ADHS aus konstruktivistisch-systemischer Perspektive

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ADHS aus konstruktivistisch-systemischer Perspektive
ERFAHRUNGSBERICHTE
ERFAHRUNGSBERICHTE
systhema 1/2008 · 22. Jahrgang · Seite 64-73
ADHS aus konstruktivistisch-systemischer Perspektive
ADHS aus konstruktivistisch-systemischer
Perspektive
Katharina Walckhoff
„In dir muss brennen
was du in anderen entzünden willst.“
Augustinus von Hippo, 5. Jh.
Theorie
Das theoretische Fundament der Systemischen Familientherapie ist neben der humanistischen Psychologie vor allem der Konstruktivismus. Als Systemische Familientherapeutin
interessieren mich Diagnosen wie die von ADHS also nicht so sehr als „harte Fakten“, sondern als mehr oder weniger hilfreiche Konstrukte. Und da im echten Leben selten etwas von
allen Beteiligten zu jeder Zeit gleich wahrgenommen wird, frage ich in der Arbeit mit KlientInnen weniger nach Zuständen, sondern eher nach Umständen und Unterschieden.
Typisch systemisch sind zirkuläre Fragen wie z. B.:
p „ADHS scheint in Ihrer Familie eine wichtige Rolle zu spielen. Wenn es – ach so: ist
ADHS für Sie eher männlich, weiblich oder sächlich? – also wenn ADHS in Ihrer Familie
anwesend ist, würden Sie … dann eher als Gast oder als Familienmitglied bezeichnen?“
p „Wer in Ihrer Familie wäre mehr für Gast? Wer eher für Mitglied? Wer wünscht … am
meisten zum Teufel und warum? Wer am wenigsten und warum?“
p „Angenommen, das ADHS hätte einen Namen, wie würde er / sie / es heißen?“
p „Aha, also Oskar. Ist Oskar eigentlich immer und überall dabei, wenn Sie als Familie
zusammen sind? Hat er auch mal frei?“
p „Wann hatte er zuletzt frei? Wer hat das zuerst gemerkt? Wem ist es erst gar nicht aufgefallen?“
p „Wer in Ihrer Familie würde Oskar am meisten / am wenigsten vermissen, wenn er sich
eines Tages auf Nimmerwiedersehen verabschieden würde?“
p „Was würde Oskar mitnehmen? Was als Geschenk zurücklassen?“
p „Wofür würden Sie ihm danken, wenn er ginge?“
Fragen nach Unterschieden auf der Personen-, Generations- oder Zeitebene helfen zu
verhindern, dass ein Familienmitglied oder ein Schüler mit dem Phänomen identifiziert
wird.
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p „Angenommen, Oskar würde sich heimlich über Nacht davonstehlen. Wer von Ihnen
würde das am nächsten Morgen zuerst bemerken? Und woran? Und wer als nächste/r?
Woran würden Sie es merken? Wer würde ihn zuerst vermissen?“
p „Wenn Sie Oskar in Ihre Familie aufnehmen würden, welche Rolle hätte er dann: ­Pflegeoder Adoptivkind? Hausfreund? Gast? Angestellter? für Sie? … und für Sie? … und für
dich?“
p „Wenn Sie die Beratung hier erfolgreich abgeschlossen hätten und Oskar dürfte einen
Platz bei Ihnen behalten, wo würde er wohnen: Im Garten oder im Keller? Auf dem
Speicher? Wenn er nachts manchmal heimlich zu jemandem ins Bett käme, wer würde
das am wenigsten / am ehesten dulden?“
p „Wie würde Ihr Urlaub aussehen, wenn Oskar zuhause bliebe? Wer würde das am
meisten – wer am wenigsten genießen?“
Humor und Übertreibung helfen das Problem zu relativieren und den Druck, der auf allen
Beteiligten liegt, zu verringern:
p „Müsste jemand daheim bleiben, um auf ihn aufzupassen, oder wäre er froh, auch mal
seine Ruhe zu haben?“
p „Angenommen, man müsste für Oskar eine Ferienfamilie suchen: Wer aus Ihrem Bekanntenkreis könnte mal ein bisschen heilsames Chaos gebrauchen?“
p „Wer in Ihrer weiteren Familie würde sich am liebevollsten um ihn kümmern? Wo würde Oskar am wenigsten gerne hingehen? Warum?“
Im Unterricht mit Schülern lassen sich solche Fragen ebenfalls nutzen, um das Problem zu
entmachten und zu integrieren.
