VISUALISIERUNGEN EUROPAS Ein historischer Überblick

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VISUALISIERUNGEN EUROPAS Ein historischer Überblick
VISUALISIERUNGEN EUROPAS
Ein historischer Überblick
WOLFGANG SCHMALE
EINFÜHRENDE BEMERKUNGEN
Vorstellungen und Definitionen Europas werden seit Jahrhunderten
durch bildliche Darstellungen geprägt, beeinflusst oder überhaupt erst
angeregt. Es gab und gibt mythologische Bilder, Allegorien, wissenschaftliche oder propagandistische Karten, propagandistische Bilder
aller Art, künstlerische, karikierende, architektonische, elektronische,
emblematische Visualisierungen Europas. Seit dem 18. Jahrhundert
gibt es Bemühungen, Europa speziell für Kinder zu visualisieren. Bilder von Europa sind in narrativierter Form in Texten aus unterschiedlichen Gattungen zu finden. Auch Bühnenstücke lieferten und liefern
Europabilder wie Antonio Salieris Oper „Europa riconosciuta“, die am
3. August 1778 zu Eröffnung der Mailänder Scala uraufgeführt und
2004 zur Wiedereröffnung der Scala erneut aufgeführt wurde. Ganz
allgemein lässt sich feststellen, dass sich im Lauf der Jahrhunderte der
AdressatInnenkreis kontinuierlich erweitert hat. Diese Erweiterung
spiegelt den Weg vom ‚Europa der Fürsten‘ hin zum ‚Europa der
BürgerInnen‘ wider. Wenig verändert hat sich jedoch der ‚versteckte‘
Sinn von Europabildern: Im Allgemeinen dienten und dienen sie bestimmten Gewinnungsstrategien, deren Zweck es war und ist, Europa
für politische Zwecke nutzbar zu machen. In den frühneuzeitlichen
Jahrhunderten war ein Teil der Visualisierungen von einem erotischen
Subtext begleitet, den sich ab dem 19. Jahrhundert die Karikatur zu
Eigen machte, wo er bis heute verblieben ist.
Im Folgenden werden je ein kurzer typologischer und chronologischer Abriss der einzelnen Visualisierungen Europas sowie Analysen
von Gewinnungsstrategien und Subtexten gegeben. Einige Aspekte
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Wolfgang Schmale
sollen in diesem Beitrag ausgeklammert bleiben: So ist etwa die Wiedergabe der Europahymne in audiovisuellen Medien oft mit Bildern
unterlegt – das zu untersuchen, wäre Aufgabe eines eigenen Beitrages,
ebenso die Europabilder im Internet.
A U F R I S S D E R V I S U A L I S I E R U N G E N E U R O PA S
Europa und der Stier
Typologie
Als Kern der Visualisierung Europas muss der antike Europamythos
gelten (Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz 1988). Von ihm
liegen zahlreiche und variantenreiche literarische Überlieferungen
schon in der Antike vor (Bühler 1968). Als bildliche Darstellung wurde
er bereits in der Antike oftmals auf die beiden zentralen Figuren, die
Königstochter Europa und Jupiter in der Gestalt des Stiers, komprimiert, aber nicht selten durch verschiedene Attribute ergänzt, die die
Bedeutungsmodifikationen des Mythos widerspiegelten (Abb. 1). Die
Mythosdarstellungen waren von Kleinasien über Kreta bis nach Westeuropa und Nordafrika verbreitet; einzelne Objekte gelangten auf der
antiken Route von Indien nach China bis nach Asien (Bartillat/Roba
2000: 17, mit Abbildung). Sie fanden sich auf Münzen, Mosaiken, Gürtelschnallen, Öllämpchen oder Schmuckstücken für Frauen (Zahn
1983). Der Mythos verwies insbesondere auf Fruchtbarkeit, als Bild
eines Kontinents und einer Kultur hat er weniger gegolten. Letzteres
könnte eher als Subtext herausgelesen werden.
Inwieweit diese antiken Bildtraditionen im Mittelalter noch bekannt
waren, ist ungewiss. Die nach der Jahrtausendwende allmählich sichtbar werdende Rezeption des Mythos war religiöser Natur; sie war vor
allem den Metamorphosen des Ovid zu verdanken. Auffällig ist die
christliche Anverwandlung im 13./14./15. Jahrhundert: Aus der mythologischen Europa wurde Maria oder ein Sinnbild der Seele, aus Jupiter
bzw. dem Stier wurde Christus, der die Seele an ihr Ziel führt (Schmale 2001: 33-35). In der Renaissancekunst (Abb. 2) sowie im 17. und 18.
Jahrhundert waren erotische Deutungen des Mythos beliebt, aber er
wurde auch politisch-propagandistisch eingesetzt, um den Anspruch
eines Herrschers auf die Beherrschung Europas auszudrücken. Am
häufigsten bedienten sich die römischen Kaiser aus dem Haus Österreich und die französischen Könige aus dem Haus Valois bzw. ab Heinrich IV. aus dem Haus Bourbon des politisch gewendeten Europamythos
(Schmale 2004a). Schon im 17., deutlicher jedoch im 18. Jahrhundert
vermischten sich Erotik und Politik. Madame de Pompadour beispiels-
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Abb. 1: Das aus Aquilea stammende römische Mosaik zeigt Europa auf
dem Stier. Europa ist völlig unbekleidet, links über ihr schwebt Eros
(der Kopf rechts unten gehört zu einer Poseidon-Figur).
Foto: Wolfgang Schmale
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Abb. 2: Renaissance-Brunnen mit Europa-Mythos, Friesach (Kärnten),
Hauptplatz (der Brunnen befand sich ursprünglich an anderer Stelle in
einem Schlosshof). Links oben ist Hermes zu erkennen,
rechts die Freundinnen der Europa.
