- Norina Lauer

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- Norina Lauer
Theorie und Praxis
13.11.00 SKV
왘
Modellorientierte Behandlung
der Tiefendyslexie – ein Fallbeispiel
Von Ursula Danz und Norina Lauer
Ausgehend vom Logogen-Modell können verschiedene Formen von
Dyslexie bei Aphasie unterschieden werden. Auf der Basis der sich
daraus ergebenden Therapiemöglichkeiten wird im vorliegenden
Beitrag anhand eines Fallbeispiels eine modellorientierte Behandlungsmöglichkeit der Tiefendyslexie vorgestellt.
Nach dem Logogen-Modell (Abb. 1)
(MORTON, 1980; PATTERSON, SHEWELL, 1987)
können bei Sprachgesunden drei Wege
für das Transkodieren eines schriftsprachlichen Inputs in einen lautsprachlichen Output angenommen werden
(KREMIN , OHLENDORF, 1988; HECKLINGER,
1996):
왘 Route 1: Verarbeitung über das semantische System. Inhaltstragende
Wörter gelangen über den visuellen Eingangsspeicher und das orthographische
Eingangslexikon in das semantische
System. Hier geschieht die Transkodierung durch Aktivierung von wortspezifischen Bedeutungsmerkmalen. Die Informationen werden über das phonologische Ausgangslexikon an den phonologischen Ausgangsspeicher weitergeleitet. Das gelesene Wort wird ausgesprochen.
왘 Route 2: Direkte orthographischphonologische Route. Die Verarbeitung
läuft vom orthographischen Eingangslexikon direkt zum phonologischen Ausgangslexikon. Das semantische System
wird dabei umgangen.
왘 Route 3: Verarbeitung über die
Graphem-Phonem-Konversion (GPK).
Es kommt, ebenfalls unter Umgehung
der Semantik, zu einer einzelheitlichen
bzw. „oberflächlichen“ Verarbeitung.
Dem geschriebenen Wort werden unter
Berücksichtigung der Graphem-Phonem-Konversionsregeln direkt Phoneme zugeordnet.
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Sprachgesunden stehen alle oben
genannten Verarbeitungswege gleichzeitig zur Verfügung. Die Art der jeweiligen
Verarbeitung ist von dem zu lesenden
Material abhängig. Der ganzheitliche
Weg über das semantische System
(Route 1) ermöglicht die schnelle Erfassung von Wörtern und ihrer Bedeutungen. Die direkte orthographisch-phonoGesprochenes Wort
Auditiver
Eingangsspeicher
logische Route (2) wird dann aktiviert,
wenn es sich bei dem zu lesenden Material um Wörter handelt, die zwar hochfrequent auftreten, deren Bedeutung
dem Leser aber nicht eindeutig ist oder
die sich für ihn nur aus dem Kontext erschließen lässt. Handelt es sich aber
zum Beispiel um völlig unbekannte,
meist auch längere (Fremd-)Wörter oder
gar um Pseudowörter, muss eine
schrittweise Graphem-Phonem-Zuordnung stattfinden (Route 3).
Nach Hirnschädigungen (z.B. nach
Schlaganfall oder Schädel-Hirn-Trauma)
kommt es vielfach dazu, dass einzelne
Bild
Geschriebenes Wort
Bild-Kategorisierung
Visueller
Eingangsspeicher
Phonologisches
Eingangslexikon
Orthographisches
Eingangslexikon
1
Auditivphonologische
Konversion
(APK)
Semantisches
System
3
GraphemPhonemKonversion
(GPK)
2
1
Orthographisches
Ausgangslexikon
Phonologisches
Ausgangslexikon
Phonologischer
Ausgangsspeicher
PhonemGraphemKonversion
(PGK)
3
Graphematischer
Ausgangsspeicher
Schreiben
Sprechen
Abb. 1:
Logogen-Modell in Anlehnung an PATTERSON & SHEWELL (1987) und ELLIS & YOUNG (1988)
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왘 Theorie und Praxis
Verarbeitungswege pathologisch bevorzugt werden. Von den bevorzugten Verarbeitungsrouten lassen sich drei Formen der Dyslexie ableiten: Tiefendyslexie, Phonologische Dyslexie und Oberflächendyslexie.
