Wenn die Familie im Traum erscheint[2]

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Wenn die Familie im Traum erscheint[2]
1 „texte“ August/September 2014 _Thema im Schnittpunkt
Wenn die Familie im Traum erscheint – zur Aufarbeitung
transgenerationeller Komplexe
Das Fortwirken des familiären Unbewussten: Wir ringen im Leben nicht nur mit unseren
persönlichen Komplexen sondern auch mit Komplexen die wir „geerbt“ haben. Die
Entdeckung von transgenerationellen Symptomen und Symbolen in Träumen kann unsere
Seele von Lasten befreien und helfen, diese Inhalte nicht unverändert an spätere
Generationen
weiterzugeben.
„Nichtwissen um
die Vergangenheit
der Vorfahren kann
die individuelle
Psyche
schädigen.“(Coles,
p. 10)
Kristina Schellinski
Man sagt: “Die Zeit
heilt alle Wunden“ –
(Voltaire: Der
ehrliche Hurone/Der
Freimütige, Kapitel 20).
Als analytische Psychologin muss ich hinzufügen:
„aber langsamer als man denkt“. Nur träumen ist manchmal „schneller“. „Sie haben
es mir nicht gesagt, aber ich hab’s dann im Traum erfahren,“ so eine Klientin, deren
Träume nicht nur von Ihrem Unbewusstem ihr etwas mitzuteilen hatten, sondern auch
vom Unbewussten ihrer Eltern und Grosseltern. Träume aus uralten Zeiten...wie von
weit her, traumhaft, bisweilen albtraumhaft, aber wahr... Wie in diesem Bild von Goya:
„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer....“ ungeheuerliche Wahrheiten.
Jung spricht von der selbstheilenden Kraft der Seele, einer zentrierenden Kraft, die uns
zur Ganzheit entwickeln lassen will, uns auf unseren Individuationsweg bringt und
begleitet. Gilt dies auch wenn weitergegebene, transgenerationelle Traumata uns
leiden machen? Seelisches Heilen ist Entwicklung; seelisches Heilen wandelt.
Entwicklung, so denken wir, geht nicht zurück, sondern vorwärts. Und doch müssen wir
2 „texte“ August/September 2014 für dieses seelische Heilen, im Sinne von Ganzwerdung, und für das Fortschreiten im
Bewusstsein zurück schauen auf die Geschichte derer, die vor uns waren. Dann ist es
anders nachher, als es vorher war, dann können wir anfangen unsere Geschichte zu
leben, befreit von den seelischen Altlasten vorheriger Generationen. Es gibt Träume, in
denen die Komplexe von Vorfahren, oft aufgrund von Folgeerscheinungen von Traumata
oder Geheimnissen, die über Generationen vererbt wurden, bewusst werden. Jung
dachte, dass Zurückphantasieren die Vergangenheit verändern kann (siehe auch
Faimberg, p. 110).
In der Jung’schen Analyse bemühen wir uns darum beim Analysand/in den Dialog
zwischen dem Bewusstsein und dem Unbewussten herzustellen: wir schauen uns die
persönlichen Komplexe an, wie Vater und Mutterkomplexe, innere oder verinnerlichte
Bilder der Eltern Kind Beziehungen (1), sowie archetypische Inhalte, Bilder die auf den
Mutter und Vater Archetypus (2) verweisen. Jenseits dieser sehr wichtigen Ebenen,
gibt es wesentliche Bereiche der Seele, in denen diese Art von Beleuchtung und
Bewusstmachung von (1) und (2), nicht ausreicht, um den Sinn des jeweiligen Leidens
zu verstehen oder um das Leid zu lindern. Wir müssen unser Bemühen um
Bewusstwerdung auch auf die Weitergabe familiärer Komplexe richten. Komplexe
können von A nach B, von B nach C und von C nach D weitergegeben werden, von den
Gross Eltern bis zu den Ur Enkeln.
„Ein „gefühlsbetonter Komplex“ ... ist das Bild einer bestimmten psychischen Situation,
die lebhaft emotional betont ist und sich zudem als inkompatibel mit der habituellen
Bewusstseinslage ...erweist ...(er)verfügt zudem über einen relativ hohen Grad von
Autonomie...(bis hin) zu einer Teilpersönlichkeit“ (CW 8, para 201f). Jung betonte den
Teilseelencharakter von Komplexen und sagte, dass Komplexe personifiziert auftreten,
ja wie Geister erscheinen mögen, in Fällen von Psychosen gar als Stimmen erscheinen.
(ibid, Para 203) In manchen Fällen sind dies nicht Geister oder Symptome von
Psychosen sondern Hinweise auf unbewusst weitergegebene, transgenerationelle
Traumata.
Mir ist es häufig in meiner psychoanalytischen Arbeit mit Menschen begegnet, dass
wenn Traumata oder sehr schweres Leid, nicht durchgearbeitet worden ist, sondern
vergessen, verdrängt oder abgespalten geblieben, dass es dann zu sehr starken,
gefühlsbetonten, familiären Komplexen gekommen ist die weitergereicht wurden, von
Generation zu Generation. Oft fiel es einem später geborenen Mitglied der Familie zu, die
seelische Arbeit zu leisten diese bewusst zu machen. Besonders wenn schwere
individuelle oder kollektive Traumata oder wohl gehütete Geheimnisse ihre Spuren im
Unbewussten hinterlassen haben, werden wir die Träume, Symbole und seelische
Fragestellungen unserer Analysand/innen besser verstehen, wenn wir in der Analyse
transgenerationelle Gesichtspunkte miteinbeziehen.
Jung war ein Pionier dessen, was wir heute die Erforschung der Transgenerationellen
Übertragung nennen. Schon sehr früh empfand er den Einfluss von Ahnen auf seine
eigene Entwicklung; er schrieb dazu in seinen Memoiren:
„...mir ist die merkwürdige Schicksalsverbundenheit deutlich geworden, die mich mit
den Vorfahren verknüpft. Ich habe sehr stark das Gefühl, dass ich unter dem Einfluss
von Dingen oder Fragen stehe, die von meinen Eltern und Grosseltern und den weiteren
3 „texte“ August/September 2014 Ahnen unvollendet und unbeantwortet gelassen wurden. „ (C.G. Jung, Erinnerungen,
Träume, Gedanken, Patmos Verlag, 2011, p. 258
Es kann sein dass „die familiäre Konstellation so stark (ist), dass dem Streben nach der
Individualität bloss der schmale Raum der Neurose bleibt.“ (CW 4, para 715)
Natürlich ist nicht alles traumatisch was uns von unseren Vorfahren weitergegeben oder
übertragen worden ist; nicht alles bedarf der Analyse oder Behandlung; denn die
Übertragung kann ja auch dazu dienen, dass wertvolle Erfahrungen und Entdeckungen
übertragen werden; Bilder und Einsichten, Talente und Fähigkeiten, aber meistens geht
man deshalb nicht in Analyse.
Nach dieser Einführung möchte ich Ihnen nun die Definition und Forschungen zum
transgenerationell weitergegebenen Trauma mitteilen und ein paar Modelle vorstellen
wie es zu so einer transgenerationellen Übertragung kommen kann.
Transgenerationell weitergegebene Traumata – Definition und Forschung
Der Begriff Trauma ist uns mit seinen psychologischen Folgen seit dem Ersten Weltkrieg
bekannt; Trauma kommt aus dem Griechischen: traumatikos heisst Wunde. Es gibt viele
Definitionen von Trauma, gemeinsam ist diesen, dass Trauma die Folge eines den
Menschen überwältigenden, schmerzhaften Erlebnisses ist. „Ein psychisches Trauma ist
ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von schutzloser Preisgabe
einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst und Weltverständnis
bewirkt.“ (Fischer und Riedesser, in: Rauwald, S. 47) Es kann sich um die tatsächliche
4 „texte“ August/September 2014 oder angedrohte Gefahr von Tod oder schwerer Verwundung handeln, akute Gefahr also
für die Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer, durch psychische, physische
oder sexuelle Gewalt, Krieg, Tortur, Geiselnahme, natürliche oder von Menschen
verursachte Katastrophen, Unfälle, eine lebensgefährliche Krankheit.
„Traumata sind überwältigende Ereignisse, sie überschwemmen und überfordern die
Betroffenen, so dass diese die bedrohlichen Situationen, Bilder und Gefühle nicht
verarbeiten können.“ (Schmidt, p. 30) Diagnostisch kann es zu einer posttraumatischen
Belastungsstörung (PTSD) kommen, bei sehr langzeitigen Belastungen zu einer complex
PTSD (DESNOS, Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Specified). (add criteria)
Aber diese diagnostischen Hilfsmittel greifen zeitlich viel zu kurz; Traumata werfen
Schatten auf die Seele, über Generationen, oftmals über Jahrhunderte.