Foto: Wolfgang Schmale
weise ließ sich 1747 von François Boucher, einem der berühmtesten französischen Maler seiner Zeit, den sie sich zum Zeichenlehrer genommen
hatte, als verführerisch schöne Europa porträtieren, was angesichts ihres politischen Einflusses und ihrer Ambitionen am Hof von Versailles
keineswegs als lediglich hübsche Idee interpretiert werden darf.
Die weitere Behandlung des Mythos im 19./20. Jahrhundert ist vor
allem in den bildenden Künsten und der Karikatur zu suchen (Salz-
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mann 1988). Zumeist zeigen die Darstellungen der KünstlerInnen und
Karikaturisten im Kern einen bestimmten, fast immer beklagenswerten Zustand Europas. Das Beklagenswerte äußert sich in Haltung und
Gestaltung der Europa-Figur, zerstörerische Dynamiken in Haltung und
Gestaltung des Stiers. Freilich ist besonders seit dem 20. Jahrhundert
kein symbolischer Kanon für die Mythosinterpretation wie in der Frühen Neuzeit vorhanden. Die zulässige Darstellungsvielfalt dient der Popularisierung des Mythos, da gerade die Karikatur (Soiné 1988; Reinhardt 2001) ihn anlassbezogen und z.B. auf das Publikum einer Zeitung abgestimmt einsetzen kann.
Analyse
Der Europamythos wurde im 16. und 17. Jahrhundert für politische
Bildpropaganda eingesetzt (Schmale 2005). In sehr unterschiedlichen
Variationen fungierte er insbesondere bei bedeutenden Hochzeiten,
etwa der französischen Valois und Bourbonen, der Habsburger, der
Oranier (Schmale 2004a). Die Hochzeiten erhielten dadurch einen
weitergehenden politischen Sinn: Der betreffende Fürst nahm gewissermaßen Europa zur Braut. Mit den Hochzeiten wurden dynastische
Verbindungen zwischen europäischen Herrscherhäusern geschaffen,
aus denen im Erbfall eine ansehnliche Vermehrung des Herrschaftsgebietes hervorgehen sollte. Abgesehen davon, dass daraus dann eher
doch Erbfolgekriege resultierten als friedliche Erbantritte, erweist die
politisch-propagandistische Instrumentalisierung des Europamythos
die Relevanz der Idee einer Universalherrschaft über Europa bei den
führenden europäischen Herrscherhäusern. Die Ikonographie des
Europamythos in der Frühen Neuzeit bevorzugte die Inszenierung der
Geschichte als Heiratsgeschichte: Europa wird als geschmückte Braut,
umgeben von ihren Brautjungfern, gezeigt. Der schöne, weiße, ebenfalls geschmückte Stier versteht sich als Metapher auf den erwartungsvollen Bräutigam. Die Mythosvorlage eignete sich sehr gut, den politischen Charakter der hochfürstlichen Hochzeiten durch den bildlich in
den Vordergrund gestellten Aspekt der gegenseitigen Zuneigung und
Liebe zu entschärfen.
So hochpolitisch wurde der Europamythos eigentlich erst wieder
im 20. Jahrhundert verwendet. Mehrfach bedienten sich die Nationalsozialisten des Emblems der Europa auf dem Stier, um ihren Anspruch
der Gewaltherrschaft über Europa verharmlosend zu symbolisieren:
Beim „Tag der Deutschen Kunst“ 1937 in München wurde eine goldene Europa auf dem Stier als Straßendekoration eingesetzt, anlässlich
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der Gründungsveranstaltung des nationalsozialistischen „Europäischen
Jugendverbandes“ im September 1942 wurde im Lichthof des Wiener
Parlamentsgebäudes eine Stuckskulptur aufgestellt, die Europa auf dem
Stier zeigte (Schmale 2001: 126, Abb. 5.8).
Propagandistische Züge trug der Einsatz des Mythos schließlich in
jüngster Zeit im Zusammenhang mit der Einführung des Euro. Gerade den Deutschen sollte die Abkehr von der „harten DM“ schmackhaft
gemacht werden. In einer in den großen Tageszeitungen geschalteten
Werbeanzeige (November 1996) interpretierte der Begleittext den Stier
als Symbol für den „Vater des deutschen Wirtschaftswunders“, Ludwig Erhard, während die Europa die EU bzw. allgemeiner Europa als
„Mutter“ des Wirtschaftswunders darstellte. Das Eheschließungs- und
Liebesmotiv blieb hier als historischer Subtext erhalten (Schmale 2001:
258f, Abb. 10.6).
Schon in der Antike thematisierte der Mythos die Liebe zwischen
Frau und Mann. Selbst politisch-propagandistische Verwendungen
schlossen dieses Thema nicht aus, sondern machten es sich vielmehr
zunutze. In der Zwischenkriegszeit setzte eine Debatte über eine spezifisch europäische Ausprägung der Liebe als Teil europäischer Identität
ein, in deren Mittelpunkt neben dem Thema der „provenzalischen Liebe“ nicht zuletzt der Europamythos stand (Passerini 1998). Nachdem
in der jüngsten politischen Debatte zwischen einem Teil Europas und
den USA aus Anlass des Irakkrieges die USA als (starker) Mars und
Europa als (schwache) Venus bezeichnet wurden, ist eine Renaissance
des Themas Liebe, womöglich gestützt auf den Europamythos, als
Aspekt europäischer Identität beinahe schon vorhersehbar.
