Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen

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Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen
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Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
Roswitha Badry
PL ISSN 0239-8818
HEMISPHERES
No. 28°, 2013
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen
Umbruchs – Bilderwelten aus dem ‚Arabischen Frühling’
Abstract
The messages and pictures which were transmitted during the 2011 ‘Arab Spring’ surprised
international observers as they were contrary to the stereotypical images of ‘Arabs/Muslims’
transported so far by mainstream international media. Based on photographic material
taken by both local activists and international news agencies and Tilly’s thesis of the social
movement repertoire and displays, this contribution sheds light on the physical and symbolic
role of the body (presentation of power and/or powerlessness) during the non-violent
uprisings as well as on the forms of representation and the choice of motifs. The gender
aspect is implicit in both principal questions.
Keywords: 2011 ‘Arab Spring’; (re-) presentation and perception; social movement repertoire
and ‘WUNC displays’; Orientalism / Occidentalism; counter-society / counter-culture.
1. Unerwartetes löst Irritationen aus – der ‚Arabische Frühling’ als
Ausgangspunkt für das ‚Jahr des Protestlers’
Die Welle an Massenprotesten, die seit Ende Dezember 2010 von Tunesien
ausgehend weite Teile der arabischen Welt überzog, kam sowohl für die lokal
Herrschenden als auch für die Weltöffentlichkeit überraschend. Sicherlich hatte
niemand den konkreten Auslöser und genauen Zeitpunkt dieses einschneidenden
Ereignisses1 voraussagen können. Gleichwohl waren die gesellschaftspolitischen
Missstände in der Region weithin bekannt, und der Unmut in der Bevölkerung
hatte sich bereits in den Jahren zuvor in kollektiven Aktionen Luft gemacht. Dennoch
hatte sich die Mehrheit der externen Analysten der Entwicklungen im Raum
Nordafrika, Nah- und Mittelost (im Folgenden MENA) eher Gedanken über die
Langlebigkeit der autoritären Regime gemacht als über die Entstehung sozialer
Bewegungen.2 Das Erstaunen war deshalb groß, als sich der Aufstand mit dem Ziel
1
Selbst wenn sich zwei Jahre später bei vielen Akteuren und Akteurinnen Ernüchterung oder gar
Desillusionierung über die ‚unvollendete Revolution‘ eingestellt hat (vgl. z.B. A. Bayat, „Revolution in
Bad Times“, New Left Review, Vol. 80, No. 2, March-April 2013 – http://newleftreview.org/II/80/asef
-bayat-revolution-in-bad-times – Zugriff am 06.06.2013), so sind die Ereignisse des Jahres 2011 dennoch
historisch betrachtet als wichtige Zäsur zu bewerten. H. Dabashi spricht sogar von einer ‚Zeitenwende‘
(Dabashi zitiert nach K. Brakel, „The Great Game 2.0 – veränderte Machtdynamiken im Nahen Osten
nach dem Arabischen Frühling“, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol. 25, No. 3, 2012, S. 42).
2
Vgl. etwa E. Bellin, „Reconsidering the Robustness of Authoritarianism in the Middle East“,
Comparative Politics, Vol. 44, No. 2, 2012, S. 127–149; oder: F.G. Gause III, „Why Middle East
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Roswitha Badry
eines fundamentalen Regime- bzw. Politikwechsels ausweitete, zum Sturz einiger
Potentaten führte und sogar zur Inspiration für ähnliche Erhebungen weltweit wurde.3
Die Botschaften und Bilder, die dank des regen Medieninteresses besonders im Jahre
2011 aus etlichen arabischen Ländern übermittelt wurden, waren ungewohnt. Sie
mögen bei vielen Beobachtern Irritationen ausgelöst haben, weil sie den bisher
mehrheitlich transportierten Klischees über ‚die arabische Straße’ diametral
widersprachen. Zu sehen waren friedlich demonstrierende Menschenmassen mit ganz
unterschiedlichen Lebenshintergründen, darunter selbstbewusst auftretende Frauen,
verschleiert wie unverschleiert, die eindringlich ein Leben in Würde, demokratische
Freiheiten, soziale Gerechtigkeit und ein Ende des innenpolitischen ‚business as usual’
forderten. Bereits 2003 hatte Asef Bayat in einem kurzen Artikel versucht,
Protestbewegungen in der arabischen Welt das Etikett der vermeintlichen
Andersartigkeit von vergleichbaren ‚westlichen’ Phänomenen zu nehmen. Sein
vorausschauendes Schlussplädoyer lautete: „The Arab street is neither «irrational»
nor «dead,» but is undergoing a major transformation caused both by old constraints
and new opportunities brought about by global restructuring.“4 Mehrere Detailstudien
der vergangenen Jahre haben ihrerseits die fortgesetzte Stereotypisierung mit Blick
auf Islam oder Muslime in konventionellen internationalen Medien herausgestellt.
Wesentliche Elemente des Negativ-Images sind demzufolge: Gewaltbereitschaft,
religiöser Fanatismus, Bedrohung des Westens; Rückständigkeit, Intoleranz,
Demokratieunfähigkeit, starres Festhalten an überkommenen Glaubenssätzen,
Unterdrückung der Frau bzw. Muslimin und deren bevorzugte Darstellung als Opfer.5
Diese weit verbreiteten Muster der Repräsentation und Perzeption wurden zumindest
zeitweilig – und auch höchstens partiell – durch die Berichterstattung im Laufe des
Jahres 2011 modifiziert; mittlerweile scheint sich aber wieder die bekannte
‚Darstellungstradition’ durchgesetzt zu haben.
Zum sog. ‚Arabischen Frühling’6 sind bereits zahlreiche Publikationen erschienen,
die u. a. die Hintergründe, den Verlauf und die lokalen, regionalen wie globalen Folgen
Studies Missed the Arab Spring: The Myth of Authoritarian Stability“, Foreign Affairs, Vol. 90, No.
4, 2011, S. 81–90.
3
Vgl. das US-Magazin „Time“, das den Protestler zur ‚Person des Jahres 2011‘ kürte (Vol. 178,
No. 25, Dec. 2011, S. 68f. mit einer ‚Protestlandkarte‘).
4
A. Bayat, „The ‘Street’ and the Politics of Dissent in the Arab World“, MERIP Middle East
Report, No. 226, Spring 2003, S. 17. – Es sei angemerkt, dass auch im ‚Westen‘ Protestbewegungen
lange Zeit als irrational und chaotisch galten.
5
Siehe z.B. Susan Schenk, Das Islambild im internationalen Fernsehen. Ein Vergleich der
Nachrichtensender, Al Jazeera English, BBC World und CNN International, Berlin: Frank & Timme,
2009, bes. S. 47–52 mit weiteren Literaturverweisen.
6
Der Begriff ‚Arabischer Frühling‘ ist irreführend, weil er fälschlicherweise die arabischen Welt
als Einheit begreift und suggeriert, es bestünden gemeinsame Ursachen, Kontexte und Wirkungen der
Proteste; tatsächlich sind diese aber je nach Land ganz unterschiedlich. Zudem hält diese Wahrnehmung
davon ab, nach größeren Zusammenhängen (Globalisierung u. a.) zu fragen. Ferner unterschlägt er
den Einfluss (direkte oder indirekte Intervention) externer Akteure, wie im Falle Libyens oder
Syriens. Und nicht zuletzt erinnert der Terminus ein ‚westliches‘ Publikum umgehend an den
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beleuchten.7 Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich dagegen mit einem in der bisherigen
Forschung weitgehend vernachlässigten Themenspektrum.8 Mit der Untersuchung von
Fotografien zu den Formen des gewaltlosen Widerstandes bietet er einen kleinen Einblick
in das reichlich vorhandene Bildmaterial. Die Analyse konzentriert sich auf folgende
Aspekte: Zum einen geht es um die Bedeutung des Körpers während der Erhebungen.
Welche Gestik, Mimik, Posen oder Rituale der Protestler werden abgebildet? Wie wird
die symbolische und physische Macht bzw. Ohnmacht des Körpers visuell
veranschaulicht? Zum anderen steht die Repräsentationsform und Motivauswahl im
Vordergrund der Betrachtung. Inwieweit unterliegen jene stereotypen Vorstellungen
vom Eigenen und Fremden, die durch wiederholtes Ablichten ‚Bilder im Kopf’
reproduzieren und weiter festschreiben – ob nun bewusst oder unbewusst? In beiden
Fällen ist zu beachten, dass es sich nicht nur um spontane Aufnahmen handelt, sondern
ebenfalls um von Aktivisten wie Beobachtern absichtlich medienwirksam ins Bild
gerückte Szenarien. Der Gender-Aspekt kommt in beiden Fragestellungen zum Tragen.
Die Auswahl der Fotografien beschränkt sich in erster Linie auf Ägypten und Jemen,
zudem auf die jeweiligen Hauptstädte, da mir hierzu Dokumente von Aktivisten vor Ort
zur Verfügung gestellt wurden. Die Aufnahmen aus Ägypten stammen von dem
Facebook-Auftritt von Timur El Hadidi, einem Ingenieur und GTZ-Mitarbeiter in Kairo;
einen Teil seiner Fotos konnte Timur bereits auf einer Ausstellung in Berlin präsentieren.9
Für die Herstellung des Kontaktes danke ich meiner ehemaligen Studentin Tina Eisele.
Die Bilddokumente aus Jemen habe ich durch Vermittlung von Frau Privatdozentin Dr.
erfolglosen ‚Prager Frühling‘. Zu den beiden erstgenannten Einwänden auch K. Dalacoura, „The
2011 Uprisings in the Arab Middle East: Political Change and Geopolitical Implications“, International
Affairs, Vol. 88, No. 1, 2012, S. 63; zur dritten Bemerkung ebenfalls N. Ardiç, „Understanding the
‘Arab Spring’: Justice, Dignity, Religion and International Politics“, Afro Eurasian Studies, Vol. 1,
No. 1, 2012, S. 9, und zum vierten Punkt ebenso N. Demerdash, „Consuming Revolution: Ethics,
Art, and Ambivalence in the Arab Spring“, New Middle Eastern Studies, Vol. 2, 2012, S. 2. – Trotz
dieser Einwände verwende auch ich der Einfachheit halber diesen Terminus, da er selbst in arabischen
Medien benutzt wird.
7
Aus der Vielzahl an Publikationen, von denen für diesen Beitrag nur ein Bruchteil verwertet wurde,
seien beispielsweise die folgenden Sammelbände herausgegriffen: Deutsches Orient-Institut (Hg.), Der
Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Berlin: DOI, (Sept.) 2011; Muriel Asseburg (ed.),
Protest, Revolt and Regime Change in the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy
Options, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012. Verwiesen sei zudem auf Sondernummern
von Zeitschriften wie British Journal of Middle Eastern Studies (Vol. 12, 2011), Globalizations (Vol. 8,
No. 5, 2011) oder Forschungsjournal Soziale Bewegungen (Vol. 25, No. 3, 2012).
8
S.a. J. Parviainen, „Choreographing Resistances: Spatial-Kinaesthetic Intelligence and Bodily
Knowledge as Political Tools in Activist Work“, Mobilities, Vol. 5, No. 3, 2010, S. 312: Die
‚traditionelle Forschung‘ habe sich hauptsächlich auf die Agenda oder Aktionen der sozialen
Bewegungen konzentriert; die symbolische und physische Macht, die sog. kinästhetischen Aspekte,
seien dagegen vernachlässigt worden.
9
Das Plakat zur Ausstellung findet sich ebenfalls in: T. Hadidi, Facebook: https://
www.facebook.com/timur.hadidi (Sept. 2012), Aufnahme 191653. (Es werden grundsätzlich nur die
ersten Ziffern einzelner Fotos erwähnt. Das Datum – bzw., wie in diesem Fall, der Zeitraum – des
Zugriffs auf die virtuellen Medien steht immer in runden Klammern nach der URL.)