Ein traumatisches, also überwältigendes, oft schmerzhaftes Erlebnis, kann beim direkt
Betroffenen gegebenenfalls nicht im expliziten sondern nur im impliziten Gedächtnis
gespeichert sein. In der Praxis stehen wir also vor der folgenden Frage: „Wie können
zwei Menschen über etwas sprechen wovon eine Person, (Patient) nicht weiss, dass es
sie/ihn angeht und die andere Person (Analytiker/in) nicht weiss, worum es
(überhaupt) geht. Wie kann ein Patient in einer Geschichte involviert sein die zu
jemandem anderen gehört?“ (Faimberg, p. 7) Wenn das Trauma einst nur im impliziten
Gedächtnis gespeichert war konnte es ja nicht angeschaut, emotional erfahren und
verarbeitet werden!
„Die Übertragung zwischen Generationen ist oft ein unsichtbares Objekt in der
Psychoanalyse.“ (Faimberg, p. 2) Es geht also um eine analytische Haltung das Nicht
Wissens. Im Wissen um dieses Nicht Wissen, lohnt es sich einen geschulten Blick auf
diese Ebene zu werfen, ein hellhöriges Ohr zu haben. In der Praxis erfahre ich, dass ein
transgenerationell weitergegebenes Trauma Spuren in der Seele hinterlässt, die sich
noch Generationen später auswirken. Was immer einem Menschen traumatisch
widerfahren ist und diesen seelisch überfordert, ja überwältigt hat, und von diesem auch
später nicht angeschaut und aufgearbeitet hat werden können, das kann bei späteren
Generationen zu Symptomen führen.
„Heute wird unter ‚transgenerationaler Weitergabe’ verstanden, dass die
Elterngeneration an die Generation der Kinder und Enkel ihre Vorstellungen,
Verhaltensweisen, Scham und Schuldgefühle, aber auch ihre Geheimnisse und
unverarbeiteten Traumata weitergibt.“ (Rauwald, p. 50)
5 „texte“ August/September 2014 Auf den ersten Blick mag transgenerationell weitergegebenes Trauma späteren
Generationen als eine mühsame, oftmals als ‘unverdient’ empfundene, äusserst
beschwerliche, wenn überhaupt zu bewältigende Bürde anmuten. Es mag sich aber als
Wunder herausstellen, das transgenerationell weitergegebene Trauma zu entdecken.
Wenn man sich dieser Bürde annimmt, kann es dem Einzelnen erlauben zur Heilung, im
Sinne von psychischer Ganzheit fortzuschreiten, bisweilen auch zur Erkenntnis des
Sinns des Lebens. Das Erkennen von transgenerationell weitergegebenen Traumata
trägt zur Entlastung nachkommender Generationen bei, und, so meine spekulative
These, es trägt möglicherwiese auch zur Erlösung der Seelen von diesen Altlasten jener
bei, die vor uns waren und nicht mehr sind. Wenn wir uns mit der transgenerationellen
Weitergabe von T T T (Transgenerational Transmission of Trauma) beschäftigen, ist
dann ein Heilen vorwärts und rückwärts möglich? Jung dachte dass Zurückphantasieren
die Vergangenheit verändern kann (zitiert in Faimberg, p. 110) und ich werde darauf in
meinem letzten Kapitel noch näher eingehen.
Bei der Bearbeitung von transgenerationell weitergegebenen Traumata geht es also
nicht darum, dass ein einzelner Mensch sich mit den traumatisch erlebten Inhalten im
persönlichen Unbewussten auseinandersetzt, sondern mit Inhalten, die mehrere
Generationen zurückliegen können. Traumata können übertragen oder weitergegeben
werden, von A nach B, vom Ich zum Du, nicht nur zwischen den Generationen sondern
auch zwischen zwei Partnern, Freunden, zwischen Eltern und Kindern. Sehr oft findet
man in der Praxis, dass ein Trauma, oder auch ein Familiengeheimnis, nicht nur von A
nach B weitergegeben wurde, und von B erkannt und aufgearbeitet wird, sondern oft ist
es C, dem diese Aufgabe zufällt, dem Enkel oder der Enkelin, in manchen Fällen Nichten
und Neffen, auch Ur enkel/innen. Das Spannende daran ist, dass sich diese Menschen –
über Generationen getrennt, nie direkt begegnet sind; und doch „treffen“ sie sich im
Traum oder über Symptome welche auf lang vergessene Traumata aufmerksam
machen.
Für die Betroffenen bedeutet ein transgenerationelles Trauma, das sie oft unbewusst in
sich tragen, eine tragische Einschränkung ihrer eigenen Entwicklungsmöglichkeiten
(Rauwald, Faimberg, Coles). Es ist wie wenn die eigene Subjektivität zu mehr oder
weniger grossen Anteilen verloren geht oder nicht zugänglich ist. Die Beziehung vom
Ich zum Selbst und vom Ich zum Du, sowie zum Anderen ist erschwert; Faimberg spricht
von einer unerträglichen „Leere“ weil der Innenraum zu voll („overfull“). In Fällen von
6 „texte“ August/September 2014 transgenerationell weitergegebenen Traumata gibt es nicht genug Platz! Weder für das
Ich, noch für das
Selbst, noch für den
anderen wirklich, da
„andere“ diesen
Platz
einnehmen. Ich bin
wie „n ich t“.
„Vererbte Wunden“
(Rauwald) „verschlucken“ wie
Teile des Ich und des Selbst – und ich erachte es als eine sehr lohnende Aufgabe, diese
von dem „Schutt von Jahrhunderten“, so formulierte es eine Betroffene, zu befreien.
Weitergegebenes Trauma kann dazu führen, dass Nachgeborene „ihre wahre Identität
nicht entfalten“ können, dass „die Identität tief beschnitten“ wird. (Schmidt, p. 71)
Manche die von diesem Leid betroffen sind, beklagen ein Gefühl von Verwirrung, von
Konfusion (Zusammen Schmelzen), sprechen von „ich fremden“ Gefühlen, Bildern,
psychischen Inhalten. Manche beklagen auch ein Gefühl von Wurzellosigkeit oder
extremer Ambivalenz (Coles).
Die Arbeit mit transgenerationell weitergegebenen Traumata ist eine Arbeit auf dem
Trapez, über dem Familien-Abgrund, oftmals „ohne Netz“ (Allais)! Das Familiäre
Unbewusste kann uns, besonders wenn in früheren Generationen Bedrohliches gab, als
abgründig erscheinen und der Schritt es zu ergründen als waghalsig. Über diesem
Abgrund hören wir oft nur wie von ferne ein Echo... Manche fühlen sich angesichts
7 „texte“ August/September 2014 dieser Aufgabe energielos, sie beklagen eine grosse Müdigkeit – vielleicht sogar
Lebensmüdigkeit. Wenn man über einem solchen Abgrund schwebt, dann kann es
gefährlich sein, alleine mit den unbewussten Inhalten transgenerationell
weitergegebener Traumata zu sein. Es ist wichtig dann eine Person zur Seite zu haben,
die einem hilfreich zur Seite steht, beim schrittweisen Verstehen einer historischen Last,
die man oft ohne es zu wissen, zu tragen bekommen hat. In Fällen wo es um das Böse
geht, ist es vital, nicht dem Bösen direkt in’s Auge zu schauen, sondern wie beim Kampf
gegen die Medusa, über einen Spiegel reflektiert, die Schlangen zu bekämpfen.
Wenn es innen „zu voll“ ist von „anderen“, kann es zu einem Gefühl von Leere, von
Abgrund kommen. Abgrund und Leere sind häufig gebrauchte Metaphern wenn
Menschen diesen Balance Akt beschreiben transgenerationell weitergegebene Traumata
zu erkennen und diese zu aufzuarbeiten. Diese Vorstellung von einer Art Nichts, oder
einem schwarzen Loch, oder einem „weissen Fleck“ oder einer „verbotenen Kammer“
(Wieland Burston, München), drückt bildlich aus, dass die Vorfahren, die direkt von
Leid, Krieg, Grausamkeit überwältigt waren, das was sie überwältigte sich nicht
anschauen konnten und so ein Bewusstseinsraum unausgefüllt oder unbesetzt bliebt.
„Trauma zerstört die Fähigkeit zu erkennen, zu symbolisieren, zu erinnern und reisst ein
Loch in der Seele.“ (Fromm, meine Übersetzung).
Margaret Wilkinson, Jungianerin und Vertreterin der neurowissenschafentlichen
Forschung (Shore, Fonagy et al), schreibt: „in der Konstitution unseres Wesens, das
durch unsere frühesten Erfahrungen geformt wird, hören wir die Stimmen der
Vergangenheit, als Echo über Generationen hinweg.“ („Changing Minds in Therapy,
Emotion, Attachment, Trauma and Neurobiology, Norton, 2010 p. 64).
