TAGESSPIEGEL (Kultur) vom 15.10.2013
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TAGESSPIEGEL (Kultur) vom 15.10.2013
20 KULTUR DER TAGESSPIEGEL NR. 21 839 / DIENSTAG, 15. OKTOBER 2013 Vergiss das Abi-Deutsch SEHEN Wie aus Beton Gold wurde Teenager bringen beim Jugendtheaterfestival Festiwalla ihre eigenen Erfahrungen auf die Bühne. Ein Blick hinter die Kulissen Christine Wahl hofft auf Hilfe gegen Gentrifizierungsbedrohungen Von Cara Wuchold „Wie funktioniert das Geschäftmit Immobilien im 21. Jahrhundert, und welche Rollespieltdarin diestaatlicheWohnungspolitik?“ Solchedramatisch anspruchsvollen(undüberdurchschnittlich lebenspraktischen) Fragen stehen zurzeit auf der Agenda der Kreuzberger Vierten Welt: In Performances, Führungen und Gesprächen mit Soziologen, Architekten oder Künstlern möchte das Theater sich einklinken in den brisanten Berliner Städtebau- und Gentrifizierungsdiskurs. Zugegeben: Dass Bühnen mit derartigen Ansprüchen aufwarten, ist längst keine Seltenheit mehr. Ausnahmecharakter darf man sich von Dirk Cieslaks Großprojekt Der Block (17.–20.10., 24.–27.10. und 1.–3.11.; detailliertes Programm unter www.viertewelt.de) trotzdem erhoffen. Denn während die großen gesellschafts„Der Block“ politischen Themen im theatralen Praxisspiegelt die test zu guter Letzt oft krachend scheiGeschichte tern, weil sie sich im vom Zentrum Unkonkreten verläppern und rechercheKreuzberg technisch gern mal hinter Leitartikel-Niveau zurückbleiben, weiß Cieslak genau, wovon er spricht: Das Zentrum Kreuzberg – jener berühmte Betonklotz am Kottbusser Tor, dessen Geschichte er unter dem Motto „Der Block“ aus allen erdenklichen Perspektiven bespiegeln wird, um wirklich sachkundige Bögen in die Gegenwart zu schlagen – beheimatet seit drei Jahren die von ihm geleitete Theaterspielstätte „Vierte Welt“. Geplant und entstanden in den 1960er Jahren „als erstes privat finanziertes Wohnungsbauvorhaben dieser Größenordnung im Goldrausch der Berliner Abschreibungs- und Subventionspolitik“, wie Cieslak lachend betont, gab es um das Bauwerk bekanntlich jahrzehntelange Debatten. „Die Abschreibungsgeschichte“ als „eine Art frühe Vorform dessen“ – so Cieslak – „was wir heute auf den Finanzmärkten erleben“, ist dabei allerdings nur ein Aspekt, den der Regisseur verfolgen wird. Darüber hinaus rollt „Der Block“ auch stadtsoziologisch interessante Fakten auf. So zeigt ein Filmabend ein Interview mit dem DDR-Historiker Kurt Weynicke, der an die selbstorganisierte Barackensiedlung „Baraccia“ erinnert, die sich anno 1870 am Kotti befand. Vielleicht wird „Der Block“ ja tatsächlich mal ein Kunstprojekt, von dem der Kulturliebhaber praktische Handlungsanregungen mit in die eigenen gentrifizierungsbedrohten vier Wände nimmt. „Okay, jetzt ist mal Schluss hier mit Heule Beule. Wir machen das ultimative OpferBattle. Wir erzählen aus unserem Scheißleben und ihr bestimmt, wer von uns das größteOpfer ist.“Zwölf Jugendliche posieren kampfbereit auf der Bühne. Noch proben sie, aber die Energie ist schon da. „Ich habe keinen Job“, ruft einer. Es hagelt Schläge mit blauen Schaumstoffstangen. „Und ich schaff’s erst gar nicht zu suchen.