht. Das Internet ist dazu besonders geeignet, da es in bisher nicht
vorstellbarer Weise die vorhandenen Medien in sich aufnimmt, gleichzeitig mit einer nie da
gewesenen Vielfalt, wie man das Medium nutzen kann. Die frühen Vertreter eines neuen
Computer-Zeitalters des Internet haben diesen Touch des Religiösen, der mit dem Internet und
der begleitenden Entwicklung von virtuellen Rechnerwelten verbunden war, mit Hingabe
gepflegt. Ein Foto von Jaron Lanier zeigt seine Prophetengestalt, er hätte auch die Hauptrolle
in Jesus Christ Superstar übernehmen können.
Die Religion des Internet hat nur noch eine Randbedeutung. Sie lässt sich gut kombinieren mit
esoterischen und pseudoreligiösen Anschauungen, die weniger Religion als Pseudotechnik sind.
Die Entwícklung des Internets vom Mythos zur Praxis der Alltagsanwendung hat auch in dieser
7
Böhme. Zur Theologie der Telepräsenz, 5.
Böhmisch, Franz. 1998. Die Gottesbilder der digitalen Noosphäre: Die religiöse Sprache des Internet
(WWW-Dokument http://www.animabit.de/quarterly/noosphere.rtf), abgerufen am 09.02.2003, 1.
8
5
Hinsicht zu einer Entkrampfung und Normalisierung geführt. Jede, die vor 10 Jahren einen Text
verfasst und auf „ewigem Datenträger“ speicherte, hat die größten Probleme, die Daten mit
heutiger Hard- und Software wieder zum Leben zu erwecken. Die im Internet angebotene ewige
Totengedenkstätte, der virtuelle Friedhof, könnte beim nächsten Systemwechsel schon im
digitalen Off enden und lange nicht die durchschnittliche Liegezeit eines handelsüblichen
Sarges erreichen.
3. Religion im Internet
Diese findet nun seit den ersten Tagen in vielfältiger Form im Internet statt. In dem Arbeitstitel
des Vortrags, den ich dankbar aufgenommen habe, werden noch einmal zwei verschiedene
Formen von Religion im Internet unterschieden. Zum einen gibt es religiöse Diskurse – eine
extrem protestantische Form religiöser Kommunikation –, worunter ich die geregelte und
möglichst reflektierte Kommunikation über Religion verstehe, zum anderen gibt es religiöse
Praxis im Sinne eines authentischen religiösen Aktes. Beides sind unterschiedliche
Ausdrucksformen von Religion, die sich beide gewinnbringend im Internet vollziehen lassen.
Bei den religiösen Diskursen scheint das auf der Hand zu liegen: Sie sind sozusagen
unmittelbar internetkompatibel und die Besonderheiten der Netzkommunikation lassen sich
unmittelbar auf sie beziehen. Seit der Erfindung des Internet wird auf drei Merkmale rekurriert,
die die Kommunikation in diesem Medium auszeichnet: Es ist demokratisch und
antihierarchisch, weil jeder Nutzer und jede Nutzerin prinzipiell aktiv und passiv sein kann, also
Informationen nicht nur rezipieren sondern auch publizieren kann. Gleichzeitig sind alle
Formen von Kommunikationsstruktur möglich: One-to-one, one-to-many, many to many, many
to one. Es ist störungssicher oder anders gesagt, kaum zu zensieren, von daher ebenfalls antiabsolutistisch. Es bietet im Prinzip die Möglichkeit der pseudonymen Kommunikation, denn es
werden nur soviele persönliche Erkennungsmerkmale kommuniziert, wie die Kommunikanten
es wollen. Auch wenn es – wie ich in der aktuellen Lagebeschreibung angedeutet habe – im
Laufe der Entwicklung des Internet einige Veränderungen gegeben hat, gelten diese Merkmale
nach wie vor. Nun ist Pseudonymität nicht per se ein Kommunikationsvorteil, aber die
eingeschränkte Wahrnehmung von Persönlichkeitsmarkern in der Internetkommunikation hat,
wie die Kommunikationspsychologin Nicola Döring mehrfach festgestellt hat, eine oft positive
Wirkung auf ein offenes und vorurteilfreies Gespräch, also das, was wir besonders in religiöser
Kommunikation voraussetzen sollten.