Bei Trauma bleiben die erlebten und geschauten Ereignisse im impliziten Gedächtnis, in
der rechten Gehirnhemisphäre, und sind wie durch eine undurchlässige Mauer –
Jahrzehnte oder gar lebenslang – getrennt vom expliziten Gedächtnis (linke
Hemisphäre). Das so im familiären Unbewussten als höchst emotionell aufgeladener
aber unbewusster Komplex gelagerte, kann als Abgrund, Loch oder als Leere gespürt
werden. In späteren Generationen kann es dann vielleicht nur erahnt werden, es ist
unbewusst bedrohlich.
Die rechte Gehirnhemisphäre ist für Affekt und Selbstmodulation zuständig (Rauwald,
p. 50) und die rechte Gehirnhälfte reguliert den Körper (Coles, p. 90); so erkläre ich mir
dass bei Betroffenen sich die Symptome nicht nur psychisch sondern auch körperlich
äussern können, und dass es in manchen Fällen auch fehlende Affektmodulation
beobachten kann, wie
unkontrollierbare Wutausbrüche oder
auch Selbst oder
Fremdaggression. Eventuell sind
auch Fälle von „hyperarousal“
(Hyper Erregung) unter
diesem Gesichtspunkt zu verstehen,
wenn man mit Coles (p. 91) bedenkt,
dass erst der
8 „texte“ August/September 2014 wieder „in one’s right mind“ ist, der gelernt hat die Hyper oder Übererregung zu
verstehen und zu beruhigen.
Wenn die solches auslösenden, übertragenen Inhalte ins Bewusstsein gehoben werden
können, dann wird graduell der Abgrund weniger „tief“ erscheinen selbst wenn recht
Abgründiges darin erschaut wird. Der erkannte Abgrund kann gar zu einer Quelle
werden, die neue Lebensbereiche, neue Äste im Stammbaum bewässern und wachsen
lassen kann. Behutsam angegangen können transgenerationell weiter gegebene
Traumata erkannt, benannt und behandelt werden, so dass was einst gewesen ist
Geschichte wird und so der Betroffene frei wird seine eigene Geschichte zu leben.
Erkannte Geschichte kann den Betroffenen dann ins eigene Leben, in die eigene
Geschichte hinein frei „entlassen“...
Die Auf und Entdeckung in der Analyse von transgenerationellen Inhalten des
familiären Unbewussten kann das Bewusstsein des Betroffenen erweitern und dazu
führen, dass der Mensch sich wieder ganz, also heil, fühlt. Dies kann geschehen mit Hilfe
von Symptomen, Symbolen oder Synchronizitäten, dank des Erkennens von Schicksalen
oder psychischen Inhalten früherer Generationen zum Beispiel in unseren Träumen,
aber auch mit Hilfe von Übertragung und Gegenübertragung.
So wir diese Inhalte erkennen, und zwar als solche, die weit über unsere Zeit
hinausreichen, können wir auch unser Schicksal erfüllen: wenn wir uns diesen Inhalten
stellen, sie zu erkennen suchen. Denn angeschaut und vielleicht sogar bis zu einem
gewissen Masse integriert, werden diese seelischen Inhalte an spätere Generationen
nicht mehr unbewusst weitergegeben; wenn sie denn weiter gegeben werden, so
zumindest geläutert.
(läu|tern [V.1, hat geläutert; mit Akk.] 1 etwas l. klar machen, klären, von
unerwünschten Bestandteilen befreien; eine Flüssigkeit l. 2 jmdn. L. reifer machen, zum
Überwinden von Fehlern bringen; das Unglück, das Leid, seine schwere Krankheit hat
ihn geläutert).
Falls wir uns nicht über die Schicht des familiären Unbewussten bewusst werden, oder
falls diese Ebene in der Analyse ausgespart bleibt, nicht behandelt wird, kann es zu
unangenehmen, leidvollen oder gar gefährlichen Wiederholungen kommen. Wenn wir
uns aber der transgenerationnell weitergereichten Traumata annehmen, und die so
unbewusst übertragenen oder „ererbten“ Komplexe bewusst machen, dann leisten wir
vielleicht nicht nur uns, sondern sogar jenen, die nicht mehr am Leben sind, mit dieser
Art von innerer Arbeit, einen Dienst, posthum. Und wir schreiten auf dem
Individuationsweg voran, wir werden mehr „ich“, mehr „ich selbst“, je mehr wir
erkennen in wie weit wir von anderen Inhalten, von anderen Generationen in unserem
psychischen Leben wie „besetzt“ worden sind.
Ein Beispiel aus der Praxis:
Ein etwa 60jähriger Mann kam zu mir in die Praxis weil er an Angst litt, mit nächtlichen
Alpträumen. Er war mir von seinem Arzt überwiesen worden, nach einem Panikanfall in
einem Einkaufszentrum; der Patient meinte einen Herzanfall zu erleiden und hielt sich
an der Perlenkette einer ihn begleitenden Frau so sehr fest, dass er sie beinahe erwürgt
hätte. Diese Frau war seine Schwägerin, die Witwe seines Bruders, der mit knapp 50
Jahren ein paar Jahre vorher verstorben war. In dieser ersten Stunde erzählte er mir
auch, dass er fast jede Nacht mit einem herzerschütternden Schrei aufwache, der in
9 „texte“ August/September 2014 seiner Brust wie gefangen war, wie festgeklemmt in seiner Gurgel.
Ich versuchte das nachzufühlen, zu erspüren, wie es ihm erging. Das gelang mir nicht.
Stattdessen roch ich etwas Seltsames; das „etwas“ roch wie Asche. Hatte er Todesängste,
der Bruder war so früh gestorben? Warum? Wieso wollte er –wenn auch unbewusst –
sich am Leben festklammernd dabei die Frau seiner Bruders erwürgen? Wozu der
nächtliche Schrei, der wie er sagte einfach nicht raus kam, sondern in einem kläglichen
babyhaften Wimmern stecken blieb?
Ich folgte nach einigem Überlegen meiner Intuition die mich etwas Seltsames riechen
liess und fragte ihn: „Könnte es sein, dass ich Asche rieche?“ fragte ich meinen Klienten,
und ob das eine Bedeutung für ihn habe. Er schaute mich mit grossen Augen an: „Ja“
sagte er, „wir haben die Asche meiner Mutter auf einem Hügel verstreut, so wie sie es
wollte, weit weg von ihrer Heimat.“ Nachdenklich fügte er hinzu: „Ich habe sehr lange
nicht mehr an sie gedacht; sie war aus Land X, sie hatte meinen Vater während des
Krieges kennengelernt und geheiratet und war ihm gefolgt nach Land Y.“
Es stellte sich heraus dass diese vor Jahren verstreute Asche seiner Mutter ganz
wesentlich mit dem jetzigen Leiden meines Klienten zu tun hatte. Der Schrei, der in der
Kehle meines Klienten steckengeblieben war nicht der seinige. Es war der Schrei
seiner Mutter und seiner Grossmutter. Nach gut zwei Jahren kam dieser Schrei endlich
raus, in meiner Praxis, so laut, dass ich dachte man werde mich raus schmeissen... (sic!)
10 „texte“ August/September 2014 Die Geschichte, die mein Patient Zeit seines Lebens in seiner Brust unbewusst
herumgetragen hatte, war eine vielschichtige; die folgende Ebene davon kann ich Ihnen,
mit Einwilligung des Patienten, mitteilen: seine Grossmutter war nämlich nicht seine
Grossmutter. Seine Mutter war die Tochter des Dienstmädchens, die schwanger, nach
der Entdeckung einer Affäre mit dem Herrn des Hauses, davongejagt geworden war. Als
das Kind der Hausherrin kurze Zeit danach vorzeitig verstarb, wurde das Kind dem
Hausmädchen weggenommen und als quasi eigenes adoptiert und aufgezogen.
Dieses Kind war die Mutter meines Klienten, die nichts davon wusste: nicht dass ihre
Mutter nicht in Wahrheit ihre Mutter war, und nicht dass ihre eigene Mutter irgendwo
weit weg nach ihrem Kinde schrie, und nichts davon wusste, dass etwas in ihr nach ihrer
wahren Mutter schrie ... kurz vor ihrem Tod soll die Mutter es dann doch noch erfahren
habe, aber sie hatte es keinem erzählt, so sagte mir mein Patient.
Er wollte ja schon meinem Riecher folgen, aber zögerte und zögerte – bis ihm ein Traum
schliesslich sagte: „Du musst ein Flugticket lösen, Du bist schon viel zu spät dran, Du
musst da und da hin und nachschauen, was da war. Und dort fand er in den Archiven
von Land X die Wahrheit, und dazu noch einige Halbgeschwister und Cousins sowie das
Grab der echten Grossmutter.
