ANTONIO SOLER

Transcrição

ANTONIO SOLER
ANTONIO SOLER
„Ich glaube Padre Antonio Soler war ein musikalischer Rebell.“
Viviana Galli, Januar 2005
Nichts im Leben hat mich darauf vorbereitet, dass ich Ende 1999 plötzlich auf einen spanischen
Barock-Musiker abfahren würde. Die ursprüngliche Ursache war eine Fehllieferung der Firma EMI,
eine SOLER-CD für Fortepiano und Harpsichord von MAGGIE COLE, die ich in der Folge zum
Leidwesen meiner Freundin Maria nicht mehr hergeben wollte. Das «ewige Geklimper» ging ihr auf
die Nerven. Verständlich, kannte ich in diesen Tagen doch nur eine Taste: Repeat. Da mussten
höhere Mächte im Spiel sein, dass diese Klänge meine Seele derart zum Schwingen brachten.
(Möglicherweise könnte es damit zusammenhängen, dass mir der Spinett spielende Butler aus der
ADAMS FAMILY-Serie schon immer speziell gefallen hatte). Besonders angetan hat es mir die
«Sonata No.18 in C Minor»... Inzwischen geht SOLER wie selbstverständlich in unserem Haushalt ein
und aus. Er hat einen Nachschlüssel bekommen. Wir begrüssen uns würdevoll, wenn wir uns
begegnen. Veit Stauffer, Rec Rec Katalog Frühling 2000
Die Begegnung mit ANTONIO SOLER (1729-83) war für mich Ende 1999 wie ein Blitzschlag mit
ungeahnten Folgen. In meiner beruflich unbedingt erforderlichen Leidenschaft für die ganze Palette
der „alternativen Musik“ ging ich nie ernsthaft weiter zurück als bis zu ERIK SATIE (1866-1925) plötzlich öffnete sich ein weites Tor zur musikalischen Welt des Barock & Rokoko, namentlich zur
Cembalomusik. Gerade 40 geworden, nach einer langen Vergangenheit mit halb verrückten und oft
lauten Konzerten (Hermine & Poison Girls, Residents & Pascal Comelade, This Heat & Sonic Youth,
The Ex & Glenn Branca, John Cale & Kevin Coyne, Débile Menthol & Pere Ubu, um nur einige
Beispiele zu nennen), begann ich mit dem Alter zu kokettieren und sah mich bereits mit Stock im
Altersheim das Gesamtwerk von SOLER studieren... Doch bekanntlich lassen sich echte Passionen
nicht aufschieben, und so schickte ich meinen inneren Sammler & Forscher auf eine wechselvolle
Reise durch Raum & Zeit.
Das war die Ausgangslage, dann trat im Juni 2004 die Pianistin VIVIANA GALLI auf den Plan... Sie
hatte meinen Shop per Mailorder entdeckt und wurde zur beliebten Stammkundin mit vielseitigem
Interesse (Scott Walker, Philip Glass, Tessiner- und Italienische Folklore, Jun Miyake, Charlemagne
Palestine, Robert Wyatt, Moondog, Paul Weixler, Adriano Celentano, Federico Mompou). Zufällig
trafen wir uns in der Zürcher Tonhalle an einem Konzert des Komponisten HEINZ MARTI, mit dessen
Sohn Lorenz ich als Kind in Zürich-Seebach Fussball gespielt hatte. Wenig später las sie meinen
Beitrag über Soler in einem alten Katalog und wollte wissen, welche Musik „meine Seele derart zum
Schwingen brachte“. Bald darauf kaufte sich Viviana die Noten, welche ich zwar nicht lesen konnte,
aber optisch dermassen schön fand, dass ich am liebsten meine Wände damit tapeziert hätte.
Schliesslich fasste ich den Entschluss: keine Zeitreise zum Barock, aber eine minutiöse
Beweisaufnahme. Die seit 1983 erschienenen Werke auf über 70 CDs zu bestellen war nicht allzu
schwierig, als spannender erwies sich das Zusammentragen der rund 65 Vinyl-Editionen von 1953-88
via Ebay. Erstens weil die Linernotes wichtige Aufschlüsse über den damaligen Wissensstand
zuliessen, und zweitens, weil kaum etwas davon bisher auf CD übertragen wurde.
Unterdessen hielt mich VIVIANA GALLI mit druckreifen Statements bei Laune: „Zwischendurch klingt
die Sonate 10 wie eine gedopte Heuschrecke im Hürdenlauf.“ (6.9.04) – „Von mir aus
könnte die Welt nur aus schrägen Leuten bestehen.“ (9.9.04) – „Ich war in Italien, wo ich immer wieder
das gleiche schöne Erlebnis habe: in der Nacht höre ich der Stille zu. Sie ist wie ein super Musikstück,
voll, grandios, rund.“ (4.10.04) – „Eine nicht ganz musikwissenschaftliche Erklärung: ich glaube Padre
Antonio Soler war ein musikalischer Rebell.“ (21.1.05) - „Ich habe in Italien alle 120 Soler Sonaten
(Rubio Verlag) vom Blatt gespielt. Es war eine schöne Zeit.“ (24.3 05).