Beschreibungen statt Zuschreibungen werden von Betroffenen oft als weniger diskriminierend erlebt:
p „Friedrich nimmt Psychopharmaka.“ klingt und wirkt anders als „Friedrich nimmt ein
Mittel, das ihn so wach macht, dass er leichter selber zur Ruhe kommen kann.“
p „Die Psychopillen machen doch abhängig“, kann die Lehrerin entschärfen durch die
Bemerkung „Ohne meine Brille hätte ich ein echtes Problem. Aber weil ich auf sie angewiesen bin, bin ich noch lange nicht von ihr abhängig! Und während ich eine immer
stärkere Brille brauchen werde, wird Renate von diesen kleinen Pillen immer weniger
brauchen, je älter sie wird. Vielleicht kommt sie eines Tages sogar ganz ohne sie aus.“
Praxis
Seit 2002 bin ich in unterschiedlichen Kontexten im Bereich der beruflichen Förderung und
Qualifizierung von Jugendlichen und Heranwachsenden mit schweren bis schwersten Vermittlungshemmnissen tätig. Der Prozentsatz von AD/H/S-Betroffenen in diesen Gruppen
ist extrem hoch. Diese Maßnahmen „fischen“ sozusagen hinter dem 3. Netz: Nach (oft nur
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mit Abgangszeugnis verlassener) Schule, Berufsschulangeboten für Jugendliche ohne Schulabschluss und mehreren anderen Qualifizierungsangeboten kommen sie dann in Maßnahmen und Projekte nach dem SGB II.
In einem meiner Projekte befanden sich unter den 30 TeilnehmerInnen zwischen 17 und 25
Jahren allein 12 (!), die als Kinder oder Jugendliche positiv getestet worden waren. Zusammen mit denjenigen, bei denen ebenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit ein AD/H/S angenommen werden durfte, erhöhte sich die Quote von 40 auf über 65 %.
Oft kann man es einfach schon während der Pause sehen: um den Sitzplatz herum liegen
in kleinen Schnipseln Kaugummi-Papierchen, auf Briefmarkengröße zusammengefaltete
oder zerpflückte Arbeitsblätter, gedankenlos in Einzelteile zerlegte Kugelschreiber oder zerbröselte Zigaretten; wenn nicht beim Aufstehen unbemerkt auch noch der Stuhl umgefallen
und einfach liegen geblieben ist.
Sie sind oft blass und zu dünn, nicht selten regelrecht hohlwangig mit großen, unbeweglichen Pupillen vom Kiffen. Ihre Haltung drückt Mutlosigkeit und Erschöpfung aus und
doch: wenn man sie anschaut und ihrem Blick lange genug standhält, dass eine Verbindung
entstehen kann, taucht etwas von der Sehnsucht auf, sich begeistern zu lassen und noch
einmal ganz von vorne anzufangen.
Drei methodische Zugänge haben sich nach meiner Erfahrung im Lauf der Jahre im Umgang
mit diesem Typ Jugendlicher und junger Erwachsener als besonders hilfreich erwiesen:
p die Jäger- und Sammlertheorie von Thom Hartmann (1997) als Erklärungsmodell für
AD/H/S
p das Konzept der professionellen pädagogischen Präsenz von Haim Omer und Arist von
Schlippe (2004)
p sowie der hypno-therapeutische Ansatz von Milton Ericson et al.
Was ich mit diesen „Werkzeugen“ mache, ist nicht ganz einfach schriftlich zu vermitteln,
aber einen Versuch soll es wert sein:
Ich beginne am Anfang eines neuen Kurses mit einer Art Eigen-Trance-Induktion. Ich realisiere bei mir selbst auf allen sensorischen Ebenen die Idee, dass es sich bei meinen TeilnehmerInnen möglicherweise um aus der Richtung geratene Jäger- und Sammlertypen handelt.