Die Erdteilallegorie
Typologie
Die Repräsentation von politischen Gemeinwesen geht auf die römische
Antike zurück, aus der wir beispielsweise die Figur der Roma, die die
Stadt Rom verkörpert, kennen. Im Mittelalter konnten die Provinzen
des Heiligen Römischen Reichs durch weibliche Allegorien dargestellt
werden, beispielsweise im Evangeliar Kaiser Ottos III. (Ende 10. Jahrhundert, Bartillat/Roba 2000: 35). Seit dem Spätmittelalter wurden die
Monarchien und Republiken, Städte und Regionen Europas regelmäßig
durch solche Figuren ins Bild gesetzt. Vereinzelt stoßen wir auch auf
Fälle, in denen der Kontinent Europa stilisiert und als weibliche Figur
visualisiert wurde. Berühmt wurde diese Methode der Visualisierung
seit dem 16. Jahrhundert. Die Allegorie Europas von Johannes Putsch
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aus dem Jahr 1537 gab gewissermaßen den frühneuzeitlichen Urtypus
ab (Schmale 2004b: 89, Abb. 9), der dann im Lauf des 16. Jahrhunderts
mehrfach variiert in den damaligen Bestsellern wie der Kosmographie
des Sebastian Münster (Münster 1544) publiziert und offenkundig in
vielen Ländern West-, Nordwest-, Nord-, Mittel-, Ostmittel- und Südeuropas verbreitet wurde. Die Allegorie, die in einem ganz elementaren
Sinn eine Erdteilallegorie bedeutet, repräsentiert inhaltlich die Christliche Republik, als die Europa bis ins 18. Jahrhundert verstanden wurde.
Diese spezifische Europaallegorie war noch einem Dichter wie Clemens Brentano im frühen 19. Jahrhundert bestens vertraut; in der historisch-kulturwissenschaftlichen Literatur wird sie seit dem europahistoriographischen Boom in den 1950er-Jahren häufig und seit den
1990er-Jahren (vermutlich ein Effekt der Dynamik, die aus dem Maastrichter Vertrag erwuchs) besonders häufig abgebildet.
Seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts wurde es üblich, die
damals vier bekannten Kontinente durch weibliche Allegorien in der
Regel gemeinsam zu visualisieren. Haltung, Kleidung und Attribute
der vier Figuren bezeichnen dabei den Kontinenten zugeschriebene
fundamentale Charakteristika (Poeschel 1985) (Abb. 3). Im Lauf des
Abb. 3: Haus „Zum Fuchs“ der Krämerzunft (1699) in Brüssel am
Großen Markt (Grand’Place). Links (im Schatten) Africa, anschließend
Europa, Justicia in der Mitte, Asia, ganz rechts America.
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17. und 18. Jahrhunderts wurde die Europafigur vielfach so gestaltet,
dass sie die angenommene Überlegenheit Europas über die anderen
Kontinente ausdrückte. Prinzipiell repräsentierte sie, wie die Europa
des Johannes Putsch, die Christliche Republik.
Im 19. Jahrhundert wurde der Gebrauch von Erdteilallegorien etwas seltener, ohne ganz aufgegeben zu werden (Abb. 4). Für das späte
19. Jahrhundert kann sehr vorsichtig formuliert von einer Renaissance
der Europa-Erdteilallegorie gesprochen werden. Ihre Attribute waren
den zeitgenössischen Prioritätensetzungen entsprechend bevorzugt
militärischer und technischer Natur. Die meisten dieser Allegorien fanden sich an öffentlicher Repräsentationsarchitektur wie die für die
Pariser Weltausstellung von 1878 geschaffenen Figuren (heute Musée
d’Orsay, Paris; Bartillat/Roba 2000: 121, Abbildungen).
In der Frühen Neuzeit schmückten die Erdteilallegorien kartographische Werke, Festsäle in Schlössern, Kirchenräume und Bibliotheken von Klöstern, im 18. Jahrhundert zunehmend auch Bürgerhäuser.
Diese „Verbürgerlichung“ des Gebrauchs von Erdteilallegorien entspricht in etwa der „Verbürgerlichung“ des aktiven Wortgebrauchs
„Europa“ im späteren 18. Jahrhundert, dem Peter Burke vor 25 Jahren
einmal nachgegangen ist (Burke 1980).
Analyse
Die Europaallegorie von Johannes Putsch und seinen Nachahmern im
16. Jahrhundert, die bis heute rezipiert wird, verbildlicht die Idee der
Christlichen Republik, auf die sich europäisch-universalherrschaftliche
Ansprüche sehr gut projizieren ließen. Die Identifizierung des politischmystischen Körpers der Christlichen Republik mit dem geographischen
Körper des Kontinents verweist auf eine essenzialistische Konzeption
Europas, in der die einzelnen politischen Gemeinwesen der Zeit (Monarchien und Republiken) die Funktion von Körperteilen einnehmen.
Genau dies zeigt die Putsch’sche Europa. Darüber hinaus handelt es
sich um ein schönes Beispiel der Propaganda im Interesse des Hauses
Österreich. Spanien bildet das gekrönte Haupt Europas, das Reich
nimmt praktisch den gesamten Oberkörper ein, etc. Die Herrschaftssymbolik (Krone, Szepter, Reichsapfel) spricht für sich. Darüber hinaus ist die Allegorie auch als Allegorie auf das Paradies zu interpretieren (Pelz 1995): Die Donau verweist auf den Paradiesfluss, ihr Mündungsdelta auf die Verzweigung des Paradiesflusses in die vier Hauptflüsse der Erde beim Ausgang aus dem Paradies. Europa ist zwar nicht
von Mauern umgeben, wie das Paradies in damals gängigen Bildern,
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Abb. 4: Europaallegorie von Johann Nepomuk Zwerger, Frankfurt 1843.
Die Skulptur wurde im Jahr 2000 im Rahmen der Regensburger
Ausstellung „Bavaria, Germania, Europa“ gezeigt.
(Katalog Regensburg 2000)
Foto: Wolfgang Schmale
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jedoch überall von Wasser (Meere und Flüsse), auch in Abgrenzung zu
Asien! Das Verständnis von Europa als paradiesgleichem Kontinent
war weit verbreitet und bereitete die Vorstellung von Europa als dem
vornehmsten Kontinent der Erde vor.
