50 test+technik 12/2007

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50 test+technik 12/2007
50
test + technik
12/2007
11. GEBOT
Speeding mit Tempo 300: MV Agusta F4 R 312 und Popko-Kawasaki ZZR 1400
„Du sollst keine anderen Verkehrsteilnehmer vor dir haben.“ Holger Aue,
der begnadete Zeichner der MOTORRAD-Cartoons, hat in Ausgabe 9/2007
(Seite 134) bereits das Motto dieser beiden Speedbikes vorweggenommen.
Ist das Knacken von Tempo 300 auf übervollen Autobahnen, acht Jahre
nach der Hayabusa, tatsächlich das Gebot der Stunde?
Von Thomas Schmieder; Fotos: Rossen Gargolov, MOTORRAD-Archiv; Schmieder (1)
www.motorradonline.de
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E
in letztes Mal schalten, sechster
Gang. Er will einfach nicht erlahmen,
der Vortrieb. 250, 260, 270, der Digitaltacho der MV Agusta wechselt die Balken
weiter wie entfesselt. Erst ganz oben wird
die Beschleunigung zäher, verharren die
Flüssigkristalle schließlich bei 310, 311.
Der analog anzeigende Drehzahlmesser
vermeldet 13 000 Touren. Sind das jetzt
die 312 km/h Topspeed, auf die das Kürzel
der neuen F4 R 312 verweist? Nein, das
sind „bloß“ echte 291 km/h. Aber das
wissen wir momentan noch nicht. Mehr
als 295 werden auch nach mehrmaligem
Messen nicht drin sein. Genug ist genug.
Es ist Sonntagmorgen, 7 Uhr, irgendwo in Deutschland. Einmal leere Bahnen
ohne Tempolimit erleben. Denn MV Agusta
preist die F4 R 312 als angeblich schnellstes Serienmotorrad der Welt an. Da braucht
es besondere Bedingungen für einen Highspeed-Test. Zu dem auch eine vom Braunschweiger Händler Popko elektronisch
„entkorkte“ Kawasaki ZZR 1400 aufläuft.
Eine ohne den bei 299 km/h eingreifenden Speedcutter und ohne Drehmomentbegrenzung in den unteren Gängen.
Totale Konzentration! Es gibt kein
Rechts, kein Links und kein Hinten. Nur
den schmalen Tunnel vor dem Vorderrad.
Eine Art Rauschzustand bei Vollgas, die
völlige Abkopplung vom realen Geschehen. Eine neue Dimension eröffnet sich.
Während Höllenfeuer unter einem toben,
der Motor bei höchsten Drehzahlen am
absoluten Limit arbeitet.
Ständig peilen die Pupillen neu, fokussieren die Welt, die da mit rund 80 Metern
pro Sekunde an ihnen vorbeirauscht.
Weit voraus geht der Blick, kurz zurück
auf die Instrumente, und wieder weit voraus. Schemenhaft, als schmaler Spalt
am oberen Rand des Visiers, prangt der
Horizont. Rasend schnell zoomt ihn die
betörend schöne Maschine heran. Dieses
Motorrad ist ein Kunstwerk, eine mecha-
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test + technik
nische Skulptur – nach einem fast zehn
Jahre alten Muster. Die Sünde auf Rädern.
Voller Anmut die MV, voller Demut ihr
Fahrer. Er sitzt weit oben auf dem extrem
harten, sich aufheizenden Sitzkissen, der
Nacken schmerzt. Komfort? Vergiss es.
Agil, aggressiv und präzise wie ein
Skalpell zieht die MV ihre Bahn. Extrem
fein, sensibel wie ein Seismograph, spricht
die karbonbeschichtete 50er-Upside-downGabel an. Sportlich-straff bildet das Federbein die Asphaltbeschaffenheit eins zu
eins ab. Die 220 Kilogramm schwere
1000er zuckt allerdings auf buckeligen
Streckenabschnitten gern mal unangenehm mit dem Lenker. Deshalb flugs den
Öhlins-Lenkungsdämpfer zugedreht, dann
zappelt’s nur ansatzweise.