Eigentlich war er der Dynamik des Schreis gefolgt des Schreis der Ungerechtigkeit, der
Verzweiflung, der unendlichen Trauer und des nicht wieder gut zumachenden Verlustes
der ihm das Herz hätte zerreißen wollte. Was der Mutter widerfahren war, ein
Geheimnis, das sie gar nicht hüten musste, da es ihr selbst nicht bis kurz vor ihrem Tod
offenbart worden war, hatte seelische, vielleicht auch körperliche Folgen für sie und ihre
Kinder.
Was die Grossmutter an traumatischen Ereignissen erlebt hatte, blieb dem Enkel zu
entdecken. Dass diese Erfahrungen des Weiblichen, über drei Generationen, nicht ohne
Folgen für meinen Patientin und seine Beziehung zur Anima und den Beziehungen zu
Frauen in seinem Leben blieb, ist eine seelische Tatsache, ebenso wie die unterdrückte
Wut gegen das Männliche. Aus der Asche seiner Beziehungen, so blieb zu hoffen, konnte
auf dem Boden der neu entdeckten seelischen Realität, ein Phönix sich erheben – ein
Mann, wieder verbunden mit seiner Seele, der Seele seiner Mutter und der Seele seiner
Grossmutter.
Jahre nach der Analyse, teilte mir der Analysand mit, dass er im Heimatland seiner
Mutter eine Familienzusammenführung plante. Er nahm Steine mit von dem Hügel, wo
einst die Asche seiner Mutter, weit weg von ihrer Heimat und ihrer Mutter, verstreut
worden war, und legte sie am Grab seiner Großmutter nieder.
An einer Stelle vergleicht Jung das Unbewusste, ich würde sagen, das familiäre
Unbewusste, mit dem Land der Toten. Jung schrieb“…denn das Unbewusste entspricht
dem mythischen Totenland, dem Lande der Ahnen.” (C.G. Jung, Erinnerungen, Träume,
Gedanken, p. 213)
11 „texte“ August/September 2014 Modelle zum Verständnis der transgenerationellen Übertragung
Wie kann man das erklären? Es gibt verschiedene Modelle, aus psychodynamischer,
soziologischer, entwicklungs- und familientherapeutischer Sicht, sowie
neurobiologische, genetische und epigenetische Forschungsbeiträge.
Die transgenerationelle Übertragung wurde von systemischer und
familientherapeutischer Sicht ab den 1950er, 1960er Jahren erforscht; insbesondere die
Holocaust Forschung (Epstein, Kogan, Wardi) hat wertvolle Pionierarbeit geleistet; sie
fand bei der zweiten und dritten Generation von Überlebenden der Shoah, Symptome,
die auf die von ihren Vorfahren erlebten, schweren Traumata hinwiesen.
Auch die Schicksalsanalyse (nach Leopold Szondi) mass ab 1950 dem familiären
Unbewussten grosse Bedeutung für das Schicksal des einzelnen bei, das familiäre
Unbewusste als „Sitz und Wartesaal der Ahnen“ von wo aus die „Ahnenfiguren“... „die
Wahlhandlungen eines Menschen (lenken) ...mit dem Ziel, im Leben eines Abkömmlings
... zurückzukehren“. (damals war noch die Annahme, dass diese Existenzformen
psychische Korrelate genetischer Strukturen sind, umstritten). (siehe www.szondi.ch)
Es gibt inzwischen viele Beiträge zu dem Thema der transgenerationellen Weitergabe,
dankenswerterweise auch jungianische Perspektiven.
12 „texte“ August/September 2014 Christian Roesler schreibt über “Das gemeinsame Unbewußte unbewußte
Austausch und Synchronisierungsprozesse in der Psychotherapie und in nahen
Beziehungen, in der Zeitschrift der Analytischen Psychologie (2013).
p. 5 “Einen aktuellen und fundierten Überblick über das Forschungsfeld gibt Rauwald
(2013). So wird insbesondere in Israel in den Familien der überlebenden Opfer der
Shoah beobachtet, dass die zweite und mittlerweile auch die dritte Generation, das heißt
die Kinder und Enkel der Opfer, massive Symptomatiken aufweisen, die dem
Erscheinungsbild von Traumafolgestörungen hochgradig ähneln, wobei die Betroffenen
nachweislich keine eigene Traumatisierung erfahren haben. Das Phänomen ist umso
stärker ausgeprägt, je stärker die erste Generation traumatisiert wurde und
insbesondere je weniger sie darüber mit den Nachkommen gesprochen hat.“
Auf die Arbeiten der folgenden jungianischen
Kolleginnen möchte ich besonders
hinweisen:
Dafnea Sorgedrager hat sich in „Familienwahrheiten.
Spurensuche in uns“, (Verlag
Schmidt, 2007), mit dem Fortwirken von
Familiengeheimnissen und mythen befasst; in
ihrer Praxis hat sie oft erlebt, wie unverarbeitete
Konflikte der Eltern sich bei den
Kindern in psychischen und physischen Blockaden
äußern. Bekanntlich arbeitete auch
Jung mit Träumen der Kinder, falls der Erwachsene
(Elternteil) sich nicht an seine
Träume erinnern konnte.
Erika Prümm hat in einem poetischen Buch Zeugnis
von der transgenerationellen
Traumata Übertragung abgelegt, in “Elas unfertiges
Erinnern”(Ingrid Lessing Verlag,
2009) das sich mit den tiefen Wunden beschäftigt, die
Kinder in sich tragen, deren
Eltern von den Erfahrungen des 2. Weltkrieges geprägt
waren.
Helga Thomas hat in einem Gedichtband sowie in autobiographischer Prosa sich den
existentiellen Fragen dieses transgenerationellen Dialoges zugewandt. (Helga Thomas,
Als das Mondkind im Wasser ertrank, Möllmann, 2012, Kriegskindheit, Möllmann, 2012)
Wenn ein Mensch Hilfe sucht, weil er tief in der Seele, am Körper, oder am Geist leidet,
wird dieser Mensch beim Jung’schen Analytiker auf Verständnis und Begleitung hoffen
dürfen, bei der Gratwanderung, der es bedarf Bewusstes von Unbewusstem zu
unterscheiden, und letzteres dem ersteren zuzuführen. Als Analytiker sollten wir
deshalb sorgsam darauf achten, ob die seelischen Konflikte und Inhalte von weit her
kommen, von früheren Generationen.
Sigmund Freud hat uns mit seiner Pionierarbeit, die Zugänge zum persönlichen
13 „texte“ August/September 2014 Unbewussten eröffnet; Freud sprach aber auch von „Erinnerungsspuren an das Erleben
früherer Generationen“ (Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In. S.
Freud: Fragen der Gesellschaft, Ursprünge der Religion. Studienausgabe. Bd. IX, S. 455
481);
Carl Gustav Jung entdeckte im persönlichen Unbewussten jene Kräfte die unbewusste
seelische Komplexe auf uns ausüben können, und postulierte die Existenz von
universalgültigen Archetypen und Symbolen im kollektiven Unbewussten, deren Bilder
einen grossen Einfluss auf unser Leben und in unserer Seele ausüben können.
Zwischen diesen zwei, an sich schon enorm anmutenden Schichten des Unbewussten,
dürfen wir uns dazu noch das familiäre und das kulturelle Unbewusste vorstellen.
Mit dem folgenden Diagramm möchte ich diese Schichten veranschaulichen:
Schichten des Unbewussten
Ego
Persönliches
Unbewusstes
Das
Familienunbewusste
Das kulturelle Unbewusste
Das kollektive Unbewusste
Selbst
(Man könnte es sich in auch konzentrischen Kreisen vorstellen.) Text: K. Schellinski
Zwischen dem individuellen und dem kollektiven Unbewussten, gibt es die Schichten
des kulturellen und des familiären Unbewussten. In Fällen von schweren individuellen
oder kollektiven Traumata, aber auch von Geheimnissen, können diese auf spätere
Generationen übertragen werden. Das familiäre Unbewusste definiert mein belgischer
Kollege Michel Cautaerts wie folgt: „das familiäre Unbewusste sind all jene
Verhaltensweisen, die aus der Zugehörigkeit zu einer Familie stammen, denen sich ein
Subject anpasst ohne es zu wissen.“ (Cautaerts : Je tu€ il – Psychanalyse et
mythanalysedes perversions (De Boeck 2010)
Verschiedene Modelle geben Erklärungen wie solche Übertragungen zustande kommen,
entweder als Inhalte oder über Prozesse, die solche Inhalte übertragen.