Der letzte Aspekt wurde dann vor allem mit Hilfe der gemeinsamen
Repräsentation der vier bekannten Erdteile Europa, Asien, Afrika und
Amerika hervorgestrichen. Oft wird Europa erhöht und als Herrscherin über die anderen Kontinente dargestellt, wie im ersten Band des
„Theatrum Europaeum“ von Merian aus dem Jahr 1635 (Schmale 2001:
72, Abb. 4.3). Die Attribute der Figuren vermitteln, dass Europa nicht
nur ein Kontinent des Überflusses ist, sondern auch jener Kontinent,
der Kriegskunst am besten beherrscht, wo die Wissenschaft am weitesten entwickelt ist, die Kunst das höchste Niveau erreicht, etc. Religiöse
Attribute sollen den alleinigen Wahrheitsanspruch des christlichen
Glaubens ausdrücken. Diese Europasymbolik machten sich im Lauf
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dann die Nationalstaaten zu
Eigen. Die Attribute der Europa materialisierten zugleich, was man
sich unter „europäischer Kultur“ im Einzelnen vorstellte. Das bekannteste Beispiel einer solchen „Kultur-Europaallegorie“ dürfte Jan van
Kessels Europaallegorie (zusammengehörig mit den drei anderen
Erdteilallegorien) von 1664 sein. „Die Darstellung vereinigt in sich alle
wesentlichen inhaltlichen Attribuierungen Europas, sie setzt allegorisch um, was mit dem Namen ‚Europa‘ verbunden wurde: Kunst, Wissenschaft, Gelehrsamkeit, Kriegskunst, die Expansion in überseeische
Gebiete, der natürliche Reichtum. Was die religiösen Aspekte angeht,
so sind diese zentral, jedoch in diesem Bild mit katholischen Attributen ausgedrückt: Rom und Papst. Rom ist zugleich als Anspielung auf
die Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation zu
verstehen; Rom und nicht etwa Wien war die Hauptstadt. Die Personifikation Europas und die Beiordnung von anderen Monarchien verweist auf die ‚Christliche Republik‘, die Europa ist.“ (Schmale 2004b:
82; ebenda Abb. 7a bis 7c)
Während der Subtext der Überlegenheit im späten 19. Jahrhundert
noch Gültigkeit beanspruchen konnte und etwa im Rahmen von Weltausstellungen zur Geltung gebracht wurde, waren die Wahrnehmung
und Darstellung Europas als Christliche Republik seit der Definition
von Volk bzw. Nation als politischem Souverän durch die französische
Revolution obsolet geworden. Nachdem der Erste Weltkrieg überdeutlich gezeigt hatte, dass von europäischer Überlegenheit in der Welt keine
Rede mehr sein konnte, konnten diese Europaallegorien anders als noch
im 18. Jahrhundert keine Bedeutung mehr beanspruchen. Heute wäre
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der Einsatz von Erdteilallegorien außerhalb von Karikatur und Satire
politisch höchst unkorrekt.
Europakarten
Typologie
In der mittelalterlichen Kartographie herrschten zunächst die Weltkarten vor, denen einige Regionalkarten gegenüberstanden. In Weltkarten,
die nach dem T- bzw. TO-Schema gefasst waren, konnte man drei Erdteile betrachten: in der gesamten oberen Hälfte der runden Karte (orbis
terrarum) Asien als größten Kontinent, im linken unteren Viertel Europa oder auch Japhet-Land gemäß der biblischen Völkerstammtafel, im
rechten unteren Viertel Afrika. Realere Konturen erhielt Europa in den
Portolan-Karten genannten Seefahrerkarten seit dem 14. Jahrhundert.
Im späteren 15. Jahrhundert kamen Europakarten im engeren Wortsinn hinzu, in denen beispielsweise für Pilger Straßen, Wege, Städte und
Stationen nach Rom verzeichnet waren. Die immer genaueren Europakarten des 16. Jahrhunderts wurden in der Regel ohne die Eintragung
politischer Grenzen gefertigt. Im Lauf des 17. Jahrhunderts setzte sich
die Angabe politischer oder z.B. konfessioneller Grenzen allmählich
durch. Die Europakarten des 19. Jahrhunderts mussten vielfach militärische Ansprüche befriedigen. Im späteren 19. Jahrhundert, in der Epoche des übersteigerten Nationalismus, kamen satirische – zeitgenössisch
etwas beschönigend „humoristisch“ genannte – Karten hinzu, in denen
die Nationalstaaten Europas durch Tiere oder vermeintlich nationaltypische Figuren repräsentiert waren und die einander alles andere als
brüderlich begegneten. Den großen ideologischen Bewegungen des 20.
Jahrhunderts entstammen propagandistische Europakarten, die die
Bekämpfung des ideologischen Feindes visualisierten. Zutat der Zeit seit
1945 sind Karten, die die Mitgliedschaft in der EG/EU hervorheben oder
die, wie die Satellitenkarten, ikonographisch wieder an das wenigstens
in der Visualisierung innere politische Grenzen entbehrende kartographische Europa des 15./16. Jahrhunderts anknüpfen.
Analyse
Bis weit in die Frühe Neuzeit visualisierten Karten geographische Körper, gleich ob es sich um die Erde, Europa, eine Insel, eine Region oder
eine Stadt handelte (Schmale 2001: Abb. 2.9; 3.1; 3.3; 3.4; 4.2). Als etwas von Gott Geschaffenes waren die Erde und ihre Teile nichts Zufälliges, sondern Ausdruck von Wesenheiten. Spuren dieser Ansicht hal-
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ten sich bis heute, denn immer noch werden die geographischen Grenzen Europas als Argument herangezogen, wenn überlegt wird, ob ein
bestimmtes Land zu Europa gehört. Da die Festlegung von Wasser oder
Gebirgszügen als kontinentale Grenzen im Grunde willkürlich ist, zeigt
sich an der Fortwirkung des geographischen Arguments die Zähigkeit
alter essenzialistischer Überzeugungen. Wasser und Gebirge sind nicht
erst seit heute genauso gut Zonen des Übergangs und des Transfers
sowie der Verbindung, wie sie Barrieren darstellen können. Diese geographischen Grenzen sind weder natürlich noch zwingend, sondern
Konstrukte, die auch anders sein könnten.