왘 Tiefendyslexie: Bei der tiefen lexikalisch-semantischen Verarbeitung wird
das (weitgehend intakte) semantische
System aktiviert. Folgende Symptome
sind dabei zu beobachten:
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왘 Oberflächendyslexie: Folgende
Symptome sind für Patienten mit Oberflächendyslexie beim Lesen charakteristisch:
•
•
•
•
•
•
•
Semantischen Paralexien, d. h. Fehler, bei denen das gelesene Wort einen semantischen Bezug zum Zielwort hat, wobei zwischen assoziativen semantischen Fehlern (Guten →
Tag) und semantischen Fehlern mit
gemeinsamen Merkmalen zum Zielwort (Glaser → Schreiner) unterschieden wird.
Das Lesen von Pseudowörtern ist
nicht möglich, da diesen keine Semantik zugeordnet werden kann.
Die Wortart hat einen Einfluss auf das
Lesen (Nomen werden in der Regel
besser gelesen als Funktionswörter).
Die Konkretheit beeinflusst das Lesen (konkrete Wörter werden besser
gelesen als abstrakte Wörter) und/
oder die Vorstellbarkeit.
왘 Phonologische Dyslexie: Die Symptome der phonologischen Dyslexie
sind:
•
•
•
•
•
8
Isolierte Wörter können über direkte
orthographisch-phonologische
Übertragungen gelesen werden
(ganzheitliches Lesen ohne Semantik).
Semantische Variablen haben einen
geringen Einfluss auf das Lesen, da
die Verarbeitung nicht über das semantische System verläuft.
Es kommt aber zu Paralexien, bei
denen ein formaler Bezug zum Zielwort zu erkennen ist (z.B. Schreinerei → Schreiner).
Pseudowörter können nicht gelesen
werden, da die Patienten nicht mehr
über die Graphem-Phonem-Konversion verfügen.
Auch Wörter mit irregulärer Orthografie können korrekt gelesen werden,
was für eine direkte Verbindung vom
visuellen Input-Logogen-System
zum Output-Logogen-System
spricht.
•
Pseudowörter können herausragend
gut gelesen werden, da die Patienten über die Graphem-Phonem-Konversion verfügen.
Beim lauten Lesen von einzelnen
Wörtern werden oft nicht-lexikalische
Formen produziert.
Häufig sind die Lesefehler dem Zielwort phonologisch ähnlich.
Beim Lesen sind Fehler zu beobachten, die auf orthographischen Unregelmäßigkeiten der zu lesenden Wörter beruhen (z. B. Strandhäuschen →
[st‘anth¿çs\n], [§t‘anth¿ç§\n]).
Die beobachtbaren Lesefehler können insgesamt auf eine „Falschanwendung gültiger, aber für das spezielle Item
unangemessener Graphem-PhonemKonvertierungsregeln“ (KREMIN, OHLENDORF, 1988, S. 71) zurückgeführt werden.
Das Falschlesen kann sich dabei auf
Wörter mit irregulärer Orthografie beschränken. Semantische Paralexien treten nicht auf.
Im therapeutischen Alltag finden sich
die oben genannten Dyslexie-Syndrome
oft in kombinierter Form und nicht so klar
abgrenzbar, wie vom theoretischen Modell abgeleitet. Es ist aber immer wieder
zu beobachten, dass einzelne Routen
deutlich bevorzugt werden. Ansatzweise
lassen sich diese Bevorzugungen einzelnen aphasischen Syndromen zuordnen.
So findet man die Oberflächendyslexie
eher bei Wernicke-Aphasikern, während
die Tiefendyslexie tendenziell häufiger
bei Broca-Aphasie zu beobachten ist.
Durch eine störungsspezifische Behandlung wird versucht, die pathologische Bevorzugung einzelner Routen
zumindest teilweise aufzulösen und dem
Patienten Möglichkeiten zu eröffnen, den
orthographischen Input effektiver zu
transkodieren.