Den lauten, grummelig-heiseren Auspuffsound aus den vier Orgelpfeifen im
Heck untermalt knurrig-kehliges Ansaugschnorcheln. Ultradirekt hängt der Vierzylinder am Gas. Was kann man diesem
Motorrad nicht alles vorwerfen. Die schlecht
dosierbare Kupplung, die miese Sicht in
den viel zu eng stehenden Spiegeln, das
sträflich funzelige Licht. Wenigstens spielt
der riesige Wendekreis bei der Autobahnbolzerei keine Rolle.
Sven drückt sich noch tiefer hinter die
bei der 312er leicht erhöhte MV-Scheibe,
kauert extrem gefaltet. Bloß nicht den Kopf
12/2007
MV Agusta
F4 R 312
DATEN MOTOR: wassergekühlter
gekühlter Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor, NENNLEISTUNG: 140,0 kW (190 PS)
bei 9500/min, MAX. DREHMOMENT: 154 Nm bei 7500/min,
FAHRWERK: Monocoque aus
Aluminium, Upside-down-Gabel,
Zentralfederbein, GEWICHT*:
260 kg vollgetankt, PREIS
inkl. Nebenkosten: (Testmotorrad) 15 480 Euro
Vierzylinder-Viertakt-Reihenmotor,
NENNLEISTUNG: 134,0 kW (182 PS)
bei 12 400/min, MAX. DREHMOMENT: 115 Nm bei 10 000/min, FAHRWERK: Gitterrohrrahmen aus Stahl,
Upside-down-Gabel, Zentralfederbein,
GEWICHT*: 220 kg vollgetankt,
PREIS inkl. Nebenkosten: 22 040 Euro
Die vom Braunschweiger Händler Popko
(Telefon 0531/2899 00, www.popko.de)
umgebaute ZZR liefert auch in den unteren
Gängen das volle Drehmoment, außerdem
bringt sie in der Spitze acht PS mehr als
die Serienmaschine. Der Drehmomenteinbruch bei 3000/min ist weitgehend glattgebügelt. Die Maximalleistung ist bei der
Serien-ZZR wie bei der Popko-Maschine in
jedem Gang unterschiedlich.
Mit 177 PS steht die MV F4 R 312 gut im Futter, schafft
jedoch wie die Kawa nicht ganz die Werksangabe. Wie
beim klassischen Motortuning ist der Preis für die
gestiegene Spitzenleistung eine Drehmomenteinbuße
im unteren Drehzahlbereich, bis 8000/min zieht die
oben heraus etwas schwächere 1000 R besser.
140
MV Agusta F4 R 312
130 180 130,2 kW (177 PS)
170 bei 12 300/min
120 160 110 Nm bei 10 600/min
110 150 MV Agusta F4 1000 R
kW (170 PS)
140 125,3
bei 12 200/min
100
130 107 Nm
90 120 bei 10 000/min
80 110
100
70
90
60 80
50 70
60
40
50
30 40
20 30
20
10 10
Drehmoment in Nm
Popko-Kawasaki
ZZR 1400
DATEN MOTOR: wasser-
spricht 183 PS Spitzenleistung, 177 hat
MOTORRAD gemessen.
Neben der schlanken MV wirkt die
Kawasaki ZZR 1400 wie ein Maikäfer
neben einer Hornisse. Doch dies ist kein
braver Tourer, sondern das stärkste
Serienmotorrad der Welt. Sie ist nicht
träge, die ZZR, sondern gelassen. Serienmäßig geht sie bis 4500 Touren zahm
zu Werke. Dann, bei 5000/min, erwacht
plötzlich die Bestie, als habe man ihr auf
den Schwanz getreten. Stürmt mit einer
Macht nach vorn, dass einem angst und
bange werden kann.