8
Roswitha Badry
Elham Manea (Universität Zürich) aus der Facebook-Seite der Journalistin,
Schriftstellerin, Frauenrechts- und Bürgerrechtsaktivistin Arwa (Abdo) Othman
entnommen.10 Da ich selbst nicht zur ‚Facebook-Generation’ gehöre, ermöglichte
mir Herr Dr. Osama Gharibeh den Zugang zu diesem neuen Medium. Allen Beteiligten
bei dieser Bilderrecherche gilt mein aufrichtiger Dank. Das zum Vergleich
herangezogene Material internationaler Nachrichtenagenturen und Sendeanstalten
basiert ebenfalls auf der Sichtung einer großen Zahl an Fotos, die online einzusehen
waren. Ergänzend fließen meine eigenen Beobachtungen als regelmäßige Konsumentin
der Nachrichtensendungen nationaler und internationaler Fernsehkanäle, inklusive Al
Jazeera (Arabisch und Englisch)11, ein. Zur ersten Sichtung des Materials erschien
mir der Ansatz des US-amerikanischen Historikers und Sozialwissenschaftlers Charles
Tilly zum Repertoire und zur Performanz sozialer Bewegungen 12 am besten geeignet.
Seine Hauptthesen seien anschließend kurz vorgestellt.
2. Charles Tilly und seine Thesen zum Repertoire und zur Performanz
sozialer Bewegungen
Charles Tilly definiert eine soziale Bewegung (im Folgenden SB) wie folgt:
„A social movement is a sustained series of interactions between power holders
and persons successfully claiming to speak on behalf of a constituency lacking
10
A. Othman, Facebook: https://www.facebook.com/arwa.abdoothman (Nov. 2012). – Zu ihrem
Engagement siehe z. B. S. Al-Harazi, „Faces from Yemen’s revolution: Arwa Othman“: http://
shaza.171.wordpress.com/2011/08/08/faces-from-yemen’s-revolution-arwa-othman-by-shatha-alharazi/ (Zugriff am 04.02.2013); F. Darem, „Award Winning Yemeni Researcher Promotes Culture
and Tolerance“: http://al-shorfa.com/en_GB/articles/meii/features/main/2012/01/10feature-02 (Zugriff
am 04.02.2013). O. El-Saket, „At ‘Samar’ Regional Activists Tell Stories of Revolution“, AlMasry
AlYoum, English Edition, 13.05.2012: http://www.egyptindependent.com/print/836876 (Zugriff am
04.02.2013); Z. al-Kamali, „Yemen’s Women: Toppling Tradition“, Al Akhbar English, 10.10.2011:
http://english.al-akhbar.com/node/1023 (Zugriff am 04.02.2013).
Eine Kurzbiographie auf Deutsch findet sich (anlässlich des Internationalen Literaturfestivals in
Berlin 2009) unter: http://www.literaturfestival.com/teilnehmer/autoren/2009/arwa-abduh-othman
(Zugriff am 04.02.2013). – Es sei erwähnt, dass in diesem Aufsatz eine vereinfachte Transliteration der
arabischen Begriffe und Eigennamen verwendet wird, die auch Eingang in die Printmedien gefunden hat.
11
An der bedeutenden Rolle des arabischen Senders bei der Unterstützung der ‚Revolution’ in
einigen Staaten (den Republiken, nicht unbedingt in den Monarchien, schon gar nicht im benachbarten
Bahrain) besteht kein Zweifel (siehe z.B. Ardiç, Understanding the ‘Arab Spring’..., S. 21f.). Seit
2011 hält AJ zudem durch ständige Einspielung von Szenen der ‚Revolutionen’ (zur Frage, ob es sich
um Aufstände oder Revolutionen, im Sinne von Systemwandel, handelte, siehe Ibid., S. 11–14;
Roswitha Badry, „Ermächtigung von Frauen im Jemen? Zur potentiellen Dynamik sozialer
Bewegungen“, in: Geschlechtergerechtigkeit durch Demokratisierung? Transformationen und
Restaurationen von Genderverhältnissen in der islamischen Welt, Susanne Schröter (Hg.), Bielefeld:
transcript, 2013, S. 70) und durch mehrere Sonderprogramme die Erinnerung an die Ereignisse wach,
allerdings auch hier in der Regel mit der o. g. Einschränkung.
12
Zu sozialen Bewegungen existieren verschiedene Definitionen, Theorien und methodische
Ansätze. Einen guten Überblick auf Deutsch verschafft z.B. Mark Herkenrath (Die Globalisierung
der sozialen Bewegungen. Transnationale Zivilgesellschaft und die Suche nach einer gerechten
Weltordnung, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2011) in seinen einleitenden Kapiteln.
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
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formal representation, in the course of which those persons make publicly visible
demands for changes in the distribution or exercise of power, and back those
demands with public demonstrations of support.“13
Seinen historischen Studien zufolge ist die SB, so wie sie sich „im Westen“ seit
Mitte des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, durch das Zusammenspiel von drei
Elementen gekennzeichnet:14
a) Kampagne: anhaltende, organisierte öffentliche Anstrengungen mit kollektiven
Forderungen gegenüber den Ziel-Autoritäten;
b) Repertoire: Nutzung einer Kombination verschiedener Aktionsformen
(darunter Versammlungen, Kundgebungen, Demonstrationen, Petitionen,
Medienauftritte, Pamphlete);
c) „WUNC displays“, d.h. die Beteiligten demonstrieren gemeinsam öffentlich
„worthiness, unity, numbers, and commitment on the part of themselves
and/or their constituencies“,15 so z.B. durch die Präsenz von Müttern mit
Kindern oder von prominenten Persönlichkeiten, durch Transparente,
Abzeichen oder Stirnbänder, Unterschriftensammlungen und das Trotzen
gegen allerlei Widrigkeiten, inklusive Repression.
Die WUNC, die in Form von Verlautbarungen, Slogans, Emblemen oder Engagement
dargeboten werden und je nach Kontext ganz unterschiedliche Ausdrucksweisen
annehmen können, dienen der Selbstvergewisserung der Akteure über geteilte Werte
und Ziele, der Bildung einer „Wir-Identität“ und der Stärkung der Solidarität.
Tilly selbst, der 2008 verstarb, hatte den neuen (digitalen) Medien (Mobiltelefon,
Internet, Facebook, Twitter usf.) noch keine essentielle Bedeutung in der
Veränderung des SB-Repertoires beigemessen. Dennoch hatte er eingeräumt, dass
die internationale Vernetzung der Organisationen der SB sowie die internationale
Aufmerksamkeit samt Interventionschancen im Vergleich zum 20. Jahrhundert
angewachsen seien.16 Vielleicht hätte Tilly unter dem Eindruck der Ereignisse in
Iran 2009 und im Laufe des Jahres 2011 seine Meinung weiter revidiert. Denn
auch wenn die Kontroverse über den Beitrag der neuen Technologie auf die
Transformation von SB anhält, haben die jüngeren Entwicklungen doch zweifelsfrei
deren Potential bei Mobilisierung, Organisation, Koordination, Kommunikation,
Meinungsbildung und Meinungsaustausch unter Beweis gestellt. Freilich können
die virtuellen Medien nur eine ergänzende Funktion wahrnehmen; sie ersetzen weder
Charles Tilly, „Social movements and national politics“, in: Statemaking and Social Movements.
Essays in History and Theory, Charles Bright und Susan Harding (eds.), Ann Arbor: University of
Michigan Press, 1984, S. 306.
14
Charles Tilly und Lesley J. Wood, Social Movements, 1768–2008, Boulder und London:
Paradigm, 2009, S. 3f. und passim; Charles Tilly, „WUNC“, in: Crowds, Jeffrey T. Schnapp und
Matthew Tiews (eds.), Stanford: Stanford University Press, 2006, S. 289–306, bes. S. 291f.
15
Tilly und Wood, Social Movements, S. 4; s.a. Tilly, WUNC, S. 292.
16
Tilly und Wood, Social Movements, S. 97f., 106–108 (Warnung vor ‚simplem technologischen
Determinismus‘).
13
10
Roswitha Badry
die Präsenz im realen öffentlichen Raum noch traditionelle Netzwerke17 bzw.
‚Informationsbörsen’.18 Die moderne Medientechnologie hat den Aktivisten darüber
hinaus ein Mittel an die Hand gegeben, ihre mediale Selbstdarstellung selbst zu
organisieren (einschließlich der Option zur eigenen Mythenbildung oder der
manipulierten Demonstration von WUNC). Text-, Ton- und Bildmaterial wird auf
Webseiten einzelner Gruppierungen oder auf Video-Portalen gesammelt und online
gestellt. Und auch die konventionellen Medien recherchieren ihre Informationen
und Bilder zunehmend aus dem Internet. So wird ihr früheres Monopol gebrochen,
und es kommt zu einer interessanten, aber teilweise undurchschaubaren
Vermischung lokaler, virtueller und massenmedialer Räume.19
17
Dazu zählen neben familiären, kollegialen und nachbarschaftlichen Beziehungen (vgl. auch
etwa Wolfgang Kaschuba, „Von der ‘Rotte’ zum ‘Block’. Zur kulturellen Ikonographie der
Demonstration im 19. Jahrhundert“, in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der
Demonstration, Bernd J. Warneken (Hg.), Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 78) in
der arabischen Welt ebenfalls Taxis und Kaffeehäuser (M. Lim, „Clicks, Cabs, and Coffee Houses:
Social Media and Oppositional Movements in Egypt, 2004–2011“, Journal of Communication, Vol.
62, 2012, S. 231–248).
18
Zur Kontroverse über die Rolle der neuen Informations- und Kommunikationsmedien siehe
neben Lim, Clicks, Cabs ..., (u. a.) S. 231–235 (v. a. zu Nutzen und Funktion in Ägypten seit
Entstehen der Kifâya-Bewegung 2004) und Ardiç, Understanding the ‘Arab Spring’..., S. 19–22;
M. Lerner, „Connecting the Actual with the Virtual: The Internet and Social Movement Theory
in the Muslim World–The Case of Iran and Egypt“, Journal of Muslim Minority Affairs, Vol. 30,
No. 4, 2010, S. 555–574; H. H. Khondker, „Role of New Media in the Arab Spring“,
Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 675–679; B. Axford, „Talk About a Revolution:
Social Media and the MENA Uprisings“, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 681–686;
A. El-Difraoui, „Die Rolle der neuen Medien im Arabischen Frühling“, Bundeszentrale für
politische Bildung (bpb), Dossier 03.11.2011: http://www.bpb.de/internationales/afrika/
arabischer-fruehling/52420/die-rolle-der-neuen-medien (Zugriff am 15.08.2012); Asiem ElDifraoui, „No ‘Facebook Revolution’ but an Egyptian Youth We Know Little About“, in: Protest,
Revolt and Regime Change in the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy
Options, Muriel Asseburg (ed.), Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012, S. 18–
20; Katharina Milz, „Die Bedeutung Sozialer Netzwerke in der arabischen Welt“, KonradAdenauer-Stiftung, Juli 2011: www.kas.de/wf/doc/kas_23306–1522–1–30.pdf?110706153514
(Zugriff am 15.08.2012).
