Kranker Mann im Dilemma

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Kranker Mann im Dilemma
zusammen leben.
28. Mai 2016
M6
WA S N U N ?
Kranker Mann
im Dilemma
Manfred (52) ist schwer krank.
Seine Familie weiß noch nichts
davon, und er zögert, sie mit
der Nachricht zu belasten.
S
Wichtige Klammer im Zusammenleben: Ulf Haß mit Papagei Charly, daneben Viola, Amra, Timea und Andrea Jakob (von links) beim gemeinsamen Essen.
Foto: Lothar Tolks
Im Namen der Toleranz
Wenn sich eine Familie neu erfindet, sich dazu sogar
fremden „Nachwuchs“ ins Haus holt: Kann das gutgehen?
Es kann, wie ein Beispiel aus Ulm zeigt.
W
er das Reihenhaus
von Andrea Jakob
und Ulf Haß im Ulmer
Wohngebiet
Eselsberg
betritt,
merkt sofort: Hier lebt eine muntere
Familie. Aus dem Ofen duftet frischer Teig, die Wände sind voll
mit bunten Bildern, Pflanzen überall, im Garten blüht ein Tulpenmeer. Charly, der Papagei, pfeift zur
Begrüßung aus seiner großzügigen
Voliere. Die 15-jährige Viola, Tochter
des Hauses, schlurft vorbei, entrückt
in ihrer Kopfhörerwelt.
Dass es nach einem Schicksalsschlag, bei dem ihre damals 17-jährige Tochter ums Leben kam, wieder lebendig wurde im Haus der
Kunstliebhaber Andrea Jakob und
Ulf Haß, haben sie neben vielen anderen Schritten einer Initiative zu
verdanken, mit der sie zwei jungen
Frauen aus Bosnien und Ungarn den
Weg ins Schwäbische ebneten. Amra Brkic (29) und Timea Takacs (20)
wollten ihre Heimat verlassen, um in
Deutschland eine Ausbildung zu
machen. Über die Industrie- und
Handelskammer Ulm bekamen sie
Kontakt zu dem Ehepaar, das sich als
Gasteltern für ausländische Auszubildende beworben hatte. Seit vergangenem Jahr wohnen Amra und
Timea unter ihrem Dach. „Wir leben
hier wie eine große Familie“, sagt
Amra, die eine Ausbildung zur Altenpflegerin macht. In der Einrichtung
nahe Ulm, die von Ulf Haß geleitet
wird. Besonders in dieser Branche
werden Nachwuchskräfte aus dem
Ausland händeringend gesucht, da
es kaum deutsche Interessenten für
die entsprechenden Jobs gibt. Ulf
Haß konnte der Bosnierin somit
doppelt helfen: Er besorgte ihr nicht
nur den Ausbildungsplatz, sondern
gleich noch ein Zuhause.
„Es herrscht dringender Bedarf,
für ausländische Auszubildende Unterkünfte zu finden“, hat Haß beobachtet. Auch Timea, die in einem Ulmer Betrieb zur Hotelfachfrau
geschult wird, suchte eine Wohnung. Da kam das Angebot der Familie
vom
Eselsberg
gerade
recht. Jetzt hofft die Ungarin auf eine berufliche Perspektive. „Daheim
gibt es nur wenige Arbeitsplätze“,
sagt Timea Takacs.
Die Zugereisten,
die beide
aus
Scheidungsfamilien stammen, schätzen die Nestwärme im
Hause Jakob/Haß. Willkommener
Nebeneffekt: Im Kontakt mit ihrer
neuen Familie und den Kollegen am
Arbeitsplatz lernen die Frauen intensiv die deutsche Sprache. Timea, von
allen „Timi“ gerufen, tut sich dabei
etwas leichter als Amra: Sie hat in
Ungarn bereits eine deutsche Schule
besucht und verfügt über einige Vorkenntnisse. Beide sind sich aber einig: „Deutsch zu lernen ist nicht einfach.“
Die erweiterte Familie hat mehrere Klammern. Eine davon ist, möglichst einmal am Tag gemeinsam zu
essen, um sich bei Tisch austauschen zu können. Auf einen Speiseplan haben sich alle rasch geeinigt –
auch wenn Rücksicht auf die
Muslimin Amra genommen wird, die
aus religiösen Gründen kein Schweinefleisch isst. Und wenn es mit der
Mahlzeit zu fünft mal nicht klappt?
