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„Meinst du das ernst?“ fragte Serge und schüttelte seine bunten Federn, bevor er sich mit dem
Schnabel über den rechten Flügel strich, um ihm noch etwas mehr Glanz zu verleihen. Dann
zog er an seiner Pfeife, blies Jeannot den Rauch ins Gesicht und fuhr nach einem kurzen
Hustenanfall weiter: „Ich kann dir nicht beibringen wie das geht mit den Frauen, Jeannot. Das
musst du selber lernen. Mein Gott, wenn’s einfach wäre, wenn man diese Kunst einfach so
von Generation zu Generation, von Vater zu Sohn zu Enkel weiter geben könnte – wo bliebe
dann der Zauber?“ Serge flatterte kurz um sein Gefieder etwas zu lockern bevor er in seinen
smaragdgrünen Morgenmantel schlüpfte. „Willst du auch einen Tee?“ „Mann, ich dachte du
bist mein Freund und willst mir helfen?“ murrte Jeannot, stieg das knarrende Treppchen
hinauf in die Galerie und liess sich auf das alte Samtsofa fallen. „Ich helfe dir ja, weil ich dir
eben nicht helfe!“ entgegnete Serge, während er das Wasser für den Tee aufsetzte. „Was
willst du denn von mir, willst du eine Checkliste, nach der du das Mädchen bearbeiten sollst
und nach jedem erfolgreich abgehandelten Punkt einen Haken setzen kannst? ‚Eine
Haarsträhne beiläufig aus ihrem Gesicht streichen – check! Ihr beim Feuer geben eine
Sekunde zu lange in die Augen schauen – check! Die Hand nach dem dritten Treffen endlich
auf ihrem Knie platzieren – check!’ So läuft es nicht, Mann! Das wärst doch nicht mehr du
selbst.“ Jeannot verdrehte die Augen und liess sich rücklings auf das Sofa fallen, das unter
seinem Gewicht nachgab und ihn in den Rücken piekste, die Stahlfedern waren nicht mehr die
neusten. Etwas Staub wirbelte auf, der Jeannot in der Nase kitzelte und ihn zum Niesen
brachte. „Weisst du“, setzte er an nachdem er sich die Nase putzte, „du hast ja recht. Ich will
keine Anleitung, ich brauche wohl nur etwas Starthilfe, etwas, was mir die Angst vor dem
Ansprechen nimmt.“ Serge sah Jeannot mit stechendem Blick an, schüttelte dann missmutig
den Kopf und nahm das kochende Wasser vom Herd um den Tee aufzugiessen. „Ich weiss
schon, was du willst. Ich habe dir oft genug gesagt, dass gemahlene Hasenpfote schwierig
sein kann im Umgang. Die Dosierung hängt extrem von der Qualität des Hasen ab – wie
wurde er gefüttert, lebte er in freier Wildbahn oder hatte er feine Pfoten, die er schonen
konnte, weil er in einem reichen Haushalt mit Bediensteten aufwuchs? – und nicht immer
kann man nur vom Geruch des Pulvers abschätzen, wie gut es ist.“ „Bitte, Serge, nur noch
dieses eine Mal!“, Jeannot stand auf, rieb sich die Augen, scheiss Staub dachte er, „bitte!“.
Serge stiess einen gleichgültigen Pfiff aus, öffnete eine Schublade und warf Jeannot ein
kleines Päckchen zu. „Noch ein letztes Mal! Sei vorsichtig mit der Dosierung, das ist wirklich
gutes Zeug! Willst du echt keinen Tee?“ Jeannot bedankte sich, lehnte den Tee nochmals ab,
Teufelszeug, und verliess Serges Wohnung im obersten Stock des Herrenhauses.
Auf der Strasse zündete er sich eine Zigarette an und befühlte das Päckchen in seiner
Hosentasche. Er würde es nicht unbedingt nehmen müssen, dachte er, aber schon allein der
Gedanke daran machte ihn sicherer. Er würde endlich den Mut finden, Stella anzusprechen.
Er setzte sich ins nächste Café, bestellte einen Chardonnay, rauchte und beobachtete die
Leute, die im Feierabendstress vorbeizogen. Es war Herbst, noch nicht zu kalt, um draussen
vor den Cafés sitzen zu können, aber auch nicht mehr wirklich warm. Mit die Nase in die
Sonne strecken und sagen ‚Hach ist es schön, die Nase in die Sonne zu strecken’ wars seit
etwa drei Wochen vorbei. Morgens hing der Nebel in Schwaden über den Wäldern und
Flüssen und verzog sich erst gegen Mittag, um dann einen grauen Himmel dahinter vortreten
zu lassen. Jeannot liess den Blick über die gestressten Leute schweifen. Das tat er gerne, er
hatte dann das Gefühl, dass der Schwall aus Geschäftsleuten und Teilzeit arbeitenden Eltern,
die ihre Kinder aus der Krippe abholen, jedes Mal ein bisschen von seinen eigenen Sorgen
mitriss und sie in den Metroschächten frei gab, wo sie sich im Nichts der Stadt verloren.
