China restauriert - Neue Zürcher Zeitung
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China restauriert - Neue Zürcher Zeitung
iHciic ;>;iirtl|cr 043/81 odium; WOCHENENDE Samstag/Sonntag, 2I./22. Februar I987 Nr. 43 81 China restauriert die Grosse Mauer Text und Aufnahmen von Georg Gerster Sie soll das einzige Bauwerk auf Erden sein, das ein Betrachter auf dem Mond von blossem Auge erkennt. Das sagen der Chinesischen Mauer mit freudiger Erregung die meisten Reiseführer und Prospekte nach. Ein Denkmal der Berührungsangst der Völker als einziges weithin sichtbares Signal für die Bewohnbarkeit dieses Planeten das wäre eigentlich traurig genug. Seien wir also dankbar, dass die Behauptung nur nachgeplapperter Unsinn ist. Schon auf Bildern der Landsat-Satelliten aus wenig über 900 Kilometern Höhe ist die Grosse Mauer erheblich schwieriger zu orten als etwa der Suezkanal oder eine der Weltstädte, Peking eingeschlossen. Baum, Busch und Unkraut tarnen viele hundert Kilound Tausende hat der Biss der Zeit, mit meter der Mauer Erosion und Verwitterung, bis zur Unkenntlichkeit zermalmt und zerkrümelt. Übrigens: die Mauer kam schon vor der Raumfahrt zu ihrer himmlischen Verbindung. In dem Stück «Die Chinesische Mau, er», geschrieben 1945/46 lässt Max Frisch eine seiner Figuren von der Mauer sagen: von allen irdischen Denkmälern sei sie das einzige, «was man vom Mars herüber sehen kann». Der Dramatiker stützte sich da offenbar auf alte chinesische Mythen, - - n i Rotarmist kratzt in Badaling seinen Namen Die Mauer als Gästebuch: e in den Brüstungsstein. die sich Reisen zu andern Himmelskörpern vorstellten; Sciencefiction vor ihrer Erfindung. So soll schon der König von Qin, der sich zum Ersten Erhabenen Kaiser aufschwang und über ein Reich herrschte, das erstmals die gesamte damalige chinesische Welt umfasste, im Traum auf dem Mond gelandet sein und von dort auf sein Reich zurückgeschaut haben. Es erschien ihm klitzeklein so winzig, dass er beschloss, mit einer Mauer ein weit grösseres Gebiet einzufrieden. Innerhalb dieser Grenzvorgabe - sollte sein Reich wachsen können. Qin Shi Huang Di (221 bis 210 v.Chr.), der Erste Erhabene Kaiser der Qin-Dynastie, verband und erweiterte bereits bestehende Schutzwehren in den von ihm eroberten Einzelstaaten: Die resultierende Anlage war der Embryo der Mauer, deren Quellen Reste wir heute sehen. Diese Mammutanstrengung reden von zehn Jahren Bauzeit und 300 000 Arbeitskräften, verSteppenvölUntertreibung der Abwehr diente der mutlich eine ker im Norden und Nordwesten. Offensichtlich war die Mauer, die er baute, kaum die Mauer, von der er angeblich geträumt hatte. Sie war weniger als Waciistumsvorgabe gemeint denn als Sicherung eines mit ununterbrochenen Feldzügen unter die QinHerrschaft gebrachten Imperiums. Die Aufgabe, die der Traum des Ersten Kaisers andeutet, nahm die Grosse Mauer später im jahrtausendelangen Auf und Ab der chinesischen Geschichte auch wahr: Sie hielt nicht nur die Barbaren fern; sie setzte ebenso chinesischer Ausdehnung Grenzen. Dieser Doppelfunktion des Aus- und Einsperrens wurde die Mauer allerdings nicht immer gerecht. Han- und Tang-Kaiser drangen über das chinesische Kulturgebiet hinaus vor in einer Strategie der Vorwärtsverteidigung oder mit kolonialistischen Gelüsten, das sei dahingestellt. Und die Mauer hinderte im 13. Jahrhundert die aus den nördlichen Steppen vorpreschenden Mongolen nicht daran, erstmals über ganz China eine Fremdherrschaft zu errichten. Unter den Mongolen verfiel die Mauer, ihrer doppelten Rolle enthoben; Marco Polo, der damals - - - Peking. Von allen bisher für Besucher erschlossenen Abschnitten der Ein Teil des neu eröffneten Mauerabschnitts Mulianyu. 