Dieser lästige „Turbo-Effekt“ betrifft vor
allem die Gänge eins bis vier. In ihnen ist
die Leistung stark zurückgefahren, besonders bei niedrigen Drehzahlen. Damit die
gewaltige Kraft beherrschbar bleibt, sagt
Motorleistung
heben. Er weicht einem Gegner aus dem
Nichts aus, setzt der Luft möglichst wenig
Widerstand entgegen. Doppelte Geschwindigkeit bedeutet vierfacher Luftwiderstand.
Und die 48er-Drosselklappen stehen noch
immer auf Durchzug, die Zeichen auf
Sturm. Bei Tempo 300 tobt der Orkan.
Kleine Modifikationen sollen die 312er
rasanter machen als die Standard-F4
1000 R. Gute Füllung der Brennräume,
darum geht’s. Benzin muss her und ganz
viel Luft. Extrem leichte Einlassventile aus
Titan wuchsen wie der Nockenhub um
einen Millimeter, der Durchmesser der
Drosselklappen um zwei Millimeter. Dazu
stieg das Drehzahllimit um 500 Touren
auf 13 500/min. Mehr Drehmomente, aber
weniger Drehmoment bei niedrigen Drehzahlen sind die logische Folge. MV ver-
110
100
90
80
70
60
50
kW PS
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Motordrehzahl in 1/min x 1000
150
Motorleistung
Drehmoment in Nm
200 Kawasaki ZZR 1400 Serie
140 190 6. Gang
132,0 kW (179 PS)
130 180 bei 9800/min
170 147 Nm bei 7800/min
120 160
3. Gang
110 150 126,7 kW (172 PS)
140 bei 9700/min
100
141 Nm
130 bei 7600/min
Popko-Kawasaki
90 120
ZZR 1400
6. Gang
80 110
137,5 kW (187 PS)
100
bei 9800/min
70
90
150 Nm bei 7700/min
60 80
3. Gang
131,6 kW (179 PS)
70
50
bei 9700/min
60
144 Nm bei 7700/min
40
50
150
30 40
130
20 30
110
20
90
10 10
70
kW PS
0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12
Motordrehzahl in 1/min x 1000
* MOTORRAD-Messung
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HIGHSPEED-HYPE
UM HAYABUSA & CO
E
Kawasaki. Mit jedem Gang legt die 1400er
an Leistung zu. Doch ganz oben schlägt
bei knapp unter 300 der Speedcutter zu.
Wegen der freiwilligen Selbstbeschränkung. Bei 299 km/h endet die Anzeige.
Popko setzt dem einen Power-Commander entgegen. Und gaukelt dem Motormanagement vor, permanent im sechsten
Gang zu fahren. Nach reichlich Abstimmung auf dem Leistungsprüfstand präsentiert sich der Drehmomentverlauf überraschend füllig und geglättet. Nun gibt’s in
allen Gängen immer und überall Druck.
Was bleibt, ist der pure Zorn jenseits
von 6000 Touren. Von 220 auf 290 km/h
huscht die Tachonadel dermaßen rasant,
dass man glaubt, die Skala sei verrutscht.
Gilt auch für die Verbrauchsanzeige. Über
20 Liter pro 100 Kilometer zeigt sie bei
Vollgas an. Nach dem Speeding liegt der
Testverbrauch bei durchschnittlich 10,1
Liter/100 Kilometer, die MV verfeuert sogar
11,4. Express-Zuschlag für viel Füllung.
Die Reservelampe leuchtet nach 132 Kilometern. „Your personal jet“, der Werbespruch der MV, meint vielleicht die Unterhaltskosten. Die Gedanken fegen ebenso
schnell vorbei wie die überholten Lkw:
mehr als 200 km/h Speed-Überschuss!