„Oft trinken wir Tee“, erzählt Timea.
Beruflich mobil
Steigend Mehr als 25 000
Auszubildende in Deutschland haben einen ausländischen Pass. Laut Zentralverband des Deutschen
Handwerks sind damit rund
sieben Prozent der gut
370 000 Lehrlinge in deutschen Betrieben Ausländer.
Die Tendenz ist steigend: Im
KURZ & KRASS
TATTOOS LOSWERDEN
E
„Oder gehen spazieren.“ Gemeinsamkeit wird auch in anderen Bereichen groß geschrieben. Amra putzt
schon mal die Fenster und räumt Violas Zimmer auf, Timea hilft bei der
Wäsche, beide erledigen Einkäufe. Selbst die Eigenarten der deutschen Mülltrennung haben sie mittlerweile verinnerlicht. Hier und an
anderer Stelle können alle zusammen lachen über die Komik im Alltag, die entsteht, wenn man herkunftsbedingt durch verschiedene
Brillen blickt. Wenn etwa Amra Gebete auf Arabisch spricht, das sie
selbst nicht versteht.
„Wir stellen Wohnraum zur Verfügung und profitieren davon“, stellt
Ulf Haß sachlich fest. „Schauen Sie
inmal gestochene Tattoos lassen sich momentan nur schwer wieder entfernen.
Selbst Prominente müssen daher manchmal zu Tricks greifen, um ungeliebte Bilder und Schriftzüge unter der Haut wieder los zu werden. So trennte sich
US-Schauspieler Johnny Depp einst von seiner Freundin Winona Ryder – und machte
aus seinem „Winona Forever“ Tattoo ein einfaches „Wino Forever“. Eine Firma namens
Ephemeral will die Lösung für diese Problematik gefunden haben: eine Tattoo-Tinte,
die sich nach rund einem Jahr von alleine wieder auflöst. Wer will, kann den Auflösungsprozess sogar früher in Gang setzen. Auf diese Weise lassen sich dann beispielsweise auch bereits gestochene Tattoos noch einmal korrigieren.
Normalerweise sind die beim Tätowieren genutzten Tintenpartikel zu groß, um vom Körper
abgebaut zu werden. Die Farbe bleibt daher für
immer sichtbar. Es sei denn, die Partikel werden
mit einem Laser zerkleinert (siehe Foto) – was
aber sehr schmerzhaft ist. Die nun vorgestellte
Methode hingegen setzt auf kleine Farbstoffpartikel, die von einer Schutzschicht umgeben sind.
Diese sorgt dafür, dass die Farbe zunächst nicht
abgebaut wird, löst sich dann aber nach rund einem Jahr auf. Aktuell wird die neue Tattoo-Tinte
dabei an Schweinen getestet, die eine ähnliche
Haut wie Menschen besitzen. Im nächsten Jahr
sollen dann die ersten Tests an menschlicher
Haut vorgenommen werden.
us
Jahre 2005 hatte die Quote
bei fünf Prozent gelegen. Deutlich höher ist die
Rate im Kammerbezirk
Stuttgart: Dort haben von
10 200 Lehrlingen fast 2200
einen ausländischen Pass,
das sind mehr als 20 Prozent. Ein gutes Drittel von
ihnen sind Türken.
Gefördert Mit dem Programm MobiPro-EU unterstützt das Bundesministerium für Arbeit und Soziales
die berufliche Mobilität junger EU-Bürger. Auskünfte:
Zentrale Auslands- und
Fachvermittlung (ZAV), Tel.