19
Kathrin Fahlenbrach, „Protest-Räume – Medien-Räume. Zur rituellen Topologie der Straße als
Protest-Raum“, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des
Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.),
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 106f. – Zur Wirkmächtigkeit älterer und
neuerer audiovisueller Medien und der Bedeutung von ‚Ritualen‘ (im Sinne ‚performativer
Handlungsmuster‘) und Bildern samt Möglichkeit der Inszenierung, Konstruktion, Manipulation
oder Simulation siehe: Anne Bartsch und Ingrid Brück und Kathrin Fahlenbrach, „Einleitung: Rituale
in den Medien – Medienrituale“, in: Medienrituale. Rituelle Performanz in Film, Fernsehen und
Neuen Medien, Kathrin Fahlenbrach und Ingrid Brück und Anne Bartsch (Hg.), Wiesbaden: VS
Verlag, 2008, S. 11–31.
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11
3. Ausgewähltes Fotomaterial zum Repertoire und zu den WUNC während
des ‚Arabischen Frühlings’
3.1. Konventionelle und unkonventionelle Aktionsformen kollektiven Protests
Kommen wir nun zum ausgewählten Fotomaterial. Da bei den Fallbeispielen
Tunesien, Bahrain und insbesondere Ägypten und Jemen von einer mehr oder weniger
lang anhaltenden kollektiven Protestaktion auszugehen ist, konzentrieren wir uns
nachstehend allein auf die von Tilly an zweiter und dritter Stelle genannten
Determinanten einer SB. Keine SB benutzt alle zur Verfügung stehenden
Aktionsformen.20 In der Regel kommt es zur Verbindung von Altem und Neuem bzw.
zur innovativen Weiterentwicklung bekannter Handlungsstrategien. Es sind vor allem
diese unkonventionellen Methoden, die Aufmerksamkeit erregen und ihre Wirkung
meist nicht verfehlen. Haben sich die Handlungspraxen bewährt, werden sie kopiert
und unter Umständen kontextbezogen modifiziert, andernfalls werden sie aufgegeben.
So auch im Falle des ‚Arabischen Frühlings’. Abgesehen von eher traditionellen
Märschen, Demonstrationen und Sit-ins wurden zwei maßgebliche Strategien
verwendet. Erstens ist die bereits oben angesprochene professionelle Nutzung der
neuen Medien zu nennen, hier vornehmlich durch die junge urbane Bildungselite. Sie
wird auf vielen Abbildungen sichtbar. Das Handy ist allgegenwärtig, für die jungen
Aktivisten ist es zum selbstverständlichen Accessoire geworden.21 Eine Aufnahme
aus Kairo macht das Zusammenspiel von Fernsehen, Internet und Mobiltelefon zum
einen und dem Geschehen auf der Straße zum anderen ganz deutlich:22 Ein Mann,
der von den Umstehenden auf die Schultern gehoben wurde, hält einen Laptop in
Händen, auf dem eben derselbe Protestzug gezeigt wird. Eine solche sichtbare
Rückkoppelung mit der massenmedialen Öffentlichkeit in Jetztzeit bestätigt den
Teilnehmern den erweiterten Wirkungsradius des eigenen instrumentellen Handelns
und dient somit der Stärkung des emotionalen ‚Wir-Gefühls’ 23, aber auch der
Selbstvergewisserung des Einzelnen wie des Kollektivs, Teil eines bedeutenden
Ereignisses zu sein. Die Selbstverbrennung des Tunesiers Muhammad Bouazizi am
17. Dezember 2010, die mehrheitlich als Initialzündung für den ‚Arabischen Frühling’
20
Vgl. die ‚198 Methoden des gewaltlosen Widerstandes‘, die von Gene Sharp (The Politics of
Nonviolent Action, 3 Vols., bes. Vol. 2: The Methods of Nonviolent Action, Boston: Sargent, 1973)
genannt werden.
21
Zu den Schätzungen über die (je nach Land stark variierende) Zahl der Handy-, Internet- und
Facebook-Nutzer siehe z.B. die landesspezifischen Angaben in dem vom DOI herausgegebenen
Sammelband (Der Arabische Frühling: Auslöser, ...). Das Mobiltelefon steht in allen Ländern an
absoluter Spitze.
22
Foto von Reuters mit der Nummer: 45POY2011RTR2IH4E. Vgl. auch Hadidi, Facebook,
Foto-Nr. 318742 (Personen bei Protestkundgebung, die ihre Handys hochhalten, um das Geschehen
zu dokumentieren).
23
Dazu z.B. Fahlenbrach, Protest-Räume – Medien-Räume ..., S. 102 (im Allgemeinen); oder (im
Besonderen) J. Butler, „Bodies in Alliance and the Politics of the Street“, European Institute For
Progressive Cultural Policies (eipc), Sept. 2011: http://eipcp.net/transversal/1011/butler/en (Zugriff
am 10.12.2012), bes. S. 8.
12
Roswitha Badry
gewertet wird, unterstreicht ebenfalls die Bedeutung der digitalen Medien. Diese
‚extremste und ultimative Form der physischen Intervention’24 aus Protest fand zwar
in der Öffentlichkeit vor dem lokalen Regierungsgebäude statt; der Verzweiflungsakt
konnte jedoch erst durch die Verbreitung von Fotos von der Selbstaggression über
das Internet25 zum Inbegriff für soziale Ungerechtigkeit, Machtlosigkeit gegenüber
staatlicher Willkür und Korruption sowie für die Perspektivlosigkeit der jungen
arbeitslosen No-Future-Generation insgesamt werden. Weitere Beispiele für
Selbstverbrennungen sind belegt26, zeitigten aber nicht dieselbe Wirkung wie die von
Bouazizi, da sie nicht online dokumentiert wurden. Bei jener ersten und zugleich
letzten Demonstration menschlichen Handlungsvermögens (agency) sind zumindest
zwei Aspekte bemerkenswert. Erstens erfolgte die Selbstverbrennung allem Anschein
nach nicht, wie im Falle der so oft diskutierten Selbstmordattentate, aus religiösen
Gründen, sondern aus Verzweiflung, Machtlosigkeit und Demütigung. Was Letzteres
betrifft, so wird in vielen Berichten27 herausgestellt, dass die Ohrfeige einer Polizistin
auf der Wache einer „Entehrung“ gleichkam. Zweitens stellte Bouazizi von seiner
Herkunft und Tätigkeit aus betrachtet eher einen ‚Anti-Helden’ dar – ein junger Mann
der Unterschicht, der erst durch seine Tat posthum zum ‚Helden und Märtyrer’ für
die gerechte Sache stilisiert wurde.
Ein weiteres Markenzeichen der jüngeren arabischen Protestkultur bildete die
physische und sinnbildliche Inbesitznahme zentraler öffentlicher Plätze der
Hauptstadtmetropolen in unmittelbarer Nähe zu Gebäuden, welche die staatliche Macht
verkörpern.28 Berühmtheit erlangten der Tahrir (wtl. „Befreiung“) in Kairo oder der
gleichnamige, von den Protestlern allerdings in Taghyir („Veränderung“) umbenannte
Platz in Sanaa. 29 Die Raumaneignung strategischer und symbolischer Orte im
Machtzentrum, ob nun durch das Marschieren durch wichtige Zufahrtsstraßen und
Boulevards oder Massenversammlungen auf öffentlichen Plätzen, zählt zu den bewährten
24
Cf. „Self-immolation: the ultimate symbol of protest?“, The Guardian, 07.03.2012:
www.guardian.co.uk/world/shortcuts/2012/mar/07/self-immolation-ultimate-symbol-protest (Zugriff
am 27.12.2012).
25
Axford, Talk About a Revolution …, S. 684; Khondker, Role of New Media …, S. 676.
26
Meines Wissens waren darunter aber keine Selbstverbrennungen von Frauen, obwohl diese aus
anderen Ländern der MENA-Region (Iran, Pakistan, Afghanistan) durchaus belegt sind – siehe R. F.
Worth, „How a Single Match Can Ignite a Revolution“, The New York Times, 21.01.2011: http://
www.nytimes.com/2011/01/23/weekinreview/23worth.html (Zugriff am 10.12.2012), wenngleich
sie aus anderen Gründen und Motiven und selten öffentlich erfolgten.
27
Sebastian Sons, „Vorwort“, in: Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. OrientInstitut (Hg.), Berlin: DOI, S. 2; Samira Akrad und Tugrul von Mende, „Tunesien“, in: Der Arabische
Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. Orient-Institut/DOI (Hg.), Berlin: DOI, 2011, S. 9; oder
auch ein über YouTube einzusehender Videoclip auf Arabisch: „Fîdiyû mu’aththar jiddan ‘an Bû‘azîzî
wa-thawrat Tûnis“ („Ein sehr wirksames Video über Bouazizi und die tunesische Revolution“):
www.youtube/com/watch?v=CyxtAQ3bmXO (Zugriff am 08.02.2013).
28
S. Rosiny, „The Arab Spring: Triggers, Dynamics and Prospects“, GIGA Focus International
Edition / English, No. 1, 2012: http://www.giga-hamburg.de/giga-focus (Zugriff am 05.09.2012), S. 5–6.
29
In beiden Ländern wurden übrigens auch in anderen größeren Städten ‚Zeltdörfer’ errichtet.
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
13
Strategien von SB. Die politische Botschaft einer solchen Selbstermächtigung ist
offenkundig: Die Demonstranten stellen durch ihre massive körperliche Präsenz und
die Umgestaltung des Territoriums mit ihren eigenen Symbolen, Ritualen,
Verhaltensweisen und Aussagen die Legitimität der etablierten Macht in Frage.
Mitgeführte Flaggen oder das Absingen der Nationalhymne inserieren, dass die
Teilnehmenden sich als der Nation zugehörig, gleichzeitig aber als deren wahre
Repräsentanten fühlen.30 Das außergewöhnliche und von globalisierungskritischen SB
(z.B. Occupy Wall Street) im selben Jahr übernommene Moment der Besetzung
öffentlicher Plätze betraf aber das Errichten von Zelten im Herzen der Metropole.
Tausende strömten auf die Plätze, und viele verbrachten dort Tage und Nächte – trotz
der Gefahren für Leib und Leben. Die hiermit einhergehende Vermischung von privater
und öffentlicher Sphäre implizierte in mehrfacher Hinsicht eine provokante
Grenzüberschreitung, einen Tabubruch, eine Chance wie eine Herausforderung. Sich
sichtbar im Zentrum der Macht zu platzieren und auszuharren, signalisierte auf Seiten
der Aktivisten Selbstbewusstsein, Entschlossenheit, Furchtlosigkeit und Durchhaltevermögen; für die staatlichen Autoritäten bedeutete es das Eindringen in das von
ihnen beanspruchte und mit ihren Emblemen ausgefüllte Territorium, eine Bedrohung
und einen Regelverstoß. Es überrascht deswegen nicht, dass der König von Bahrain
nach der militärischen Intervention des Golfkooperationsrates den ‚Perlenplatz’ in der
Hauptstadt Manama samt Zelten gewaltsam räumen und das Monument zerstören ließ,
das der Protestbewegung als zentraler Versammlungsort gedient hatte.31 Dass Frauen
und Männer von unterschiedlicher Alters-, Religions-, Schicht- und politischer
Gruppenzugehörigkeit zusammen die öffentlichen Plätze bevölkerten und als eine Art
Kommune umgestalteten und umfunktionierten, stellte ein Novum dar. Bezeichnenderweise versuchte der ehemalige Präsident des Jemen, Ali Abdallah Saleh, die konservativen
Kräfte für sich zu gewinnen, indem er den Frauen in der Zeltstadt unmoralische
Verbindungen zu den dortigen Männern unterstellte – ein ‚Schuss’, der nach hinten
losging. Die Diffamierten wiesen die Anschuldigungen strikt von sich, erachteten jene
als ‚Ehrverletzung’, reagierten mit Demonstrationen und erhielten unerwartete
‚Schützenhilfe’ durch ein Rechtsgutachten, das ihr Verhalten mit einer religiös30
Siehe generell z.B. Bernd J. Warneken, „‘Die Straße ist die Tribüne des Volkes.’ Ein Vorwort“,
in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration, Bernd Jürgen Warneken (Hg.),
Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 10–12; David Sittler, „Die Straße als politische
Arena und Medium der Massen: St. Petersburg 1870–1917“, in: Straße als kultureller Aktionsraum:
Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis,
Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 113, 119, 127,
134; Kaschuba, Von der ‘Rotte’ zum ‘Block’ ..., S. 80f., 83, 84 (zur Schaffung einer Gegenöffentlichkeit,
eines Gegenentwurfs zur alten Ordnung).