Psychodynamische Modelle benennen die unbewusst übertragenen Emotionen in
interpersonellen Beziehungen, familiensystemische Theorien schauen auf Verhalten,
Kommunikation oder das Ausbleiben von Kommunikation, soziokulturelle Erklärungen
auf Erziehungsmethoden und Modelle, biologische Theorien erforschen die
neurobiologische und epi /genetischen Weitergabe. (siehe: Integratives Modell von
Kellermann)
Hochtraumatische Erlebnisse, wie Erlebnisse im Krieg, alle Arten von Gewalterfahrung
oder Missbrauch werden oft von einer Mauer von Schweigen umgeben; so schützt sich
zunächst der betroffene Mensch und „überlebt“, oder versucht auf diese Weise auch die
14 „texte“ August/September 2014 Nachgeborenen zu schützen. Doch nichts spricht lauter als das Schweigen um einen
sehr schmerzhaften oder peinlichen Komplex herum.
Es kann zu einer Übertragung von Arten der Selbstrepräsentation kommen (Heike
Glaesmer et al. “Transgenerationale Übertragung traumatischer Erfahrungen,” in Trauma
& Gewalt, 5. Jahrgang, Heft 4/2011): angeschlagenes Selbstwertgefühl, veränderte
Identitätsgefühle, Schuldgefühle.
Wenn ein Kind versucht, den Elternteil psychisch zu tragen, spricht man von
parentifizierten Kindern, das Kind wird dann auch die seelische Last des Elternteils mit
tragen. Gerade der Sohn der Autorin die diese Parentifizierung aufdeckte kann es erster
Hand bezeugen. Im Buch von Martin Miller, dem Sohn von Alice Miller lesen wir in
einem späten Brief an ihn: „Ich habe mich in viele Menschen einfühlen können, nur in
meinen Sohn konnte ich es nicht... Gerade bei ihm fehlte mir die Empathie. Trotz
meiner Ausbildung ist es mir nicht gelungen, diesem Schicksal zu entgehen.“ In Martin
Miller: Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers, Kreuz,
Freiburg, 2013) Er hatte es nicht gewusst dass seine Mutter 1940 aus dem Warschauer
Ghetto entflohen war, und auch sie schrieb dass sie erst mit über 60 erkannte dass sie
mit einer Mutter aufgewachsen war, die sie als „grausam, zerstörerisch, ausbeuterisch,
durch und durch verlogen und lieblos“ beschrieb.
Je mehr ein Eltern oder Grosselternteil psychische Verteidigungsmechanismen
gebraucht, wie Vergesssen, Verleugnung, Verdrängung von zum Beispiel negativen
Gefühlen, oder projektive Identifikation oder Identifizierung mit dem Angreifer oder
dem Opfer, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Inhalte übertragen werden
können: Bilder, die gesehen und erlebt wurden, aber auch seelische Bilder, können
übertragen werden. Wenn es kein übertragenes Bild gibt, kann es Bilder vom Nichts
geben, die werden auch übertragen: der schwarze Fleck (da sieht man ja noch was) oder
gar ein weisser Fleck oder die verbotene Kammer (Wieland Burston), die Leere, der
Abgrund... Die aussergewöhnliche Anstrengung und Leistung sich den Abgrund oder das
Nichts dann anzuschauen, und dabei nicht hinein zu fallen, fällt oft einem
Familienmitglied, ein, zwei, drei oder gar mehr Generationen später zu.
Systemisch orientierte Therapien wie auch Familienaufstellungen nach Bert Hellinger
(siehe auch Daan van Kampenhout: Tränen der Ahnen, Carl Auer Verlag, Heidelberg,
2010,) werden versuchen jene mit einbeziehen, die abwesend sind, denn ohne das, was
ausgeschlossen ist, wird die wichtige Arbeit der Integration nicht gelingen.
Von der Jung’schen Analytischen Psychologie her können wir die Übertragung mit Hilfe
der Komplextheorie verstehen: Komplexe formen sich im Unbewussten um die Kerne
von emotional aufgeladenen Erlebnissen und Ereignissen; vom Unbewussten her wirken
sie dann um so stärker. Diese Komplexe oder Spuren von Komplexen können von
Generation zu Generation weitergereicht werden. Nicht dass der Komplex bewusst
weitergereicht wird, im Gegenteil, je unbewusster ein Komplex, desto grösser ist die
Wahrscheinlichkeit, dass ein anderer, oft ein später geborenes Familienmitglied es mit
diesem Komplex zu schaffen bekommen wird.
15 „texte“ August/September 2014 Roesler schreibt dazu (p.13): „Unter bestimmten Umständen...findet eine Interaktion
zwischen zwei Personen, die im Bereich der erfahrbaren Welt körperlich getrennt sind,
über den gemeinsamen potentiellen unbewussten Raum statt, in dem diese physische
Getrenntheit nicht vorliegt (vgl. auch Fach, 2011). Voraussetzung ist .... dass eine
Gegensatzspannung vorliegt, hier in der Psyche der Person 1, wobei ein Pol unbewusst,
verdrängt oder abgespalten ist. Bilden die beiden Personen ein verschränktes System,
indem sie ein gemeinsames Unbewusstes/interaktives Feld gebildet haben, dann lässt
sich vorhersagen, dass der unbewusste Pol des archetypischen Gegensatzpaares aus
dem potentiellen Raum in die Person 2 transferiert wird und sich dort manifestiert (z.B.
in einem Traum oder Synchronizitätsphänomen).“
Mit Hilfe des Übertragungsdiagramms von Jung können wir uns auch veranschaulichen
wie Komplexe transgenerationell übertragen werden können. Wann immer sich zwei
Menschen begegnen, werden beide Unbewusste und Bewusstseine miteinander in
Kommunikation stehen und die jeweils mit Emotion aufgeladenen Komplexe können
„zueinander“ in Beziehung treten.
16 „texte“ August/September 2014 Über die manchmal recht subtilen und weitgehend unbewussten „Übertragungen“, die
aber schwerwiegende Konsequenzen über Generationen hinweg haben können, sollten
wir uns bewusst werden. Ab der ersten Stunde, sollte der transgenerationelle Kontext
bewusst mit einbezogen werden. Ansonsten laufen wir Gefahr, dass wir eine wichtige
Ebene in der Analyse übersehen. Wir sollten also schon während der Anamnese, zu
Beginn der Analyse, nach den Groß Eltern und Ur Groß Eltern fragen, nach deren
Lebensumständen und Beziehungen zum Analysanden; später mögen wir uns einen
Stammbaum anschauen um nach Wiederholungsmustern Ausschau zu halten und ein
Genosoziogramm (Schützenberger) entwerfen.
Wenn wir es mit transgenerationell weitergegebenen Traumata zu tun haben, können
Träume und Symptome die auf den ersten Blick nichts mit dem Träumer oder Analysanden
selbst zu tun haben scheinen, uns einen Hinweis geben; die Inhalte wirkenunter Umständen
„Ich-fremd“ oder kommen wie „von weit her“.
Ein Beispiel aus der Praxis
Vor kurzem kam eine junge Mutter mit ihrem Erstgeborenen, drei Monate alten Baby in
die Praxis. Die Mutter sagte, sie habe die Geburt als Überraschung erlebt. Immer wieder
wenn sie mir die Geburt beschrieb, fiel das Wort Überraschung, gemischt mit der Sorge,
dass es einige Tage gebraucht hätte, bevor sie ein Gefühl der Verbindung mit ihrem Kind
hatte entwickeln können.
Dann erzählte sie mir einen Traum, wo sie nicht nur ein Baby zur Welt bringt sondern
zwei und das zweite ist ein winzig kleiner Fötus. Sie vergisst dieses winzig kleine Wesen
zu füttern und fühlt sich furchtbar schuldig dabei. „Ob sie oder ihre Mutter denn ein
Kind verloren hätten?“ frage ich. Nein, nicht dass sie wüsste. Ich frage: „und ihre
Grossmutter?“ „Ach, herrje!“ Nun erinnert sie sich, dass die Grossmutter der Mutter
17 „texte“ August/September 2014 drittes Kind mit dem Vorwurf begrüsste: „Was? Noch ein drittes Baby? Hast Du Dir
überlegt, was das heisst!“ Nun so war es denn schon einmal so geschehen: schon die
Mutter meiner Klienten war eine „Überraschung“ gewesen, ein ungewolltes Kind, das die
Grossmutter versucht haben soll abzutreiben. Die Mutter war wohlauf geboren worden,
aber das Bild des abzutreibenden Fötus war im Unbewussten lebendig geblieben – über
zwei Generationen hinweg. Wenn jetzt diese junge Mutter (3. Generation) sich nicht
dessen bewusst geworden wäre, hätte ihr kleines Baby diese Last – unbewusst – in sich
weiter tragen müssen. Die Konsequenzen einer potentiellen zukünftigen
Bindungsstörung waren absehbar in der Sorge der Mutter nach der Geburt keine
richtige Verbindung zu ihrem Baby empfunden zu haben.