Irgendwann liegen im Sechsten 10 400
Touren an. Kein Speedcutter greift ein,
das sind gemessene 306 km/h. Im Mittel,
ganz kurz werden auch mal die 310 angekratzt. Mehr geht nicht. Rein rechnerisch
braucht’s bloß zehn Minuten für 50 Kilometer. Rund 100 Liter Luft strömen in jeder
Sekunde durch den Ram-Air-Schlund in
die Airbox, sollen die Leistung bei Vmax
von 190 auf sagenhafte 200 PS anheben.
Real traben immerhin 187 Pferde an.
s begann 1999 – mit der Suzuki Hayabusa.
Dem ersten Serienmotorrad, das Tempo
300 lief. Für die Sensationspresse ein gefundenes
Fressen: „Selbstmordmaschine, Motorrad-Rakete,
Todesgerät“ titelte sie. Getoppt von Toni Mangs
unseligem Autobahn-Ausritt für Pro7, bei dem er
mit der 1300er kurzerhand eine vierte Spur eröffnete. Wie wild stürzte sich danach der Boulevard
auf den ersten tödlich verunglückten HayabusaFahrer, der keineswegs beim Speeding ums Leben
kam, sondern dem ein Auto die Vorfahrt nahm.
Aufgeschreckt von der Diskussion, beendeten
der europäische Herstellerverband und die japanischen Marken das Wettrüsten mittels freiwilliger
Selbstbeschränkung auf 299 km/h. Triumph
stoppte die Entwicklung eines serienreifen Prototyps, der sogar die 200-Meilen-Schallmauer
(320 km/h) knacken sollte.
Hayabusa & Co rücken seitdem mit Speedcuttern
aus, die Anzeige von 300 und mehr wurde von den
Tachos verbannt, und in der Werbung heißt es nur
noch: „Spitze über 200 km/h“. So verschwand
das 300er-Thema in der Mottenkiste. Aktuell sorgt
MV Agusta für einen Skandal im Sperrbezirk, zielt
mit der 312 nach der Lufthoheit über den BikerStammtischen. Die freiwillige Selbstbeschränkung
hat MV nie unterschrieben – marketingtechnisch
sicher nicht ohne Grund.
Schon für die F4
1000 R wurden
301 angegeben.
Allerdings eher ein
Sturm im Wasserglas: Selbst die F4
R 312 schafft nicht
mehr als 295 km/h.
ENDE EINER DIENSTFAHRT
H
ohes Tempo stellt Fahrer wie Reifen unter enormen Stress. Die kleine Kontaktfläche am Hinterreifen
muss für mehrere Minuten die volle Leistung von über 180 PS übertragen. Das führt zu Schlupf:
Der Reifen rutscht permanent leicht durch und legt somit eine größere Strecke zurück als das gesamte
Motorrad – ein aufreibender Job. So zeigt das Datarecording bei echten 306 km/h eine Umfangsgeschwindigkeit am Hinterradreifen von 314 km/h. Hinzu kommt noch die Wärme, welche durch Walkarbeit erzeugt
wird. Aus diesem Grund geben Hersteller von Speedbikes wie Hayabusa und ZZR nur gründlich getestete
Reifen frei. MV Agusta rüstet die 312 teilweise mit dem Dunlop D 208 GP Racer M aus, einem RennsportPneu mit eher weicher, griffiger Mischung. Eine riskante Wahl, für die Autobahnbrennerei eignet sich
dieser Reifen anscheinend nicht. Bei den MOTORRAD-Messungen führten wenige Fahrten im HighspeedBereich dazu, dass die MV ihre Serienbereifung im Verlauf von 155 Kilometern fast völlig ruinierte. Das
Profil in der Mitte des 190ers ist praktisch komplett verschwunden, nur eine hauchdünne Lage Gummi
liegt noch über der Karkasse, einzelne Kevlarfäden schimmern schon durch.
Nicht auszudenken, was wenige zusätzliche Kilometer Topspeed hätten ausrichten können. Ein Einzelfall
oder ein generelles Problem? Dunlop untersucht den Testreifen zurzeit, eine Stellungnahme folgt in Kürze.