HECKLINGER (1996) nennt verschiedene Möglichkeiten für das störungsspezifische Training des einzelheitlichen
Verarbeitens bei phonologischer Dysgraphie, die auch bei der Behandlung der
Tiefendyslexie Anwendung finden können:
a) Identifikation von Anzahl der Silben/
Laute eines auditiv vorgegebenen
(Pseudo-)Wortes
b) Identifikation und Positionsbestimmung eines Lautes in einem auditiv
dargebotenen (Pseudo-)Wort
c) Identifikation und lautierendes Benennen von Lauten in (Pseudo-)Wörtern bei vorgegebener Lautposition
d) Gedehntes Sprechen bestimmter
Laute in (Pseudo-)Wörtern
e) Nachsprechen von Silben mit umgekehrter Phonemabfolge (z. B. [pa] →
[ap])
In den anschließenden Fallbeispielen
wurden die Punkte b), c) und d) in die
Behandlung der Tiefendyslexie integriert,
wobei der Identifikation und dem lautierenden Benennen eine Schlüsselrolle
zukommt. Zudem wurde das Vorgehen
um das eigene Benennen eines Objektes sowie eine schriftsprachliche Komponente (Einsetzen des Lautes in ein
Lückenwort) erweitert. Im Folgenden
wird die Behandlung des einzelheitlichen
Verarbeitens anhand zweier Patientenbeispiele genauer beschrieben und die
Effektivität der Behandlung diskutiert.
Falldarstellung
Bei der 30-jährigen Patientin I. H. wurde der Aachener Aphasie Test (AAT) drei
Monate vor dem ersten Untersuchungstermin zur Phonem-Graphem-Zuordnung durchgeführt. Ihre mittelgradige
Aphasie ist die Folge eines SchädelHirn-Traumas, welches ca. viereinhalb
Jahre zurücklag. Die Auswertung der
einzelnen Untertests ergab zu 100 % das
Syndrom einer mittelschweren BrocaAphasie.
Die Spontansprache der Patientin ist
von dem für diese Aphasieform typischen Agrammatismus mit fehlenden
Funktionswörtern und Flexionsformen
gekennzeichnet. Ihre Sprachverständnisstörung konnte mit dem Rohpunktwert 96 als mittelgradig bis leicht eingestuft werden. Fehler traten bei der Überprüfung dieser Sprachmodalität mit einer Ausnahme nur auf der Satzebene
auf. Dabei bestand das Hauptproblem
im Verstehen von Funktionswörtern. Die
Fehlerpunktzahl im Token-Test betrug 28
von 50.
In der Verarbeitung von Schriftsprache wies die Patientin das typische Bild
einer Tiefendyslexie und -dysgraphie
auf. Dies zeigte sich im AAT vor allem
im lauten Lesen, bei dem ausschließlich
Wörter gelesen werden konnten, deren
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Semantik der Patientin zur Verfügung
stand. Es kam zu wenigen semantischen
Paralexien, die von ihr nicht bemerkt
wurden. Bei unbekannter Semantik eines zu lesenden Wortes reagierte die
Patientin meist, indem sie offen äußerte, dass sie dieses Wort nicht lesen könne. Analog hierzu zeigten sich dieselben
Probleme beim Schreiben nach Diktat
und beim schriftlichen Benennen. Es
konnten die typischen Konkretheits- und
Wortklasseneffekte in beiden Modalitäten beobachtet werden.
Ziel des im Folgenden beschriebenen Vorgehens war es, die Leistungen
im Lesen und Schreiben insbesondere
für Funktionswörter zu verbessern, um
somit auch einen positiven Effekt auf das
Lesen und Schreiben von kurzen Sätzen
und somit auf den Agrammatismus zu
erreichen.
Voruntersuchung und Methodik
In einer Voruntersuchung wurden der
Patientin Bilder von ein- und zweisilbigen Wörtern vorgelegt, die in jeweils allen Positionen die Phoneme bzw. Grapheme [p] und [f] bzw. [s] und [k] ent-
왘
Schritt Aufgabe
1
Benennen
2
3
4
Vorgehen
Die Patientin wird aufgefordert,
ein Bild zu benennen.
PhonemDie Patientin soll das Phonem
identifikation isoliert benennen.
Spezifische Hilfen der Therapeutin
semantische Hilfe, ggf. Nachsprechen
Wiederholung, Aufforderung zum
Dehnen
des
Wortes
oder
Schlüsselwortes, Therapeut spricht
mit gedehntem Phonem vor,
Einsatz von mediatorischer Gestik
GraphemDie Patientin soll das dem Pho- -zuordnung
nem entsprechende Graphem
aus einer Auswahl von 2 Graphemen zeigen.
Einsetzen in Das Graphem soll von der -Lückenwort Patientin in ein Lückenwort
kopiert werdenl.