Das bewirkt eine Art Wahrnehmungsveränderung meinerseits, bei der die Betroffenen eine
stärkere Präsenz bekommen, gewissermaßen im Vordergrund der Gruppe erscheinen. Dann
„screene“ ich sie unter dem Blickwinkel, welchem archetypischen Beruf sie tendenziell
möglicherweise zuzuordnen sind: JägerIn, SammlerIn, Schamane, GauklerIn …
Das Ergebnis ist in doppelter Hinsicht verblüffend: bei mir entsteht eine andere Tiefen­
dimension von Respekt und eine große, innere Verbundenheit mit diesen erschöpften Crocodile-Dundees oder Tecumsehs, die irgendwie ihre Vorgeschichte vergessen zu haben
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scheinen, ein Gefühl, das ich zum ersten Mal bei einem Pow-Wow von Sioux-Indianern in
Amsterdam hatte, die eine Heilungszeremonie für ein krebskrankes Mädchen aus dem Publikum durchführten und dabei mit ihrer Musik und ihrem Gesang das Kongresszentrum mit
einer Vision von heil(ig)er, unberührter Natur erfüllten, die sich mir unauslöschlich und
heilsam eingeprägt hat.1
Thom Hartmann hatte die kongeniale Idee, den defizitorientierten Beschreibungen der
­Eigenschaften von ADHSlern eine kompetenzorientierte Beschreibung gegenüberzustellen:
Störungs-Typus ADS
Jäger- und Sammler-Typus
sind unaufmerksam und leicht ablenkbar überwachen ständig ihre Umgebung
kurze Aufmerksamkeitsspanne
sind jederzeit aufbruchbereit
chaotisch
flexibel
treffen übereilte Entscheidungen
können Strategien bei Bedarf schnell
ändern
planlos und sprunghaft
unermüdlich, wenn sie auf einer heißen
Spur sind
hedonistisch
zielorientiert
schlechtes Zeitmanagement
wissen, ob sie sich ihrem Ziel nähern
oder nicht
Transfer Wörter / Konzepte oft schwach; visuelle, konkrete Denkweise
LRS, Dyskalkulie
nicht teamfähig
bilden Projektteams
können schlecht Anweisungen
bevorzugen flache Hierarchien
anderer befolgen
unverbindlich
unabhängig
Tagträumer, Hazardeure, Welten-
lieben neue Ideen und Aufregung
bummler, high risc
handeln ohne Umschau achten auf die „große Linie“
ungehobelt
nonchalant
„kopflos“
risikofreudig
anarchistisch
innovativ
promiskuitiv
polygam
(nach: Thom Hartmann: Eine andere Art, die Welt zu sehen)
Für Hartmann ist die älteste literarische Bearbeitung des Themas Jäger und Sammler versus
Farmer die biblische Geschichte von Kain und Abel. Seine These ist, dass es sich bei „ADHS“
1) Das Mädchen berichtete später, seit der Zeremonie habe sie keine Angst mehr vor dem Sterben;
der Tod erscheine ihr wie ein Begleiter auf dem Weg in eine wunderbar neue, unberührte Welt.
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nicht um eine Störung handelt, sondern um eine neurobiologische Normvariante für ­­Jägerund Sammlerkulturen: eine Reservetruppe sozusagen, die die Natur bereithält für den Fall,
dass unsere perfekt durchorganisierte und -strukturierte Welt zusammenbricht; wenn also
nicht Ordnungsschaffer und -hüter gefragt sind, sondern Chaosbeherrscher.
Einige einfache Beispiele mögen es Interessierten erleichtern, das Verhalten der Kinder
oder Schüler in einen neuen Rahmen zu stellen, in dem dieses Verhalten als sinnvoll und
Not-wendend erscheinen kann.
Eskimo
Immer wieder sind Teilnehmer in meinen Projekten, die sich auffallend in ihrer Physiognomie ähneln: sie sind untersetzt, korpulent, ohne übergewichtig zu sein, sitzen gerne in sich
zusammengesunken und sind mit einem unglaublich phlegmatischen Naturell ausgestattet.
Sie bringen einen zur Weißglut mit ihrer stoischen Ruhe, ihrer gebückten Haltung und ihrer
Neigung, blind vor sich hin zu starren, unerreichbar für Ansprache oder Aufgaben. Dabei
sind sie durchschnittlich intelligent und, wenn man ihr Interesse für ein Thema gewinnen
konnte, auch leistungsfähig.
Wenn man sich einen solchen Jugendlichen als Eskimo vor einem Eisloch vorstellt, wie er
stundenlang bewegungslos ins Wasser starrt, um nach Stunden im entscheidenden Moment
einen Seehund zu harpunieren, kann man als Kursleiter besser mit solchem Verhalten umgehen, ist meine Erfahrung.
Schamane
Ein Teilnehmer war schon mehrfach in der Psychiatrie gewesen. Immer wieder hätte er so
merkwürdige Gedanken, er sei irgendwie nicht normal, und überhaupt höre er Stimmen
und hätte oft so komische fremde Bilder im Kopf.