31
A. Baker, „Disappearing Dissent: How Bahrain Buried Its Revolution“, Time, 29.11.2011:
http://world.time.com/2011/11/29/disappearing-dissent-how-bahrain-buried-its-revolution/ (Zugriff
am 27.12.2012). Zur Zeltstadt in Manama und der ‘Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik’ des Regimes
s.a. Jakob Pupke, „Bahrain“, in: Der Arabische Frühling: Auslöser, Verlauf, Ausblick, Dt. OrientInstitut (Hg.), Berlin: DOI, 2011, S. 174–176.
14
Roswitha Badry
-rechtlichen Legitimation versah.32 Ein weiterer Tabubruch bezog sich auf die zuweilen
demonstrierte ausgelassene Atmosphäre: ‚Volksfeste’ im urbanen Zentrum mit Musik,
Tanz, Theater und anderen kulturellen Darbietungen und Angeboten haben in arabischen
Großstädten keine Tradition. 33 Das gemeinsame Gebet war demgegenüber zwar
eindrucksvoll, nicht aber innovativ, wenn man einmal von dem gegenseitigen Schutz
der muslimischen und koptischen betenden Gemeinde in Ägypten absieht. Die riesigen
Menschenansammlungen auf den zentralen Plätzen boten den Aktivisten dank des
internationalen Medieninteresses zwar einerseits eine zusätzliche Möglichkeit zur
Selbstdarstellung und -ermächtigung, stellten sie jedoch andererseits vor enorme
Herausforderungen. Mehr noch als bei Großdemonstrationen waren Disziplinierung
des Körpers, Anpassungsfähigkeit und organisatorisches Können erforderlich. Mit der
Bereitstellung einer rudimentären Infrastruktur (mit sozialen Dienstleistungen für die
Sicherheit, Verköstigung, medizinische Erstversorgung der Demonstranten oder für
die Straßenreinigung34) bewiesen sie nicht nur Einfallsreichtum und logistisches Talent,
sondern vor allem, dass eine alternative Gesellschaft mit einfachen Mitteln erreicht
werden könnte. Judith Butler hat in einem Vortrag in Venedig (2011) diesen Aspekt
des gesellschaftlichen, teilweise geselligen Miteinanders mit Ansätzen zu einer gendergerechten Arbeitsteilung als besonders beeindruckend bzw. zukunftsweisend
hervorgehoben. 35 Gleichwohl deutet das Fotomaterial darauf hin, dass dieses
innovatorische und kreative Potential in erster Linie dem Engagement eines Segments
der städtischen Jugend (bzw. den ‚Bewegungsunternehmern’36 in der Anfangsphase
der Erhebung) zu verdanken war. Falls Passanten auf den Bildern zu sehen sind, z.B.
bei der Müllbeseitigung, so wirken diese eher desinteressiert oder wenig beeindruckt.
Zuweilen ist ein bewusster Inszenierungscharakter nicht auszuschließen. Wie dem
auch sei: Die Schaffung eines Gegenentwurfs in Mikroformat zum maroden staatlichen
System, zu dessen Sturz eindringlich aufgerufen wurde, war für die jugendliche
Bildungselite auch mit dem Wunsch verbunden, sich als Teil einer kosmopolitisch
orientierten, globalen Jugendkultur zu präsentieren und als solche wahrgenommen
zu werden.37
Eine Mischung aus konventionellem und unkonventionellem Repertoire ist ebenfalls
für die Demonstration der WUNC festzustellen. Die Würdigkeit des Unterfangens
Dazu ausführlicher: Roswitha Badry, „Still a Useful Tool of Official ‘Rhetorical
Counterinsurgency’? Remarks on the Recent Re-emergence of the ‘fitna-fasâd Topos’“, Paper read
in Basel, UEAI 26, 14.09.2012 (eingereicht für die Proceedings der Konferenz).
33
Zumindest nicht in der ‚Moderne‘. Man denke aber z.B. an das Kairo der Fatimiden-Ära.
34
Siehe dazu mehrere Fotos der Aktivisten, darunter: Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 166600 (Patrouille
bei Nacht im eigenen Wohnviertel), 168661, 179626, 308712 (Straßenreinigung), 282134 (‚Friseur
der Revolution‘); Othman, Facebook, Foto-Nr. 283728, 598914 (‚medizinisches Komitee‘); 550875,
556647 (Straßenreinigung).
35
Butler, Bodies in Alliance …, S. 6.
36
Unter ‚Bewegungsunternehmern’ werden in der SB-Forschung die Schlüsselpersonen
verstanden, die für Organisation, Kooperation und Wahl der Strategien zuständig sind.
37
So auch Ardiç, Understanding the ‘Arab Spring’…, S. 19.
32
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
15
manifestierte sich u. a. in den weitgehend friedlich verlaufenden Massenaufmärschen,
bei denen die Hauptforderungen (darunter ein Leben in Würde, karâma) skandiert
oder auf mitgeführten Transparenten und Plakaten (zum Teil mehrsprachig für das
internationale Publikum) angezeigt wurden; in der alles in allem bewusst dezent
gehaltenen Kleidung; in der Teilnahme von Müttern, aber auch Vätern mit ihren
Kindern sowie von Prominenten, darunter Hochbetagten38 , aus verschiedenen
Gesellschaftsbereichen. Außergewöhnlich waren insbesondere folgende Aspekte: Wie
Butler unterstreicht, gehörten dazu die ständigen Appelle, den friedlichen Charakter
der Demonstrationen trotz gewaltsamer Übergriffe, Provokationen und Bedrohungen
durch die Staatsgewalt und gedungene Handlanger („thugs“, baltajiyya) des Regimes
zu bewahren. Die entsprechenden Aufrufe sind für Butler deswegen so bezeichnend,
da sie nicht etwa zu Aktionen anstacheln, sondern sie vielmehr vermeiden wollten,
also Selbstkontrolle einforderten und Zurückhaltung anmahnten.39 Ein Foto aus dem
Jemen40 mag dies bestätigen, gleichzeitig aber auf Betrachter von außerhalb der
Gesellschaft irritierend wirken. Die Aufnahme zeigt einen Protestzug, bei dem ein
Schild mit der Aufschrift „silmiyya“ („friedlich“) hochgehalten wird. Ein Mädchen
geht voran, es folgen Jungen und Männer, Fahnen und Schärpen in den Nationalfarben
stehen für ein Anliegen im Interesse des Allgemeinwohls. Während die Knaben
Spielzeuggewehre mit sich führen, trägt der Mann mit dem Schild einen Krummdolch
– das traditionelle Kennzeichen der Mannesehre im Jemen, auf das keiner freiwillig
verzichten würde, das aber heutzutage mehr als Accessoire dient denn zur
Selbstverteidigung oder zum Angriff – es sei denn, es handelt sich um junge
‚Draufgänger’. Das eigentlich Sensationelle an dem Foto ist deshalb, dass die Jungen
keinen Dolch tragen, obwohl die Tradition ihnen dies zugestehen würde. Andere
Aufnahmen, ebenfalls aus dem Jemen, sind eindeutiger: Eines41 zeigt die ‚friedfertige
Jugend’, mehrheitlich Männer und Jungen, aber auch drei junge Frauen; sie sitzen
vor einem Transparent, das an den Zeitpunkt des Ausbruchs der ‚Revolution’ und an
einen der Hauptslogans (‚Das Volk will den Sturz des Regimes’ – al-sha‘b yurîd
isqât al-nizâm) erinnert. Bei einer Aufnahme von Arwa42 ist es eine Gruppe tief
So z.B. die bekannte Feministin und Buchautorin Nawâl al-Sa‘dâwî, nunmehr über 80 Jahre alt.
Butler, Bodies in Alliance …, S. 6–7.
40
Foto von Abdulrahman Jaber mit dem Titel „Silmiyya“. – Vgl. auch zahlreiche Bilder aus dem
‚jemenitischen Frühling 2011‘, auf denen Frauen und Kinder mit Symbolen der Friedfertigkeit (Blumen,
Herzen) abgelichtet sind.
41
Die Aufnahme findet sich unter mehreren Fotos, die Frauen und Männer gemeinsam bei
Protestaktionen im Jemen zeigen: http://www.nabanews.net/upload/Image/Revolution%2520Ye/
tagheer%2520(4)jpg (Zugriff am 05.08.2013). Der dazugehörige Artikel in Nab⒠Nyûz vom 17.04.2011
trägt den Titel: „Bi-l-suwar ... thawrat al-ikhtilât wa-harq al-niqâb yufajjiruhâ islâmiyyû l-Yaman“
(etwa: „In Bildern ... Die Revolution wider die Geschlechtersegregation und die Verbrennung des
Gesichtsschleiers spaltet die Islamisten des Jemen“). Zum Hintergrund (Ansprache von Ali Abdallah
Saleh zum „Verbot der Mischung der Geschlechter“/man‘ al-ikhtilat auf öffentlichen Plätzen während
der Aufstände Anfang 2011, s.o. Anm. 32: Verweis auf Vortrag Badry, Still a Useful Tool...).
42
Othman, Facebook, Foto-Nr. 282956.
38
39
16
Roswitha Badry
Verschleierter, die Gewaltlosigkeit einfordert. Ihre Hände sind zum Teil ineinander
verschlungen und mit Bändern in den Nationalfarben versehen. Eine unsichtbare
Person hält ein einfaches rosafarbenes Plakat hoch, auf dem zu lesen ist: ‚Wir sind
die Frauen der Freiheit. Unsere Revolution ist eine friedliche.’ Im Hintergrund sind
Zelte und eine Reihe von Männern als stille Beobachter der Szene zu sehen.
Dass trotz der prekären Situation und bei aller Nüchternheit würdevollen Auftretens
auch der Humor nicht fehlen muss, belegen z.B. mehrere Fotos von Timur. Ägypten
ist bekannt für seine politische Witzkultur. In den ersten Wochen des Aufbegehrens
kamen Hunderte von ‚Jokes’ über Mubarak in Umlauf, die nicht zuletzt über das
Internet verbreitet wurden.43 Nachdem der Präsident in seiner zweiten öffentlichen
Ansprache erneut einen Rücktritt abgelehnt hatte, kam die Idee auf, ihm die
Forderung, zu gehen (‚Irhal!’ – einer der berühmten Slogans der ‚Revolution’), auf
andere Weise verständlich zu machen. Auf der entblößten Brust eines jungen Mannes
(in einem auch sonst außergewöhnlichen ‚Outfit’) stand geschrieben: ‚Das Papier ist
ausgegangen! Was verlangst Du noch?’ Und auf seinem Rücken war zu lesen: ‚Hau
endlich ab! Mir ist kalt!’ 44 Ein anderer Mann mittleren Alters posierte als
Fußballschiedsrichter mit Trillerpfeife45 und verwies gleich zweisprachig Mubarak
vom ‚Platz’, denn ‚das Volk entscheide’. Und schließlich bot ein weiterer Mann etwa
desselben Alters mit breitem Lächeln die ‚Eilnachricht’ an: ‚Mubarak bleibt im Palast
der Republik hocken, bis das Volk abhaut!’46 Ähnlich spielerische, ja karnevalistische
Elemente fanden sich bei einigen ägyptischen Aktivisten, wenn es darum ging, das
Zusammengehörigkeitsgefühl zum Ausdruck zu bringen.