Der Fahrer hatte die sich zersetzende Oberfläche nicht gespürt. Zum Glück musste die MV an die Tankstelle.
Vor den Vollgastests war der Reifen neu. Lediglich warm fahren, Tachoabweichungen ermitteln, Beschleunigungs- und Durchzugswerte messen hatte er zuvor über sich ergehen lassen müssen. Bei den Vollgastests betrug die Asphalttemperatur 15 Grad Celsius, der Reifen war 70 Grad warm. Bei einer zweiten
Testsession rüstete MOTORRAD die MV auf Pirelli Dragon Supercorsa um, damit gab es keine Probleme.
Unbeeindruckt zeigten sich auch die Bridgestones der Kawasaki: BT 014 in Sonderkennung „SL“ und „L“.
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test + technik
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AERO-DRAMATIK UND LEISTUNGSBEDARF
Umgekehrt sinkt der Luftwiderstand auf ein Viertel,
wenn man die Geschwindigkeit halbiert. In die
exakte Berechnung des Luftwiderstands gehen die
Luftdichte, die Anströmgeschwindigkeit, die Stirnfläche und der Luftwiderstandsbeiwert (cw-Wert)
ein. Der cw-Wert ist ein Maß für die aerodynamischen Qualitäten eines Körpers, der nur von der
Form des Körpers, nicht von seiner Größe abhängt.
Die projizierte Stirnfläche A entspricht dem Flächeninhalt der Körper-Umrisse. Da MOTORRAD mit
der 750er-MV Agusta im Windkanal war, sind Stirnfläche und cw-Wert (bei liegendem Fahrer) der
A
uf dem atmosphärelosen Mond fallen eine
Feder und ein Hammer gleich schnell zu
Boden, auf der Erde ist das bekanntermaßen nicht
der Fall. Alles, was sich hier bewegt, muss Luft
verdrängen. Ein Kubikmeter Luft, also 1000 Liter,
hat in Meereshöhe eine Masse von 1,3 Kilogramm. Ohne den darin enthaltenen Sauerstoff,
290 Gramm, läuft kein Verbrennungsmotor.
Wer durch Stromlinienform und/oder kleine Stirnfläche besser durch den Fahrtwind huscht, ist klar
im Vorteil. Weil er entweder weniger Leistung für die
gleiche Geschwindigkeit braucht oder mit gleicher
Power deutlich höheren Topspeed erreicht. Gute
Aerodynamik ist deutlich effektiver als Motortuning!
So reichten der legendären Moto Guzzi V8 im Jahr
1957 mit Vollverkleidung und hochkomplexem
500er-Achtzylinder-Motor rund 80 PS für etwa 280
56
test + technik
km/h. Wer schnell sein will, muss sich möglichst
klein und windschlüpfig machen. Wobei auf einem
Motorrad die Sitzhaltung des Fahrers sowohl die
Fläche als auch den cw-Wert beeinflusst. Strömungsgünstig ideal ist die Tropfenform: Sie ermöglichte
der Ducati Siluro („Torpedo“) 100, mit gerade einmal 98 cm3 und 12 PS 171,9 km/h zu rennen (siehe
Foto). Von solcher Stromlinienform sind moderne
Motorräder ohne aerodynamisch wirksamen Entenbürzel und verkleidete Vorderräder („RundumBugverkleidung“) weit entfernt.
Der gesamte Fahrwiderstand setzt sich zusammen
aus Roll- und Luftwiderstand. Während der Rollwiderstand nur wenig mit der Geschwindigkeit
zunimmt, wächst der Luftwiderstand im Quadrat:
Bei Tempo 200 sind die bremsenden Kräfte des
Windes bereits 16-mal so groß wie bei 50 km/h.
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Baustelle in zwei Kilometern. Also in
knapp 25 Sekunden. Leitplanken links und
wenig berechenbare Autofahrer rechts.