Tab. 1: Schrittweises Vorgehen in Untersuchung und Therapie
hielten. Bei der Auswahl dieser Phoneme/Grapheme wurde darauf geachtet,
dass diese sich sowohl in ihrer graphematischen Form als auch phonematisch
durch ihre distinktiven Merkmale unterschieden. In der Therapie wurde mit den
Phonemen [p], [f], [s] und [k] anhand in
der Untersuchung nicht enthaltener
Items gearbeitet, während die Phonempaare [§] und [t] nicht geübt werden sollte, um einen evtl. auftretenden Transfereffekt nachweisen zu können.
Das schrittweise Vorgehen in Untersuchung und Therapie ist in Tabelle 1
zusammengefasst. Zu Beginn wurden
der Patientin die Grapheme/Phoneme,
auf die es jeweils ankam, vorgestellt. Die
Aufgabe für sie bestand darin, im ersten
Schritt das vorgelegte Bild zu benennen.
Falls dies nicht gelang, wurden semantische Hilfen durch die Therapeutin eingesetzt. Erst wenn dies nicht den gewünschten Erfolg brachte, sprach die
Therapeutin das Wort vor. In Schritt zwei
sollte das enthaltene Phonem isoliert
benannt werden. Man muss sich dabei
des Problems bewusst sein, dass bei
vorliegender Sprechapraxie die Artiku-
NOT 1/2 quer
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lation des Phonems beeinträchtigt sein
kann. Dies war bei der genannten Patientin nicht der Fall. Wenn sie statt des
isolierten Phonems ein Schlüsselwort
nannte, gab sie damit zu erkennen, dass
sie das korrekte Phonem identifiziert hat.
Das isolierte Benennen des Phonems
wurde trotzdem gefordert, um die Strategie auf neu zu lesende Wörter übertragbar zu machen. Im dritten Schritt
ging es um die Zuordnung des Phonems
zu einem der beiden vor ihr liegenden
Grapheme.
Im letzten Schritt musste das Graphem in ein anschließend vorgelegtes
Lückenwort eingefügt werden. Alle eingesetzten Hilfen und Reaktionen der
Patientin wurden mit den in der Tabelle 2 erläuterten Abkürzungen gekennzeichnet und in einem tabellarischen
Protokollbogen vermerkt.
Die Ergebnisse der Voruntersuchung
sind in Tabelle 3 enthalten. Dabei wurden zunächst zehn Items mit den Phonemen/Graphemen [p] und [f] vs. fünf
Items mit [s] und [k] gegenübergestellt.
Beim Benennen der Items mit [f] und [p]
konnte die Patientin sechs Items korrekt
benennen. In einem Fall musste ihr über
die Sprachfunktion Nachsprechen und
dreimal über den semantischen Kontext
geholfen werden. Bei der Phonemidentifikation konnte sie drei Phoneme richtig und ohne Hilfe isoliert benennen. Drei
Mal konnte sie nur das Schlüsselwort
[fö§] und [pe:t‡] angeben, den Laut jedoch nicht isoliert aussprechen. In vier
Fällen musste sich die Patientin selbst
korrigieren, konnte jedoch dann das
Phonem isoliert nennen. In einem Fall
wiederholte sie das Item und gab sich
damit die Hilfe selbst, welche dann zum
Erfolg führte. Die Graphemzuordnung
gelang ihr acht Mal korrekt, zwei Mal korrigierte sie sich selbst. Das Einsetzen des
Graphems in ein Lückenwort gelang ihr
immer richtig.
Bei den Bildern für Wörter mit [s] und
[k] konnte sie drei sofort richtig benennen. Bei zwei Bildern produzierte sie eine
phonematische Paraphasie, die ein Mal
selbst von ihr korrigiert wurde. Bei der
Phonemidentifikation zeigte sie in vier
Fällen Selbstkorrekturen bzw. ein Mal
eine Unsicherheit. Bei der Graphemzuordnung konnte sie drei Phoneme sofort
dem korrekten Graphem zuordnen, in
zwei Fällen erfolgte eine Selbstkorrektur. Das Einfügen des Graphems in ein
Lückenwort erfolgte bis auf eine Selbstkorrektur immer korrekt.
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Zusammenfassend verdeutlichen die
Ergebnisse der Voruntersuchung, dass
die Patientin in erster Linie Probleme bei
der isolierten Nennung des Phonems
hatte. Dies zeigte sich in den nahezu
durchgängigen Selbstkorrekturen. Die
Patientin wandte in drei Fällen die nahe
liegende Strategie des Nennens eines
Schlüsselwortes an. Die Graphemzuordnung und das Einsetzen des Graphems
in ein Lückenwort schien demgegenüber
eine geringere bis gar keine Schwierigkeit für die Patientin darzustellen.