Karten geben sich objektiv, doch stellen sie in Wirklichkeit nichts
anderes als die Projektion bestimmter Anschauungen auf die Erde oder
Teile davon dar. Sie sind somit suggestiv.
Emblematik
Typologie
Sofern nicht die auf Europa und Stier reduzierte Visualisierung des
Mythos bereits als Emblem eingestuft wird, können Europaembleme
als Erfindung der Europabewegungen in der Zwischenkriegszeit bezeichnet werden. Graf Richard N. Coudenhove-Kalergi, Begründer der
paneuropäischen Bewegung und der Paneuropa-Union in der ersten
Hälfte der 1920er-Jahre, setzte sich besonders mit dem Erfordernis einer Europa-Emblematik auseinander. Praktische Anwendung fand diese allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich der Europarat in
einem langwierigen und kontroversen Verfahren 1955 für 12 goldene
Sterne auf blauem Hintergrund als offizielles Emblem entschieden hatte. Die EG übernahm später dieses Emblem. Die Entscheidungsprozesse wurden von der Einsendung von Tausenden von Vorschlägen und
Entwürfen europäischer BürgerInnen begleitet (Göldner 1988).
Das Emblem hat sich durchgesetzt, nicht zuletzt, weil es zahllose
phantasievolle designerische Variationen zulässt, die sich etwa Firmen
für ihre Werbung zunutze machen. Die Tatsache, dass es offiziell sowohl vom Europarat, der zahlenmäßig mehr Mitglieder hat als die EU,
als auch von der EU benutzt wird, erlaubt es, hier von einem europäischen Emblem zu sprechen.
Analyse
Graf Coudenhove-Kalergi verwendete schon in der Zwischenkriegszeit
ein rotes Kreuz auf goldenem Grund als Europaemblem und schlug
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dies nach dem Zweiten Weltkrieg auch dem Europarat zur Übernahme vor. In einem Memorandum vom Juli 1950 für den Europarat erläuterte er (als Generalsekretär der Europäischen Parlamentarier-Union) den Sinn dieses Emblems: „Das rote Kreuz ist das Symbol der supranationalen Nächstenliebe und die goldene Scheibe das Symbol der
Sonne, des Lichtes und des Geistes.“ Es ließe sich leicht auf eine blaue
Flagge applizieren. Weiters lautet es bezüglich des Kreuzes: „Das Kreuz
ist seit dem Zusammenfall des Römischen Reiches das große Symbol
der moralischen Einheit Europas. (…) Das rote Kreuz im Zentrum der
Flagge repräsentiert unbestreitbar die älteste Flagge Europas, kreiert
in der Epoche der Kreuzfahrer.“ (Schmale 2001: 253)
Bei Coudenhove-Kalergi werden die christlichen Wurzeln Europas
durch das Emblem sehr stark in den Vordergrund gerückt. Dieser Effekt wird noch durch die Farbe Blau erhöht, da diese Farbe historisch
zum Kennzeichen der europäischen Christen aus der Sicht der Nichteuropäer, z.B. der Muslime, geworden war. Im 19. Jahrhundert zeigen
japanische Darstellungen Europäer nicht zufällig in blauen Kleidern;
Pierre de Coubertin, Begründer der modernen Olympiabewegung, gab
dem europäischen Ring im olympischen Ringemblem die Farbe blau;
etc. (Pastoureau/Schmitt 1990). Psychologisch vermittelt Blau Ruhe
und Frieden, was dem nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten Selbstverständnis (West-)Europas entgegenkam.
Über Jahre hinweg konnte sich das grüne „E“ auf weißem Grund sowohl beim Europarat wie später bei der EWG als Europa-Emblem behaupten. Grün wurde gewählt, weil es mit „Hoffnung“ konnotiert war.
Die zwölf Sterne auf blauem Grund haben das „E“ längst verdrängt. Die
ursprünglich fünfzehn Sterne sollten die Mitglieder des Europarats repräsentieren, nach einem Streit wurde die Zahl Zwölf gewählt, die „Vollkommenheit und Ganzheit“ ausdrücken sollte. Natürlich gab und gibt
es religiös-christliche Interpretationen der Zahl Zwölf, die allerdings offiziell weder beim Europarat noch bei der EU eingeräumt werden.
Ein Vergleich der Embleme seit der Paneuropaunion ergibt, dass
Coudenhove-Kalergi von einem europäischen ens bzw. Gemeinwesen
mit gesicherter Identität ausging, das zu erhalten und zu verteidigen
war. Die Nachkriegsembleme sind eher programmatisch, zukunftsgerichtet, geben Zielsetzungen für Europa, eine zu erreichende Identität
an. Alle Versuche, dem vereinigten Europa eine offizielle religiös-christliche Symbolik zu geben, wurden letztlich abgelehnt. Obwohl das historisch-kulturelle Erbe in der Europarhetorik eine große Rolle spielt,
bemüht die Emblematik die europäische Zukunft und nicht ihre Vergangenheit.
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Architektur
Typologie
Obwohl nicht von einem spezifischen Europastil gesprochen werden
kann, so wurde doch von Anfang an die Architektur als Instrument der
Visualisierung eines sich einigenden oder geeinten Europa eingesetzt.
Den Anfang machte der Europarat mit dem Europaratsgebäude in
Straßburg, heute okkupiert freilich die EU mit ihren repräsentativen
Gebäuden in Straßburg, Brüssel, Luxemburg und demnächst Frankfurt (neues Gebäude der Europäischen Zentralbank EZB) das Feld. In
Straßburg bildet das Ensemble aus den eng beieinander liegenden
Gebäuden des Europarats und der EU ein großflächiges stadtarchitektonisches Ganzes, in Brüssel wurde im Lauf der Jahre ein ganzes
Viertel niedergelegt, um Platz für die Gebäude der EG bzw. EU zu schaffen, in Luxemburg wurde ein neues Europaviertel angelegt, und der
künftige Komplex der EZB wird seinem Umfang nach ein eigenes Bankenviertel repräsentieren.