Im Allgemeinen wird Einheit durch die Geschlossenheit der Reihen bei
Demonstrationen, durch Abzeichen und Embleme, Kopf- und Stirnbänder, Flaggen
und Banner dokumentiert bzw. suggeriert. Die Präsentation des ‚symbolischen
Kollektivkörpers’47 bei Aufmärschen oder Menschenketten mit überdimensionaler
Flagge48 zielt gemeinhin weniger auf die lokalen Zuschauer und Passanten auf der
Straße als auf das Medienpublikum. Da dieser visuelle Protest-Kode unabhängig von
Speziell zu Ägypten siehe den Aufsatz von I. Mersal, „Revolutionary Humor“, Globalizations,
Vol. 8, No. 5, Oct. 2011, S. 669–674. Zum kreativen und spielerischen Umgang mit Symbolen in
Protestbewegungen im Allgemeinen vgl. z.B. Gottfried Korff, „Symbolgeschichte als Sozialgeschichte?
Zehn vorläufige Notizen zu den Bild- und Zeichensystemen sozialer Bewegungen in Deutschland“,
in: Massenmedium Straße: zur Kulturgeschichte der Demonstration, Bernd J. Warneken (Hg.),
Frankfurt, Main und New York: Campus, 1991, S. 19, 30.
44
Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 168616, 180474, 180364.
45
Ibid., Foto-Nr. 167108. – Es gibt noch weitere Aufnahmen dieser Art mit Fußballsymbolik.
Diese Fotos können auch als Würdigung des Beitrags der Fußballfans von Kairo gedacht sein, die als
jüngst Politisierte eine starke Fraktion unter den Protestlern bildeten. Zu den Fußballfans kurz Lim,
Clicks, Cabs ..., S. 242.
46
Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 180353.
47
Zu diesem Begriff siehe Fahlenbrach, Protest-Räume – Medien-Räume..., S. 98, 103; zur
überdimensionalen Flagge: Ibid., S. 105.
48
Beispiele für Menschenkette mit überdimensionaler Nationalflagge: Hadidi, Facebook, FotoNr. 405647, 425915.
43
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
17
Kultur und Sprache zu verstehen ist, wird er nicht nur von Organisatoren der Proteste
gerne in Szene gesetzt, sondern ebenso gerne von internationalen Medienanstalten
übernommen. Bilder dieser Art vom ‚Arabischen Frühling’ sind dem Außenstehenden
wohl vertraut. Einige Fotografien der lokalen Aktivisten geben dagegen erneut einen
Eindruck vom Einfallsreichtum und der Ausgelassenheit beim Bekunden von
Verbundenheit und Solidarität. Mehrere Bilder zeigen die Nationalflagge in
verschiedenen Varianten auf Gesicht oder Händen in der Form eines Tattoo oder
modischen Accessoires. Ein Ägypter (am Mobiltelefon) hat sich die drei Nationalfarben
in Herzform auf die Stirn gemalt49, Kinder tragen sie wie beim Fasching auf das
Gesicht verteilt50, Frauen bevorzugen die Dekoration der Hände. Zeitweise wurde es
in einer Laune der Siegeszuversicht zur Mode, die Flaggen der Länder, in denen es
bereits zum Sturz des Potentaten gekommen war, auf die Handflächen oder
Handrücken zu malen.51 Ein Ägypter hatte sich als Kopfbedeckung einen quadratischen
Aufbau aus Pappmaché in den Nationalfarben mit allerlei beschriebenen Zetteln
obenauf gewählt, um die Forderungen der ‚Entrechteten’, dargestellt in Form von
Händen, die aus dem Kasten hervorschauen, kundzutun.52 Dem Aufruf zu Toleranz
und gegenseitigem Respekt zwischen Kopten und Muslimen dienten emblematisch
Halbmond und Kreuz, darunter auf T-Shirts.53
Die große Zahl der an den Protestaktionen Beteiligten54 und das enorme Engagement
wurden bereits im Zusammenhang mit der Raumaneignung öffentlicher Plätze und der
Selbstorganisation angesprochen. Mit Blick auf das ‚Commitment’ seien noch zwei
Aspekte ergänzt, welche die körperliche Hingabe der Akteure, aber auch deren
Verletzbarkeit veranschaulichen. Der erste betrifft das Ausharren trotz ungünstiger
Wetterbedingungen, das besonders für die Proteste im Jemen galt, die sich über das
ganze Jahr 2011 verteilt hinzogen. Aufnahmen zeigen die Zeltstadt unter Wasser und
Demonstranten, die sich mit Hilfe von Schirmen vor extremer Hitze zu schützen wissen.
Opfer von gewaltsamen Übergriffen staatlicher Sicherheitskräfte werden mit
Ibid., Foto-Nr. 180468.
Ibid., Foto-Nr. 294833; s.a. Jungen mit Gesichtsmasken (wie ein ‚Musketier‘) in den
Nationalfarben: Ibid., Foto-Nr. 167112.
51
Vgl. „women-arab-spring-hands.jpg“ (Foto in Artikel von M. Khawaja, in Arabian Gazette
vom 26.07.2011) und „Women-Protesters-Flag-Hands.jpg“ (Foto in Artikel von A. Marwan, in
Bulletin of the Oppression of Women vom 08.06.2012 – beide: letztmaliger Zugriff am 07.08.2013).
Andere Handflächen waren mit Slogans der Revolution (Irhal) oder solchen der Siegeszuversicht
(sa-nantasir/‚Wir werden siegen‘; al-nasr li-l-sha‘b/‚Der Sieg gehört dem Volk‘) beschrieben.
52
Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 300478.
53
Ibid., Foto-Nr. 167103, 168955.
54
Die Zahlen sind ohne Frage an der Gesamtbevölkerung zu messen. Waren es in Kairo (der
Großraum der Hauptstadt wird von über 19 Mio. Menschen bewohnt) bis zu etwa einer Mio., so in
Bahrain etwa 100.000 – eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die einheimische Bevölkerung
von Bahrain kaum 1 Mio. beträgt. Zu den Zahlenangaben für Bahrain: Katja Niethammer, „Calm and
Squalls: The Small Gulf Monarchies in the Arab Spring“, in: Protest, Revolt and Regime Change in
the Arab World: Actors, Challenges, Implications and Policy Options, Muriel Asseburg (ed.), Berlin:
Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), 2012, S. 15; für Kairo: Lim, Clicks, Cabs..., S. 235.
49
50
18
Roswitha Badry
unterschiedlicher Dramatik ins Bild gesetzt. Internationale Medien, aber auch einige
politische Gruppierungen über online gestellte Video-Clips, schrecken in der Regel
weniger davor zurück, selbst Bilder extremer Brutalität zu übermitteln, um die Emotionen
zu schüren. Unsere beiden Aktivisten erlegen sich hier größere Zurückhaltung auf.
Geschundene Körper, Drohkulissen (z. B. Rauchschwaden, Panzer, Polizeisperren)
oder Überbleibsel der gewaltsamen Zusammenstöße (Munitionshülsen o. ä.)55 werden
zwar abgebildet, machen aber insgesamt nur einen Bruchteil der visuellen Dokumentation
aus. Einige Aufnahmen aus Ägypten versuchen den Ernst der Situation zu überspielen,
indem sie zeigen, wie die Protestler meinten, sich gegen mögliche oder tatsächliche
Angriffe der‚ Ordnungshüter’ schützen zu können: Mundschutz, Sprüh- und
Wasserflasche, Gasmaske oder gar Schwimmbrille.56 All das bezeugt ein weiteres Mal
das Bestreben, potentiellen Gefahren und Ängsten mit Persiflage, Parodie oder
Überzeichnung zu begegnen. Furchtlosigkeit kommt auch an anderer Stelle zur Geltung.
Ein Foto von Timur zeigt, wie in der Mehrzahl Frauen, aber auch einige Männer,
schnurstracks und entschlossen auf eine Polizeisperre zulaufen.57 Die Abbildung steht
in absolutem Gegensatz zur herkömmlichen ‚Darstellungstradition’, die Frauen eher
die Rolle des passiven Opfers zuspricht. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang
auch eine Aufnahme aus Bahrain. Zu sehen sind zwei wagemutige junge Männer, der
eine mit entblößtem Oberkörper, der andere mit T-Shirt, die sich mit ausgestreckten
Armen unerschrocken den anrollenden Panzern (der vom Golfkooperationsrat entsandten
Truppen) gegenüberstellen.58 Das Foto erinnert an den berühmten, aber gleichfalls
namenlosen ‚Tank Man’ in Peking 1989, der sich einen Tag nach der Zerschlagung der
Proteste und dem Massaker auf dem Tiananmen-Platz den entgegenkommenden Panzern
in den Weg gestellt hatte. Die Szene erlangte wegen der Verbreitung über Internet
außerhalb Chinas Berühmtheit; in China selbst gelang es der Regierung, mit Hilfe
geeigneter ‚Filter’ (Zensurmaßnahmen), die Erinnerung an den ‚Tank Man’ aus dem
kollektiven Gedächtnis zu löschen.59 Das Foto aus Bahrain belegt mithin die (potentielle)
Transzendenz von Zeit, Raum und Ort, die für die neuzeitliche Globalisierung so
kennzeichnend ist. Damit verbunden stellt sich die Frage, in welchem Maße überhaupt
noch kulturspezifische Facetten in zeitgenössischen SB auszumachen sind.
3.2. Kulturübergreifende und kulturspezifische Protest-Kodes
Das eingangs und gerade eben angesprochene Phänomen des beschleunigten
‚transnationalen Wechselspiels’60 bzw. transkulturellen Austausches lässt sich an einem
Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 168178, 169054, 307412, 383231.
Ibid., Foto-Nr. 375384, 383890, 386402.
57
Ibid., Foto-Nr. 168484.
58
Siehe Aufmacher-Foto unter: http://www.jadaliyya.com/pages/index/9539/call-forpapers_geographies-of-gender-in-the-arab- (Zugriff am 05.08.2013).
59
Parviainen, Choreographing Resistances …, S. 317, 323.
60
Zu diesem Ausdruck siehe z.B. Sebastian Schröer, „Die HipHop-Szene als ‚Kultur der Straße’?“,
in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes an der
Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaft, 2009, S. 64.