Therapie
Es folgte ein Therapieintervall von drei
Monaten mit jeweils ein Mal wöchentlich stattfindenden Therapiesitzungen. In
den Therapieeinheiten wurde nach dem
gleichen Setting wie in der Überprüfung
gearbeitet. Bei der Auswahl der Phonempaare wurde vom größtmöglichen
Kontrast, z.B. Vokal vs. stimmlosen Konsonant, zum minimalen Kontrast, z.B. [k]
vs. [g], also Phonemen, die sich nur noch
in einem distinktiven Merkmal unterschieden, vorgegangen. Es wurde weiter auf Kriterien wie Ablesbarkeit des
Mundbildes bei den Hilfen „Therapeut
spricht das Wort mit dem gedehnten
Phonem vor“ oder „Vorgabe des Phonems“ geachtet. Demzufolge wurde von
der vorderen zur hinteren Artikulationszone gearbeitet.
Zu Beginn der Therapie versuchte
sich die Patientin bei der Phonemnennung stets über ein Schlüsselwort zu
Abkürzung zu *1 Erklärung
Reaktionen des Patienten (selbstinitiiert)
R
richtige Reaktion
SK
Selbstkorrektur
U
Unsicherheit
WPat
Patient wiederholt das Item selbstständig
AufPat
Patient fordert Therapeuten zur Wiederholung auf
Hilfen des Therapeuten (fremdinitiiert)
WTh
Therapeut wiederholt Item
G
Gestische Hilfe
AufD
Therapeut fordert Patienten zum Dehnen auf
DTh
Therapeut spricht das Wort mit dem gedehnten Phonem vor
V
Vorgabe des Phonems
Abkürzung zu *2 Erklärung
Reaktionen des Patienten (selbstinitiiert)
R
richtige Reaktion
SK
Selbstkorrektur
U
Unsicherheit
Hilfen des Therapeuten (fremdinitiiert)
VL
Therapeut gibt Lösung vor
Tab. 2: Aufstellung der Patientenreaktionen und der zulässigen Hilfen bei der
Durchführung der Überprüfung zur Phonem-Graphemzuordnung
Item
Benennen
Nachsprechen
ungeübte Items
Gegenüberstellung von >I@ und >S@
Pilz
R
Fass
R
Fels
semant. Kontext
Rappe
R
Pass
semant. Kontext
Kaffee
R
Fell
semant. Kontext
Filz
R
Pelz
R
Pelle
R
geübte Items
Gegenüberstellung von >V@ und >N@
>WDQ?@
Kanne
Saum
R
Hase
R
>NÖ×@, R
Kinn
Wecker
R
Phonemidentifikation
*1
Graphemzuordnung
*2
Einsetzen in
Lückenwort
(Kopieren)
R
R
>I։@
>SHWi@, R
SK, SK, R
>I։@, R
SK, R
U, SK, SK
>SHWi@, SK, U,
>SHWi@
R
R
R
R
SK, R
R
SK, R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
SK, SK, R
U, R
SK, R
SK, R
SK, R
R
R
SK, R
SK, R
R
R
R
R
R
R
Tab. 3: Protokollbogen mit den Ergebnissen der Voruntersuchung
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helfen. Es wurde ihr dann über die Dehnung des zu isolierenden Phonems in
diesem Schlüsselwort geholfen, zu einer
isolierten Phonembenennung zu kommen. Dies erwies sich als erfolgreich,
weil diese „Schlüsselwortstrategie“ abgebaut werden konnte, wie die Nachuntersuchung 1 in Tabelle 4 zeigt.
Nachuntersuchung 1
In der im Anschluss an dieses Therapieintervall stattfindenden Nachuntersuchung 1 mit dem o. g. Setting zeigte die
Patientin die in Tabelle 4 aufgelisteten
Leistungen. Dabei mussten aus methodischen Gründen die ungeübten Items
mit [f] und [p] durch ungeübte Items mit
[§] und [t] ersetzt werden. Das Benennen der zwanzig Bilder erfolgte zehn Mal
korrekt. Bei sechs Items korrigierte sich
die Patientin selbst. In einem Fall wurde
von der Therapeutin eine semantische
Hilfe und in drei Fällen die semantische
Hilfe und die Anlauthilfe eingesetzt. Der
Einsatz der Sprachfunktion Nachsprechen war nicht notwendig. Es ergaben
sich im Auftreten der Selbstkorrekturen
und dem Einsatz von Hilfen keinerlei
Unterschiede zwischen Items der geübten und nicht geübten Phonempaare.