Die offiziellen Gebäude machen nur einen Teil der Europaarchitektur
aus. Viele Einzelbauwerke wie etwa die „Europabrücke“ der Brennerautobahn in Österreich aus den 1960er-Jahren oder die Anlage von
„Europaplätzen“ bzw. „Europaparks“ in vielen Städten vergegenwärtigen auf ihre Weise Europa (Abb. 5). Diese Tradition reicht in das Europa des Bürgertums aus der Zeit um 1900 zurück, wo mindestens in
den Hauptstädten repräsentative Hotelbauten den Namen „Hotel Europa“ erhielten.
Die Popularisierung des Prinzips, Europa auch baulich zu visualisieren, zeigt sich an den zahllosen Cafés namens Europa, oder auch an
Würstelständen und Pavillons gleichen Namens. Bei etwas eingehender Befassung mit Visualisierungen Europas im städtischen Raum ergeben sich mitunter, wie in Wien, ausgesprochene Europa-Parcours.
Analyse
Die Tatsache, dass neue Bauwerke die europäischen Institutionen repräsentieren oder neue Bauwerke bzw. Anlagen auf den Namen „Europa-…“ getauft wurden und werden, scheint aus sich selbst verständlich zu sein. Sie ist aber deshalb nicht bedeutungslos, und es gibt auch
kein Gesetz, demzufolge politisch Neues durch Neubauten zu verdeutlichen sei. Die Regierungen der Nationalstaaten nutzen, soweit nicht
Kriegszerstörungen das verhinderten, vielfach prachtvolle Bauten der
Frühen Neuzeit, insbesondere des 18. Jahrhunderts oder die im 19.
Jahrhundert nicht weniger prachtvoll bzw. pompös errichteten Gebäude
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Abb. 5: „Europahaus“ (1929) in Leipzig
Foto: Wolfgang Schmale
für sich. In Wien ist das besonders anschaulich und offensichtlich. Die
meisten europäischen Länder hätten allerdings Grund genug gehabt,
ihren politischen Neuanfang auch architektonisch auszudrücken. Italien hatte den faschistischen Mussolini-Staat hinter sich gelassen,
Frankreich annullierte das Vichy-Regime und markierte dies durch die
Verfassung der Vierten Republik, die die Dritte Republik ablöste, Öster-
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reich begründete die Zweite Republik, etc. Lediglich die Bundesrepublik Deutschland, die „Bonner Republik“, konnte nicht anders, als den
politischen Neubeginn auch architektonisch durch neue Regierungs-,
Parlaments- und Gerichtsbauten symbolisch herauszuheben.
Es ist spekulativ, ob es denkbar gewesen wäre, den aufkeimenden
europäischen Institutionen in Straßburg, Brüssel, Luxemburg und anderswo – von Provisorien in der Gründungszeit abgesehen – historische Bauten zur Verfügung zu stellen. Das Neue – Europarat, EWG,
EZB, um nur eine Auswahl zu nennen – wurde und wird durch Neubauten visualisiert. Setzt man dies mit der programmatischen Europa-Emblematik in Verbindung, so wird die Perspektive des Neuen und
Zukünftigen als die Eigenschaft Europas vertieft. Europa erscheint visuell als junger Kontinent – ein ausgesprochener Subtext der Emblematik und der Architektur, der vielen nicht bewusst ist.
Europa im Kleinformat: Briefmarken, Münzen, Banknoten
Europa, vor allem das Europarats-Europa, wurde den BürgerInnen im
Prä-Internet-Zeitalter auf Briefmarken näher gebracht. Neben dem Ländernamen wiesen die Marken den Namen „Europa“ aus; die Motive waren
länderübergreifend, eben europäisch, gewählt, wobei die länderspezifische Ausführung variierte. Die Motive zeigten ineinander greifende
Zahnräder, das „Haus Europa“, einen Schlüssel, Friedenstauben und
anderes – kurz, eine leicht verständliche Symbolik (Abb. 6).
Mit der Schaffung des Europäischen Währungssystems im März
1979, das mit der „European Currency Unit“ eine ECU abgekürzte Verrechnungseinheit einführte, entstanden sogleich Design-Vorschläge für
europäische Banknoten und Münzen. Belgien etwa gab 1987 – 30 Jahre Römische Verträge – eine 50-ECU Goldmünze und eine 5-ECU Silbermünze als offizielles Zahlungsmittel in Umlauf. Die eine Seite zeigte ein Porträt Karls des Großen, die andere die zwölf Sterne.
Die heutigen Euro-Banknoten führen abstrahierte Baustile oder architektonische Elemente als Bilder, die historisch und gegenwärtig im
größten Teil Europas vorkamen und vorkommen. Die Münzen symbolisieren auf der einen Seite durch die Verwendung grundsätzlich derselben Motive – u.a. eine kartographische Symbolik – ein transnationales Europa, während auf der anderen Seite nationale Motive, umgeben vom Kranz der zwölf Sterne, erlaubt sind. Nun ist der Euro nur in
der Minderzahl der europäischen Staaten die Landeswährung, als Zahlungsmittel wird er aber inzwischen auch in den meisten europäischen
Nicht-Euro-Ländern gern genommen. In Montenegro wurde er – nach-
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Abb. 6: Europa-Briefmarken
Foto: Wolfgang Schmale
dem die Deutsche Mark durch den Euro abgelöst worden war – als
offizielles Zahlungsmittel verfügt, in Kuba werden lieber Euros statt
US-Dollars genommen, usw. Zudem hat er sich neben Dollar, Schweizer Franken und Yen als eine Weltwährung etabliert. Insoweit visualisiert der Euro wesentlich mehr als die eigentlichen Euro-Länder, wesentlich mehr als die EU.
