Mütterportrait 2

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Mütterportrait 2
Erste Schweizer Mutternacht | 11. Mai 2013
Mutter sein – Tag und Nacht und gegen den Willen der Familie
Ja, ich bin Mutter. 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr. Alleinerziehende Mutter.
Wissen Sie, wie das ist? Nein, das wissen Sie nicht. Können Sie nicht wissen.
Klar, ich liebe meinen Sohn. Drei Jahre ist er alt, ein aufgeweckter Junge. Ich arbeite hundert Prozent,
die Abende, die Nächte, die Wochenenden und die Feiertage gehören meinem Kind. Wissen Sie, was
ich mir am meisten wünsche? Endlich einmal ausschlafen. Ich bin so unendlich müde …
26 Jahre bin ich alt, ich habe keinen Ehemann, keinen Freund – und eigentlich auch keine Familie.
Das ist nicht bosnisch, stimmt. Von dort komme ich: aus Bosnien. 1992 brach der Krieg aus, ich war
gerade mal sechs Jahre alt. Wenig später kam mein Vater um. Meine Mutter, meine beiden älteren
Brüder und ich mussten das Land verlassen. Wir entschieden uns für die Schweiz. Seitdem leben wir
hier. Es ging alles sehr schnell: der Krieg, die Toten, das Blut. Der Vater, der wegging und nie mehr
zurückkam. Die Flucht. Die Fremde. Innerhalb kürzester Zeit verlor ich den Vater und die Heimat. Wir
suchten eine Wohnung, mussten uns irgendwie zurechtfinden. Wir mussten funktionieren.
Für mich war es von Anfang an ein Leben zwischen den Kulturen. Ich wollte mich integrieren, hatte
Schweizer Freundinnen, lernte die Sprache perfekt, war gut in der Schule, wollte ins Gymnasium.
Doch meine Familie war dagegen: Ich sollte Bosnierin bleiben, einen Bosnier heiraten, Mutter werden. Es gab kein Verständnis, kein Lob, keine Anerkennung. Noch mit 19 Jahren musste ich am Abend
um acht Uhr zu Hause sein. Ich habe mich vor meinen Kolleginnen geschämt. Natürlich lebte ich mein
Leben – ich war ja jung. Aber alles musste heimlich passieren. Ich habe oft gelogen – vor allem in der
Pubertät. Geriet immer an die falschen Männer. Aber ich hatte ja auch niemanden, der mich begleitete, der mich verstand. Mein Bruder war krank, um ihn kümmerten sich alle. Ich war nicht wichtig.
Mit 19 Jahren zog ich zu meinem damaligen Freund. Meine Familie sprach nicht mehr mit mir. Dabei
habe ich doch nichts Böses getan: Ich wollte nur mein Leben in die eigenen Hände nehmen. Ich hatte
eine Lehre im Detailhandel absolviert, war überzeugt davon, auf eigenen Beinen stehen zu können.
Es war zwar keine perfekte Beziehung, aber besser als das enge Leben bei der Familie. Zwei Jahre
später zog ich wieder aus, stand erneut alleine da.
Es war nicht angenehm, das gebe ich zu.
In dieser Situation traf ich meine Jugendliebe wieder. Er hatte die gleiche Geschichte: Vater tot,
Flucht, neue Heimat, Zwischenleben. Ich verliebte mich erneut in ihn. Und dann wurde ich schwanger. Ich machte den Test, meldete mich bei der Gynäkologin an. Gleichzeitig hatte mein Freund einen
Termin bei der Polizei. Ich musste um 13.30 Uhr in der Ordination sein, er war für 14 Uhr vorgeladen.
Ein paar Stunden später rief er mich an. «Ich bin schwanger. Alles ist in Ordnung», sagte ich.
«Ich werde weggewiesen», sagte er, «übermorgen muss ich das Land verlassen, nach Bosnien reisen.»
Ich war sprachlos, wusste nicht, was ich tun sollte. Und dann kündigte man mir die Stelle – am letzten Tag der Probezeit. Wegen der Schwangerschaft. Für mich brach eine Welt zusammen. Jetzt stand
ich da mit dem Kind im Bauch, ohne Freund, ohne Familie, ohne einen einzigen Menschen, an den ich
mich hätte wenden können. Ich nahm all meinen Mut zusammen, fuhr zu meiner Mutter – und erzählte ihr alles. Es gab Geschrei, Geheul, Tränen, Vorwürfe. Keine Unterstützung. Nichts.