Bei der Erkennung der zehn ungeübten Phoneme konnte beobachtet werden, dass die Patientin das jeweilige
Phonem fünf Mal korrekt und ohne Hilfe
Item
Benennen
Nachsprechen
ungeübte Items
Gegenüberstellung von >‰@ und >W@
Masche
R
Tor
>W\i@, sem. H., R
Matte
R
Busch
sem. H., R
Schale
R
Ballett
SK
Schaum
R
Tanne
SK
Mutter
SK
Muschel
R
geübte Items
Gegenüberstellung von >V@ und >N@
Sahne
R
Rock
Mücke
R
R
Eiweiss
Rose
Kanne
Saum
Hase
Kinn
Wecker
R
R
SK
sem. H., R
R
SK
SK
isoliert nannte. Zwei Mal war die Patientin dabei unsicher und zweimal sprach
sie sich das Wort selbst nochmals vor.
Einmal musste die Therapeutin das Phonem vorgeben. In diesem Fall konnte die
Patientin auch das Graphem nicht zuordnen. Bei allen anderen Items konnte
das Graphem korrekt zugeordnet werden. Das Kopieren des Graphems in das
Lückenwort war immer korrekt.
Die Phonemerkennung bei den Items
des geübten Phonempaares ergab, dass
die Patientin zwei Mal eine korrekte Leistung ohne Hilfe erbrachte. Bei einem
Item korrigierte sie sich selbst, in einem
Fall zeigte sie Unsicherheiten. Vier Mal
musste die Therapeutin das Phonem
vorgeben. Bei zwei Items half der Patientin die Aufforderung zum Dehnen des
Wortes oder die Vorgabe des Wortes mit
der Dehnung des Phonems von Seiten
der Therapeutin. Bei der Graphemzuordnung zeigte die Patientin acht Mal das
korrekte Graphem, ein Mal korrigierte sie
sich selbst und ein Mal musste die Therapeutin das Graphem vorgeben.
Der Vergleich der Leistungen bei den
Items des geübten Phonempaares und
des ungeübten Phonempaares ergab
beim Benennen keine Unterschiede. Bei
der Phonemerkennung konnte die Patientin bei den ungeübten Items insgesamt mehr Phoneme isoliert richtig benennen. Es musste bei den ungeübten
ein Mal und bei den geübten vier Mal das
Phonemidentifikation
*1
Graphemzuordnung
*2
Einsetzen in
Lückenwort
(Kopieren)
Wpat, R
Wpat, R
Wpat, AufD,
DTh, V
R
R
R
U, R
R
R
U; R
R
R
VL
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
SK
R
R
R
R
R
VL
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
Wpat, AufD,
DTh, V
R
Wpat, AufD,
DTh, V
AufD, DTh, R
U, AufD, R
R
U, V
U, R
U, V
SK
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왘
Phoenix 1/3 hoch
Tab. 4: Protokollbogen mit den Ergebnissen der Nachuntersuchung 1
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Phonem vorgegeben werden. Hilfen wie
Aufforderung zum Dehnen des Wortes
oder Dehnen des Wortes durch die Therapeutin führten nur zwei Mal bei den
geübten Phonemen zum Erfolg. Die Patientin zeigte dabei auch mehr Unsicherheiten bzw. eine Selbstkorrektur, die bei
den ungeübten Phonemen nicht auftrat.
Unabhängig davon, ob die Phoneme
geübt oder nicht geübt worden waren,
musste die Therapeutin bei der Graphemzuordnung das Graphem je ein Mal
vorgeben. Ein Mal korrigierte sich die
Patientin bei den geübten Phonemen
selbst. In allen drei Fällen hatte die Patientin im vorangegangenen Schritt der
Phonemidentifikation die Aufgabe nicht
lösen können.
bei einer Selbstkorrektur in allen Fällen
korrekt. Bei den geübten Items konnten
die Phoneme bei einer Selbstkorrektur
mit Unsicherheit drei Mal korrekt genannt werden. Bei den restlichen Beispielen musste die Therapeutin Hilfen
einsetzen, wobei sie drei Mal das Wort
mit dem gedehnten Phonem vorsprach,
einmal gestische Hilfe und einmal gestische Hilfe in Kombination mit der Aufforderung zur Dehnung des Phonems
einsetzte. In einem Fall musste die Therapeutin das Phonem vorgeben. Die
Graphemzuordnung gelang neun Mal
sofort korrekt, in einem Fall forderte die
Therapeutin den Patienten auf, das Wort
nochmals zu wiederholen. Das Einsetzen des Graphems in ein Lückenwort
gelang bei allen Wörtern sofort richtig.