Von ihren ekklesiologischen Bestimmungen sind insbesondere die protestantischen Kirchen
ausgesprochen kompatibel mit den neuen kommunikativen Realitäten. Kirche als
Kommunikationsgemeinschaft des Evangeliums ist nach protestantischem Verständnis von
einer Vielzahl verschiedener Kommunikationssituationen und -positionen geprägt: Es gibt die
ins Amt berufenen Verwalter von Wort und Sakrament, es gibt auch Bischöfe und andere
herausgehobene Positionen, aber das grundlegende Prinzip ist die Gemeinschaft der Getauften,
die communio sanctorum, die sich miteinander um die Wahrheit bemüht und dafür auch
theologisch qualifiziert ist. Für genau diese gleichberechtigte Kommunikation, das mutuum
colloquium der Brüder und Schwestern, ist das Internet aus den oben aufgezählten Gründen gut
geeignet. Zwei häufige Einwände lassen sich empirisch nicht halten:
1) Kommunikation über Medien sind hinsichtlich ihrer Kommunikationsleistung den oft
idealisierten face-to-face-Kontakten nicht grundsätzlich und in jeder Hinsicht unterlegen,
sondern unter bestimmten Umständen sogar überlegen.
2) Internet ist nicht grundsätzlich identisch mit der Vortäuschung falscher Tatsachen – es ist
nicht der große Fake und von daher in keiner Weise geeignet für ernsthafte Kommunikation.
6
Studien haben ergeben, dass am Telefon mit höherer Wahrscheinlichkeit die Unwahrheit gesagt
wird als in der Internetkommunikation.
Insbesondere Online-Communities, die nicht dem Facebook-Ideal folgen, sondern ein stärkeres
eigenes Kommunikationsengagement erfordern, leben wie andere Gemeinschaften nicht ohne
einen Gemeinschaftsgeist, einen spirit, der die Menschen über den Zweck hinaus motiviert.
Christian Eigner und Peter Nausner haben diese Idee, die jeder online community zugrunde
liegen muß, als „Logik der Gabe“ beschrieben.9 Anfang aller communities ist demnach der
Wunsch, gemeinschaftlich mit anderen ein „Problem“ zu lösen. Das kann tatsächlich eine
schwierige Lebenssituation sein, die dann eine community initiiert. Es kann aber auch ein
anderes, mehr oder weniger dringendes Anliegen sein. Das Stichwort „Gabe“ kommt von einer
Literatur-Gemeinschaft, die sich über das Internet „Lese-Gaben“ zukommen ließ, und so einen
fortdauernden Prozeß von Gegebenem und Wieder-Gegebenem startete. So gesehen sind
communities davon abhängig, daß aus einem „Problem“ oder einem dringenden Anliegen
heraus ein Initiator mit einer Gabe den Austausch eröffnet. Auch eine Community ist demnach
nicht unabhängig von Leitungsfiguren:
„[Der Gastgeber] rückt automatisch ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die OC verschafft ihren
Teilnehmern Vorteile, die der Gastgeber vermittelt. [...] Der Gastgeber sorgt und bürgt für die
Community, er ist der Garant für das Klima in der Gemeinschaft, gewissermaßen der Katalysator
für die entstehende Kultur.“10
Dabei entsteht eine Atmosphäre, in der man gerne gibt:
„Niemand müsse auf das Gesprächsangebot eingehen oder das immer wieder tun, wenn er oder sie
die Einladung einmal angenommen haben – es entstünde keine Schuld. [...] Die Gabe wolle nicht
zurückerstattet werden. Bestenfalls hoffe sie auf eine Gegengabe, doch das sei etwas ganz
anderes.“11
Eben diese Haltung macht das Einladende einer community aus und führt mit hoher
Wahrscheinlichkeit dazu, dass man tatsächlich eine Gabe zurückerstattet. Man wird sozusagen
durch die Atmosphäre der Nicht-Forderung dazu „verführt, selbst zum Geber zu werden.“ Ohne
diese Logik der Gabe entsteht keine community, sondern bestenfalls eine Hilfe-Datenbank.
Ohne diese fast paulinische Liebesbegründung von online communities überbewerten zu wollen,
läßt sich daraus schließen, dass Computervermittelte Kommunikation eine Form menschlicher
Kommunikation ist, die zu intensiven Beziehungen und starken Bindungen führen kann. Online
communities können in ihrer Handlungslogik eine Form des menschlichen Zusammenlebens
sein, die dem christlichen Ideal entgegen kommt.