70 Kilometer nördlich von (nur über Treppen zu bewältigen) Au/stiegen am meisten. Grossen Mauer stresst derjenige von Mulianyu mit den steilsten Neue Zürcher Zeitung vom 21.02.1987 043/8 82 Samsug/Sonntag, 2I./22. Februar 1987 Nr. 43 Sicut 3iird)cr ,!ciliiii!5 WOCHENENDE Bäume. Büsche und Gräser haben die Mauer kolonisiert (hier in Mulianyu). seil sie militärisch ohne Aufgabe ist. An vielen Orten tarnt die überwachsende Vegetation das Bauwerk in der Landschaft bis zur Unauffindbarkeit. Die Mauer bei Badaling: seit den fünfziger Jahren besucherfreundlich gereinigt und restauriert. China bereiste, erwähnt sie mit keinem Wort. Die Kaiser der Ming-Dynastie (1388-1644), die die Mongolen vertrieben, sich aber weiterhin ständiger mongolischer Einfälle erwehren mussten, ordneten die Wiederherstellung und die Verstärkung der Grossen Mauer an: Ihre heutigen Reste gehen auf die Ming-Zeit zurück. Die Nachfolger der Ming, die Mandschu, waren wiederum ein Volk der nördlichen Steppen und betrieben eine imperialistische Aussenpolitik (die in Zentralasien auf den russischen Imperialismus traf); kein Wunder also, dass die Mauer in der Mandschu-Zeit erneut der Bedeutungslosigkeit und dem Ruin anheimfiel. Das kommunistische China nahm zuletzt die Mauer als ein Mordsstück im nationalen Geschichtserbe in Empfang, aber anfänglich mit gemischten Gefühlen: In den Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion über den Grenzverlauf am Amur und Ussuri war sie, die die weit zurück liegende Grenze des eigentlichen China markierte, ein Anlass zur Verle- lücken türmte sie sich über zehn Meter empor. An der Basis mass sie etwa sieben Meter und verjüngte sich nach oben, nach aussen steilgeböscht, mit sanfterer Neigung nach innen, zu einer fünf Meter breiten Mauerkrone. Auf ihr zirkulierten die Verteidiger, nach beiden Seiten abgeschirmt von einer Brustwehr mit Schiessscharten. Auch berittene Truppen benützten angeblich diese Höhenstrasse, manchmal mehrere Reiter nebeneinander, aber die Vorstellung von Kavallerie auf den jetzt zugänglichen Mauerabschnitten macht Mühe: zu eng und niedrig sind die Durchschlüpfe bei den Wachttürmen, die alle paar hundert Meter über die Mauerkrone emporragen; zu jäh fällt und steigt die Strasse ab und an, sooft die Mauer auf direktestem Weg ein Tal oder einen Pass quert. Die Überlieferung tut sich viel auf die Voraussicht der Planer und Bauleiter zugute. Beim Bau der Festung im Jiayu-Pass am Westende der Mauer, für den Hunderttausende von Backsteinen gebrannt werden mussten, war der Bedarf so genau vorausberechnet worden, dass ein einziger übrigblieb. Dieser legendäre überzählige Ziegel liegt heute in einem Turm der Festung; kein Besucher versagt ihm die Reverenz. Die Ming-Mauer beginnt im Osten am Meer, beim ShanhaiPass. Sie mäandert durch sieben Provinzen und Regionen bis zum Jiayu-Pass am Rande der Gobi. Die Chinesen nennen das Bauwerk Wart Li Chang Cheng. «10 000 Li lange Mauer». Setzt man den Li mit seinem alten Wert von 576 Metern ein, impliziert der Name eine Länge von 5760 Kilometern. Rechnet man freilich die Seitenarme und die mitunter Hunderte von Kilometern langen Vorwerke hinzu, zeugt der chinesische Name der Grossen Mauer eher von falscher Bescheidenheit. Einer der besten Kenner der Mauer, der chinesische Amateurforscher Cheng Dalin, siedelt ihre Gesamtlänge in der Nähe von 50 000 Kilometern genheit. Die Ming-Mauer ist mehr als hur eine Mauer. Vielmehr stellt in der Tiefe gestaffeltes Verteidigungssystem dar, mit Vorwerken und Seitenarmen zur Gewährleistung des Rankenschutzes, mit Toren, Festungen, Wacht- und Leuchttürmen, Kasematten und Garnisonen, Arsenalen, Exerzierplätzen und Strassen zur schnellen Verlegung von Truppen. In Friedenszeiten