“ Mehr Hiebe für jedes Geständnis, immer setzt einer noch einen drauf. Ensemblemitglieder der Zwiefachen erzählen hier von sich. Das ist eine Theatergruppe der Schaubühne, die überwiegend aus Jugendlichen aus betreuten Wohnprojekten besteht. In ihrem Stück „Leben spielen sterben“ stellen sie sich vor, dass sie nur noch einen Tag zu leben haben und stellen die Frage, was anders hätte laufen sollen – und was noch zu tun bleibt. Die Gruppe ist mit der Inszenierung zu Gast auf dem Jugendtheaterfestival Festiwalla, das am Mittwoch im Haus der Kulturen der Welt startet. Es findet bereits zum dritten Mal statt . Auch dort ist ordentlich Druck im Kessel, was schon dasMottoverrät.„Washeißthier bildungsfern?!“, fragen die Veranstalter vom Jugendtheaterbüro. Um Bildung, Einbildung und Rollenbilder soll es in den vier Festivaltagengehen,und um Zuschreibungen wie bildungsfern. Das Jugendtheaterbüro sitzt in einem Kirchenanbau in Moabit. Viel Geld steht hier nicht zur Verfügung. Im dritten Stock steht ein rosa Sparschweinchen im Regal. Jemand hat einen „Liebe“-Sticker auf den Rüssel geklebt. Liebe und Leidenschaft, die braucht es wohl an diesem Ort. Im letzten Jahr ging dem Projekt die Förderung aus, die Jugendlichen kamen trotzdem – und die Mitarbeiter auch. Jetzt gibt es wieder finanzielle Unterstützer, aber die Mittel sind knapp. Im November soll mithilfe von freiwilligen Helfern renoviert werden. Der Kühlschrank ist verbeult, der Laminatboden rissig, die Sofas durchgesessen. Vom Proben für das Festival hält das allerdings niemanden ab. „Wir erleiden politische Unterdrückung“, schallt es aus einem der Räume – eine Zeile aus dem Stück „Schwarzkopf BRD“.Darin beschäftigen sich die Jugendlichen mit afroamerikanischen Bürgerrechtlern wie Malcom X oder Angela Davis und ihrem Kampf um Anerkennung. Sie ziehen Parallelen zur Situation der Migranten in Deutschland und spannen den Bogen bis hin zu den Morden durch den NSU. „Geschichtsunterricht von unten“ nennen sie das. Viele der Jugendlichen habentürkische oder arabische Wurzeln, kämpfen im Alltag gegen Vorurteile Kinder, macht euch nicht zu fein „Kaisers neue Kleider“ in der Komischen Oper Hoch hinaus. Die Jugendtheatergruppe Die Zwiefachen probt an der Schaubühne ihr Stück „Leben spielen sterben“. und wollen vor allem eins: sich Gehör verschaffen. Und die Deutungshoheit über ihr Leben. So wie Mohammed, der bei „Schwarzkopf BRD“ Regie führt und seit sieben Jahren mitspielt im Jugendtheaterbüro. „Hier wird Interesse für mich gezeigt. Hier habe ich das Gefühl, dass meine Gedanken nicht verrückt sind. Es geht nicht nur um ‚Guck mal, ich bin auf der Bühne’, sondern, darum, dass ich Themen anspreche, die uns alle betreffen.“ Genauso wie Saira und Dalia, die sich für das diesjährige Festiwalla die Geschlechterverhältnisse vorgeknöpft haben. Saira arbeitet als Erzieherin und war irritiert über die „Jedes ungleiche Bezahlung von Frauen und Mädchen Männern in ihrem will ’ne Beruf. In ihrem Stück „90/60/90 – Barbie sein? Rollenscheiß“ lan- – Nein!“ det eine Gruppe von jungen Frauen im Barbie Dreamhouse. Sie backen Cupcakes, wienern Böden, tanzen im Tütü und tappen von einem Frauenklischee ins nächste, und wissen eigentlich: Das kann es nicht sein. „Jedes Mädchen will ’ne Barbie sein. /Brav, leise, keine Meinung? /Nein! Wir stehen jetzt auf und zeigen unser Gesicht./Mit der Männerwelt gehen wir hart ins Gericht.