55
56
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
19
weiteren Beispiel aufzeigen. Es bezieht sich auf eine ursprünglich im arabischen
Raum angesiedelte Geste des Missfallens, der Beleidigung und Verachtung, die sich
nach dem berühmt gewordenen Vorfall bei einer Pressekonferenz in Bagdad Mitte
Dezember 2008 im MENA-Raum wie auch weltweit als Protestsymbol verbreitet
hat. Gemeint ist das Werfen von Schuhen bzw. das Wedeln mit oder Zeigen der
Schuhsohle.61 Während des ‚Arabischen Frühlings’ wurde es als Unmutsbekundung
gegenüber Mubarak oder Vater (Mu‘ammar) und Sohn (Saif al-Islâm) Gaddafi
verwendet.62 Schließlich griffen sogar deutsche Demonstranten die Geste auf, als sie
Anfang 2012 gegen den Verbleib von Christian Wulff im Amt des Bundespräsidenten
vor dessen Amtssitz in Berlin protestierten.63 Andere Gesten, die von Europa aus ihre
‚Reise’ in die Welt angetreten sind, umfassen Symbole der Siegesgewissheit (VZeichen), der Kampfbereitschaft, Solidarität und Unterstützung (geballte Faust) oder
des Erwachens (Frühlingsmetaphorik, Verteilen von Blumen).64 Auch wenn sie im
westlichen Kontext wegen der Beliebigkeit und Instrumentalisierung durch die
‚Mächtigen’ (C. Wulff, J. Ackermann o. ä.) eher lächerlich wirken mögen – während
der Proteste im arabischen Raum hatten sie ihre Bedeutung als Zeichen der
gegenseitigen Vergewisserung eines Großteils der Akteure und als Botschaft an die
Außenwelt noch nicht verwirkt. Zumindest wird dieser Eindruck auf zahlreichen
Aufnahmen der Involvierten vermittelt. Wenn überhaupt, so lassen sich
‚kulturspezifische’ Momente am ehesten an Bekleidungs- und Verhaltensformen oder
religiösen Ritualen erkennen, die aber ebenso als Spiegelbild des bzw. Anpassung an
den gesellschaftlichen Kontext zu deuten sind. Dass sich Proteste während des
‚Arabischen Frühlings’ oft im Anschluss an das Freitagsgebet oder im Zusammenhang
mit Leichenprozessionen entwickelten, stellte in der Tat kein neues Phänomen bei SB
dar; vielmehr sind sie als ‚situationsbedingte Handlungsmuster’65 zu werten. Erinnert
sei z.B. an die Proteste in der ehemaligen DDR 1989/90. Die Verbindung politischer
Aktionen mit sakralen Elementen dient in autoritären Systemen auch dazu, eigentlich
untersagten Protestbekundungen eine ‚schutzwürdige Aura’ zu verleihen. 66 Einen
ähnlichen Effekt verspricht man sich in der Regel von der Präsenz von Frauen und
Kindern. Die besonders oft bei den Protesten in Sanaa abgebildete Ganzkörperverhüllung wäre auch als spezifische Form der Vermummung zu deuten, da eine
eindeutige Identifizierung der Person ja schwerlich möglich ist. Aus Geschichte wie
Zu diesem Phänomen ausführlich, wenngleich noch vor den Ereignissen von 2011: Y. Ibrahim,
„The Art of Shoe-throwing: Shoes as a Symbol of Protest and Popular Imagination“, Media, War &
Conflict, Vol. 2, No. 2, 2009, S. 213–226.
62
Im Fall Libyen warf man die Schuhe während der Übertragung der Fernsehansprachen der
Gadafis auf eine Großleinwand in Benghazi.
63
R. Roth, „Vom Gelingen und Scheitern sozialer Bewegungen“, Forschungsjournal Soziale
Bewegungen, Vol. 25, No. 1, 2012, S. 30.
64
Vgl. u.a. folgende Fotos von Arwa (Othman, Facebook, Foto-Nr. 246566, 389744, 531036,
539874, 557615, 560635) und Timur (Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 302855, 403062).
65
Warneken, ‘Die Straße ist die Tribüne ...’, S. 10.
66
Ibid., S. 9.
61
20
Roswitha Badry
Gegenwart 67 sind zumindest durchaus Fälle belegt, in denen sich Männer
traditioneller Frauenkleidung bedienten, um sich in Sicherheit zu bringen. Eine solche
Lesart widerspricht allerdings der Symbolik, die ‚dem Schleier’ gewöhnlich im
‚westlichen‘ Islam-Diskurs zugeschrieben wird. Unabhängig davon haben die
Ereignisse während des ‚Arabische Frühlings’ verdeutlicht, dass der Verhüllungsgrad
zwar je nach Kontext unterschiedlich war, aber keineswegs Frauen verschiedener
Alters-, Schicht- oder Gruppenzugehörigkeit von der Beteiligung an der friedlichen
Protestbewegung abgehalten hat.
3.3. Gender-spezifische Unterschiede? Zum Beitrag von Frauen am ‚Arabischen
Frühling’
Insgesamt betrachtet sind keine signifikanten Unterschiede zwischen der Beteiligung
von Frauen und Männern am ‚Arabischen Frühling’ festzustellen, auch wenn der
jeweilige Anteil nicht genau zu beziffern ist.68 Frauen wie Männer waren gleichermaßen,
ob nun erstmals politisch aktiv oder mit politischer Erfahrung, in das Geschehen
involviert. Frauen haben an den verschiedenen gewaltlosen Protestformen partizipiert,
diese mit organisiert, darüber berichtet, Interviews gegeben, mitdiskutiert, Ansprachen
gehalten. Mehr als bei früheren SB in der MENA-Region (darunter nationale
Befreiungsbewegungen Anfang des 20. Jahrhunderts oder Studentenrevolten in den
1970er Jahren) waren sie somit maßgeblich präsent und angreifbar. Viele riskierten,
verbalen und physischen Angriffen ausgesetzt, inhaftiert, gefoltert oder gar getötet
zu werden. Neben den vielen Namenlosen erlangte eine Reihe tatkräftiger Frauen
lokale, regionale und sogar internationale Berühmtheit, u. a. weil ihr Engagement mit
Preisverleihungen gewürdigt wurde. Erwähnt seien beispielhaft die Jemenitin
Tawakkul Karman, die als zugleich jüngste und erste arabische Frau zusammen mit
zwei Liberianerinnen mit dem Friedensnobelpreis 2011 ausgezeichnet wurde69; die
tunesische Linguistikdozentin, Autorin und Menschenrechtsaktivistin Lina Ben67
So 2011 im Falle des libyschen Generalmajors und ehemaligen Innenministers ‘Abd al-Fattâh
Yûnis al-‘Ubaidi, bei seiner Flucht aus Tripolis, als er zu den Aufständischen überwechselte. ‘Abd
al-Fattâh wurde im Juli 2011 unter bis heute ungeklärten Umständen außerhalb Benghazis ermordet.
68
Zur Beteiligung von Frauen am ‚Arabischen Frühling’ und ihrer späteren Marginalisierung oder
Instrumentalisierung vgl. u. a. N. Al-Ali, „Gendering the Arab Spring“, Middle East Journal of
Culture and Communication, Vol. 5, No. 1, 2012, S. 26–31; „Interview with Marieme Helie Lucas:
No Spring for Arab Women“, (Original) Feminists India, March 2012: http://www.wluml.org/news/
interview-marieme-helie-lucas-no-spring-for-arab-women (Zugriff am 18.12.2012); D. Gamil, „A
Revolution Deferred: Egyptian Women Demand Change“, Equal Times, 09.10.2012: http://
www.equaltimes.org/in-depth/a-revolution-deferred-egyptian-women-demand-change (Zugriff am
10.12.2012); F. Naib, „Women of the Revolution – Features“, Al Jazeera English, 19.02.2011: http:/
/www.aljazeera.com/indepth/features/2011/02/2011217134411934738.html (Zugriff am 21.01.2013);
X. Rice und K. Marsh und T. Finn und H. Sherwood und A. Chrisafis und R. Booth, „Women Have
Emerged as Key Players in the Arab Spring“, The Guardian, 22.04.2011: www.guardian.co.uk/
world/2011/apr/22/women-arab-spring (Zugriff am 05.09.2012); Badry, Ermächtigung von Frauen
im Jemen? ..., bes. S. 87–89 (s.a. weitere Aufsätze in eben diesem Sammelband, herausgegeben von
Susanne Schröter).
69
Zu ihr (samt weiterer Verweise): Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? ..., S. 84–87.
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
21
Mhenni, deren Blog zu einem zentralen Medium der säkularen Opposition wurde70;
die beiden ägyptischen Aktivistinnen und Bloggerinnen Asma Mahfûz71 und Gihân
(„Gigi“) Ibrâhîm72 sowie die bahrainische Oppositionelle Zainab al-Khawâja73, die
nach der Inhaftierung ihres Vaters ‘Abdulhâdî (dem Gründer und Leiter des Bahrain
Center for Human Rights) zur führenden Figur in der lokalen Protestbewegung
avancierte und deswegen ebenfalls mehrfach festgenommen wurde.74 Mehrere interne
wie externe Analysten haben betont, dass Frauen trotz ihres unbestrittenen und weithin
anerkannten Beitrags in der dem ‚Tyrannensturz’ folgenden Übergangsphase politisch
marginalisiert wurden. Das ist richtig, gilt aber insgesamt für die jugendlichen Akteure,
welche die wesentlichen Träger und Ideengeber in der Anfangsphase der ‚Revolution’
waren.75 Langfristig gesehen ist meines Erachtens etwas anderes entscheidender.
70
Abgesehen von ihrem Blog („A Tunisian Girl“) wurde sie für ihre Streitschrift „Vernetzt
Euch!“ (dt. Ausgabe Berlin: Ullstein 2011) bekannt, die in Länge und Aufmachung an Stéphane
Hessels „Empört Euch!“ erinnert.
71
Zu ihr z.B.: D. Simon, „Sacharow-Preisträgerin droht in Ägypten Zwangsarbeit“,
Deutschlandradio 12.05.2012: http://www.dradio.de/aktuell/1780649/ (Zugriff am 22.01.2013); „Arab
Spring Activists Win Prestigious Europe Rights Prize“ (2011): http://www.eubusiness.com/newseu/rights-prize-arab.d6b (Zugriff am 28.12.2012).
72
Nach ihrem Studium der Politologie an der AUC (American University of Cairo) war sie
journalistisch tätig; 2011 wurde sie v.a. wegen ihres Blogs (http://theangryegyptian.worldpress.com)
bekannt.
73
Zu ihr siehe u.a.: „Bahrain activist Zainab al-Khawaja sentenced to jail“, BBC News Middle
East, 22.01.2013: http://www.bbc.co/uk/news/world-middle-east-20672153 (Zugriff am 10.12.2012);
„Interview with Bahraini Opposition Activist: Regime Using Formula One Race to ‘Trick the
World’“, International – Spiegel online, 20.04.2012: http://www.spiegel.de/international/world/
interview-with-bahraini-human-rights-activist-zainab-al-khawaja-a-828407.html (Zugriff am
22.01.2013). S. Quatromoni, „Zainab Al-Khawaja: Spreading Awareness of the Uprising in Bahrain“,
Human Rights First, 09.04.2012: http://www.humanrightsfirst.org/2012/04/09/zainab-al-khawajaspreading-awareness-of-the-uprisingin-bahrain/ (Zugriff am 23.01.2013).
74
Zu ihrer Festnahme im Dez. 2011 nach einem friedlichen Sit-in an dem ehemaligen Perlenplatz
gibt es ebenfalls einen Video-Clip [www.youtube.com/watch?v=AwYzTrt_7C4] (04.02.2013), der
mit Blick auf die Diktion und Musikuntermalung, aber auch mit Blick auf die Gestik der Beteiligten
(Zainab, zwei Polizistinnen, umstehende Polizisten) bezeichnend ist. Das Video soll die Brutalität
des Regimes dokumentieren. Zainab, die demütig mit erhobenen Händen im Schneidersitz auf dem
Boden hockt, werden von der einen Polizistin Handschellen angelegt; die Person beugt sich dabei
mehrfach mit einer eindeutig drohenden, autoritären Geste (ausgestreckter Zeigefinger) vor, um die
‚Delinquentin’ zu ermahnen. Anschließend wird die Aktivistin mit Hilfe einer weiteren Polizistin
gewaltsam weggeschleift – wegen ‚Widerstandes gegen die Staatsgewalt’. Die anderen (männlichen)
Sicherheitskräfte stehen während des Vorfalls etwas abseits und wirken teilnahmslos. – Ein weiteres
Beispiel für „Widerstandschoreographie“ (zum Ausdruck und Konzept s. Parviainen, Choreographing
Resistances ..., S. 311f.)?