pflanzten entlang einiger Abschnitte die Soldaten oder Wehrbauern auf Feldern diesseits und jenseits der Mauer die eigene Nahrung. Die für den Mauerbau verwendeten Materialien wechseln mit den örtlichen Voraussetzungen. Im Osten, auf den Kämmen der Yan- und Yin-Berge, besteht der Kern der Mauer aus Backsteinen oder ganz einfach Geröllschutt; Packungen aus Hausteinen verkleiden formend und stabilisierend den Kern. Im Westen, in den Lössgebieten und am Rande der Wüste stellenweise zu einem blossen Wall verkümist die Mauer mernd - aus gestampfter Erde oder auch nur Sand, armiert mit Weidengeflecht. An wenigen Orten scheint die Mauer sieben Meter Höhe unterschritten zu haben ; in der Ebene oder in Passsie ein komplexes, - an. Ein baufälliges Tor in Mutianyu vor der Restaurierung. Wie immer die gemessene Länge heute beziffert wird: morgen wird die Zahl grösser sein. Fast jedes Jahr werden neue, bis dahin unbekannte Abschnitte entdeckt. Vor allem der Verlauf der Mauer am westlichen Ende ist streckenweise noch ungesichert, und über die Einzelmauern, die der Erste Erhabene Kaiser vorfand, ist wenig bekannt. Die erhaltenen Mauerreste sind archäologisch nur notdürftig aufgearbeitet. Den Wiederaufbau der Mauer in der Ming-Zeit leiteten offenbar Armeeingenieure; die Backsteine, die sie verbauten, unterscheiden sich deutlich von denen, die damals in zivilen Ziegeleien gebrannt wurden. Dagegen sind viele Fragen zu Einzelheiten von Planung und Bau der Mauern und Mauerteile, die auf die Zeit vor die Ming zurückgehen, noch offen. Der Erhaltungszustand der Grossen Mauer ist herzlich schlecht; nur gerade 17 Prozent der Gesamtlänge gestatten, oder lohnen gar, nach einer chinesischen Schätzung die Restaurierung. Übel mitgespielt hat der Mauer die Zeit: neben den nivellierenden Kräften der Natur die Zerstörungswut des Menschen. Vorläufig zum letztenmal brach der Vandalismus, der auch die Mauer in Mitleidenschaft zog, in der Kulturrevolution aus. Zudem hat die Mauer während Jahrhunderten -jedenfalls dort, wo den ansässigen Bauern als willsie aus Brennziegeln besteht kommener Backsteinlieferant gedient. Und gelegentlich wurde Gedankenlosigkeit. Opfer Erst unlängst schnöder sie auch ein musste in der Provinz Shanxi ein Parteifunktionär Selbstkritik Erweiterung Ziegelei üben, weil er zur einer rüde mit dem Bulldozer 60 Meter der Grossen Mauer eingeebnet hatte. Unbeachtet und unrapportiert bleiben solche Vorkommnisse nicht mehr: Zehntausende wachen im Auftrag der Provinzregierungen und Kreisbehörden über die Unverletzlichkeit der Mauer. Viele von diesen Kustoden betätigen sich nebenbei noch als eine Art «Barfiiss-Archäologen». Schon in den fünfziger Jahren richtete die chinesische Regierung 70 Kilometer nordwestlich Pekings ein Stück der Grossen Mauer wieder her. Dieser Abschnitt von Badaling prägt seither für die Mehrzahl der Chinareisenden das Bild von der Grossen Mauer. Die Flut der (allerdings vorwiegend chinesischen) Besucher in Badaling steigt unaufhörlich. Fast fünf Millionen sind es zurzeit in jedem Jahr; an Spitzentagen drangen sich vier Menschen auf jedem Quadratmeter der Mauerkrone. Um Badaling zu entlasten, wurden jüngst und werden zurzeit in der Nähe Pekings weitere Teile der Mauer für das Publikum erschlossen. - entlang der Grossen Mauer gaben mit Rauchsignalen und FeuerzeiEin Wachtturm in Mutianyu wird wieder aufgemauert. Zehntausende solcher Türme Bewegungen des Feindes erreichten den Hof in Stunden oder Tagen. chen Nachrichten weiter: Meldungen über Neue Zürcher Zeitung vom 21.02.1987 Sicut ,'iim1|tr WOCHENENDE Aitiiiifl SamsUg/s\/g, 2lfk fc/ar l# Nr.V* Entlang der ganzen Mauer sind heute gut hundert Orte im Gespräch, an denen sie in ihrer alten Wehrhaftigkeit