Wenn ich diesen Traum oder diese analytische Szene subjektstufig, als zu meiner
Analysandin gehörend angesehen hätte, im Sinne von „verhungerndem innerem Kind“
wäre Wesentliches übersehen worden, wenn nicht sogar ein Unrecht geschehen, ihr
gegenüber und ihrem Baby gegenüber. Auch wenn wir auf die archetypische Ebene
„gesprungen“ wären, und uns den Mutter Archetypus, mit den zwei gegenseitigen Polen,
die nährende Mutter und ihr Gegenteil, Kali, die zerstörende, nicht nährende Mutter,
angeschaut hätten, hätten wir eine Chance zur Heilung und Versöhnung verpasst, für die
Klientin und ihr Kind, und auch für die Mutter und Großmutter. Erst wenn wir die
transgenerationelle Ebene mit einbeziehen, kann die innere Arbeit des Erkennens
beginnen, dessen, was vor langer Zeit geschehen ist, und was unter Umständen wie ein
Hindernis den Weg zum Selbst für spätere Generationen versperren mag. Das Ich kann
nur schwer zum Selbst oder auch zum Anderen eine Beziehung haben, wenn es voll
„Leere“ ist, oder aber über voll mit Inhalten aus vorhergehenden Generationen.
Wenn wir aber den Weg gehen um zu erkennen was unerkannt geblieben war, ist das
Selbst konstelliert, der Archetyp der Ganzheit. Als Analytiker haben wir die Fähigkeit
und damit die Verantwortung dem Menschen der zu uns kommt zu helfen, auf dem Weg
zur Bewusstseinsfindung, auch über die Vergangenheit und die Vorfahren zu
reflektieren und sei es um nicht dem Wiederholungszwang, der Projektion oder anderen
leidlichen Verteidigungsmechanismen anheim zu fallen. Wir wissen zu gut, dass der Pol
des Komplexes der unbewusst geblieben ist, nur zu gerne auf den anderen projiziert
wird. Dies ist menschlich, kann aber eine wahre Gefahr für den anderen, den Nächsten
bedeuten.
Ein Beispiel aus der Praxis
Ich habe über viele Jahre hinweg mit einer älteren Frau gearbeitet; sie kam in die Praxis
weil sie sich um ihre beiden Kinder, die an einer Immunkrankheit erkrankt waren, fast
zu Tode sorgte. Sie selbst litt an einer chronischen Krankheit und während ihrer
Kindheit hatte sie mehrere, schwere Brandwunden erlitten. Als sie die Analyse anfing,
gab es mehrere Träume, in denen sie versuchte, dem Feuer zu entrinnen; in einem
Traum sprang sie aus dem 8. Stock, von einem Balkon. Ich folgte einer Intuition und
fragte, was denn vor acht Generationen geschehen war? Jahrelang fanden wir keine
Antwort darauf. Als ihre Schwester starb, die an psychotischen Schüben gelitten hatte,
kam Licht in die Finsternis. Die Schwester hatte Dokumente gesammelt und Lieder
registriert, die dokumentierten, dass Mitglieder der Familie im 15. Jahrhundert während
der Inquisition und Vertreibung der Juden aus Spanien, verbrannt worden waren.
In einem anderen Fall, arbeitete ich mit einem Nachfahren einer Hugenottischen
18 „texte“ August/September 2014 Familie, die in Genf Refugium gefunden hatten, nach dem Edikt von Nantes. Es dauerte
Jahre bis auch nur ein Anflug von Selbstfindung möglich war; bis dahin zeigten Träume
die Träumerin immer wieder unter Betondecken verirrt, und nach Luft und Raum
suchend.
Oft sind dies sehr lange Analysen. Die Entdeckung eines solchen ererbten Komplexes,
eines transgenerationell weitergegebenen Traumas als der tiefere Grund des
persönlichen Leidens, kann so paradox es klingt, entlasten. Es kann dann ein längerer
Prozess anfangen, manchmal unterstützt von einem Ritual für längst Verstorbene, die, so
sieht man es manchmal in Träumen, Seelenfrieden suchen und eine Erlösung durch
Anerkennung ihrer in Vergessenheit geratenen Leiden. Manchmal kann ein
transgenerationell weitergegebenes Trauma geheilt werden, wenn das was abgespalten
und verschollen war, integriert wird. Manchmal können Täter und Opfer, auf der
symbolischen Ebene, über Generationen hinweg, einen Dialog aufnehmen und den Weg,
nicht des Vergessens, sondern der Versöhnung einschlagen.
Wenn wir in den Prozess unserer Bewusstseinserweiterung auch einen Blick werfen auf
die unbewusst gebliebenen Komplexe der Vorfahren, dann führen wir vielleicht nicht
nur den Analysanden in die Freiheit und eine neue Verantwortung, sondern auch die
Nachfahren.
4. Erlösung vom transgenerationell weitergegebenen Trauma
Gemäss einer Studie von Professor Perroud der Psychiatrischen Fakultät an der Genfer
Universität kann man die Spuren von weitergegebenen Traumata auf der DANN
nachweisen, bis zur 3. Generation. In Fällen von Kindesmisshandlung und Missbrauch,
wurden Spuren von Methylisierung (methylation) am Glucocorticoid Rezeptor Gen
NR3C1 gefunden, die noch nach drei Generationen messbar waren, danach scheint es,
19 „texte“ August/September 2014 dass die Transmission des Traumas nicht mehr nachgewiesen werden kann.
(N. Perroud “Increassed methylation of glucocorticoid receptor gene (NR4C1) in
adults with a history of childhood maltreatment: a link with the severity and type of
trauma”, in
Translational Psychiatry (2011) 1, e59; doi:10.1038/tp.2011.60
Published online 13 December 2011.)
Im Alten Testament steht geschrieben:
Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsucht der Väter Missetat
an den Kindern bis in das dritte und vierte Glied… (Luther Bibel 1912/2. Mose 20,5)
In manchen meiner Fälle schien mir das weitergegebene Trauma noch deutlich später
sichtbar – nicht auf der DANN aber in Träumen.
Sich selbst und andere, die Vorfahren und die Nachfahren, von der bisweilen sehr
schweren Last unverarbeiteter Traumata zu befreien, die ihre Bilder und Spuren, tief im
Unbewussten, aber vielleicht dennoch für uns erkennbar in der Seele gelassen haben,
kann einer Erlösung gleichkommen. Dann ist der einzelne Mensch frei, oder sagen wir
freier, sein eigenes Leben zu leben, sein Wesen zu entdecken, das Potential auszuleben,
das in ihr oder ihm angelegt war, aber überschattet von den unbewussten Komplexen
früherer Generationen.
Die nachfolgenden Generationen mögen so unbelasteter in die Zukunft gehen. Und was
mag diese Art von innerer Arbeit für die Seelen der Verstorbenen bedeuten? Oder
zumindest unserer Erinnerung, des Bildes unserer Vorfahren in unserer Seele?
Es scheint mir manchmal als ob Inhalte des Unbewussten vorwärts und rückwärts
„reisen“, dass wir hoch und runter auf dem Stammbaum klettern können und Dinge zu
wissen oder zu sehen bekommen, oft in unseren Träumen, die von verschiedenen
Schichten des Unbewussten stammen. Daher müssen wir diese unterscheiden: das
persönliche, das familiäre, das kulturelle und das kollektive Unbewusste.
Ist Heilen unsere Aufgabe oder eine Chance, gar Gnade? Auf einer Ebene erfolgt
Heilung transgenerationell – über weite Zeit-Räume.
Wir verpassen, unter Umständen, das Ziel, wenn wir denken es gehe um eine
Menschenszeit oder 10 Sitzungen in Kurzzeittherapie. (Hamartia – gk, to miss the mark,
Jean Yves Leloup : „Hamartia ist Sünde“)
Heilt die Zeit? Oder heilen wir, in der Zeit? Ist das Unbewusste nicht zeitlos?
Doch der Mensch lebt in einer chronologischen Zeitenfolge und wir sind konditioniert
Abläufe in einer Zeitdimension zu sehen. Quantumphysiker sprechen von parallelen
Welten (parallel universes) und statt von drei oder 4 Dimension von (fast un )
vorstellbaren 9 oder 11 Dimension. Leben wir auf 3, 4 Generationen gleichzeitig,
nebeneinander, im Unbewussten?
Jung schrieb in seinen Erinnerungen: „Bin ich eine Kombination von Ahnenleben und
verkörpere deren Leben wieder?“ (p. 346)
Dies sind Fragen, auf die ich keine Antwort habe, aber es ist mir als ob ich in der Praxis
den Prozess des Heilens „vorwärts“ wie „rückwärts“ beobachten und begleiten darf.