75
Zu den ‚Verlierern‘ im Zuge der Machtkämpfe nach dem erfolgreichen Sturz des Präsidenten
z.B.: I. El Masry, „Der ,Arabische Frühling‘ – eine transformationstheoretisch orientierte
Zwischenbilanz der Fälle Ägypten und Tunesien“, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Vol.
25, No. 3, 2012, S. 78; Badry, Ermächtigung von Frauen im Jemen? ..., S. 89; zum Beitrag der
gebildeten urbanen Jugend im Allgemeinen: Ardiç, Understanding the ‘Arab Spring’..., S. 22–25.
22
Roswitha Badry
Dank des veränderten politischen Bewusstseins sind viele Frauen, die während des
Umbruchs Ermächtigung und agency76 erfahren haben, nun nicht mehr bereit, diese
und andere Diskriminierungen stillschweigend hinzunehmen; sie prangern sie vielmehr
öffentlich an, versuchen sich neu zu formieren und ihre Rechte einzuklagen. Als
Indiz mögen die Reaktionen auf die gestiegene Zahl sexueller Übergriffe auf Frauen
in Ägypten dienen, die zu mehreren Protestaktionen in der Folgezeit Anlass gegeben
haben. Nur etwa einen Monat nach dem Rücktritt Mubaraks wurde ein friedliches
Sit-in auf dem Tahrir-Platz von den Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst; einige
Demonstrantinnen wurden festgenommen und demütigenden ‚Jungfräulichkeitstests’ unterzogen. Diese perfide Form geschlechtsspezifischer Gewalt war, so die
Aktivistinnen, dazu gedacht, sie einzuschüchtern und von weiteren politischen
Aktionen abzuhalten. Eine der Betroffenen klagte vor Gericht, wenngleich erfolglos.77
Ein weiterer Vorfall im Dezember 2011 gelangte über Fotos78 und einen Video-Clip79
in die Schlagzeilen. Der sog. ‚blue-bra-incident’ ereignete sich in der Nähe des Tahrir.
Das Video zeigt, wie drei Polizisten eine unbewaffnete Frau an den Haaren ziehen,
76
Zu agency gibt es verschiedene Theorien in der Philosophie, Politikwissenschaft und den
Geschlechterstudien. Einer der berühmtesten Ansätze in der letztgenannten Disziplin stammt von
Judith Butler („subversive agency“). In diesem Kontext verstehe ich unter agency ganz allgemein die
Fähigkeit des Individuums, zu einer eigenen Entscheidung zu gelangen und diese in die Realität
umzusetzen.
77
B. Trew, „Breaking the Silence: Mob Sexual Assault on Egypt’s Tahrir“, English Ahram Online,
03.07.2012: http://english.ahram.org.eg/News/46800.aspx (Zugriff am 21.01.2013). – Zu den Vorfällen
s.a.: „Egyptian Women Protesters Sexually Assaulted in Tahrir Square“, The Guardian, 09.06.2012:
http://www.guardian.co.uk/world/2012/jun/09/egyptian-women-protesters-sexually-assaulted-intahrir-square (Zugriff am 21.01.2013); S. El-Sabbahy, „Features: Sexual violence rises in Egypt’s
Tahrir“, AlJazeera 05.07.2012: http://www.aljazeera.com/indepth/features/2012/07/20127414100
955560.html (Zugriff am 21.01.2013).
78
Siehe z.B. das Aufmacher-Foto im Artikel der US-amerikanisch-ägyptischen Journalisten Mona
Eltahawy – „Why Do They Hate Us?“ Foreign Policy, 23.04.2012: http://www.foreignpolicy.com/
articles/2012/04/23/why_do_they_hate_us (Zugriff am 21.01.2013) –, die selbst 2011 in Kairo
Opfer gewaltsamer Überbegriffe geworden war. (Man hatte ihr u. a. die Arme gebrochen und sie
sexuell gedemütigt.) Ihr Artikel, der nicht mit Pauschalurteilen spart, aber anscheinend aus der ersten
Wut über die Misshandlungen am eigenen Körper entstanden ist, machte sie ihrerseits zum Gegenstand
von üblen verbalen Attacken (vgl. v.a. S. Zuhur, „Women on the Ground vs. Women in the (Ivory)
Tower“: http://sherifazuhur.wordpress.com/2012/04/27/women-on-the-ground-vs-women-in-theivory-towers/ (Zugriff am 22.01.2013). Weitere Berichte zu dem Vorfall: L. Penny, „Mona Eltahawy:
Egypt’s angry young woman“, The Independent, 17.05.2012: http://www.independent.co.uk/news/
people/profiles/mona-eltahawy-egypts-angry-young-woman-7758081.html (Zugriff am 21.01.2013);
D. Schülbe, „Mona Eltahawy – misshandelt von der Polizei“, Rheinische Post online, 25.11.2011:
http://www.rp-online.de/politik/ausland/mona-eltahawy-misshandelt-von-der-polizei-1.2616153
(Zugriff am 15.01.2013).
79
M. Winter, „VIDEO: Egyptian soldiers beat Tahrir women, couple“, USA Today 19.12.2011:
http://content.usatoday.com/communities/ondeadline/post/2011/12/video-egyptian-soldiers-beattahrir-women-couple/1#.UP1UP_J36yE (Zugriff am 21.01.2013). – Es sei angemerkt, dass sexuelle
Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, während der Proteste 2011 in Ägypten auch als
Folterinstrument gegen inhaftierte junge Männer eingesetzt wurde.
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
23
sie zu Boden reißen, sie schlagen, mit Füßen treten und ihren Oberkörper (mit dem
blauen BH) entblößen. Gleich einen Tag später kam es zu Protestdemonstrationen
von Frauen, an denen sich ebenfalls Männer beteiligten. Der schockierende Vorfall
wurde auch zur Inspiration für Künstler: In dem Gemälde eines Marokkaners werden
die Polizisten als Gorillas dargestellt, als stiller Beobachter ist das Konterfei von Van
Gogh in das Bild eingefügt80; in einem Cartoon81 mutiert die Angegriffene zu einer Art
‚superwoman’, die sich an einem ihrer Peiniger mit Kung-Fu rächt.
3.4. Anzeichen für versteckte ‚Orientalismen’ bzw. ‚Okzidentalismen’?
Trotz der Vielfalt innerhalb der weiblichen Protestgemeinde wurde im Rahmen
der konventionellen Medienberichterstattung wiederholt ‚die Verschleierte’ ins Bild
gerückt. Das zeigte sich, wie erwähnt, besonders im Falle des Jemen. Gegen diese
einseitige Repräsentation und Perzeption jemenitischer Frauen verwahren sich säkulare
Jemenitinnen wie Arwa82, obwohl sie sich der zunehmenden Verbreitung der saudischwahhâbitisch-salafitisch beeinflussten Ganzkörperverhüllung durchaus bewusst sind.83
Ist eine solche, unabhängig von Thema und Valenz des Beitrags immer wiederkehrende
Repräsentation als ‚Orientalismus’ bzw. ‚Okzidentalismus’ zu werten? Ich meine, ja.
Im Anschluss an Fernando Coronil84 verstehe ich ‚Orientalismen’ als „westliche
Repräsentationen von ‚Andersheit’“, die „implizit Konstruktionen des ‚Selbst’“ sind.
Mit ‚Okzidentalismen’ ist nach demselben Autor nicht etwa die Kehrseite der
‚Orientalismen’ gemeint, sondern der hegemoniale Deutungs- und Machtanspruch
des ‚Westens‘.
Abgesehen von der mangelnden Differenzierung, welche die Bekräftigung
bestehender Vorurteile begünstigt, weist die Auswahl mancher Bildmotive darauf hin,
dass zuweilen ‚westliche Ästhetik-Maßstäbe’ zugrunde gelegt wurden, um den
Kontrast zum ‚Westen‘ zu verdeutlichen. Zwei Aufnahmen, wiederum aus dem Jemen,
sollen diese Vermutung veranschaulichen. Das erste wurde zum Weltpressefoto des
Jahres 2011 gekürt, weil es, so die Begründung eines Jurymitglieds, ‚für die gesamte
Region steht’. Es präsentiere „einfach alles, was während des arabischen Frühlings
Abbildung in Demerdash, Consuming Revolution …, S. 10.
Abbildung in: „Scenes-Wed-Like-to-See-Revenge-of-the-Egypt-Unveiled-Women“ (der Künstler
signierte mit „Latuff 2011“).
82
Siehe Othman, Facebook, Foto-Nr. 53825: Aufnahme von einem Poster (?) mit der
Bildunterschrift „Yemeni women are not only black!“, welche einen Eindruck von der bunten Vielfalt
jemenitischer Frauen vermittelt.
83
Vgl. Ibid., Foto-Nr. 543583, das in einer Art Fotomontage zwei Bilder kontrastierend
gegenüberstellt: Das eine zeigt Absolventinnen der Universität Sanaa 1977, Männer und Frauen
zusammen, letztere unverschleiert; die andere Einstellung zeigt Absolventinnen des Jahres 2012,
uniformiert, mit Ganzkörperverhüllung – ausgenommen der Augen. Anzumerken ist, dass Arwa wie
Elham, die zu Beginn der Proteste vor Ort weilte, betonen, dass zumindest zu Beginn der
Protestbewegung im Jemen die Verhüllten nicht unbedingt die alles dominierende Fraktion bildeten.
84
„Jenseits des Okzidentalismus: Unterwegs zu nichtimperialen geohistorischen Kategorien“,
in: Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Sebastian Conrad und Shalina Randeria (Hg.), Frankfurt und New York: Campus, 2002, S.
177–218, hier S. 183–185.
80
81
24
Roswitha Badry
geschah“85! Der Fotograf arbeitet freiberuflich für die New York Times. Die Aufnahme,
die mit dem Schwarz-Weiß-Kontrast arbeitet, soll eine Mutter zeigen, die ihren verletzten
Sohn (anderen Angaben zufolge handelte es sich um ihren Verwandten) im Arm hält;
allerdings sind die Gesichter nicht zu identifizieren. Das Foto wurde dem Fotografen
zufolge in einer Moschee in Sanaa aufgenommen und soll die bewegenden Momente
des ‚Arabischen Frühlings’ symbolisieren. 86 Westliche Beobachter werden die
Abbildung wohl sofort mit der Pietà bzw. Mater Dolorosa assoziieren.
Das zweite Foto, das (ebenfalls im Oktober 2011) über internationale Sendeanstalten
wie CNN verbreitet wurde87, präsentiert demgegenüber die Frau als Akteurin. Im
Vordergrund ist eine Frau mit Sonnenbrille, aber enthülltem Gesicht zu sehen, die mit
erhobenem Arm Stoffe ins Feuer wirft. Umstehend gruppieren sich (vor allem) mehrere
Ganzkörperverhüllte, zum Teil mit Sonnenschirm, und einige schaulustige Männer.
Die Bildunterschrift lautet: ‚Jemenitische Frauen verbrennen ihre Schleier aus Protest’,
obwohl die Aufnahme alles andere als eindeutig ist. Ein westlicher Betrachter mag
bei dem Foto unmittelbar an die Marianne, die Nationalfigur der Französischen
Republik, denken. Ob die Szene von Fotografen oder ‚Bewegungsunternehmern’ so
arrangiert wurde, seit dahingestellt.
Die selektive Wahrnehmung ist meiner Einschätzung nach überdies an der
Vernachlässigung des Beitrags der ‚arabischen Revolution’ zu einer globalen Protestkultur erkennbar, die auf wechselseitiger Beeinflussung basiert. Dieses Moment kommt
wohl am besten in der ‚Street Art’88 zum Ausdruck, welche seit 2011 einen enormen
Aufschwung erfahren hat und der Arwa und Timur einige Aufnahmen widmen.