Gehen wir von den religiösen Diskursen weiter zur religiösen Praxis im Sinne von
authentischen religiösen Akten, kommt noch ein Aspekt hinzu, der für eine Beurteilung aus
kirchlicher Perspektive wichtig ist: Mediale Epochenwechsel, beispielsweise der Wandel zur
digitalen Netzgesellschaft, laufen in aller Regel nicht nach dem Muster der Verdrängung ab,
sondern der funktionalen Ausdifferenzierung. Die Webandacht ersetzt die Predigt nicht
grundsätzlich, sondern neue Formen von Kommunikation ersetzen und ergänzen unter
bestimmten Umständen, funktions- und situationsabhängig andere Formen. Internetgemeinden
9
Christian Eigner und Peter Nausner. 2003. Willkommen, „Social Learning“!, in: Christian Eigner, Helmut
Leitner, Peter Nausner und Ursula Schneider (Hrsg.), Online-Communities, Weblogs und die soziale
Rückeroberung des Netzes, Graz: Nausner & Nausner Verlag, 52–94, 56–68. Das Kapitel liest sich stellenweise wie
die moderne Auslegung einer paulinischen Gemeindetheologie.
10
Leitner. Online-Community, „Hands On“!, in: Eigner/Leitner ua. (Hrsg), aaO., 45.
11
Eigner und Nausner. Willkommen, „Social Learning“!, 61, dort auch das nächste Zitat.
7
und die Gemeinde um einen realen Kirchturm stehen nicht in einem Konkurrenzverhältnis,
sondern ergänzen sich in ihren je unterschiedlichen Kommunikationsweisen zu einem
umfassenderen System von Kommunikation des Evangeliums. Was beispielsweise AnnaKatharina Lienau in ihrer ausführlichen Würdigung von Onlinegebeten herausgearbeitet hat, gilt
cum grano salis auch für andere genuin spirituelle Vollzüge im Internet. „Beten im Internet wird
von den Befragten als sehr ernsthafte Weise des Betens empfunden und stellt keine
Ausnahmeerscheinung im Sinne eines einmaligen Ausprobierens dar. Beten im Internet ist die
konsequente Weiterführung der mit den Neuen Medien erst möglich gewordenen
Kommunikationsweisen (spontanes Erleben von Gemeinschaft) und muss daher als religiöse
Handlungsform ernstgenommen werden. Zudem erscheint es erneut so, als seien religiöse
Erfahrungen eben nicht nur durch personale Medien kommunizierbar.“12
Die Ergebnisse lassen sich generell auf religiöse Praxis im Internet übertragen: In aller Regel
werden religiöse Akte insgesamt durch eine online-Erfahrung gefördert. Die spezifischen
Bedingungen der Internet-Kommunikation senken die Zugangsschwelle, erleichtern das
Experimentieren mit eigenen Ansätzen und machen Lust auf mehr – beispielsweise ähnliche
Erfahrungen in der realen Gemeinde. Das gilt für Online-Exerzitien, Online-Andachten,
Bibeltexte Kommunikationen per Twitter oder SMS, multimedial aufgebaute Webandachten
und Gebetschats bis hin zur Erfahrung virtueller 3D-Andachtsräume. Eigenarten des Internets
können traditionellen Frömmigkeitsübungen neues Leben einhauchen: die automatische
Zustellung der täglichen Losung auf den Desktop oder das Smartphone ritualisiert den täglichen
kurzen Bibelimpuls neu.