Meine SOLER-Forschung bestätigte meine Vorbehalte gegen die zunehmenden Internet-Recherchen
des „modernen Journalismus“. Die interessantesten Informationen über SOLER las ich in den
Linernotes der frühen LP-Editionen. Nichts davon war im Netz zu finden. Während Monaten trug ich
aus aller Welt Dutzende von Platten zusammen, die kein Mensch in der Schweiz hätte finden können.
Immer mehr ungeahnte Schätze tauchten auf, etwa die Nachahmung eines Emailschildes um 1900
mit Werbung für einen Olivenhändler aus dem spanischen Alcaniz (Bajo Aragon) mit dem Namen
„Antonio Soler“. Wenig später befanden sich zwei Exemplare davon in meiner wachsenden Kollektion.
Die erste LP von FREDERICK MARVIN von 1957 (Decca DL9937) fand ich gleich fünfmal, drei davon
in noch versiegeltem Zustand. Eines dieser Exemplare wird momentan auf meinem gedeckten Balkon
der Zürcher Witterung ausgesetzt, um die zu erwartenden physischen Veränderungen der SOLERForschung mitzuteilen.
Grosse Verdienste haben sich ab 1947 der Pianist FREDERICK MARVIN (*1926) sowie PADRE
SAMUEL RUBIO (1912-86) in der Aufarbeitung der Werke erworben. An die Herausforderung einer
Gesamteinspielung der Sonaten von SOLER auf dem Cembalo wagten sich der Holländer BOB VAN
ASPEREN (1991) und der Engländer GILBERT ROWLAND (1995 begonnen, 2007 vollendet).
Bemerkenswert ist, dass enorm viele Frauen SOLER interpretiert haben. Unsere Erhebungen ergeben
mindestens 50%. Die frühste erhaltene Einspielung (Sonate No. 41) findet sich auf einer CD von
CLARA HASKIL (Dante HPC154, 1999) und stammt von 1934. Die weiteren Stationen im Ueberblick:
1952 Hélène Boschi (CH), 1952 Felicja Blumental (PL), 1954 Germaine Vaucher (CH), 1957 Rena
Kyriakon (GR), 1960 Marie Claire Alain (F), 1964 Erna Heiller (USA), 1967 Alicia De Larrocha (E),
1967 Lucero Tena (E). 196? Genova Galvez (F), 1973 Christiane Jaccottet (CH), 1977 Elisabeth
Chojnacka (F), 1983 Zuzana Ruzickova (CZ), 1985 Noelle Spieth (F), 1989 Maggie Cole (UK), 1991
Begona Uriarte (E), 1991 Marie-Jose Chasseguet (F), 1991 Maria Cecila Farina (I/CH), 1995 Maria
Lluisa Cortada (E), 1997 Caroline Clemmow (UK), 1998 Margarita Escarpa (E), 1998 Virginia Black
(UK), 1999 Marie-Luise Hinrichs (DE), 2000 Mijuki Yamaka (J). 2001 Brigitte Haudebourg (BE), 2001
Valeria Jegorova (LT/CH). 2002 Angelika Nebel (DE), 2002 Elena Riu (E) und 2008 Viviana Galli (CH)
Drei Frauen dieser Auflistung verdienen besondere Erwähnung. Die grossartige SOLER-Einspielung
von ELISABETH CHOJNACKA auf dem französischem Label Erato (1977) wurde bisher nicht auf CD
zugänglich gemacht, ebenso wenig ihre 1980 veröffentlichte LP „Le Nouveau Clavecin“ mit
Ersteinspielungen von zeitgenössischen Werken für Cembalo von LIGETI, XENAKIS u.a. MAGGIE
COLEs SOLER-Einspielung von 1989 ist bisher die einzige, die je zur Hälfte Cembalo und Klavier
verwendet. 1998 folgte eine sehr interessante CD, „Harpsichord Recital“ betitelt, auf der sie Bach,
Scarlatti und Händel einer wunderschönen Komposition des britischen Minimalisten GAVIN BRYARS
(das 13-minütige „After Handel’s Vesper“) gegenüberstellte. MARIE-LUISE HINRICHS schliesslich hat
sich mit besonders inniger Hingabe unserem ANTONIO SOLER gewidmet. Zuerst ihre EMIEinspielung von 1999, für die ich mich am 17. Oktober 2005 per E-Mail mit dem Text vom
Frühlingskatalog 2000 bedankte. Postwendend kam zurück: „Lieber Herr Stauffer, vielen Dank für Ihre
interessante E-Mail. Bitte grüssen Sie Padre Antonio Soler aufs herzlichste von mir. Herzliche Grüsse,
Marie-Luise Hinrichs“. Dann vor kurzem ihre zweite SOLER-CD „10 Piano Sonatas“ auf CPO. Völlig
zu Recht hält sie am Schluss ihrer Linernotes fest: „Seine Harmonik ist teilweise äusserst modern und
kühn. Sie erinnert z.B. in der Sonate SR 24 in d-moll an Erik Satie oder in der Durchführung der f-moll
Sonate auf dieser CD sogar an Phil Glass“. Damit schliesst sich ein Kreis: die genannte f-moll-Sonate
SR 72 war das erste Stück von SOLER, welches ich 1999 auf dem Album von MAGGIE COLE hörte.