wiedererstehen soll. Den Stein der Wiederherstellungsarbeiten ins Rollen brachte ein Leserbrief in den «Pekinger Abendnachrichten»: Ein gewisser Liu Yan regte eine private Spendensammlung an, um dem Staat bei den Aufgaben der Denkmalpflege unter die Arme zu greifen. Seit dem 5. Juli 1984 läuft dank ihm die Kampagne «Liebe dein Mutterland und flicke die Grosse Mauer»; Sprachrohr sind die Pekinger Tageszeitungen chinesischer Sprache. Herr Wang, der mir im Pekinger Büro des Amts für Kulturdenkmäler Auskunft gibt, betont, dass die Bezeichnung der Kampagne, soweit sie sich an Ausländer adressiere, «Mutterland» durch «Kultur» und «Kulturaustausch» ersetze: keinesfalls soll die Kollekte für die Mauer übertriebener nationalistischer Gefühle bezichtigt werden. Auf dem Spendenkonto sind bisher 10 Millionen Yuan zusammengekommen. Wang Shaoqing zählt auch ausländische In Mutianyu föhrt vorläufig noch der einzige Zugang zu der Mauer auf den Hügelkämmen über mehr als lausend Treppenstufen: Schriftsteine verraten dem keuchenden Treppensteiger die erreichte Höhe und die Zahl der überwundenen Stufen. Zukünftige Besucher werden es bequemer haben: eine Luftseilbahn auf dem Bild die Bergstation - ist bereits im Bau. - Gönner auf, Regierungen, Firmen, Organisationen und Einzelpersonen aus 26 Staaten. Sogar ein schweizerischer Beitrag ist verbucht: eine Besucherin spendete 96 Yuan. Naturalleistungen bleiben willkommen: Bauern, die sich früher an dem Ziegel vorrat der Mauer gütlich taten, erstatten die historischen Backsteine zurück. Und die eine oder andere Touristengruppe bringt auf dem Altar der Kultur einige Schweisstropfen dar, indem sie sich für einen halben Tag an den Wiederherstellungsarbeiten beteiligt. Der Spendenbetrag ist ergiebiger, als der Wechselkurs des Yuan (zurzeit 42 Rappen) vermuten lässt: den Einsatz von Maschinen verbietet das Gelände; menschliche Arbeitskraft ist billig. Mit dem Geld wurde bisher Badaling sowohl erweitert als auch renoviert und Mutianyu, 70 Kilometer nördlich von Peking, dem Besuch neu geöffnet. Der Fonds genügt auch für die Wiederherstellungsarbeiten am Ostende der Mauer und in Gubeikou, einer dritten Stelle bei Peking, 130 Kilometer nordöstlich der Stadt. Die Mittel reichen sogar für den Bau eines Museums bei Badaling. Joint ventures mit ausländischen Partnern sorgen jeweils für eine touristische Infrastruktur, vom Hotel bis zur Luftseilbahn und zum Souvenirladen. Noch vor kurzem tippelte ein chinesischer Fabrikarbeiter mutterseelenallein in acht Monaten die ganze Mauer ab. Jetzt endet lärmig das Rally Hongkong-Peking an der Mauer. Auf ihr finden gesponserte Marathonläufe statt. Wandertouristen trekken am Gängelband ihres Reisebüros einem Stück Mauer entlang. Eine chinesische Autofabrik benützt das Vorfeld der Mauer als Prüfstrecke für die Geländegängigkeit ihrer Fahrzeuge. Die Vermarktung der Grossen Mauer gewinnt an Schwung. Da auch der Motorfahrzeugverkehr in Peking ständig zunimmt, vermute ich, dass eine neue Version jenes Autoklebers, der beherzt die Welt verseucht, nicht mehr lange auf sich warten lässt: I love the Great Wall. Aber wer mag denn da meckern rot ist das Herzchen allemal. - In Mutianyu - die Mauer hat hier Sporne zur flankierenden Restaurierung ist Handarbeit. Die Kosten sind daher verhältnismässig niedrig: 2.6 Mio. Yuan für 2.3 km Mauer in Mutianyu. - Übrigens ist es nachgerade verpönt, die Mauer mit eingekratzten Verteidigung bleiben vorläufig die Besucher fast aus: erst die Luftseilbahn wird das ändern. Gästebuch zu benützen. Aber jeder Kilroy, der 500 Yuan für ihre Wiederherstellung spendet, erscheint jetzt mit seinem Namen auf einer Ehrentafel an der Mauer. Neue Zürcher Zeitung vom 21.02.1987 Crajfiti als