“ Im Erdgeschoss des Jugendtheaterbüros rappt sich Saira auf der Bühne warm, die anderen fallen mit ein und schlagen den Takt dazu. Zurück zu den Zwiefachen. Auch hier wird weiter eifrig geprobt. Der Teppich im gut ausgestatteten Studio der Schaubühne leuchtet rot. „Wir haben einfach den Vorteil einer privilegierten Plattform, mit Strukturen eines wohlorganisierten Theaters“, dessen ist sich die Theaterpädagogin Uta Plate bewusst. Diesen Raum will sie Jugendlichen wie Alex von den Zwiefachen bieten. Der 24-Jährige brach früh die Schule ab, hat Risse in seiner Biografie und hinterfragt, was normalerweise auf der Bühne verhandelt wird – und von wem. „Theater will die Gesellschaft quasi durchkneten und reflektieren, und das geht ja nicht, wenn man da einige Zutaten rauslässt aus dem Teig. Denn dann werden die gar nicht wahrgenommen. Aber wir arbeiten damit“, sagt er. Dass viele Geschichten ungehört bleiben, hat auch etwas mit festen Bildungsvorstellungen zu tun. „Ich möchte Kultur machen, auch ohne Abi-Deutsch“, diesen Satz schnappte Uta Plate letztens von einer Jugendlichen auf, und kann ihn nur bestätigen. „Bei einem Jugendlichen, der das sogenannte Abi-Deutsch nicht spricht, steht eigentlich schon fest, dass er auf einer Schauspielschule nicht zugelassen wird. Weil ihm unterstellt wird, dass er dannauch Goethenicht sprechenund denken können wird. Da findet schon eine Art Foto: Vincent Schlenner von Selektierung statt, die ich ziemlich anstrengend finde.“ Deshalb hat sie sich mit der Schaubühne dem Bündnis „KulTür auf!“ angeschlossen, das auf dem Festival im HKW vorgestellt wird, und dem neben dem Jugendtheaterbüro als Initiator auch das Deutsche Theater angehört. Es geht darum, neue Zugänge zur Kultur schaffen, Aufmerksamkeit und Mitbestimmung auch innerhalb der großen Kulturinstitutionen zu erreichen. Festiwalla leistet Basisarbeit, indem es jene Barrieren thematisiert, die der gesellschaftlichen Anerkennung der Jugendlichen im Wege stehen. Es möchte eine Bildungsdebatte anstoßen, in der einmal nicht Richard David Precht und Co. zu hören sind, sondern die Betroffenen selbst. „Der Mensch ist ein Individuum und jeder lernt anders. Es kann nicht darum gehen, Stereotypen zu erschaffen“, meint Samantha von den Zwiefachen. Schon Humboldt wusste, dass hinter Bildung weit mehr als die Aneignung eines Wissenskanons steckt. „Wir sind keine Roboter, denen man einen Chip mit Wissen einpflanzt“, sagt Mohammed am Rande der Proben, „wir müssen auch seelisch auf die Welt vorbereitet werden.“ Das Jugendtheater scheint dafür ein Ausgangsort zu sein. — Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 16. bis 19. Oktober. Eintritt frei. www.festiwalla.de Vorsicht, Nachbarn! Ein Taifun, Tarantino und Tendenzen des asiatischen Kinos: das Filmfestival im koreanischen Busan Der größte Straßenfeger kam ungebeten, aber gewaltig. Danas, ein seltener Oktober-Taifun, brachte mit Wind und Wasser das Fest zum Erliegen, einen Abend und eine Nacht lang. Auch das Festival Village an Busans herrlichem Stadtstrand, wo partymüde Besucher gern den Tag ausklingen lassen, musste eilig weggeschafft werden. Der einzigartigen Atmosphäre dieses so gastfreundlichen Filmfests konnte Danas aber nichts anhaben. Seit 1996 wird Südkoreas große Hafenstadt jeden Herbst zum wichtigsten Treffpunkt für Asiens Filmwelt. Junge Talente aus traditionellen Filmländern und Regisseure aus den Randregionen treffen sich hier mit etablierten