4. Versuch mit Schleiermacher
Das Gesamtthema Ihrer Tagung hat die Spur schon gelegt: Eine theologische Begründung für
die Würdigung von Religion im Internet lässt sich nicht nur aus der Praktikabilität und der
Ähnlichkeit der Kommunikationsmuster ableiten, sondern auch aus den Grundbestimmungen
der praktischen Theologie, also der Lehre von der Kirchenleitung nach Friedrich
Schleiermacher. Das mutuum colloquium entspricht in vielem dem „Umlauf des christlichen
Bewusstseins“, das Schleiermacher als Grundbestimmung der Gemeinde festhält. Allerdings
gewinnen wir mit Schleiermacher noch ein weiteres Merkmal dieser „Circulation“, das für die
Übertragung auf die Kommunikation im Internet erhellend ist: Ausgangspunkt für diesen
Austausch der individuellen religiösen Vorstellungen ist der jeder Gemeinschaft ursprüngliche
Gegensatz zwischen den „Hervorragenden“ und der „Masse“.13 Die Masse oder auch die „mehr
Rezeptiven“ hängen jedoch nicht passiv am Tropf der Hervorragenden oder „mehr
Productiven“, sondern die Circulation ist ein von allen Beteiligten aktiv vollzogener Prozess des
Gebens und Nehmens.14 Das ist die „Methode des Umlaufs, vermöge deren die religiöse Kraft
der Hervorragenden die Masse anregt, und wiederum die Masse jene auffordert.“ (§ 268)
Diesen Prozess zu moderieren oder – wie Schleiermacher sagt – zu gestalten, ist nun die
12
Lienau, Anna-Katharina. 2009. Gebete im Internet. Eine praktisch-theologische Untersuchung, Erlangen:
CPV, 374.
13
Siehe zum Folgenden Schleiermacher, Friedrich. 1993. Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum
Behuf einleitender Vorlesungen, Kritische Ausg., Nachdr. der 3. kritischen Ausg. Leipzig, Deichert, 1910. Auflage,
Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft, insbesondere die §§ 267 bis 269.
14
„Dies gibt den Begriff einer lebendigen Circulation.“ (Schleiermacher, Friedrich. 1983. Die praktische
Theologie: nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche, hrsg. von Jacob Frerichs, Nachdr. [d. Ausg. von]
1850. Berlin: de Gruyter, 50.)
8
Aufgabe von Kirchenleitung. und zwar als „besonnener Tätigkeit“, in welcher die
Gemütsbewegungen, die mit der Sache immer verbunden sind, zu ordnen und zum Ziel zu
führen sind. (§ 257) Für die Circulation des religiösen Bewusstseins im Internet gilt wie zu
Zeiten Schleiermachers, dass sie moderiert und geleitet werden muss, dass es „Hervorragende“
geben muss, die wiederum die „Masse“ zur Steigerung ihres religiösen Selbstbewusstseins
anregen kann. Das können berufene professionelle Theologen sein, gerade in der
hierarchiefreien Kommunikation des Internets könnte man jedoch auch andere Menschen
finden, die diese Funktion übernehmen können.
Es gibt noch einen weiteren Gedanken aus der schleiermacherschen Konstruktion der
Kirchenleitung und daraus resultierenden vielfältigen Kommunikationsprozessen, die sich auf
das Internet und sein kirchliches Potential ergeben. Die Gesamtaufgabe des Kirchenregiments,
also dem Teil der Kirchenleitung, die über eine lokale Gemeinde hinauswirkt, gliedert er in
einen gebundenen Teil, das heißt Menschen, die innerhalb der Organisation der Kirche wirken,
und in einen ungebundenen Teil, der gerade aus seiner Perspektive von außerhalb der
Organisation die besondere Belebung des gesamten kirchlichen Systems hervorbringt.
Schleiermacher bezeichnet dieses ungebundene Element als die „freie Geistesmacht“ (§ 328).