Zwei Beispiele aus der Praxis
Ich arbeite mit zwei jungen Frauen, Anfang Dreissig; beide beklagten „ein Problem mit
Männern“. In dem einen Fall, konnte sich meine Klientin erst nach dem Tod der
20 „texte“ August/September 2014 geliebten Großmutter in einen heiratsfähigen Mann zu verlieben. Die Großmutter war
unglücklich verheiratet gewesen war, sie war eigentlich die 2. Wahl gewesen, und ihr
Ehemann hatte in den späten Ehejahren ein Dreiecksverhältnis geführt, das die
Grossmutter des lieben Frieden willens geduldet hatte. Was war hier die
unausgesprochene, aber wirksam weitergegebene Nachricht der meine Klientin sehr
liebenden Großmutter gewesen? Trau nicht dem Mann, heirate nicht!
Im zweiten Fall war es auch die mütterliche Großmutter die schrecklich unglücklich
verheiratet gewesen war. Sie hatte sich scheiden lassen und zog zu ihrer verheirateten
Tochter, wo sie meine Klientin, ihre Enkelin, mehr oder weniger aufzog. „Sie hat sich
nichts aus ihrem Leben gemacht!“ meinte die Analysandin, „aber sie wollte immer, dass
es mir gut gehe und hoffte auch, dass ich den Beruf ergreife, den ich jetzt ausübe.“
Meiner Analysandin wurde es in der Analyse langsam klar, wie
sehr ihr Geschick mit dem der Großmutter verstrickt war: deren
hochaufgeladener, gefühlsbetonter Komplex war gewesen: bloss
keinen Mann! Erst auf diese Erkenntnis hin, gelang es meiner
Klientin aus ihrer Abhängigkeit und spürbaren Lethargie heraus
kommen und aktiv in ihr eigenes Leben zu treten. Sie träumte nun
dass sie jetzt in einem Haus wohne wo jedes Zimmer sein eigenes
Badezimmer (also Intim Bereich) hatte! Die Zimmer waren
so angelegt, dass die Badezimmer innen waren, und die
Wohnzimmer aussen, wie in einem Atrium, mit Mauern, also
Abtrennungen, von einem zum anderen. Erst nach dieser
Differenzierung, dieses Bildes der Abgrenzung, begann meine
Klientin sich vor vorstellen zu können, wie sie aus der sich
nahezu selbst auferlegten Einsamkeit heraus komme könnte.
Früher hatte sie gemeint, dass sie entweder mit einem
„schrecklichen“ Mann ausgehen müsse, was sie schon ein paar
Mal getan hatte, oder aber alleine bleiben müsste. Nach diesem
geträumten Umbau in ihrem inneren Zuhause, konnte sie sich
langsam auf die Vorstellung zu bewegen “wie wäre es wenn ich
mich – glücklich –
verlieben könnte?“
Es geht also darum, nicht nur den Zugang zum anderen, im
innerseelischen, oder im
interpersonalen zu finden, sondern auch zum anderen im transgenerationellen, und dies
um zu sich zu kommen. Wir sind, so scheint es, nicht ganz so frei, wie wir es uns a priori
wünschen würden; der Individuationsweg kann in manchen Fällen von
transgenerationellen Komplexen, wie von Hindernissen, versperrt erscheinen. Solange
wir auf dieser Ebene unbewusst sind, bleibt Individuation leider eine nur theoretische
Möglichkeit.
Wenn diese Bewusstwerdung nicht geschieht, dann kann es sein, dass der konstruktive
und kreative (statt destruktive ) Zugang zu sich selbst, zu den anderen in der
Gesellschaft, sowie zum ganz Anderen, zum Selbst, zum Transzendentalen erheblich
erschwert ist.
21 „texte“ August/September 2014 Wenn wir uns aber dieser Arbeit stellen, dann gehe ich davon aus, dass der Archetyp des
Selbst konstelliert ist und uns dabei hilft, transgenerationell weitergegebene Traumata
bewusst zu machen und „heile“ oder ganz zu machen, was einst abgespalten war. Dies
kann positive Auswirkungen haben, nicht nur für das Individuum, sondern die Familie,
die Gesellschaft.
Das Nichts des (familiären) Abgrundes ist dann nicht mehr eine gähnende Leere, wenn
wir die Kräfte von Seele und Geist spüren und bei der Arbeit das was im Dunklen liegt
erkennen und es ans Licht der Erkenntnis zu bringen.
Licht, das physikalisch entweder ein Partikel oder eine Welle ist, erkennen wir
Menschen nur wenn es reflektiert ist...
5. Die transzendentale Komponente der Heilung transgenerationell
weitergegebener Traumata
Wir ringen im Leben also nicht nur mit unseren persönlichen Komplexen sondern auch
mit Komplexen die wir von früheren Generationen „geerbt“ haben. Außer dem Heilen
von Familien Traumata und unserer Ganzwerdung und Individuation, könnte dies auch
noch einem anderen Zweck dienen.
Anne Ancelin Schützenberger hat mit Rückgriff auf Freud, Jung, Moreno, Dolto,
Boszorenyi Nagy und andere psychoanalytische Vorfahren ausgeführt „Wie das Leben
unserer Vorfahren in uns wiederkehrt“ (Carl Auer Verlag, Heidelberg, 2007), erschienen
im französischen Original schon 1993.
Schützenberger nimmt Bezug auf Jungs Archetypentheorie und schreibt: „Nach Jung
macht uns das kollektive Unbewusste zu dem was wir sind. Es wird von Generation zu
Generation... weitergegeben und lässt die menschliche Erfahrung anwachsen.“ (p. 22)
Ich könnte mir vorstellen, dass dies eine zweiseitige Beziehung ist: die Archetypen
wirken auf uns und geben uns Erfahrung weiter und wir – wenn wir erkennen was die
verschiedenen Schichten des Unbewussten sind, die in uns weiter wirken, wie weiter
gegebene Traumata. Dann könnten wir die archetypischen Kräfte, die in uns wirken,
„neu informieren“, sozusagen an deren Entwicklung teilhaben. (Vgl. dazu auch die
neueren Forschungen von Jean Knox und Christian Roesler, dass Archetypen nicht
genetisch weitergegeben werden sondern über menschliche Interaktionen. (JAP, 2012).
Oder wir könnten es uns auch noch anders vorstellen: dass wir alle uns aus dem
Unbewussten heraus entwickeln, und zu dem Unbewussten gehört eben auch das
familiäre Unbewusste. Insofern könnte die bewusste Auseinandersetzung mit allen
Schichten des Unbewussten, insbesondere auch mit dem was unsere Vorfahren erlebt
haben und uns unbewusst weitergegeben worden ist, eine Art co-kreatives Schaffen
sein, ein dialektischer Prozess des Werdens zwischen dem entstehenden Bewusstsein
und den verschiedenen Schichten des Unbewussten.
Schützenberger ging bei psychoanalytischen Behandlungen mindestens 200 Jahre
zurück, wenn es irgendwie möglich war gar tausend Jahre.
Jung hatte einen Traum, wo er viele Stockwerke in “seinem Haus” nach unten ging, er
entdeckte Fussböden aus dem 15. Jahrhundert, dann Mauern aus römischer Zeit, und
einen prähistorische Höhle, worin er zwei “sehr alte und halb zerfallene
Menschenschädel entdeckte. (C.G. Jung, Erinnerungen, Träume und Gedanken, S. 180)
22 „texte“ August/September 2014 Freud argwöhnte, dass einer der beiden Schädel seiner sei, und interpretierte den
Traum dahingehend, dass Jung seinen Tod wünsche – der Rest ist psychoanalytische
Geschichte...
Aber wir wollen ja nicht wie lethargisch belastet von Familien Altlasten in diesen
verharren.
Die französische Autorin Allais schreibt (Juliette Allais: La psycho généalogie Comment
guérir de sa famille. Eyrolles, Paris, 2013 p. 229 Collection Comprendre&Agir p. 229)
dass man sich von der Familie heilt (guérir de sa famille), wenn man sich mit dem
auseinandersetzt, was übertragen wurde und man im Begriff ist zu wiederholen. In
diesem Prozess des sich von den Familien Altlasten Heilens, wird man (nach Allais) in
die eigene Identität mit jedem Erkenntnisschritt neu hineingeboren.
Für den Prozess der Individuation ist es wesentlich, dass wir erkennen, was vor uns war,
dass wir erkennen, wer wir sind, und wir uns damit auseinandersetzen, wer wir werden
können. Dafür gilt es zwischen persönlichen und transgenerationell weitergegebenen
Traumata zu unterscheiden. Wenn dies gelingt, auch nur zu einem geringen oder
relativem Masse, leistet der einzelne wiederum einen Beitrag zur eigenen Heilung, zur
Heilung der Familie, der Kontinuität des Wachstums des Stammbaumes, dem man
entstammt, herauswächst, und weiterwachsen lässt, sowie der Entwicklung der
Archetypen.
Allais betont das „sich von der Familie heilen“. Sie sagt diese Art von Arbeit ist
„Pionierarbeit“.