Ich war sehr unglücklich. Ich hatte es nicht geschafft, mein Leben auf die Reihe zu bekommen, ich
hatte versagt. Meine Frauenärztin schickte mich zu einer Beratungsstelle. Und so bekam ich Hilfe.
Trotzdem: Ich war jetzt dort, wo ich nie hingewollt hatte: beim Sozialamt. Ich war viel allein, ich grübelte, ich weinte. Ja, ich wollte abtreiben, ich gebe es zu. Aber als ich im Krankenhaus war, überlegte
ich es mir anders. Ich wollte dieses Kind bekommen, freute mich auf meinen Sohn. Ich würde es
schon schaffen. Der Bauch wuchs – und ich bekam Diabetes. Das Kind hat offensichtlich den ganzen
Stress mitbekommen: Als Adnan zur Welt kam, war er untergewichtig, obschon der eigentliche Geburtstermin längst vorüber war. Eine Freundin begleitete mich ins Spital, zum Kaiserschnitt. So war
ich wenigstens nicht ganz alleine.
Der Vater meines Sohnes lebt immer noch in Bosnien. Ohne Ausbildung, ohne Arbeit, ohne Einkommen. Für Adnan bezahlt er keinen Rappen. Ich muss alleine über die Runden kommen. Natürlich habe ich mir immer wieder überlegt, ob ich nicht nach Bosnien ziehen sollte, ob vielleicht die Zeit gekommen sei, nachzugeben und den traditionellen Weg zu gehen. Einige Male besuchte ich meinen
Freund, um Eindrücke zu sammeln. Doch ich merkte schnell, dass das nicht das Richtige war für mich.
Er ist ein richtiger Macho, will Macht ausüben. Ich hatte so lange für meine Freiheit gekämpft. Und
jetzt sollte ich heiraten, in Bosnien leben, meine Eigenständigkeit aufgeben, wie in einem Gefängnis
leben? Mit Stress in der Beziehung, mit Geldsorgen? Das konnte ich nicht. Ich wäre nicht glücklich
geworden. So habe ich mich wieder für meinen Weg entschieden. Gegen den Willen der Familie,
gegen die anderen.
Jetzt bin ich also eine uneheliche Mutter. Eine Schande für die Familie. Von ihr kann ich nichts erwarten. Meine Freundinnen sehe ich nur noch selten. Sie haben ein anderes Leben: mit Freunden, mit
Ausgang, mit Kino und Vergnügen. Ich bin zuhause. Alleine. Mittlerweile bin ich weg von der Sozialhilfe, habe wieder einen Job. Das freut mich. Doch für Adnan war es eine riesige Umstellung. Er bekam hohes Fieber. Fünfmal musste ich ihn ins Kinderspital bringen. Er war nicht krank. Aber sein Körper rebellierte gegen die neue Situation. Drei Jahre lang war ich nur für ihn da. Jetzt ist er fünf Tage
pro Woche in der Krippe – das ist nicht so einfach für ihn.
Für Adnan mache ich alles. Ich liebe ihn. Ich will, dass er glücklich wird – und ich werde immer zu ihm
stehen, egal, was er macht. Ich will ihn unterstützen, will ihn stärken. Er soll nicht unter meinem
Stress leiden, unter meiner Müdigkeit.
Ich war auch im Geburtsvorbereitungskurs. Sie können sich nicht vorstellen, wie das war: lauter Paare – und ich. Im Säuglingsschwimmen: lauter Paare – und ich.
Nach der Geburt habe ich zwei Tage lang nur geheult. Ich war so fertig. Niemand konnte mir helfen.
Ich fühlte mich so allein, hatte Angst vor der Zukunft. Doch dann war der Baby-Blues überstanden.
Ich ging nach Hause, zwei Wochen lang kam die Hebamme regelmässig auf Besuch. Ich genoss eine
Art Sonderbetreuung – und das tat mir wirklich sehr gut, das half mir über die erste Unsicherheit
hinweg. Jetzt habe ich es geschafft. Ich gehe meinen Weg. Ich stehe auf eigenen Beinen. Wenn mich
niemand lobt, sage ich es eben selbst: Ich bin eine gute Mutter.
aufgezeichnet von Renate Metzger-Breitenfellner
Sperrfrist: Samstag, 11. Mai, 18 Uhr