DGPPN 2012 22. November 2012
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DGPPN 2012 22. November 2012 Ausgezappelt? Generation „Ritalin“? Prof. Andrea G. Ludolph, MD Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm ADHS und ihre Behandlung in den Schlagzeilen Hyperaktive Kinder im Pillenrausch Der kleine Kreis. 34 Kilo. Die Menge, die 1993 in Deutschland verschrieben wurde. Ilustration F.A.S. Der große Kreis. 1,8 Tonnen. Die Menge an Wirkstoff, die 2010 in Deutschland verschrieben wurde. Sonntagszeitung vom 12. Februar 2012 „Das ist eine Zeitdiagnose. Eine moderne Definition, die man für überforderte Schüler, Eltern und Lehrer erfunden hat.“ FAZ 4. April 2012 DER SPIEGEL 31 / 2012 DER SPIEGEL 31 / 2012 Je jünger die Erstklässler, desto häufiger ADHS Vancouver - Bei früh eingeschulten Kindern wird besonders häufig eine Aufmerksamkeitsstörung ADHS diagnostiziert und behandelt. Ihr im Verhältnis zu älteren Klassenkameraden unreiferes Verhalten wird häufig irrtümlich als krankhaft interpretiert, wie kanadische Forscher in einer Studie mit fast einer Million Grundschulkindern herausgefunden haben. Besonders hoch sei das Risiko für Fehldiagnose und falsche Behandlung bei Kindern, die kurz vor dem Stichtag für das Einschulungsalter Geburtstag hatten. Sie seien typischerweise die jüngsten und unreifsten ihrer Klasse, berichten die Wissenschaftler im Fachmagazin "Canadian Medical Association Journal". Der Spiegel 5.3.2012 Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in children Abstract BACKGROUND: The annual cut-off date of birth for entry to school in British Columbia, Canada, is Dec. 31. Thus, children born in December are typically the youngest in their grade. We sought to determine the influence of relative age within a grade on the diagnosis and pharmacologic treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) in children. METHODS: We conducted a cohort study involving 937 943 children in British Columbia who were 6-12 years of age at any time between Dec. 1, 1997, and Nov. 30, 2008. We calculated the absolute and relative risk of receiving a diagnosis of ADHD and of receiving a prescription for a medication used to treat ADHD (i.e., methylphenidate, dextroamphetamine, mixed amphetamine salts or atomoxetine) for children born in December compared with children born in January. Morrow RL, Garland EJ, Wright JM, Maclure M, Taylor S, Dormuth CR. CMAJ, 2012 Apr 17;184(7):755-62. Epub 2012 Mar 5. Influence of relative age on diagnosis and treatment of attention-deficit/hyperactivity disorder in children Abstract RESULTS: Boys who were born in December were 30% more likely (relative risk [RR] 1.30, 95% confidence interval [CI] 1.23-1.37) to receive a diagnosis of ADHD than boys born in January. Girls born in December were 70% more likely (RR 1.70, 95% CI 1.53-1.88) to receive a diagnosis of ADHD than girls born in January. Similarly, boys were 41% more likely (RR 1.41, 95% CI 1.33-1.50) and girls 77% more likely (RR 1.77, 95% CI 1.57-2.00) to be given a prescription for a medication to treat ADHD if they were born in December than if they were born in January. INTERPRETATION: The results of our analyses show a relative-age effect in the diagnosis and treatment of ADHD in children aged 6-12 years in British Columbia. These findings raise concerns about the potential harms of overdiagnosis and overprescribing. These harms include adverse effects on sleep, appetite and growth, in addition to increased risk of cardiovascular events Morrow RL, Garland EJ, Wright JM, Maclure M, Taylor S, Dormuth CR. CMAJ, 2012 Apr 17;184(7):755-62. Epub 2012 Mar 5. ADHS Epidemiologie Symptomatik Pathophysiologie Therapie DER SPIEGEL vom 15.7.2002 Diagnoseverteilung Institutsambulanz (Anzahl Diagnosen) Diagnosenverteilung im Jahr 2010 Symptomatik Die zehn wichtigsten Symptome bei ADHS: Unaufmerksamkeit und leichte Ablenkbarkeit Hyperaktiv und/oder verträumt Impulsivität Vergesslichkeit und schlechtes Kurzzeitgedächtnis das Kind wirkt zerstreut und chaotisch große Probleme beim Einhalten von Regeln Schul- und Lernprobleme, Vermeidungsverhalten beim Lernen Große Stimmungsschwankungen in kurzer Zeit Geringer Selbstwert Problematisches Sozialverhalten, gliedert sich