Vergleich Voruntersuchung –
Nachuntersuchung 1
Diskussion
Stellt man dieser Nachuntersuchung 1
nun die Ergebnisse der Voruntersuchung
gegenüber, wird deutlich, dass die
„Schlüsselwortstrategie“ bei der Phonemerkennung vollständig abgebaut
werden konnte. Desweiteren nahmen
Selbstkorrekturen und Unsicherheiten
stark ab. Entgegen den Erwartungen
konnte kein Übungseffekt festgestellt
werden, denn die Aufgabe mit den ungeübten Items konnte in der Nachuntersuchung deutlich besser gelöst werden
als bei den geübten Items. Der Leistungsabfall bei den geübten Items könnte auf das Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit zurückgeführt werden. Die
Verbesserung der Leistung bei ungeübten Items deutet jedoch auf einen
Transfereffekt hin.
Nachuntersuchung 2
Es folgte ein Zeitraum von 2,5 Monaten,
in dem keine Therapie stattfand. Im Anschluss wurde die Untersuchung zur
Phonem-Graphemzuordnung wiederholt, um die Stabilität der Leistungen
beurteilen zu können.
Die Ergebnisse in Tabelle 5 zeigen,
dass bei den ungeübten Items zwei Mal
das Phonem auf Anhieb richtig genannt
werden konnte, in vier Fällen wurden die
Phoneme nach Selbstkorrektur richtig
benannt. Vier Mal traten zusätzlich Unsicherheiten auf, wobei die Therapeutin
einmal das Wort wiederholte und einmal
eine unterstützende Geste als Hilfe einsetzte. Die Graphemzuordnung gelang
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Der Vergleich der drei Untersuchungen
zeigt, dass die Strategie über den Einsatz eines Schlüsselwortes bei der isolierten Nennung eines Phonems vollständig abgebaut werden konnte. Der
Leistungsstand konnte auch nach dem
Zeitraum ohne Therapie nahezu gehalten werden. Bei der Graphemzuordnung
kam es bei den Nachuntersuchungen zu
weniger Selbstkorrekturen. Man kann
daraus schließen, dass die Patientin bei
der Phonem-Graphem Zuordnung sicherer geworden ist.
Item
Benennen
Nachsprechen
ungeübte Items
Gegenüberstellung von >‰@ und >W@
Masche
R
Tor
>W\i@, sem. H., R
Matte
>PDWsDWV?@, R
Busch
R
Schale
R
Ballett
R
Schaum
R
Tanne
R
Mutter
R
Muschel
R
geübte Items
Gegenüberstellung von >V@ und >N@
Sahne
R
Rock
R
Mücke
R
Eiweiss
R
Rose
R
Kanne
>WDQ?@,
>NDIHNDQ?@
Saum
R
Hase
R
Kinn
>NÖ×@, R
Wecker
R
Als Folge ergab sich eine Verbesserung der semantischen Paralexien, weil
die Patientin zunehmend ihre Fehler
selbst erkannte. Darüber hinaus konnte
beim Lesen von Funktionswörter erreicht werden, dass die Patientin auf die
differenzierenden Grapheme z.B. e, i, a,
in den bestimmten Artikeln „der, die,
das“ achtete und somit als eine Art der
Self-cueing Strategie einsetzen konnte.
Dies stellte eine Unterstützung bei der
Agrammatismustherapie dar. Beim
Schreiben wurde eine Verbesserung der
Selbstkorrektur erreicht. Die Patientin
war nun in der Lage, ihre semantischen
Paragraphien beim schriftlichen Benennen selbst zu erkennen und zu korrigieren.