Die Welt mutiert zu einem Schlauch. Ab
etwa 250 km/h passieren selbst routinierte
Schnellfahrer eine Grenze. Von da an
herrscht Tunnelblick. Mit einem Mal stellt
eine Autobahn Anforderungen wie Fahren
auf der Rennstrecke. Es gilt weit, ganz
weit in die Ecken zu peilen, Einlenkpunkte
zu treffen. Fast paradox: Ausgerechnet die
superschnellen Speedbikes konfrontieren
permanent mit Enge. Gedrängt geht es
zu auf unseren Autobahnen. Und wenn
doch mal eine Lücke klafft, wird jenseits
der 270 die Straße verdammt schmal.
Fehler darf man sich dann keine erlauben.
War die Kurve gestern schon so eng?
Auf der Geraden schert unvermittelt
ein Lkw von der rechten auf die mittlere
Spur. Hat „Ergänzungskraftfutter für Hunde“
geladen, eilige Fracht. Der Laster setzt
eine Kettenreaktion in Gang. Ein feuerroter
Ford Transit wechselt abrupt nach ganz
links. Geschätzte Entfernung: 250 Meter.
Geschätzte Geschwindigkeit: 120. Zweieinhalbmal so schnell rast die ZZR auf den
Kleinbus zu. Touch down in 3,5 Sekunden.
Adrenalin fließt in Strömen, Stress, es wird
eng. Jetzt muss alles verdammt schnell
gehen. Gas zu und aufrichten, schon das
verzögert immens.
Gleichzeitig voll den Anker werfen bis
der Vorderreifen wimmert. Augenblicklich
regelt das segensreiche ABS. Von Tempo
290 auf 200 in 2,6 Sekunden! Dazu aufblenden. Aufblenden? Eher schon flutlichten. Die Scheinwerferbatterie der ZZR
ist ein echtes Sicherheitsplus. Der Vordermann muss merken, dass dies sehr ernst
gemeint ist. Noch mal gut gegangen, der
Transitfahrer zieht rechts rüber. Tempo:
130. Puls: 160. Man glaubt zu stehen.
Wer eben noch knapp 300 fuhr, empfindet Tempo 220 als harmloses Herumrollen. Hat schon gute Gründe, weshalb
MOTORRAD üblicherweise aufs Messen
der Höchstgeschwindigkeit verzichtet. Freie
Bahn für 300 km/h gibt es heute kaum
noch. Und das Risiko ist hoch, angesichts
der Verkehrsdichte in Deutschland.
Vor allem die ZZR 1400 hüllt ihren
Fahrer in eine trügerische Sicherheit. Sie
ist unspektakulär schnell, schiebt ohne
Ende bis zu echten 306 km/h. Deutlich
später als auf der MV muss man sich
auf ihr abducken. Die Kawa gleitet geradezu über die Bahn, stoisch und unbeirrbar. Reagiert auf der anderen Seite aber
hellwach auf notwendige Kurskorrekturen.
Ihre Feder- sollten Filterelemente heißen,
so komfortabel, wie sie die Dehnfugen und
Frostaufbrüche aus dem Asphalt herausfischen. Von der wahren Geschwindigkeit
entkoppelt dieser Power-Tourer ein wenig.
Vorteil oder Nachteil?
Anders die MV Agusta, da spürst du
den Speed mit jeder Faser. Wer vom
260-Kilo-Brocken ZZR auf den filigranen
Supersportler umsteigt, biegt in der ersten
Kurve nach innen ab. Doch da, wo es um
alles oder nichts geht, bei Highspeed, folgt
auch sie sklavisch der eingeschlagenen
Linie. Das schafft Vertrauen. Exzellent
lassen sich die Vierkolbensättel der MV
dosieren, leider klassengemäß ohne ABS.
Nur eine Frage bleibt: Macht es Sinn,
300 zu fahren? Schneller zu sein als
andere trieb Menschen schon immer an.