Es ist typisch für das gebundene Element des Kirchenregiments, dass es hauptsächlich
dämpfend und reglementierend wirkt, wohingegen die freie Geistesmacht aufregt und auch in
Unordnung bringt. Ich bin mir bewusst, dass Schleiermacher selbst und die modernen Epigonen
bei der freien Geistesmacht hauptsächlich an den Beruf des akademischen Theologen und
kirchlichen Schriftstellers gedacht haben. „Die Freie Geistesmacht ist für Schleiermacher das
innovative und kritische Potential der Kirche. Sie wird vor allem durch die akademische
Theologenschaft repräsentiert.“15 Es kann der Kirche zu allen Zeiten nur nützen, wenn sie ihre
akademischen Theologen und Schriftsteller an den Fakultäten und die an der Sache der Kirche
interessierten anderen gebildeten Kräfte der Gesellschaft hochschätzt und ihre mitunter
kritischen Einwürfe als konstruktive Störungen würdigt. Eine genaue Lektüre des § 328 der
Kurzen Darstellung lässt jedoch noch eine andere Deutung zu: Die Tätigkeit, welche die freie
Geistesmacht zu übernehmen hat, gelingt nur einer Voraussetzung. „Da das ungebundene
Element des Kirchenregimentes, welches wir durch den Ausdruck freie Geistesmacht in der
evangelischen Kirche bezeichnen, als auf das Ganze gerichtete Tätigkeit einzelner, eine
möglichst unbeschränkte Öffentlichkeit, in welcher sich der einzelne äußern kann, voraussetzt:
so findet es sich jetzt vornehmlich im dem Beruf des akademischen Theologen und des
kirchlichen Schriftstellers.“ Könnte es nicht sein, dass wir unter den Bedingungen eines radikalöffentlichen Mediums und unter den Bedingungen einer erheblich veränderten Reichweite der
Medien die freie Geistesmacht auf andere Kreise als die gelehrten Theologinnen und Theologen
ausdehnen müssen? Sicher ist für Schleiermacher die Fähigkeit einer methodischen
Durchdringung der theologischen Schriften und Lehren aus gutem Grund ausgesprochen
wichtig. Und dennoch: Liegt nicht das beunruhigende und aufregende Element eines
Kirchenregiments, das innovative und kritische Potential heute eher in der etwas respektlosen
Internetwelt als in Gelehrtenkreisen? Und bevor wir als ordentliche Oberkirchenrätinnen und räte wieder dämpfend und reglementierend tätig werden, wie es uns zukommt, sollten wir nicht
dem ungebundenen Element des Kirchenregiments zum Beispiel im Internet nachspüren, auch
wenn es vielleicht ganz unkirchlich daherkommt? „Der Zustand eines kirchlichen Ganzen ist
desto befriedigender, je lebendiger beiderlei Thätigkeiten ineinander greifen, und je bestimmter
15
Dinkel, Christoph. 1998. Die Kirche in die Zukunft führen - Schleiermachers Theorie des Kirchenregiments,
Evangelische Theologie, 58: 269–282: 280.
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auf beiden Gebieten mit dem Bewusstsein ihres relativen Gegenübers gehandelt wird.“ (§ 314)
5. Spielräume
Diese Überschrift meine ich wörtlich, denn zum Schluss möchte ich auf zwei menschliche
Erfahrungswelten hinweisen, die einerseits zu den ältesten gehören, andererseits durch die
neuen Kommunikationsweisen neue Bedeutung erfahren können. Sie sind darüber hinaus
insbesondere für religiöse Kommunikation besonders interessant: Spielen und Erzählen.16
Für das Erzählen im Internet sind zwei Dinge zu beachten: Einerseits ermöglicht es der
kommunikative Rahmen besser als bisherige Medien, nicht nur eine eigene Geschichte zu
schreiben, sondern diese mit anderen zu teilen und eventuell eine social story zu entwickeln.
Menschen schreiben miteinander die Geschichte und die Geschichten ihrer sozialen
Gemeinschaft. Die Sozialität des Erzählens tritt klar heraus, und zwar in weitaus
selbstbestimmterer und kreativerer Weise als etwa in der Sozialität der Horde, wie es in den
gegenwärtigen social media zum Teil droht. Nach Walter Ong entwickelt sich durch die
elektronischen Medien ein Zeitalter der „Second Orality“, eine Kultur, die einerseits viele
Ähnlichkeiten mit einer oralen Kultur vor den Speichermedien aufweist, die grundsätzlich
mythen- und religionsfreundlich ist, auf Geschichten aufbaut, andererseits auf die
Errungenschaften einer elaborierten schriftlichen Kultur mit ihren Vorteilen für eine
sachorientierte Kommunikation nicht verzichtet. Dieses spricht für eine Renaissance des
Erzählens im Cyberspace.
[Andererseits muss man in Rechnung stellen, dass die Hyperlinkstruktur des Internet einer
Erzählabfolge, wie wir sie gewohnt sind, entgegensteht: Nutzer des Internet können
Beziehungen zwischen Teilen einer Erzählung oder auch zwei verschiedenen Erzählungen
völlig frei herstellen, was ab einem gewissen Grad die Funktion einer Erzählung, nämlich dass
sie zu einem Ziel kommt, einschränkt. Hyperlinks können auch verwirren, man kann sich auch
in erzählerischen Zirkeln verlieren, was einen baldigen Ausstieg aus der Erzählung zur Folge
hat.