Vielleicht, dachte Jeannot dann, verloren sie sich aber auch nicht, vielleicht krochen seine
Sorgen auch in die Belüftungsanlagen der Häuser, vielleicht schlichen eines Abends seine
Ängste wegen des immer etwas zu leeres Konto aus dem Lüftungsschacht in die Wohnung
von Madame Blanc. Vielleicht liess sich Jeannots niedriger Kontostand vorsichtig aus dem
Schacht auf Madame Blans Frisiertisch fallen, schlängelte sich dann hinter den Spiegel, verlor
eine Null hier, eine Eins da, und verweilte dort so lange, bis sich die Madame davor setzte,
um dann hinter dem Spiegel hervor zu schnellen und sie mit einem grellen Schrei zu
erschrecken. Während dieser Aktion würde Jeannots Kontostand vielleicht noch ein paar
Dreien fallen lassen, für den richtig dramatischen Effekt, und dann unter Madames
aufgerissenen Augen auf den Boden segeln, bis er dort beim nächsten Mal Staub wischen
mitgenommen würde.
Vielleicht aber auch nicht, dachte Jeannot dann, allerdings wäre das sehr lustig. Er nippte an
seinem Glas, die haben wirklich guten Wein hier, dachte er, denn manchmal mochte er Wein
lieber als Bier, aber der musste dann auch wirklich gut sein. Währenddessen lichtete sich der
Strom aus Menschen, die an dem Café vorbei hetzten – es kamen jetzt vor allem noch die
vorbei, die auf der Redaktion noch eine Extraschicht schieben mussten, wegen der Deadline,
es kamen jetzt vor allem noch die vorbei, die am Morgen etwas länger schlafen konnten und
dafür abends erst etwas später gehen durften, und es kamen jetzt vor allem die vorbei, die
diese Woche den Laden zumachen, die Ecken ausfegen und die Rollläden herunterlassen
mussten und jetzt auf dem Weg nach Hause waren, auf dem Weg zum ersten warmen Essen
für heute. Jeannot zündete sich noch eine Gauloise an und liess den Blick schweifen, er
mochte die Ecke hier, er entdeckte jedes Mal so viele neue Sachen, obwohl er oft her kam. Er
mochte zum Beispiel speziell gerne die Plastikstühle des Restaurants gegenüber, es war ein
italienisches Restaurant, eines der Sorte, das sich keine Mühe gab was die Einrichtung oder
die Dekoration anging – musste es auch nicht, denn hier gab es die beste Pizza der Stadt und
nicht selten ging das Tiramisu aufs Haus. Jeannot mochte diese italienischen Restaurants
nicht, wo man rein kommt und es hängen Trauben aus Plastik von der Decke, alles ist rot oder
grün und als musikalische Untermalung wird allen Ernstes Eros Ramazotti gewählt, Jeannot
hört bei ‚Un’Emozione Per Sempre’ jedes Mal irgendwas mit Calzone. Er mag lieber dieses
Restaurant hier, das er jetzt von seinem Tisch aus sehen konnte, die haben keine Tischdecken
sondern grosse Papierbögen, die sie nach jedem Gast zusammen mit den Pizzakrümeln und
Pasta-Resten wegwerfen, es gibt keine Plastiktrauben, und es läuft meistens irgend ein
italienischer Sportsender im Radio. Wenn man in seine Pizza beisst, kann es schon mal
vorkommen, dass man dabei von einem Fussballmoderator angefeuert wird.
Jeannot bestellte sich noch ein Glas und sah den Tauben zu, die unter den Tischchen
scharenweise zwischen den Stühlen herumwanderten. Nervös, mit irrem Blick suchten sie
nach dem nächsten heruntergefallenen Krumen. Eigentlich wirken die wie Junkies auf H,
dachte sich Jeannot, nur dass Tauben frei sind und fliegen können, wohin sie wollen. Die
Tauben spazierten also da herum, wichen den flinken Beinen der Kellner aus und gurrten und
pickten, denn das war nun mal ihr Job und es gab ansonsten nicht allzu viel zu tun für Tauben
in dieser Stadt. Jeannot steckte die Hand in seine Hosentasche und befühlte das Päckchen mit
dem Pulver, es war etwa so gross wie ein Teebeutel, eingepackt in Seidenpapier und
umwickelt mit festem Leinentuch. Ich brauche es nicht unbedingt, dachte er, ich kann
jederzeit ganz frei entscheiden es zu nehmen oder nicht zu nehmen, vielleicht reicht auch
schon der Gedanke daran, dass ich es nehmen könnte. Er verlangte die Rechnung, legte den
passenden Betrag in Münzen auf den Tisch und verliess das Café. Beim Gehen verscheuchte
er noch schnell eine Taube mit dem Fuss.

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