Nach einem schweren Unfall besuchte ich ihn im Klinikum. Ich hatte mich nicht angemeldet. Er kam mir am Eingang entgegen und sagte ganz trocken: „Ich wusste, dass Sie kommen würden, und ich fand es höflicher, Sie hier unten zu begrüßen.“ Er fand daran offenbar
nichts Auffälliges und ich sagte auch nichts. Die leitende Schwester informierte mich darüber, dass die verabreichten, morphinhaltigen Schmerzmittel nicht erwartungsgemäß wirkten
trotz grenzwertiger Dosen. Der behandelnde Arzt konnte etwas mit meinem Hinweis auf
paradoxe Reaktionen auf bestimmte Medikamente vor dem Hintergrund von ADHS anfangen und empfahl dem weiterbehandelnden Arzt ein Präparat auf einer anderen Wirkungsbasis. Mit Erfolg.
Wir besprachen diese verschiedenen Informationen. Eine gut recherchierte Genogrammarbeit führte zu der Entdeckung, dass sein Urgroßvater Schamane gewesen war. Dass der
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große, blonde, schlaksige Jugendliche aus der zentralasiatischen Steppe an der Grenze zur
Mongolei stammte, ließen nur die schräg stehenden Augen vermuten. Er hörte keine Stimmen, sondern er wusste manchmal einfach, was Menschen dachten.
Meta-Theorie
Zu den grundlegenden Anforderungen an eine wissenschaftliche Theorie gehört, dass sie
alle Facetten des Phänomens umstandslos erklären können soll. Das Bestechende an der
Jäger- und Sammler-Theorie ist, dass sie diese Anforderung im Hinblick auf das ADHS-Phänomen problemlos erfüllt, wenn man neben dem Kulturfaktor den Zeit- oder Mehr-Generationenfaktor berücksichtigt.
Athanasios Chasiotis, Mitarbeiter der Evolutionspsychologin Prof. Dr. H. Keller an der Universität Osnabrück, nannte Teil-Phänomene wie die des Jugendlichen aus Zentralasien in
einem seiner Seminare „verwahrloste Kompetenzen“: angeborene Eigenschaften also, die
sich destruktiv auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken, wenn sie nicht erkannt, benannt und geformt werden. Werden sie nicht in das Selbstbild des jungen Menschen und in
das seiner Umgebung integriert, nimmt er sich selbst als abweichend von der Norm, als
nicht normal, also als verrückt wahr, erst recht, wenn solche oder ähnliche Eigenschaften
oder Verhaltensweisen kulturell stigmatisiert sind. Um das Selbstbild zu heilen, reicht es
oftmals schon aus, gegenüber dem Jugendlichen den besonderen Charakter dieser Gabe zu
benennen und sie in ihren archaischen Kontext zu stellen. Nicht selten verschwindet diese
Fähigkeit übrigens anschließend.
Devianz – Auf Abwegen
Vor diesem Hintergrund erklären sich die bei von ADHS betroffenen Jugendlichen gehäuft
und oft in fatalen Kombinationen auftretenden Problematiken wie Drogenkonsum, Anorexie, Kicksucht, geschlossene Peergroups mit Risikoverhalten im Delinquenzbereich etc. relativ einfach. Meine Erfahrung ist, dass die Bereitschaft der Jugendlichen, an der Überwindung dieses Problemverhaltens aktiv mitzuwirken, um vieles größer wird, wenn diese
Verhaltensweisen vor den oben beschriebenen Hintergrund gestellt und positiv konnotiert
werden. Dann handelt es sich eben nicht mehr um deviantes – von via = Straße, Weg – also
vom Tugendpfad abweichendes Verhalten, sondern um richtige, aus tieferen Erinnerungsschichten initiierte Entwicklungsschritte, denen der angemessene Kontext und die notwendige Formung fehlen.
Gender
Das Phänomen, dass Mädchen als Betroffene häufig erst in der Pubertät auffallen, lässt sich
mit dem Jäger- und Sammlerkonzept leichter verstehen. Da eine Darstellung der Zusammen­
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hänge – will sie in der Kürze nicht den Anschein erwecken, als würden einige wesentliche
Errungenschaften der Emanzipationsbewegung geopfert – den Rahmen sprengt, sei hier
pars pro toto nur ein Aspekt näher betrachtet.
ADHS wird rezessiv vererbt. Das bedeutet, dass die stille Reserveeinheit, die die Natur für
den Ernstfall des Zusammenbruchs unserer durchorganisierten Kultur bereithält, immer
gleich groß bleibt.