Die Schwellen zwischen Erzählung und Darstellung sind im Internet fließend, wer seine
Geschichte darstellend erzählt, der fängt an, sie zu spielen. Aus einem spielerischen Anfang
kann leicht eine Beschäftigung mit den eigenen Anteilen an diesem Spiel und der Rolle, die
man darin übernommen hat, werden.
Sowohl Spiel als auch Erzählung im Internet werden von ähnlichen Faktoren bestimmt: Vom
Grad der Immersion, des Eintauchens in die Handlung; von agency, was sich schlecht
übersetzen lässt, vielleicht am besten mit „Handlungsbefähigung“, „die Möglichkeit, im Spiel
oder in der Erzählung eine bedeutungsvoll handelnde Rolle einnehmen zu können; und drittens
von Transformation, was eine doppelte Bedeutung hat: Zum einen können Mitspieler bzw.
Miterzähler die beteiligten Charaktere und Umstände in weiten Grenzen verändern, zum
anderen die bestechende Fähigkeit von Erzählung und Spiel, die gelebte Wirklichkeit, das real
life zu transformieren. Erzählung und Spiel tragen beide den Charakter eines intermediären
Raumes zwischen Traum und Realität, zwischen Möglichkeit und Unmöglichkeit. In diesen
intermediären Raum werden Elemente der Wirklichkeit eingebracht, spielend erlitten,
gemeistert oder verändert, und in dieser neuen Gestalt können sie am Ende wiederum in die
16
Vgl. speziell zu Erzählen und Spiel die entsprechenden Kapitel in meiner umfassenden Darstellung: Haese,
Bernd-Michael. 2006. Hinter den Spiegeln – Kirche im virtuellen Zeitalter des Internet, (Praktische Theologie Bd.
81), Stuttgart: Kohlhammer.
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Wirklichkeit zurücktransferiert werden. Was im intermediären Raum an Veränderung erfahrbar
wird, kann auf die Wirklichkeit übertragen werden. Virtuelle Erlebnisse bleiben Erlebnisse,
auch wenn der Rahmen einer ausdrücklichen Virtualität verlassen wird.
Jesus war ganz offensichtlich Fachmann für immersive und transformierende Erzählungen, das
klang gestern abend ja schon an und das kann man nur unterstreichen.
Erzählmuster in einem verlinkten Netz weisen durchaus Ähnlichkeiten mit biblischen
Erzählmustern auf, und auch damit, wie wir mit biblischen Texten umgehen. Sagenkränze,
Familiengeschichten, Berufungs- und Befreiungsgeschichten, Heilungsgeschichten und
Belehrungen – alle diese verschiedenen biblischen Erzählformen sind schon lange durch
Hyperlinks (Textverweise) verbunden. Diesen Triumph können wir uns anheften: Die Bibel war
die erste gedruckte Hyperlink-Erzählung der Welt.
Interaktivität und Kohärenz stehen in Web-Stories in einem Widerspruch zueinander, was sich
je nach Art der Erzählung unterschiedlich bemerkbar macht. Die amerikanische
Sprachphilosophin Marie-Laure Ryan hat unterschiedliche Designs von Erzählungen im
Cyberspace entworfen, von denen ich Ihnen zwei zeigen möchte. Das erste Modell, der
Erzählvektor mit Seitenästen, wird Ihnen schon begegnet sein, er findet sich häufig in
didaktischen Zusammenhängen. Während die grundlegende storyline nicht verlassen werden
kann, ergeben sich aber an den Verzweigungspunkten vielfältige eigene
Entscheidungsmöglichkeiten. Hier ist Raum für agency. Das zweite Modell versucht, die
widerstrebenden Faktoren agency und Kohärenz durch jeweils eigene Zuständigkeiten zu
bändigen: Es handelt sich um eine Sammlung relativ eigenständiger Storys, die auf beliebigen,
vom Besucher einer solchen „Storyworld“ zu entscheidenden Pfaden betreten werden können.
Dort einmal angekommen, sind die Möglichkeiten zur Veränderung begrenzt, um die einzelnen
Erzählungen nicht zu zerstören.