Bei einer zweiten Patientin S.T. mit
ausgeprägter Tiefendyslexie bei globaler Aphasie nach Schädel-Hirn-Trauma,
die unabhängig von der logopädischen
Therapie aus eigenem Antrieb zu einem
Volkshochschulkurs zum Lesenlernen
ging, konnte demgegenüber Folgendes
beobachtet werden: Die Patientin wechselte vollständig ihre Strategie vom
ganzheitlichen zum einzelheitlichen Lesen. So war ihr kein Zugriff auf die Semantik mehr möglich. Dadurch verschlechterten sich auch die Leistungen
im Untertest „Lesesinnverständnis“ des
AATs massiv. Bei dieser Patientin muss
nun die ganzheitliche Strategie wieder
reaktiviert werden.
Phonemidentifikation
*1
Graphemzuordnung
*2
Einsetzen in
Lückenwort
(Kopieren)
R
SK; WTh, U; R
SK; U; R
U; SK; SK; R
SK; U; G; R
SK; R
SK; R
SK; R
SK; R
R
R
R
R
SK
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
SK; U; R
SK; G; DTh; R
V
R
R
Aufpat, SK, R
R
R
R
R
R
R
R
R
R
SK; DTh, R
U; DTh, R
G, R
G, R
R
R
R
R
R
R
R
R
Tab. 5: Protokollbogen und Ergebnisse der Nachuntersuchung 2
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Theorie und Praxis
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Zusammenfassung
Das übergeordnete Ziel der Dyslexietherapie besteht darin, den Patienten
sowohl einzelheitliche als auch ganzheitliche Strategien verfügbar zu machen, damit sie diese je nach Aufgabenstellung und zu lesendem Material
flexibel einsetzen können. Auf der Basis der dargestellten Untersuchungsergebnisse kann festgehalten werden,
dass durch die Arbeit an der PhonemGraphem-Zuordnung eine Verbesserung im flexiblen Einsatz der einzelheitlichen Startegie bei der Patientin I.H.
Ursula Danz absolvierte ihre Logopädieausbildung 198588 an der Stiftung
Rehabilitation in Heidelberg. Es folgte
das Sstudium der
Linguistik, Psychologie und Philosophie an der Universität Heidelberg. Nach Tätigkeit als Logopädin
1989 in Wiesloch 1998 Studienabschluss
als Linguistin, 2000 als klinische Linguistin. Ab 1990 Lehrlogopädin für Aphasie
und seit September 2000 Leitende Lehrlogopädin an der Deuserschule Ludwigshafen.
erreicht wurde. Wie bei der Patientin S.T.
kann eine zu einseitige Förderung der
einzelheitlichen Verarbeitung negative
Folgen für die Verarbeitung von Schriftsprache haben.
Es ist jedoch hervorzuheben, dass
es sich bei der hier vorgestellten Untersuchung nur um eine Einzelfallstudie
handelt. Demzufolge können die Ergebnisse nicht verallgemeinert werden. Es
lassen sich allenfalls Tendenzen aufzeigen, die in weiteren, größer angelegten
Studien belegt werden müssten.
Norina Lauer erhielt
ihre Logopädieausbildung 1984-87 in
Marburg. Nach Tätigkeit am Ev. Krankenhaus Dinslaken und
der Stimm- und
Sprachabteilung der
Med. Einrichtungen der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf absolvierte sie von
1991-95 den Diplomstudiengang Lehrund Forschungslogopädie an der RWTH
Aachen. Seit Januar 1996 ist sie Lehrlogopädin (dbl) für Aphasie und Kindersprache
an der Deuserschule Ludwigshafen.
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Literatur
Ellis, A. W.; Young, A. W. (1988). Human
Cognitive Psychology. London: Erlbaum
Hecklinger, J. (1996). Selektive Störungen
des Schreibens von Pseudowörtern bei
einem Patienten mit Wernicke-Aphasie.
Neurolinguistik 10 (2), 101-116
Kremin, H.; Ohlendorf, I. (1988). Einzelwortverarbeitung im Logogen-Modell.
Neurolinguistik 2, 67-100
Morton, J. (1980). The logogen model and
orthographic structure. In: Frith, U. (ed.).
Cognitive Processes in Spelling. London:
Academic Press
Patterson, K. E.; Shewell, C. (1987): Speak
and spell: Dissociations and word class
effects. In: Coltheart, M.; Job, R.; Sartori,
G. (eds.). The Cognitive Neuropsychology of Language. London: Erlbaum
Autorinnen
Ursula Danz
Norina Lauer
Logopädenlehranstalt
Deuserschule
Wredestr. 38-40
67059 Ludwigshafen
Optica 1/3 quer
Forum Logopädie · Heft 1 (15) · Januar 2001
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