02 28/7130, E-Mail: [email protected]
sich mal um, in wie vielen großen
Häusern nur eine oder zwei Personen leben“, fügt er hinzu. Bedürftigen jungen Menschen eine Unterkunft zu bieten, sei auch eine
„gesellschaftliche Aufgabe“.
Daneben gibt es jedoch eine weniger sachliche Seite. Haß räumt ein,
dass es nach dem Tod der Tochter
auch galt, das verwaiste Zimmer neu
zu beleben. Darum, allen im Haus eine neue Zukunft und Perspektive zu
geben.
Das ist mit dem Einzug von Timea
und Amra gelungen: „Wir haben
Glück gehabt mit den beiden“, sagt
Andrea Jakob. Der zwanglose Austausch, der täglich von allen Beteiligten ungeachtet ihrer diversen Lebenswege
und
-einstellungen
gepflegt werde, sei eine große Bereicherung. Ohne dogmatische Fesseln, etwa in Glaubensfragen.
Und dann kommt Andrea Jakob
auf die große Klammer zu sprechen,
die ihrer Ansicht nach das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft erst möglich
macht, nicht nur in ihrem Hause:
„Ich glaube“, sagt sie, „das einzig
Wichtige in unserem kurzen Dasein
ist das Nehmen und Geben von Liebe, Toleranz und Verständnis.“
LOTHAR TOLKS
WAS MEINEN SIE DAZU?
Äpfel auf Pappschalen mit Plastik umhüllt, Käse oder Wurstaufschnitt in Folie vakuumiert. Wäre es nicht besser, Lebensmittel lose oder im mitgebrachten Behälter zu kaufen? Diskutieren Sie unter www.swp.de/zusammenleben
PRO Wer schon einmal ein Bild vom
Mageninhalt eines kläglich verendeten Fisches oder Wasservogels gesehen hat, dem bleibt eigentlich keine
Wahl: Die Tiere haben sich am Plastikmüll im Meer totgefressen. Wie
immer ist es die Schuld des Menschen, der seinen Plastikmüll dort
entsorgt. Deshalb muss man umdenken, handeln und bei sich selbst anfangen. Am besten beim täglichen
Einkauf. Fast alles kann man inzwischen lose kaufen. Vor allem Nahrungsmittel. Als Ersatz für Plastiktüten gibt es Stofftaschen, als Ersatz für
Plastikschalen kann man Edelstahlbehälter oder wenigstens Tupperschüsseln mitnehmen. Schwieriger wird es
bei Kosmetik und Waschmitteln. Da
bieten noch zu wenig Geschäfte Produkte zum Abfüllen an. Aber es werden zumindest in großen Städten
mehr. Und das ist auch gut so.
us
CONTRA Die Umwelt schonen ist gut
und schön, aber muss ich deshalb die
Tomaten kaufen, die schon 17 andere
Hände angefasst haben? Dann doch
lieber die eingeschweißten Päckchen,
in denen Obst und Gemüse unberührt und hygienisch einwandfrei
nach Hause transportiert werden
können. Apropos Transport: Wie viele Behältnisse müsste man zum Einkaufen mitnehmen, um eine Wochenration an Lebensmitteln ohne
Umverpackung zu erwerben? Wer in
der Metzgerei seine Tupperbox über
die Theke reicht, bekommt sowieso
zu hören, dass derartige Umweltschutzmaßnahmen gleich den Wirtschaftskontrolldienst auf den Plan rufen. Man muss nicht alles doppelt
und dreifach in Plastik hüllen, aber
beim Aufschnitt darf es schon die
fettundurchlässige Folie und bei den
Brötchen die Papiertüte sein.
mh
tark und durch keinen Sturm zu
knicken, so sehen sich Männer
am liebsten. Aber leider sind
manche Stürme stärker als das
stärkste Mannsbild. Das muss auch
Manfred (52) lernen. Er hat erfahren,
dass er schwer krank ist. Zwar nicht
lebensbedrohlich, aber die Frage, ob
er seine Familie mit der Nachricht
belasten soll, quält ihn trotzdem.