„Gleich und gleich“ müssen also zueinander finden, damit ein kleiner Crocodile-Dundee
oder eine kleine Florence Nightingale, Hildegard von Bingen oder die Autorin dieses Artikels geboren werden können. Dies gelingt nur, wenn die Trägerinnen des Gens sich angezogen fühlen von einem männlichen Genträger.
Von schlechteren Zensuren über Anorexie oder Bulimie als Kickfaktor, von Ritzen bis zu
Frühschwangerschaften kann das Spektrum der wahrnehmbaren Folgen solcher Verbindungen reichen.
Je schwächer die Präsenz der Eltern der Mädchen in dieser kritischen Entwicklungsphase
ist, desto gefährdeter sind sie.
Andererseits gilt hier in besonderem Maße, was Plato in seinem Philosophenstaat empfiehlt:
„Erzieht (meint: kümmert euch um) die Mädchen, und die Jungen folgen von selbst.“
Die Reifeverzögerung (lt. Cordula Neuhaus (2000) bis zu 30, seltener 40 %) und die damit
verbundene größere emotionale Offenheit sowie längere Bindungsbereitschaft der von
ADHS Betroffenen ist nach der Jäger- und Sammlertheorie evolutionär bedingt und überlebensnotwendig, da die Müttersterblichkeit bei natürlich lebenden Völkern viel höher ist als
bei Kulturvölkern, sodass die Kinder bereit sein müssen, sich an eine andere Bezugsperson
zu binden, wollen sie nicht emotional verkümmern.
Für LehrerInnen und AusbilderInnen bedeutet dies, dass sie mehr Möglichkeiten haben,
diese Mädchen positiv zu beeinflussen, als es bei Nicht-Betroffenen der Fall ist. Nicht selten
erzählen erwachsene Klientinnen, dass eine Lehrerin während der Pubertät und manchmal
sogar noch danach die wichtigste Bezugsperson für sie war und für wesentliche, positive
Weichenstellungen für ihr ganzes weiteres Leben gesorgt hat.
Initiation
Wenn ich Eltern- oder Lehrergruppen dieses Erklärungsmodell vorstelle, kommt fast immer
die Frage, ob sie denn das Verhalten der Kinder oder Jugendlichen einfach so hinnehmen
müssten.
Die Antwort ergibt sich innerhalb des Erklärungsmodells: Die Vorbereitung eines jungen
Menschen auf das Leben in der Natur erfordert eine viel individuellere Erziehungsleistung
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als die Vorbereitung auf das Leben in einer Kultur wie der unseren. Bei nordamerikanischen
Indianern beispielsweise gab es (und gibt es z. T. heute noch) fast immer eine enge Eins-zuEins-Beziehung zwischen dem Kind und einem Großelternteil. Die Jugendlichen schlossen
sich in der Regel einem Erwachsenen an, zu dem sie eine starke – wenn man der Primärliteratur glauben will, darf man annehmen charismatische und in gewisser Weise symbiotische – Beziehung entwickelten. Den Abschluss der Erziehung und damit den Übergang in
die Welt der Erwachsenen bildete ein Initiationsritus, der dem von Freimaurern oder anderen Geheimbünden nicht unähnlich ist und immer eine Konfrontation mit dem Tod zum
zentralen Thema hatte.
Visionssuche
Die entbehrungsreiche Vorbereitung auf die Initiation erfolgte üblicherweise in kleinen,
vom Rest des Stammes abgesonderten Gruppen unter Leitung eines Kriegers und endete
mit der erfolgreichen Visionssuche nach dem Totemtier. Dieses Totemtier – Wolf, Bär,
­Schakal, Adler, Büffel – entschied darüber, in welchen geheimen (Jung)Männerbund der
Jugendliche anschließend aufgenommen wurde. Bei den Frauen handelte es sich bei den
Totems eher um Bäume, heilkräftige Pflanzen oder Kleintiere. Übrigens gibt es über Frauenriten wesentlich weniger Primärliteratur.
Woher die um so vieles größere Anfälligkeit für legale und illegale, bewusstseinserweiternde Drogen kommt, muss nicht mehr eigens erläutert werden, wenn man sie in den
Kontext dieses Erklärungsmodells stellt. Gelingt es, die Jugendlichen für eine individuelle
und spirituelle, alternative Sinnsuche zu gewinnen, wird das Thema Drogenkonsum erheblich reduziert. Früh einen guten Platz in einer Pfadfindergemeinschaft gefunden zu haben
scheint übrigens eine der wirksamsten Formen der Drogenprophylaxe zu sein.