Zwischen Faszination und Verrücktheit.
Einmal erleben, was geht, wie das Motorrad auf sich öffnender Bahn selbst bei
200 Sachen abzischt wie ein Projektil, das
die Mündung verlässt. Da bleibt selbst
einem Porsche Turbo nur das Nachsehen.
In der Endgeschwindigkeit und beim Bremsen ist er schneller, in punkto Beschleunigung und Durchzug aber zieht er den
Kürzeren. Gemessen an 137 000 Euro
Grundpreis für den Sportwagen erscheinen die 14 500 Euro für die 1400er-ZZR
im Serientrimm fast als Schnäppchen.
Aber 11. Gebot hin oder her, die „Autobahn“ heißt nicht ohne Grund so. Weil
Motorräder auf ihr nicht wirklich zu Hause
sind. Das wahre Leben liegt woanders.
Lieber 100 km/h und kurvenreiches Revier!
Bei der schnellen Fahrt von A nach B über
längere Strecken sind Autos und insbesondere der ICE kaum zu schlagen (siehe
MOTORRAD 16/2006), Reiseschnitte jenseits von 150 km/h kaum zu schaffen.
Schnell ist man mit diesen Zweirad-Raketen nur für einen Moment. Auch wenn
einem der ewig erscheinen kann.
optisch gleichen, zierlichen 1000er bekannt: Die
Stirnfläche mit liegendem Fahrer beträgt 0,64 m2, das
Produkt aus cw-Wert mal Fläche ist 0,326. Mit diesen
Werten kann man den Leistungsbedarf errechnen.
Schon rechnerisch reichen die gemessenen 177 PS
der F4 R 312 nicht für Tempo 312, sondern theoretisch nur für knapp unter 300 km/h. Mit der Serienübersetzung kann die MV übrigens selbst bergab mit
Rückenwind nicht die angegeben 312 km/h erreichen,
weil der Drehzahlbegrenzer dem Vortrieb bei 306
km/h ein Ende setzt. Das Fahrzeuggewicht spielt
hingegen für die Höchstgeschwindigkeit kaum eine
Rolle. Daher erreicht die aerodynamisch besonders
ausgefeilte, doch 40 Kilogramm schwerere Kawasaki
ZZR 1400 sogar Vmax 306 – sofern nicht der Speedcutter zuschlägt. Der Luftwiderstand hat übrigens
auch angenehme Effekte, weil er zusätzlich bremst,
wenn’s drauf ankommt: Allein Gas zu und aufrichten
verzögert bei Tempo 300 schon mit fünf m/s2. Dies
entspricht in etwa dem, was wenig geübte Fahrer
bei einer Vollbremsung erreichen. Und summiert
sich bei Einsatz beider Bremsen zu einer negativen
Beschleunigung von rund 15 m/s2 – viel mehr,
als bei niedrigen Geschwindigkeiten möglich ist.
Durchzug im letzten Gang
300
Beschleunigung
250
250
200
200
Verzögerung von 290 auf 200 km/h
nur Ausrollen
mit Bremsen
6,9 sek
2,6 sek
4,7 sek
nicht gemessen
Leistungsbedarf der
MV Agusta F4 R 312
150
150
KAWASAKI ZZR 1400
100
MV AGUSTA F4 R 312
50
0
0
5
Zeit in Sekunden
10
www.motorradonline.de
15
20
25
Leistung iin PS
Geschwindigkeit in km/h
300
KAWASAKI ZZR 1400 MV AGUSTA F4 312
50– 60 km/h
1,15 sek
1,15 sek
50–100 km/h
5,25 sek
5,20 sek
50–140 km/h
8,80 sek
9,00 sek
50–180 km/h
12,40 sek
12,60 sek
50– 200 km/h
14,30 sek
14,40 sek
50– 280 km/h
26,10 sek
28,00 sek
100
50
0
0
50
100
Geschwindigkeit in km/h
150
200
250
300
350
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