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E U R O PA - V I S U A L I S I E R U N G E N I M Ö F F E N T L I C H E N
R A U M : E I N E U R O PA PA R C O U R S D U R C H W I E N
Den im Folgenden besprochenen Europaparcours in Wien habe ich im
April 2004 für eine Lehrveranstaltung zur Wiener Europaikonographie
zusammengestellt und im Internet einschließlich zahlreicher Fotos
veröffentlicht: http://europa.univie.ac.at_Kontexte_Europatopografie
Wiens. Auf dieser Website sind auch Beiträge zur Wiener Europaikonographie von Studierenden veröffentlicht.
In der Regel kommt niemand nur deshalb nach Wien, um Visualisierungen Europas nachzugehen. Dies ist kein wirklich touristisches
Thema, obwohl es eines sein könnte, denn seit Jahrhunderten wurde
und wird Europa gerade in den Städten des Kontinents auf verschiedene Weise visualisiert. Darin erweist sich ein europäisches Zugehörigkeitsgefühl, das nicht versteckt, sondern gezeigt werden soll.
In Wien lassen sich viele der touristischen Anziehungspunkte europäisch deuten, insofern scheint es fast müßig, Visualisierungen Europas in Wien ausdrücklich nachspüren zu wollen. Aber es geht nicht
nur um Touristisches. Die Visualisierungen haben oft einen kommerziellen oder politischen Sinn, manchmal haben sie pädagogische Bedeutung oder es geht um das leibliche Wohl. Die meisten Visualisierungen haben eine gewisse Tradition, sie verweisen auf lange Vorgeschichten – wie den Europamythos, die Europa-Erdteilallegorie oder
Hotels mit den Namen „Hotel Europa“. Die aktuelle Sternensymbolik
auf blauem Grund verweist auf die EU und deren Erfolgsgeschichte.
Obwohl sich Europa-Visualisierungen breit über das Wiener Stadtgebiet verteilen, zieht sich eine Art Europa-Schneise vom Westbahnhof
über die Mariahilfer Straße, Museumsquartier, Natur- und Kunsthistorisches Museum, vorbei an der Nationalbibliothek zum „Mahnmal gegen Krieg und Faschismus“ am Albertinaplatz bis zum neuen
Shoah-Denkmal am Judenplatz. Der Europa-Parcours beginnt am Westbahnhof mit zwei Erinnerungsorten und endet mit den beiden Erinnerungsorten zur NS-Gewaltherrschaft bzw. zum Holocaust in der Innenstadt. Es handelt sich um eine Hauptachse der Stadt.
Der Wiener Westbahnhof hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte zu
einem Schwerpunkt der Europa-Visualisierung entwickelt. Jüngste
Europa-Ereignisse waren der Euro-Zug und der Verkauf der Euro-Starter-Kits bei der Einführung des Euro (offizielles Zahlungsmittel ab 1.1.
2002).
Wer den Westbahnhof durch das Hauptportal verlässt, gelangt auf
den „Europaplatz“, der seinen Namen 1958 erhielt. Ein Gedenkstein
Visualisierungen Europas: Ein historischer Überblick
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erinnert daran, dass diese Namengebung auf eine Initiative des Europarats zurückgeht, die in vielen europäischen Städten zur Gestaltung
und Einweihung von „Europaplätzen“ führte. Der Wiener Europaplatz
lässt jede stadtarchitektonische Gestaltung vermissen, den Gedenkstein
übersieht man leicht.
Wer mit der U-Bahnlinie 3 den Westbahnhof erreicht, geht beim
Verlassen des U-Bahnbereichs direkt auf die Installation „Geschichte
Europas“ von Adolf Frohner zu. Frohner zeigt, rund 40 Jahre nach der
Taufe des oberirdischen Europaplatzes, unterirdisch eine Entwicklungsgeschichte Europas seit der Steinzeit. Sowohl das Kunstwerk wie auch
die Platztaufe sind im Grunde optimistische, in die Zukunft Europas
weisende Erinnerungsorte. So erscheint es fast logisch, wenn beim Verlassen des Bahnhofs der Blick auf weitere Europa-Visualisierungen in
Gestalt des „Europa-Funk“-Ladens und des „Europa-Cafés“ fällt, und
nur wenige Schritte am Mariahilfer Gürtel entlang stößt man auf ein
Restaurant mit Namen „Europa“. Konsum und leibliches Wohl sind
durchaus Kennzeichen Nachkriegseuropas.
Auf der anderen Seite des Europaplatzes öffnet sich die Mariahilfer
Straße bzw. endet in einem weiten Rund. Sie ist eine der Haupteinkaufsstraßen Wiens und führt das Programm von Konsum und Sorge
um das leibliche Wohl einschließlich sexueller Bedürfnisse fort. Das
Haus Nr. 123 am Ende der Straße in der Nähe des Europaplatzes wartet mit einer kleinteiligen Europasymbolik auf, die kommerzielle Verweise beinhaltet. Danach stößt man zunächst kaum mehr auf offenkundige Europa-Visualisierungen. Doch in der Zollergasse, einer Querstraße der Mariahilfer Straße, findet sich in Nr. 8, vis-à-vis von SOSMitmensch, wieder ein Café mit Namen Europa. Dieses Vis-à-Vis ist
angesichts der Asylpolitik der EU durchaus aussagekräftig, selbst wenn
es zufällig zustande gekommen ist. Wer von der Existenz des Cafés
nichts weiß, wird es übersehen, da es von der Mariahilfer Straße nicht
so ohne weiteres erblickt werden kann. Etwas weiter in Richtung Stadtmitte wurde (im April 2004) dem Auge eine jener ephemeren EuropaVisualisierungen geboten, die der Werbung entspringen und aufgrund
eines eher zufälligen Zusammentreffens Widersprüche deutlich machen, die heute tatsächlich europa-typisch sind. Vor der im April 2004
eingerüsteten Fassade der Mariahilfer Kirche hing ein großes Werbeplakat, das mit einer braungebrannten jungen Frau im Bikini in Rückenansicht für einen Badeurlaub in Griechenland warb, dem Land mit
dem angeblichen „Europarekord“ an Sonnenstunden – Olympia 2004
in Athen warf seine Werbeschatten voraus. Davor steht ein Haydn-Denkmal. Über diese Konstellation – katholische Kirche, „Badenixe“, Grie-
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chenland-Werbung mit „Europarekord“, Olympische Spiele im Land
ihres Ursprungs, Haydn, Einkaufsstraße – könnte man geradezu philosophieren.