Es geht also nicht darum, das sozial problematische und nicht selten selbstschädigende
Verhalten der Kinder und Jugendlichen „hinzunehmen“, sondern zu wissen und zu verstehen, warum die Erziehung dieser Kinder um so vieles mühsamer und aufreibender ist und
warum sie so viel mehr als nicht betroffene Jugendliche auf eine belastbare, von Seiten der
PädagogIn von authentischer Verbindlichkeit und Herzenswärme durchdrungener Beziehung angewiesen sind.
Dass diese Jugendlichen auch als junge Erwachsene nicht nur beziehungs-, sondern auch
immer noch bindungsbereit und -fähig sind, wird viel zu oft übersehen oder als Reifeverzögerung disqualifiziert.
Die kreative Sturheit, wie sie in den beiden Büchern von Arist von Schlippe und Haim
Omer beschrieben ist, oder auch der leichtfüßig konsequente Zugang von Martin Lemmes
„Familie Aufmerksam“ können hier hilfreiche Instrumente sein.
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Fazit
Macht gute Erziehung Therapie überflüssig? Nein, hat Prof. Dollase in seinen beiden Vorträgen während des 2. Mindener Symposions schlüssig erklärt. „Gebt diesen Kindern einen
Dschungel – oder Ritalin“, sagten schon zu Beginn der 90er-Jahre die Kinderärzte in der
anthroposophischen Kinder- und Jugendklinik in Witten-Herdecke. Diese Empfehlung hat
wenig an Aktualität verloren.
Angesichts der extrem hohen Drogenprevalenz bei ADHS-betroffenen Jugendlichen haben
zahlreiche Langzeit- und Meta-Studien erwiesen, dass eine rechtzeitige, richtig dosierte und
durch Verhaltenstherapie sowie Eltern- bzw. Lehrercoaching unterstützte Stimulantientherapie das Risiko auf Substanzmissbrauch im Jugend- und Adoleszenzalter erheblich senkt.
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Literatur
Hartmann, T. (1997). Eine andere Art, die Welt zu sehen. Lübeck: Schmidt Römhild.
Neuhaus, C. (2000). Hyperaktive Jugendliche und ihre Probleme. Berlin: Ravensburger.
Omer, H., Schlippe, A. v. (2004). Autorität durch Beziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Katharina Walckhoff
Akademie für Systemische Biographiearbeit
Dehmer Sttraße 60
32549 Bad Oeynhausen
Dr. Wolff, ehem. lt. Psychologe an der Medizinischen Hochschule Hannover2, hat immer
wieder darauf hingewiesen, dass seinen Untersuchungen zufolge eine sorgfältige ADHSDiagnose und -Behandlung das Risiko der Ausprägung einer Persönlichkeitsstörung (insbesondere des Borderlinetyps) oder kriminellen Karriere erheblich senken kann.
Mit diesen jungen Menschen zu arbeiten oder deren Eltern bzw. Lehrer zu sein erfordert ein
fast übermenschliches Maß an Geduld, Zähigkeit, Phlegma, Phantasie, Konsequenz, Idealismus, Humor, Ent-Zweiflung … kurzum: pädagogischen Eros. Das Jäger- und Sammlerkonzept ist keine Lösung, wohl aber kann es meiner Meinung nach für diejenigen PädagogInnen, denen es einleuchtet, eine Hilfe sein nicht aufzugeben; ein Mast, an dem sie sich
festbinden können, um den verschiedensten Verführungen, an den Gestaden des AD(H)S
zu stranden, zu entgehen.
„Dass man nie seine Ruhe vor Ihnen hatte, sogar abends um zehn nicht“, gaben mir vor
Kurzem zwei ehemalige Teilnehmer zur Antwort auf meine Frage, was ihnen geholfen hat
auf ihrem Weg, im x-ten Anlauf ihren Schulabschluss zu schaffen und einen Ausbildungsplatz zu finden und zu behalten.
Mir die beiden als Protagonisten in meinen alten Winnetou-Büchern vorzustellen hat mir
geholfen, mich ihnen immer wieder in den Weg zu stellen wie der alte Luther:
„Hier steh‘ ich nun und kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“
2) Er ist davon überzeugt – Ausführungen u. a. auf dem 1. Mindener ADHS-Symposion 2006 – dass
etwa 40 % aller Borderline-Patienten und etwa ebenso viele jugendliche Delinquenten nicht
bzw. falsch diagnostizierte oder unzureichend behandelte AD(H)Sler sind.
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