Sicher, seine Krankheit wird eine
Belastung für die Familie, sobald sie
davon weiß. Die eigentliche Frage
aber ist: Wie reagiert die Familie,
wenn er es nicht offenbart? Wie wird
sich seine Partnerin fühlen, wenn er
ihr das verschweigt, was ihn am
meisten bedrückt? Das ist ein klarer
Vertrauensbruch, sagt Nora Nägele,
Beziehungs-Expertin aus Stuttgart.
Verstehen könnte sie es, wenn er zunächst die Kinder mit der schlechten
Nachricht verschont, nicht aber seine Partnerin.
Ehe heißt, Dinge gemeinsam zu
tragen, sagt die Beziehungs-Expertin. Aber wenn der andere nicht mittragen lässt, gerät ein Grundpfeiler
ins Wanken.
Ein Merkmal von Partnerschaften,
vielleicht sogar das wesentliche, ist
die Nähe, die es beiden ermöglicht,
alles miteinander zu teilen. Zu dieser
Nähe gehören nicht nur die angenehmen Dinge. Die beiden können
einander nicht nahe sein, wenn einer etwas verschweigt. Ab diesem
Moment steht etwas zwischen ihnen. Das kann eine intime Beziehung in Gefahr bringen, viel mehr,
als es die schwerste Krankheit vermag.
Natürlich gibt es Fälle, in denen es
nicht ratsam ist, seinen Partner sofort in alles einzuweihen. Wenn
Manfreds Frau selbst eine schwere
Phase durchmacht, vielleicht erst
noch ein großes Problem zu lösen
hat. Dann behält er seine Krankheit
eine Zeitlang lieber für sich.
Hinter Manfreds Wunsch, die Familie mit seiner Not zu verschonen,
steckt das alte Rollenverständnis,
das Männer immer noch antreibt.
Sie haben gelernt, den Starken und
Die Krankheit
beeinflusst Verhalten
und Stimmung
Beschützer zu geben. Dazu passen
Zeichen der Schwäche nicht.
Mit seiner Krankheit muss Manfred leben lernen. Sie wird Auswirkungen auf ihn und das Leben mit
seiner Familie haben: Therapie, Behandlung und Medikamente, das alles wird sein Verhalten und seine
Stimmung beeinflussen. Die anderen merken, wie er sich verändert.
Wenn er schweigt, rätseln sie über
die Gründe. Und wenn sie von der
Krankheit keine Ahnung haben, beziehen sie seine Verhaltensänderung
auf sich. Dann hagelt es Vorwürfe, es
gibt Streit, die Situation ist noch
schwerer zu ertragen.
Heimliches hat immer die Tendenz, unheimlich zu werden. Packt
er vor seiner Frau aus, dann nimmt
er sich die Last und gibt ihr die Chance, sich darauf einzustellen. Er muss
es in Kauf nehmen, seine Familie zu
belasten. Niedergeschlagenheit, Verzweiflung und Trauer gehören dazu.
Aber erst, wenn seine Frau die bittere
Wahrheit kennt, kann sie sich darauf
einstellen und Manfred unterstützen. Ihre Verbundenheit könnte trotz
oder gerade wegen dieser Belastung
wachsen. Diese Chance verwehrt er
seiner Frau und der Beziehung,
wenn er schweigt.
Unser Autor Otto Lapp ist 49 Jahre
alt und hat einen Sohn. Er hat Philosophie studiert und geht an dieser Stelle
Beziehungsfragen auf den Grund. Im
Hauptberuf ist Lapp Chefreporter der
Tageszeitung „Nordbayerischer Kurier”

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