Und für PHILIP GLASS bin ich bereits 1978 als 19jähriger nach Basel in die Kunsthalle gereist. Er gab
dort vor knapp 50 Zuschauern sein Solo-Debut in der Schweiz.
SOLER war zu Lebzeiten so beliebt wie VIVALDI oder TELEMANN, geriet dann aber lange Zeit in
Vergessenheit. Auch die 5-bändige „Storia della Musica“ von 1945-46 erwähnt ihn nicht. SOLER war
ein Bewunderer von DOMENICO SCARLATTI (1685-1757) und sie sind sich wohl auch begegnet.
Dass SOLER „Schüler“ von SCARLATTI war, klingt aber ebenso wenig überzeugend wie meine
Behauptung, ich hätte an der Pariser Sorbonne „Die französische Revolution“ studiert, obschon ich
meinen Basler Cousin David Hoffmann im Januar 1982 für eine einstündige Vorlesung dorthin
begleitete... Eines der populärsten und meistgespielten Werke von SOLER ist der fast 12-minütige
„Fandango“ mit seiner sagenhaft hypnotischen Wirkung. VIRGINIA SCOTT, die Keyboarderin der
famosen britischen Klassikrock-Band BEGGARS OPERA, hat mir am 2. September 07 ihre
Begeisterung für dieses Werk schriftlich bestätigt. Anfragen für malerische Portraits hat SOLER stets
ausgeschlagen. Wir werden vermutlich nie erfahren, wie er ausgesehen hat – was die Phantasie
natürlich beflügelt. Die meisten seiner Werke sind undatiert, es existieren kaum Autografen, Noten
wurden erst sehr spät publiziert. Seine Biografie liegt noch im Dunkel der Vergangenheit, Ansporn für
eine kommende Aufarbeitung? Zahlreiche Werke gelten als verschollen, andere wertvolle Zeugnisse
sind 1945 in Spanien während des 2. Weltkriegs verbrannt. SOLER kam seinen Klosterpflichten
diszipliniert nach und muss mit extrem wenig Schlaf ausgekommen sein: nach Mitternacht ins Bett, um
5 Uhr bereits wieder wach: Als vergleichbares Beispiel der letzten fünf Dekaden kommt uns einzig
FRANK ZAPPA in den Sinn, der amüsanterweise mit 44 Jahren auch „seinen Barockmusiker“
entdeckte und 1984 Werke des Italieners FRANCESCO ZAPPA veröffentlichte, der 1763-88 in
Mailand komponiert haben soll. Auch hier kein Bild, nicht mal die genauen Lebensdaten.
Die Begegnung mit SOLER gehört zu den grösstmöglichen Abenteuern meiner Auseinandersetzung
mit Musik, sie hat mir einen völlig neuen Kosmos eröffnet. Der Höhepunkt war mein Versuch,
verschiedene Werke von SOLER auf 5 Ghettoblastern in meiner Wohnung gleichzeitig abzuspielen.
Auf Anhieb verstand ich mit Verspätung plötzlich ein Werk, welches mein Vater 1970 kurz nach der
Uraufführung auf einer LP nach Hause brachte und zum Schrecken der Familie in der Wohnstube
abspielte: „HPSCHD“ von JOHN CAGE.
Und nun also Vorhang auf für die vorliegende Sonaten-Auswahl von VIVIANA GALLI. Was uns in
dieser Musik so berührt, das sind die verblüffende Einfachheit und erhabene Eleganz, aber auch die
kindliche Melancholie und Verspieltheit. Galli gibt den Sonaten einen grossen Atem, im Vergleich mit
anderen Interpreten dauern die Stücke im Schnitt eine Minute länger. Vielleicht rückt sie damit die
Klaviermusik von SOLER in eine ähnlich neue Perspektive, wie es der Holländer REINBERT DE
LEEUW in den 1970er Jahren bereits für SATIE getan hat.
Veit F. Stauffer, Zürich August 2008, www.recrec-shop.ch
PS. Mit herzlichem Dank an Georg Brun, Tom Zoa Leuenberger und Ivo Schorn, die meine SOLERForschung mit spannenden Informationen über den Barock und das Cembalo bereicherten.