Aus jungianischer Perspektive würde ich hinzufügen, dass ich nicht zur
Individuation und zur Erkenntnis des Selbst in mir gelangen kann solange unerkannte,
familiäre Komplexe den Blick für die Erkenntnis eben dieses Selbst verstellen. Darüber
hinaus scheint es mir wichtig, dass neben oder nach “sich von der Familie heilen“ man
zur Erkenntnis gelangen kann, dass man mit dieser inneren Arbeit einen Beitrag zur
Heilung von Vor und Nachfahren leistet.
Werfen wir einen anekdotischen Blick auf Jungs Großmutter.
Andreas Jung, Jungs Enkel, hat vor zwei Jahren einen Artikel im Journal of Analytical
Psychology veröffentlicht, in dem er beschreibt wie Jungs mütterliche Großmutter
Augusta, im Alter von 18 Jahren, sehr schwer erkrankt war und für tot erklärt wurde.
Als sie nach 36 Stunden in den Sarg gelegt werden sollte, nahm Augustas Mutter, also
Jungs Ur Großmutter, ein heißes Bügeleisen und brachte mit diesem ihre Tochter
zurück zum Leben. (Andreas Jung (2011) JAP, para 16)
Dieser Artikel hat mich angeregt nochmals darüber nachzudenken inwieweit Tod und
Auferstehung für Jung und die Jung’sche Psychologie sehr wichtige Themen sind, und
was dies für uns bedeuten könnte, wenn wir mit dem leiblichem Tod oder Momenten
des seelischen Todes konfrontiert sind. Ich glaube, die analytische Psychologie kann in
diesen „letzten“ Fragen einzigartige Beiträge leisten. Selbst wenn es keine schlüssigen
Antworten gibt oder geben kann, ruht oft den Fragestellungen schon eine das
Bewusstsein transzendierende Qualität inne.
Jung hat sich in seinem Lebenswerk zentral mit dem was ich Auferstehung nennen
könnte, beschäftigt, mit dem in das „wahre Leben“ Fortschreiten, einer
Selbstverwirklichung, in dem Sinne, dass das Ich im Dienste der Verwirklichung des
23 „texte“ August/September 2014 Selbst steht, sich zu seinem Wesen hin fortentwickelt. Jung hatte mit 69 Jahren eine
Nahe Tod Erfahrung hatte und er schreibt in seinen Memoiren, dass er eigentlich recht
ungern „zurück“ ins Leben gekommen sei. Dennoch schrieb er in den Jahren danach
einen wesentlichen Teil seines Werkes, darunter Aion (1950), seine
umfassende Monographie über den Archetypus des Selbst, sowie Mysterium
Coniunctionis (1955/1956).
Jahrzehnte vorher schon brachte Jung einen visionären Text zu Papier unter dem
Pseudonym „Basilides“. 1916, nur 41 Jahre alt, schrieb Jung: „Die sieben Belehrungen
der Toten. Geschrieben von Basilides in Alexandria, der Stadt wo der Osten den Westen
berührt.“ (oder dieser schrieb sich aus ihm heraus).
In den „Erinnerungen, Träumen und Gedanken“, beschreibt Jung wie es dazu kam. Eines
hellen Sonntages klingelte es an der Eingangstüre seines Hauses, wo drüber gemeisselt
steht : « Vocatus atque non vocatus deus aderit. »
Gerufen und ungerufen wird Gott da sein.
(Spruch des Orakels von Delphi.)
„Ich hörte ...(die Glocke) und sah, wie der Klöppel sich bewegte. Alle liefen an die Tür
um nachzusehen, wer da sei, aber es war niemand da! ... Das ganze Haus war angefüllt
wie von einer Volksmenge, dicht voll von Geistern. Natürlich brannte in mir die Frage:
„Um Gottes willen, was ist denn das?“
Jung schreibt es waren die Seelen von Toten, die bei ihm anklingelten, um Antworten auf
Fragen zu bekommen, die sie in Jerusalem vergeblich zu beantworten gesucht hatten.
Jung schreibt einleitend in den „Sieben Belehrungen der Toten“:
„Die Toten kamen zurück von Jerusalem, wo sie nicht fanden, was sie suchten. Sie
begehrten bei mir Einlass und verlangten bei mir Lehre und so lehrte ich sie:“
Sermo I (Septem Sermones ad Mortuos, (1916),
Um sich zu seinem Wesen hin entwickeln zu können, ist es nach Jung wichtig auf die
Unterschiedenheit zu achten, er sagt die Unterschiedenheit ist das Wesen der Creatur.
(Im Gegensatz zum Pleroma, das Unterschiedenheit und Ununterschiedenheit
gleichzeitig ist, Fülle und Nichts.)
(„It seemed to me that the dead pressed hard on me, forcing me finally to give an
answer.... Everything matters, that a living person, a conscious man gives an answer.
They cannot get out of their timelessness, their eternity. That obviously only a human
being can do, who has been pushed into the world. „ (Protocols, C.G. Jung/A. Jaffé:
Gespräche mit C.G. Jung 1956 58, Typescript quoted in Andreas Jung, The Grandfather,
JAP, 2011)
Er schreibt: “Unser Wesen ist Unterschiedenheit. Wenn wir diesem Wesen nicht getreu
sind, so unterscheiden wir uns ungenügend. Wir müssen darum Unterscheidungen der
Eigenschaften machen.“ (Sermo I)
Wenn ich an die Menschen denke, die an transgenerationell übertragenen Traumata
litten, dann scheint es mir wesentlich, dass wir unterscheiden was von woher kommt, an
Bildern in Träumen, Symbolen, Symptomen. Wenn Jung vom Wesen spricht, das sich
durch Unterschiedenheit auszeichnet, wissen wir es geht ihm um Individuation, er nennt
denn auch den „Kampf gegen uranfängliche, gefährliche Gleichheit das ‚Principium
24 „texte“ August/September 2014 Individuationis’“ und sagt: „Also sterben wir in dem Masse, als wir nicht unterscheiden.“
“(Sermo I).
Im Zusammenhang mit meinem heutigen Thema, lese ich diese Textstellen aus Sermo I
aus Septem Sermones ad Mortuos, so dass ein Stück von uns stirbt, wenn
weitergegebene Traumata oder hochaktive Komplexe in uns sind, unseren seelischen
Platz beanspruchen und unerkannt und unerlöst bleiben.
Sie sind bei den Vorfahren unter Umständen unerkannt geblieben und wirken in den
Nachfahren ununterschieden weiter.
Wenn wir nicht die psychologisch anspruchsvolle Arbeit leisten, diese vom
Unbewussten ins Bewusstsein zu befördern, zu unterscheiden was mein und Dein ist, in
diesem Falle was von den ererbten Komplexen oder Traumata der Eltern, Gross Eltern
oder Ur Gross Eltern erkannt sein will, „sterben“ wir ein wenig, schon hier und jetzt und
unsere toten Vorfahren bleiben „tot“.
Jung schreibt: „Unterscheidung (von den Eigenschaften) erlöst.“
Ich glaube, unsere Vorfahren können zu neuem Leben finden und uns auf unserem
Stammbaumast sitzend, mit belebendem Geiste erfüllen, wenn wir das bisher Unerlöste
zu erkennen, zu benennen, und es zu erlösen in der Lage sind. Dann ist das Heilen von
transgenerationell weitergegebenen Traumata nicht Herstellung eines ursprünglich,
vielleicht illusorisch angenommenen heilen Zustandes, sondern Evolution, Entwicklung:
aufgrund von etwas das einmal gewesen ist ein
Fortschreiten, hin zum wahren Wesen.
Im Neuen Testament 2.Korinther 5:17 (Luther Bibel 1912) steht:
Darum, ist jemand in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es
ist alles neu geworden!
Transgenerationell weitergegebene Traumata können so zu animierenden Erlebnissen
unserer Vorfahren gewandelt werden. Was einst wie eine unbewusste seelische Last
anmutete, wird zum Fundament unseres Seins von dem wir, befreit, fortschreiten
können.
Und in jenen Fällen wo wir es nicht erkennen können, finden wir vielleicht Trost in
einem Zitat von Rilke:
„Die Zeit heilt nicht alle Wunden, sie lehrt nur, mit dem Unbegreiflichen zu leben.“
(Rainer Maria Rilke)
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Miller Martin Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers,
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Radebold (Hg.) Kindheiten im 2. Weltkrieg und ihre Folgen
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24
Roesler Christian, “Das gemeinsame Unbewußte unbewußte Austausch und
Synchronisierungsprozesse in der Psychotherapie und in nahen Beziehungen, in der
Zeitschrift der Analytischen Psychologie (2013, Im Druck)
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Kristina Schellinski, [email protected]
Quelle:ISAP Märztagung 30. März 2014, Zürich
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Die weitere Verbreitung des Textes
in anderen Medien ist untersagt.
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Was steht geschrieben? Was taucht aus dem Unbewussten auf?

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