nicht in Gruppen ein Häufigste Komorbiditäten und Differentialdiagnosen Teilleistungsstörungen* Lernbehinderung Störung des Sozialverhaltens oppositionelle Verhaltensstörung Angststörung Zwangstörung posttraumatische Belastungsstörung Depression bipolare Störung Tic-Störungen Anpassungsstörungen * - Rezeptive Sprachstörungen - Lese- und Rechtschreibstörung - Umschriebene Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen Pathophysiologie Krankheitsgene Umweltfaktoren Neurobiologische Abweichungen Endophänotypen Neuropsychologische Abweichungen Phänotyp Keine ADHS ADHS Unterschiedlicher Ausprägungsgrad Modifiziert nach Williams et al., Am J Psychiatry, 2012 Risikofaktoren pränatal: Nikotin und Alkohol intrauterin, pränatale virale Infektion, maternaler psychosozialer Stress und ANGST, - Drogen (Cannabis, Kokain, Heroin, Metamphetamin) - Diät / Hunger (?) perinatal - Geringes Geburtsgewicht - Frühgeburtlichkeit - Hypoxie; Frage des Einflusses von pränataler AnästhetikaExposition Häufigere Sectiones postnatal - Elterlicher Stress, Erziehungsstil, - frühe Deprivation, Adoption, Separation Latimer et al., Child Care Health Dev. 2012; LaGasse et al., Pediatrics 2012; Hoffmann u. Egle 1996 Pathophysiologie Dopaminergic dysfunction in attention deficit hyperactivity disorder (ADHD), differences between pharmacologically treated and never treated young adults: A 3,4-dihdroxy-6-[18F]fluorophenyl-L-alanine PET study Behandelte und unbehandelte ADHS Patienten versus Kontrollen Behandelte ADHS-Patienten weisen bilateral eine geringere F-DOPA-Aufnahme in Putamen und Amygdala auf als unbehandelte Patienten. Ludolph et al., Neuroimage 2008 Die ADHS lässt sich heute als neuronale Entwicklungsstörung verstehen, von der neben dem Frontalhirn und den Basalganglien weitere Hirnareale betroffen sind! THERAPIE G-BA | Der Gemeinsame Bundesausschuss Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland. Er bestimmt in Form von Richtlinien den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für mehr als 70 Millionen Versicherte und legt damit fest, welche Leistungen der medizinischen Versorgung von der GKV erstattet werden. Darüber hinaus beschließt der G-BA Maßnahmen der Qualitätssicherung für den ambulanten und stationären Bereich des Gesundheitswesens. G-BA letzte Änderung in Kraft getreten am 01.10.2011 Die in dieser Anlage zusammengestellten Arzneimittel sind aufgrund der Regelungen zur Konkretisierung des Wirtschaftlichkeitsgebotes nach § 92 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGB V in Verbindung mit § 16 Abs. 1 und 2 AM-RL von der Versorgung der Versicherten nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB V ausgeschlossen bzw. nur eingeschränkt verordnungsfähig. http://www.g-ba.de/downloads/83-691-269/AM-RL-III-Verordnungseinschränkung-2011-10-01.pdf G-BA letzte Änderung in Kraft getreten am 01.10.2011 44. Stimulantien, z. B. Psychoanaleptika, Psychoenergetika, coffeinhaltige Mittel - ausgenommen bei Narkolepsie - ausgenommen bei Hyperkinetischer Störung bzw. Aufmerksamkeitsdefizit / Hyperaktivitätsstörung (ADS / ADHS) im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie, wenn sich andere Maßnahmen allein als unzureichend erwiesen haben, bei Kindern (ab 6 Jahren) und Jugendlichen. Die Diagnose darf sich nicht allein auf das Vorhandensein eines oder mehrerer Symptome stützen (Verwendung z. B. der DSM-IV Kriterien). Die Arzneimittel dürfen nur von einem Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und/oder Jugendlichen verordnet (Fachärztin/Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin; Fachärztin/Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie; Fachärztin/Facharzt für Nervenheilkunde, für Neurologie und / oder Psychiatrie oder für Psychiatrie und Psychotherapie, http://www.g-ba.de/downloads/83-691-269/AM-RL-III-Verordnungseinschränkung-2011-10-01.pdf Bedeutung der Pharmakotherapie unter verschiedenen Behandlungsansätzen Trainings (Elterntraining, Lehrerschulung) Psychotherapie Pharmakotherapie Multimodale Behandlungsansätze Evidenzgrade I Harte Evidenz, systematisches Review, verschiedene randomisierte Studien mit gutem Design II Harte Evidenz, mindestens eine randomisierte Studie mit gutem Design III Evidenz