3.5. Die kaum beachtete innovative, dynamische Komponente des ‚Arabischen
Frühlings’: ‚Die Straße als Bühne kommunikativ bespielen’89
Der ‚Arabischer Frühling’ hat zu einem Boom künstlerischer Aktivität und Kreativität
auf der Straße geführt, der auch bereits in einigen Fachartikeln diskutiert worden
85
Zitat nach Focus Online vom 10.02.2012: http://www.focus.de/panorama/welt/pressefoto-desjahres-2011-die-private-seite-des-arabischen-fruehlings_aid_712770.html (Zugriff am 11.02.2013).
86
S. Phillips, „Samuel Aranda’s Best Photograph: A Woman Protect her Son“, The Guardian,
07.11.2012: http://www.guardian.co.uk/artanddesign/2012/nov/07/samuel-aranda-best-photograph
(Zugriff am 03.01.2013). Cf: Zahriyeh, „World Press Photo of the Year award goes to picture of
Yemeni woman with wounded relative amid protests“, New York Daily News, 10.02.2012: http://
www.nydailynews.com/news/world/world-press-photo-year.award-picture-yemeni-womanwounded-relative-protests-article-1.1020597 (Zugriff am 03.01.2013).
87
http://edition.cnn.com/2011/10/26/world/meast/yemen-protest (Zugriff am 11.02.2013). Vgl.
auch Othman, Facebook, Foto-Nr. 404054 (zeigt allerdings eine andere Einstellung; zudem stammt
die Aufnahme nicht von Arwa selbst, die alle ihre Fotos mit ihrem Namen kennzeichnet).
88
Zum Begriff, den verschiedenen Formen und Fachausdrücken sowie den von den Künstlern
anvisierten Zielen (u.a. ‚Reclaim the streets‘) siehe Kai Jakob, „Street Art. Kreativer Aufstand einer
Zeichenkultur im urbanen Zwischenraum“, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre
Betrachtungen des Straßenraumes an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria
Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 73–97.
89
Zu diese Formulierung siehe: Sandra Maria Geschke, „Straße als kultureller Aktionsraum – eine
Einleitung“, in: Straße als kultureller Aktionsraum: Interdisziplinäre Betrachtungen des Straßenraumes
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
25
ist. 90 Dieser Effekt illustriert einerseits ein weiteres Mal den spielerischen,
performativen91 Charakter im Umgang mit dem Geschehen; andererseits steht er für
die innovative, dynamische Komponente, d.h. für den fundamentalen Neuanfang,
den sich manche Akteure von der Protestwelle erhofft hatten. Mit ihren Bildern
(Graffitis, große Wandbilder bzw. ‚Murals’) oder ihrer Musik (Rap, Hip-Hop, ‚Shaabi’),
welche die politischen Geschehnisse reflektierten, an die ‚Märtyrer’ erinnerten und
zum kritischen Denken anregten, setzten die Künstler einen wichtigen und
erfrischenden Kontrapunkt zur herkömmlichen Kulturszene. Sie repräsentierten damit
Facetten einer Gegenkultur, sozusagen ein Komplement zum gesellschaftlichen
Gegenentwurf, welcher partiell in den Camps auf den zentralen öffentlichen Plätzen
vorgelebt wurde. Einige Vertreter dieser neuen Kulturszene haben bereits vor und
gleich zu Beginn der ‚Revolution’ mit ihren kritischen Text- und Bildbotschaften
‚wachgerüttelt’, ein neues Bewusstsein geschaffen und zur Mobilisierung bisher
Unbeteiligter beigetragen. Als Beispiel für die ägyptische Graffiti-Szene sei ‚Keizer’92,
an der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis, Sandra Maria Geschke (Hg.), Wiesbaden: VS
Verlag für Sozialwissenschaft, 2009, S. 20.
90
Zu den angesprochenen neuen Trends in der Kulturszene siehe neben Demerdash, Consuming
Revolution …, S. 1–17 (zu Graffiti‚ ‚Murals‘, Ölgemälden v.a.): A.M. Agathangelou, „Making Anew
an Arab Regional Order? On Poetry, Sex, and Revolution“, Globalizations, Vol. 8, No. 5, Oct. 2011,
S. 591–594 (v.a. zu ,lyrics’); S. Morayef, „‘We Are the Eight Percent’: Inside Egypt’s Underground
Shaabi Music Scene“, Jadaliyya, 29.05.2012: http://www.jadaliyya.com/pages/index/5738/we-arethe-eight-percent_inside-egypts-underground (Zugriff am 15.01.2013); (zu ‘Murals’ in Ägypten) S.
Morayef, „The Seven Wonders of the Revolution“, Jadaliyya, 22.05.2012: http://www.jadaliyya.com/
pages/index/4776/the-seven-wonders-of-the-revolution (Zugriff am 15.01.2013). Zu verschiedenen
Graffiti-Darstellungen, nicht nur in Ägypten, sondern auch in Tunesien oder Libyen: „No Fear, The
Rabble Writing on the Walls“, Another Africa, 03.11.2011: http://www.anotherafrica.net/art-culture/
no-fear-the-rabble-writing-on-the-walls (Zugriff am 21.01.2013); C. Hebblethwaite, „Is Hip Hop
Driving the Arab Spring?“, BBC News Middle East, 24.07.2011: http://www.bbc.co/uk/news/worldmiddle-east-14146243 (Zugriff am 28.12.2012). – Aus der Sicht von Aktivisten vor Ort: „Interview:
Azza Balba“, Afropop Worldwide, 25.04.2012: http://www.afropop.org/wp/1955/azza-balba/ (Zugriff
am 21.12.2012); „Revolution als Lernprozess: Eine Zwischenbilanz der ägyptischen Demonstranten
– Nadine Kreitmeyer (FJSB) im Gespräch mit Laila El-Balouty“, Forschungsjournal Soziale
Bewegungen, Vol. 25, No. 3, 2012, S. 63f. (zur Rolle der Künstler). Siehe auch u. a. folgende
Abbildungen in Hadidi, Facebook, Foto-Nr. 281852, 283327 („Der Schrei nach Freiheit“ – Street
Art, Kreide), 402150 (Graffiti zu Lügen, die aus den staatlich kontrollierten Medien überbracht
werden); und Othman, Facebook, Foto-Nr. 206208, 319730, 398358, 463495, 485715, 564843,
576445, 601893 (Bemalen von Mauern, darunter von Männern und Frauen gemeinsam); 428905,
598757 (Musikdarbietung im Zelt).
91
SB werden mittlerweile verstärkt als performativer Akt untersucht. Siehe dazu z.B. P. Wiegmink,
„Performance and Politics in the Public Sphere“, Journal of Transnational American Studies, Vol. 3,
No. 2, 2011, S. 1–40; oder Hank Johnston, „Protest Cultures: Performance, Artifacts, and Ideations“,
in: Culture, Social Movements, and Protest, Hank Johnston (ed.), Surrey and Burlington: Ashgate,
2009, S. 3–29.
92
Eines seiner ‚Stencils‘, sog. Schablonengraffiti, lautete: „Your Fear is their Power“ (Aufnahme
in No Fear, The Rabble Writing ...), weitere seiner Arbeiten finden sich auch z.B. bei Hadidi (Facebook,
Foto-Nr. 418235, 431292).
26
Roswitha Badry
ein anonymer Straßenkünstler, erwähnt, als Beispiel für die Rap-Szene der Tunesier
‚El Général’, der in seinem Song „Rais Lebled“ (‚Präsident des Landes’), den er eine
Woche vor dem Ausbruch der Erhebung im Dezember 2010 ‚ins Netz’ gestellt hatte93,
die Missstände in seinem Land anprangerte und damit die ‚Hymne der Revolution’ in
Tunesien und Kairo schuf: ‚Mr. President, your people are dying/ People are eating
rubbish/ Look at what is happening/ Miseries everywhere Mr. President/ I talk with
no fear/ Although I know I will only get troubles/ I see injustice everywhere’.94
Diese und andere Künstler werden mittlerweile von der internationalen Szene
umworben. Im Falle einer erfolgreichen Vermarktung könnte allerdings die Gefahr
bestehen, dass der ‚revolutionäre Geist’ abhanden kommt. Zudem bemerkt Demerdash:
„Institutions across the world are problematically couching these cultural phenomena
within discourses of authenticity (asâla or turâth) on the basis of their ethnographic
‘otherness’.“95
4. Vorläufiges Resümee und Hypothesen
Fassen wir abschließend die vorläufigen Ergebnisse zusammen.
Dass unmittelbar Beteiligte und externe Beobachter die Geschehnisse unterschiedlich wahrnehmen und abbilden, war zu erwarten. Dennoch erscheinen mir
folgende Diskrepanzen zwischen den Bildern unserer beiden Aktivisten vor Ort und
der globalen Rezeption recht deutlich hervorzutreten:
a) Von den konventionellen Nachrichtensendern wird in erster Linie das Kollektiv
ins Bild gerückt, während bei der Dokumentation der Aktivisten auf Facebook
Porträtaufnahmen dominieren. Zeigen die einen mit Vorliebe dicht gedrängte
Massen bei Großdemonstrationen oder betende Muslime auf den zentralen
Plätzen der Kapitalen, sind die anderen bestrebt, die Heterogenität innerhalb
der Bewegung darzustellen. Dabei lassen sie den Blick auch auf die
‚Nebenschauplätze’ (Nebenstraßen des Tahrir o. ä.) und dortige Aktivitäten
schweifen.
b) Darüber hinaus überwiegt bei den auf Spektakuläres ausgerichteten
Nachrichtenkanälen die Darstellung wütender, aufgebrachter, zuweilen
chaotisch oder fanatisch wirkender unkontrollierbarer Menschenmengen;
Konflikte, Blutvergießen, Zerstörung werden beinahe schonungslos, zuweilen
pietätlos abgelichtet. Dagegen zeigen die beiden Aktivisten die ganze Bandbreite
an Mimik und Gestik. Im Vordergrund stehen der Ausdruck der Freude über
und des Stolzes auf die Teilhabe an den historischen Ereignissen, das bunte
Treiben, der ‚Festival-Charakter’ und die spielerischen Elemente; aber auch
auf das Einfangen skeptischer, ängstlicher Blicke wird ebenso wenig verzichtet
Agathangelou, Making Anew an Arab Regional Order? …, S. 587.
Engl. Übers. übernommen aus: V. Walt, „El Général and the Rap Anthem of the Mideast
Revolution“, Time, 27.12.2012: http://www.time.com/time/printout/0,8816,2049456,00.html (Zugriff
am 22.01.2013), S. 2.
95
Demerdash, Consuming Revolution …, S. 7.
93
94
Körpersprache, Macht und Geschlecht in Zeiten sozialen Umbruchs
27
wie auf Drohkulissen bzw. Gewaltanwendung. Die Anzeichen einer
Gegenöffentlichkeit und einer Gegenkultur werden voller Optimismus,
wenngleich keineswegs naiv, illustriert. Diese innovativen, kreativen,
dynamischen Momente werden in den konventionellen Medien weitgehend
ignoriert, mithin wird der transnationale Aspekt der Protestkultur sowie die
Verbindung und Vernetzung zu globalen Bewegungen unterschlagen.
c) Soweit der erste Eindruck. Zieht man allerdings die von anderen Aktivisten
online gestellten Video-Clips und Fotos hinzu, ergibt sich ein etwas anderes
Bild. Denn hier bedient man sich anscheinend ebenso oft wie in den
konventionellen Medien einer stark vereinfachenden audio-visuellen Diktion.
Bedenklich stimmt außerdem, wenn die Verletzbarkeit des Körpers geplant in
die ‚Widerstandschoreographie’ eingebaut wird.
28
Roswitha Badry