Eine Kirche als Erzählgemeinschaft, wie Kirche etwa seit den 60ern durch Jean Babtist Metz
und Harald Weinrich zu Recht genannt werden kann, muss ein genuines Interesse am Medium
des Erzählens haben. Dieses nun nicht nur in dem Sinne, dass ausgebildete Tradenten den
vorhandenen Bestand an Erzählgut bewahren und weitergeben, sondern in dem Sinne, dass im
Medium der Erzählung die Kette der Erzähler und Erzähler, in der wir – was das Christentum
betrifft – seit den Tagen des wandernden Gottesvolkes stehen, fortgesetzt wird. Es geht also
nicht nur um Wiedererzählung, sondern auch um das Finden der eigenen Geschichte. Auch
wenn der biblische Kanon feststeht, geben Menschen seit Generationen ihre Geschichte und
ihre Geschichten der Erfahrungen mit Gott weiter. Heilige Bücher von Religionen wie die Bibel
es für das Christentum ist, stellen dafür einen Rahmen und poetische Bilde bereit, sie sind ein
narrativer Schatzkasten für die individuelle Auslegung und die individuelle Narratio des
eigenen Lebens im Lichte des Evangeliums. Hier greift protestantisches Christentum, indem es
die Aufgaben des berufenen Amtes nicht gegen die theologische Würde der Auslegung aller
Getauften nicht ausspielt. Geschichten erzählen, die eigene Geschichte finden und erzählen, das
ist insbesondere in Zeiten unersetzlich, in denen durch den Verlust der identitätsstabilisierenden
Institutionen der Einzelne zerrissen zu werden droht in der Vielfalt von Anforderungen und
Sinnangeboten. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat in seiner Beschreibung des
postmodernen Menschen „Der flexible Mensch“ die heilende Wirkung der eigenen Story für
Menschen beschrieben, die ihren Arbeitsplatz verloren haben: „Das Heilende des Narrativen
beruht genau auf dieser Auseinandersetzung mit dem Schwierigen. Sie [diese Menschen] haben
einen Weg gefunden, das Scheitern untereinander zur Sprache zu bringen. Sie mussten sich
aufeinander verlassen, um das Tabu zu brechen, und im Laufe der Zeit öffneten sie sich
einander, unterstützten sich gegenseitig – und kamen auf die Art zu einer zusammenhängenden
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Deutung des Geschehens, ihrer eigenen Rolle und der Zeit.“ (Sennett, 2000, 184f.) Wo dieses
mit Hilfe christlicher Deutungsmuster geschieht, ereignet sich eine biblische Geschichte im
besten Sinne.
Auch das Spiel wirft für religiöse Kontexte mehr ab, als man auf den ersten Blick vielleicht
meint. Das liegt sicher daran, dass wir Erben einer sehr ernsten, puritanischen Auffassung von
christlicher Religion sind. Das Buch, das nach Umberto Eco niemand finden darf in der
Klosterbibliothek, beschreibt, wie Jesus gelacht hat, und für mich war es in meiner Kindheit
undenkbar, in der Kirche zu lachen. Dazu kommt, dass Spiel doch meistens mit Spielerei in
einen Topf geworfen wird: Es ist nichts, was wichtig wäre, es dient dem Zeitvertreib und
bestenfalls der Rekreation für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens, wie arbeiten und
lernen.
Inzwischen hat sich in der Liturgiewissenschaft das Bild vom Gottesdienst als Heiliges Spiel
verbreitet. Wir spielen die Ursprungsszene nach und spielen damit vorwegnehmend die
kommende und vollkommene Gemeinschaft im Abendmahl. Wir machen es nicht verspielt,
sondern mit großem Ernst, und doch wohl hoffentlich mit der Erwartung, die dort gemachten
Erlebnisse mitzunehmen aus dem virtuellen Raum in die unmittelbare Erfahrungswelt des
Alltags.
Der Brückenschlag von Spiel zur Liturgie ist insbesondere für alle Online-Riten und religiösen
Akte in den virtuellen Welten des Internet ein wichtiger Verständnisschlüssel. Wir müssen sie
kritisch, aber konstruktiv begleiten, aber nicht prinzipiell als Spielerei abtun. Hier liegt ein
großes Potential, denn Menschen, die im Internet kommunizieren, sind wesentlich bereiter, über
ihren Glauben zu sprechen, ihren Glauben durch religiöse Vollzüge – und seien es die ihres
Avatars – auszuleben, als die meisten Menschen es im real-life je tun würden. Menschen, die
ihren Avatar beispielsweise in einer Kirche in SecondLife niederknien lassen und das
Vaterunser beten, beten und tun nichts anderes.
©2012
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