Filmemachern, die ihren aktuellen Blockbuster im Gepäck haben. Selbst die Gala-Abende – unter freiem Himmel und in unmittelbarer Nähe des Nakdonggang-Flusses – stellen Publikumsmagneten wagemutig neben eher sprödes Autorenwerk. Wie eine krumm gebrannte Kerze schleppt sich etwa die Protagonistin in Zhanna Issabayevas „Nagima“ durchs Leben, einsam, ungeliebt, glücklos. Der kasachische Film erweist sich als Herausforderung für die Zuschauer: Kann man Empathie aufbringen für einen Menschen, der dumm, hässlich und nutzlos – aber eben dennoch: empfindsam – ist? Auch eine Zumutung: der koreanische Animationsfilm „The Fake“ von Yeon Sang-ho. Ein brutaler Dorfschreck und der junge Priester eines christlichen Kultes drangsalieren die tiefgutgläubigen Bewohner eines Provinzstädtchens: Ein guter Mensch, der lügt, um sein Ziel zu erreichen, und ein schlechter Mensch, der kein Ziel hat, aber als Einziger die Wahrheit sagt – so anregend kann ein Film sein ohne Hoffnung und ohne Antworten. Animation ist nur der neueste Wachstumsbereich in Koreas fruchtbarer Filmund TV-Industrie. Die staatliche Förderquote wurde zwar auf Druck der USA empfindlich beschnitten; schwierige Jahre folgten. Inzwischen steht die Branche aber wieder voll im Saft. Von den zehn erfolgreichsten Titeln an den Kinokassen 2013 stammen acht aus Korea. Doch die Nachbarn schlafen nicht. Vor allem in China wird Film nicht nur gepäppelt, sondern mit Zensur und Importschranken auch geschützt. Schon bald wird China der größte Kinomarkt der Welt sein: Jeden Tag, so Schätzungen, kommen dort zwölf neue Leinwände hinzu. Wang Jianlin, Chinas vermutlich reichster Geschäftsmann, will mit Investitionen von acht Milliarden US-Dollar die chinesische Hafenstadt Qingdao in einen Filmstandort verwandeln, der Hollywood in den Schatten stellt. Wird die überall spürbare Ausrichtung auf Chinas kraftstrotzenden Markt die Vielfalt asiatischer Filmkultur ausdünnen? In Hongkong, dessen Alltag und Kultur ohnehin immer mehr von Zentralchina bestimmt werden, ist das bereits zu beobachten. Die ehemals blühende Filmstadt ist ein Schatten ihrer selbst. Auch deshalb soll Busan noch mehr zur Plattform für ganz Asien werden. Demonstrativ (und zum Unwillen etlicher Busaner) eröffnete das Festival dieses Jahr nicht mit einer koreanischen Produktion, sondern mit einem Film aus Bhutan („Vara: A Blessing“) – dem Land mit dem wohl kleinsten Filmsektor der Welt. Krisenglück. „Concrete Clouds“ von Lee Chatametikool aus Thailand. Foto: Festival Der Wettbewerb wiederum präsentiert nur Debüts oder zweite Filme. Beiträge wie der Gewinner „Remote Control“ der Mongolin Byamba Sakhya, mit Unterstützung des Berliner World Cinema Fund entstanden, sind allerdings oft eher ein Versprechen auf die Zukunft als zwingend preiswürdig. Auch der Thailänder Lee Chatametikool, bislang als Cutter für Apichatpong Weerasethakul tätig, scheitert mit seinem unübersehbar an Wong-Kar Wai orientierten Liebesdrama vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise 1997 („Concrete Clouds“). Beide Filme, nicht untypisch für Frühwerke, bleiben hinter den Möglichkeiten einer guten Ausgangsidee zurück. Wenn es ein Thema gibt, das sich durch alle Sektionen zieht, dann sind das die enormen, oft unsichtbaren Ströme der Wanderarbeiter in Asien. Filme wie „Thuy“ (Vietnam) oder „Ilo Ilo“ (Singapur) destillieren daraus bewegende Einzelschicksale. Bemerkenswert aber vor allem: „Transit“ von Hannah Espia, eine Familiengeschichte aus dem Alltag philippinischer Arbeiter in Israel, deren Kinder häufig in Wohnungen versteckt aufwachsen, weil „illegale“ Kinder unbarmherzig ausgewiesen werden. „Transit“, „Remote Control“, „Nagima“ – Filme von Regisseurinnen sind erfreulich präsent. Nichts Neues dagegen die hohe Qualität der Genrefilme. Taiwan sorgt mit „Soul“ für Aufsehen, dem faszinierenden Psychothriller um einen alten Orchideenzüchter (Martial-Arts-Legende Jimmy Wang Yu), der das rätselhafte Verhalten seines Sohnes mit allen Mitteln zu vertuschen sucht, selbst als dieser die einzige Schwester ersticht. Die Feuchtigkeit, der Nebel des Bergdschungels scheinen geradezu von der Leinwand in den Saal zu kriechen. Weiterer Höhepunkt: Bong Joon-hos Sci-Fi-Thriller „Snowpiercer“. Koreas teuerster Film aller Zeiten (Kosten: 40 Mio. US-Dollar) spielt zur Gänze in einem seit 18 Jahren um die Welt rasenden Zug, der nach Einbruch einer neuen Eiszeit die letzten, autokratisch organisierten Reste der Menschheit beherbergt. Tilda Swin- ton, John Hurt und Ed Harris treten neben Stars aus Korea in Erscheinung. Ein koreanischer Film, basierend auf einem französischen Comic, in englischer Sprache: Solche Produktionen wird man künftig häufiger sehen. Wobei die Dystopie in „Snowpiercer“ verblüffend ähnlich angelegt ist wie jene in Neill Blomkamps „Elysium“ – nur wurde sie viel stringenter und fantasievoller umgesetzt. Hollywoods Entwurf, oder wohl genauer: Auswurf wirkt dagegen reichlich schwach. Bong („The Host“) ist ein Regiestar in Asien. Seine Anwesenheit sorgt, nachdem Danas sich verzogen hat, für einen weiteren Überraschungsgast, der das Festival durcheinanBongs derwirbelt. Quentin fulminante Tarantino, der wichtigste Botschafter Dystopie – des asiatischen Kiviel besser nos im Westen, als „Elysium“ nutzt kurz entschlossen die Gelegenheit, „endlich mal mit Bong abzuhängen“. Und Bong deutet mit entsprechender Geste an, dass es am Abend vorher feuchtfröhlich zugegangen sein muss. Und so endet das Fest mit einem unterhaltsamen Gipfeltreffen zwischen Fernost und Fernwest: Wie leidenschaftliche Filmnerds plaudern Bong und Tarantino über geliebte B-Movies der 70er Jahre. Amerikanisch, italienisch, koreanisch, chinesisch – Bong und Tarantino verschlangen stets alles, was sie zu fassen kriegten. Auch ohne Untertitel. DieHandlung zu den Bildern kann man ja selbst erfinden. Sebastian Handke Der Prager Frühling war 1962 noch eine ganze Weile hin. Der Kalte Krieg erreichte denHöhepunkt (Kubakrise!), die Kommunistischen Parteien im Warschauer Pakt verfolgten Abweichler mit unerbittlicher Strenge. In jenem Jahr schrieb der tschechischeKomponistMiloš Vacekein „komisches Singspiel“, dass die Machtanmaßung der Herrschenden pointiert aufspießen sollte: „Des Kaisers neue Kleider“, nach dem Märchen von Hans Christian Andersen. In der Tschechoslowakei durfte es nie aufgeführt werden. Jetzt hat die Komische Oper zugegriffen (Regie: Lydia Steier), und in gewisser Weise bleibt sie mit dieser Uraufführung ihrem eigenen Anspruch treu, für Kinder vor allem neu geschriebene Stücke zu präsentieren – auf der großen Bühne, denn das kleine Publikum soll genauso ernst genommen werden wie das große. Dem frisch gekürten „Opernhaus des Jahres“, dem kleinsten der drei Berliner Häuser, dürfte es auch leichter fallen, die Plätze zu füllen als der Deutschen Oper, die ihre Kinderreihe in der Tischlerei zeigt. Vacek hat in bester tschechischer Tradition, Smetana und Dvorák fortführend, süffige Melodien komponiert, die auf alten Volksweisen basieren; Uwe Sandner am Pult des Orchesters der Komischen Oper bringt sie mit Leidenschaft zum Blühen. Librettist Miroslav Homolka hat den Figuren von Andersens Märchen Namen gegeben: Der Kaiser heißt (in der deutschen Fassung von Ulrich Lenz) Maximilian von Eitelstein, wie er selbst ist auch sein Hofstaat versessen auf jede Form von Mode, die Zeit wird in Umkleidestunden gemessen. Vom morgendlichenAufstehritual des Kaisers bis zur finalen Unterhosenszene ist die Figur bei Carsten Sabrowski bestens aufgehoben. K8><JJG@<><CK@:B<KJ K_\Xk\i$le[Bfeq\ikbXjj\ `dKX^\jjg`\^\c$J_fg Askanischer Platz 3 (Anhalter Bahnhof), 10963 Berlin Öffnungszeiten: Mo. – Fr. 9.00 bis 18.00 Uhr Mit eigenem Kundenparkplatz! Bestellhotline (030) 290 21 – 521 Mo. – Fr. 7.30 bis 20.00 Uhr Sa. – So. 8.00 bis 12.00 Uhr [email protected] Seinezickige Tochter Culifinda (Cornelia Zink), die direkt Strauss’ „Salome“ entsprungen sein könnte, singt in biestigen Koloraturen. Als exaltierter Hofmeister mit pomadisiertem Haarbüschel erklärt Philipp Meierhöfer den Kindern im Publikum die Regeln: Auf die Begrüßung „Steht der Kragen?“ hat jeder zu rufen: „Kann nichtklagen!“. Stoffe und Tücher dominieren die Bühne (Benita Roth), hinter jedem Vorhang öffnet sich noch ein weiterer, der doch auch nur die geistige Leere verdeckt, die in diesem Reich herrscht. Das Ganze ist selbstredend auch eine Feier für den Kostümbildner. Alfred Mayerhofer muss man nicht zweimal bitten, er steckt den Chor in Halskrausen, Petticoats, Plateauschuhe, pappt den Sängern schlängelnde Bordüren an und setzt den Sängerinnen Hauben auf, die sich türmen und blähen wie das Opernhaus von Sydney. Eine grelle Angelegenheit also – aber bei aller Buntheit trotzdem merkwürdig verstaubt und angestrengt inszeniert, als versuche die Regisseurin vor allem, sich daran zu erinnern, was sie in ihrer eigenen Kindheit lustig fand. Störend auch die permanenten Breitseiten gegen gut angezogene Menschen. Klar, das Märchen will diehohle Hülle entlarven,die dahinterstecken kann. Trotzdem ist nicht jeder, der sich Gedanken darüber macht, wie er über die Socken-in-Sandalen-Ästhetik hinauskommt, eitel oder ein Idiot. Dazu kommt, dass das Stück vor der Pause mit recht viel starrem Hofzeremoniell ermüdet. Das ändert sich im kürzeren zweiten Teil. Da gackern elektronische Hühner auf der Wiese, das einfache Volk macht sich derb über „die da oben“ lustig, auch die Kinder sind stärker in die Inszenierung integriert. Für den zentralen Satz „Der Kaiser hat ja gar nichts an!“ wird ein Mädchen aus dem Publikum geholt. Dennoch bleiben Zweifel, ob „Des Kaisers neue Kleider“ wirklich für Kinder geeignet ist, vor allem wie empfohlen ab sechs Jahren. Vacek dürfte sein Singspiel, das als Parodie auf eine kommunistische Diktatur gedacht ist, möglicherweise gar nicht als Kinderoper konzipiert haben. Tragisch, dass der Komponist selbst die Uraufführung nicht mehr erleben konnte. Er starb 2012. Udo Badelt — wieder am 17. Oktober, 1., 5., 26. und 28. November, jeweils 11 Uhr