In Wegrichtung am Ende, in Hausnummernrichtung am Anfang der
Mariahilfer Straße, lenkt das Museumsquartier den Blick auf sich und
verleitet zum Durchschreiten der Torbögen. Rechter Hand lockt das
„Quartier 21“, das autonomen Kulturinitiativen Platz bietet, darunter
auch dem „Freiraum/transeuropa“, im Hof geht man direkt auf das
Kindermuseum „Zoom“ zu, das im Frühjahr 2004 eine Europaausstellung für Kinder bot, wo Kinder aktiv-spielerisch „Europa gestalten“ konnten (Näheres: Cornelia Gillinger/Urs Christoph Lener, in: http:/
/europa.univie.ac.at. _Wien, Europaikonografie_Europa für Hirn und
Hosenboden). Das Museumsquartier selbst ist aufgrund seiner modernen Kunstsammlungen, der Wechselausstellungen in der Kunsthalle,
der Veranstaltungen im Tanzquartier oder in den Hallen z.B. anlässlich
der Wiener Festwochen mindestens ein europäischer lieu de mémoire
et de rencontre, aber kein Ort weiterer unmittelbarer Europa-Visualisierungen.
Diese Aufgabe erfüllen das Naturhistorische und das Kunsthistorische Museum (erbaut 1872–1881). Der Haupteingang des Naturhistorischen Museums wird links von einer Europa-Erdteilallegorie, rechts
von einer kombinierten Amerika-Australien-Erdteilallegorie geschmückt.
Geht man um das Gebäude herum, finden sich erwartungsgemäß die
Figuren Asiens und Afrikas. Obwohl der Bau und die Figuren aus dem
späten 19. Jahrhundert stammen, greifen sie auf eine starke frühneuzeitliche Tradition an Erdteilallegorien zurück. Allerdings erlebte
das späte 19. Jahrhundert auch anderswo, wie etwa im Paris der Weltausstellungen, eine Renaissance der Erdteilallegorien.
Das Kunsthistorische Museum „verbirgt“ hinter seinen Mauern ebenfalls Erdteilallegorien. Die berühmtesten Beispiele hierfür sind ein Gemälde Rubens’ und eine Serie Ferdinand van Kessels, die einem etwas
älteren Vorbild, nämlich Jan van Kessel, folgen. Bei genauerer Suche
finden sich noch mehr Europae im Museum (Näheres: Marion Romberg/Martin Gasteiner, in: http://europa.univie.ac.at. _Wien, Europaikonografie_Die malerische Europa).
Ein weiterer Bau des späten 19./frühen 20. Jahrhunderts, nach der
Überquerung der Ringstraße, die heutige Nationalbibliothek (Neue
Burg, 1881–1913), wartet an der Burggarten-Fassade mit einem Giebelfries auf, der die Europa mit dem Stier als Motiv aufzunehmen scheint:
Vordergründig handelt es sich (von links nach rechts blickend) um Allegorien der Landwirtschaft, des Handels und des Bergbaus. Die Ge-
Visualisierungen Europas: Ein historischer Überblick
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staltung der Allegorie auf die Landwirtschaft bedient sich jedoch der
traditionellen Elemente der Europaikonographie.
Es ist bemerkenswert, wie dicht in diesem Hofburgareal – das Museumsquartier nutzt die ehemaligen, zur Hofburg gehörenden Marställe – die öffentlich sichtbaren Europa-Visualisierungen im 19. Jahrhundert verteilt wurden, was in dieser Beziehung Wien von anderen Städten unterscheidet.
Am Ausgang des Burggartens, die Albertina linker Hand liegen lassend, läuft man geradewegs auf Alfred Hrdlickas „Mahnmal gegen Krieg
und Faschismus“ zu. Solche Denkmäler sind nie unumstritten, hier
geht es jedoch um die Bedeutung des Denkmals als europäischer Erinnerungsort. Dieses Denkmal und ebenso das Shoah-Denkmal am Judenplatz, ebenfalls ein europäischer Erinnerungsort, verweisen, anders als
das Europa-Ensemble des Westbahnhofs, auf die Judenvernichtung
durch die Nationalsozialisten und den Tod von Millionen von Menschen im Zweiten Weltkrieg. Erst nach der Wende von 1989 ist die
Erinnerung an den Holocaust in das Zentrum nicht nur der Erinnerungskultur einzelner Länder, sondern eines europäischen Gedächtnisses gerückt. Beide Denkmäler sind im historischen Kerngebiet der
Stadt aufgestellt: An der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik
gegenüber der jüdischen Bevölkerung und am Zweiten Weltkrieg zerbrach die historische Kultur Europas.
Das Europa-Ensemble des Westbahnhofs liegt stadtarchitektonisch
in einem jüngeren Teil der Stadt. Es hat symbolischen Wert, dass sich
die optimistischen europäischen Erinnerungsorte am Westbahnhof
gewissermaßen von der historisch jüngeren Gürtel-Peripherie in Richtung des historischen Stadtkerns ergießen. Dort trifft die Symbolik auf
den expansiven Optimismus der Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert, für die beinahe schon übermütig Europaallegorie
und Europamythos bemüht wurden. Schließlich der Schock: Holocaust
und Krieg: inmitten der historischen Kultur Europas, symbolisch inmitten des historischen Stadtkerns von Wien.
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