beruhend auf nicht-randomisierten Studien mit gutem Design IV Evidenz beruhend auf nicht-experimentellen Studien mit gutem Design, mehr als 1 Zentrum oder Forschergruppe V Meinung respektierter Experten, deskriptive Studien, Berichte von Expertenkomitees Nichtmedikamentöse Therapie bei ADHS Multimodale Behandlung der hyperkinetischen Symptomatik Psychoedukation (Aufklärung und Beratung) (III) Elterntraining / Familieninterventionen (I) Schul-/Kindergarten-Interventionen (I) Selbstinstruktionstraining / Selbstmanagementtraining (II) Pharmakotherapie (I) Behandlung komorbider Störungen Soziales Kompetenztraining (opp./aggr. Verhalten) (II) Einzel- / Gruppentherapie (Selbstwertgefühl, Kontaktstörungen)(V) (tiefenpsychologisch / non-direktiv / verhaltenstherapeutisch) Übungsbehandlungen (Teilleistungsstörungen) (I-V) (Evidenzgrad) Psychosoziale Interventionen - Elterntraining - Schule - ambulante oder stationäre Jugendhilfemassnahmen (sozialpädagog. Familienhilfe, Erziehungsbeistand, Jugendhilfeeinrichtung) - Gruppentrainingprogramme - Konzentrationstraining Psychopharmakologische Therapie: Ethische Bedenken „I´d rather be myself,” he said. “Myself and nasty. Not somebody else, however jolly.” [Aldous Huxley, 1932] PSYCHOPHARMAKA bei ADHS - Psychostimulanzien Methylphenidat (Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Methylphenidat Hexal®, Retardpräparate: Ritalin SR®, Concerta®, Medikinet ret® Equasym ret®) Amphetamine (D-Amphetaminsaft) Attentin® - Selektive Noradrenalin Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) [Reboxetin (Edronax®)] - Adrenerger alpha2-Agonist Clonidin (Catapresan®), Guanfacin (zentral u peripher, Aktivitätshemmung noradrenerger Neurone im LC) - Antidepressiva Bupropion (Zyban®, Wellbutrin®(USA)) METHYLPHENIDAT Wirkmechanismus: nicht genau bekannt! - Dopamintransporterblocker, darüber Veränderung der Signaltransduktion im dopaminergen System? Weiteres??? Präparate: Ritalin®, Medikinet®, Equasym®, Methylphenidat Hexal®, Retardpräparate: Ritalin SR®, Concerta®, Ritalin LA®, Medikinet ret®, Equasym ret® Patches METHYLPHENIDAT Dosierung: kaum kontrollierte Studien für Kinder unter 6 Jahren - Alter über 6 Jahre: Beginn morgens 5mg, zweite mittägliche Dosis 5 mg allmähliche Dosissteigerung um 5-10 mg pro Woche, maximale Tagesdosis liegt bei 60 mg. übliche optimale Dosis: 0,5 – 1,0 mg/kg, verteilt auf 2-3 Tagesgaben Unerwünschte Wirkungen: Häufig: Schlafstörungen, Einschlafstörungen, verminderter Appetit, unspezifische gastrointestinale Beschwerden, Reizbarkeit, erhöhte Herzfrequenz Selten: Sozialer Rückzug, Depressive Verstimmung, Auslösung von Tics, erhöhter Blutdruck, Schwindel, Übelkeit, Obstipation, Kribbelparästhesien, eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit bei sehr hohen Dosen (> 1mg/kg/d), z.B. Einengung der Aufmerksamkeit, verminderte Flexibilität im Denken, schlechtere Problemlösestrategien Nebenwirkungserfassung nach Barkley Probleme beim Einschlafen und andere Schlafstörungen Alpträume Starrt ins Leere, Tagträume Spricht wenig mit anderen Interessiert sich wenig für andere Hat wenig Appetit Ist empfindlich und reizbar Hat Magenschmerzen Hat Kopfschmerzen Klagt über Schwindel Ist traurig; weint schnell Ist ängstlich Kaut exzessiv Fingernägel Ist über die Maßen fröhlich oder euphorisch Ist müde Hat nervöse Zuckungen, Tics Hat Haarausfall Kinder mit ADHS in der Schule - Kurze Aufmerksamkeitsspanne berücksichtigen - hohe Ablenkbarkeit berücksichtigen: vorne sitzen lassen! - Kommunikation über mehrere sensorische Kanäle: Aufforderungen nicht nur durch Zuruf! Blickkontakt herstellen! evtl auch Aufmerksamkeit durch taktile Reize! - Häufig mit ADHS einhergehende weitere Störungen beachten: spezifische Lernstörungen, LRS, motorische Entwicklungsstörung („Clumsiness“) Zusammenfassung Unverändert: MULTIMODALE THERAPIE Medikation eines Kindes mit ADHS ist als Unterstützung gedacht. „Der Gehstock, der zum selbstständigen Gehen beiträgt.“ Weitere Unterstützung seitens des Umfelds ist absolut notwendig. Elternhaus und Schule müssen sich den Bedürfnissen des Kindes anpassen, um das Kind in seiner Anpassungsleistung und Entwicklung zu fördern. Danke für Ihre Aufmerksamkeit! Andrea G. Ludolph e-mail: [email protected]