Dokumentation_Gaeste_sind_ein_Segen

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Dokumentation_Gaeste_sind_ein_Segen
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Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke
in der Bundesrepublik Deutschland
XX. Weltjugendtag
Vorbereitung auf die Tage der Begegnung
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zum Seminar am 18. September 2004 im Interkulturellen Jugendzentrum in Stuttgart
Die Konzeption und Durchführung des Kooperationsprojektes ‚Interkulturelle politische Bildung’ der Arbeitsgemeinschaft katholisch – sozialer Bildungswerke (AKSB) und der Arbeitsstelle für Jugendseelsorge der Deutschen
Bischofskonferenz (afj) sowie die projekteigenen Maßnahmen werden aus Mitteln des Kinder- und Jugendplanes des
Bundes (KJP) gefördert.
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Zum Einstieg: Mit Humor geht alles besser ...!
... insbesondere der Umgang mit Neuem, Unbekanntem und Ungewohnten
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Bitte bildet vier Kleingruppen und löst gemeinsam eine der vier folgenden Aufgaben:
a) Eine ausländische TN fragt Euch kurz nach der Ankunft ganz nervös, wie sie sich denn
bei der Begrüßung durch ihre Gastfamilie korrekt verhalten muss?
b) Der Leiter der Gastgruppe nimmt Euch nach der Ankunft diskret beiseite und fragt, wann
und wie er das mitgebrachte Gastgeschenk korrekterweise über reichen kann. Wie erklärt
ihr ihm das?
c) Ein ausländischer Student, der erst seit kurzem in Deutschland ist, erzählt Euch, dass er
von seinem Professor soeben für heute Abend um 19.00 h zum Essen eingeladen wurde.
Was sagt, ihr ihm, was ihn dort erwartet und wie er sich korrekterweise verhalten soll,
damit sein Studium ein Erfolg wird?
d) Eine Verantwortliche der ausländischen Gruppe kommt auf Euch zu und berichtet, dass
sie zufällig mitbekommen hat, dass die Tochter der Familie, in der sie wohnt, morgen
Geburtstag hat. Sie bittet Euch, Ihr zu erklären, wie sie ihr korrekt gratulieren kann.
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Nach dem Vortragen der Ergebnisse der Kleingruppen klären:
wo liegt die besondere Schwierigkeit, solch einfache Sachen einem Außenstehenden zu erklären?
-
‚Kulturell korrektes Verhalten’ hängt auch in scheinbar einfachen Zusammenhängen von
so vielen Bedingungen ab, dass es nicht möglich ist, die Hinweise auf zwei oder drei Sätze zu beschränken;
jemand, der in dieser Kultur (schon länger) zuhause ist, braucht diese Hinweise nicht,
weil er in seiner Kindheit (bzw. im Laufe eines längeren Aufenthaltes) gelernt hat, das
Verhalten des Anderen zu deuten und sein eigenes Verhalten darauf einzustellen
um korrekt reagieren zu können, ist sehr viel Wissen nötig, das ein Fremder sich nicht
von heute auf morgen erwerben kann
Diese (und andere) Thesen zum Kulturbegriff lassen sich in 2 Analogien zusammen fassen: Kulturen als Eisberge und Kulturen als soziale Grammatiken (s. nächste Seite)
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Kulturen als Eisberge ...
Der Vergleich von Kulturen mit Eisbergen geht nicht so sehr von den Inhalten der Kulturen aus,
sondern von den Strukturen und Organisationsformen von Kulturen. Ausgangspunkt ist dabei die
These, dass Kulturen – wie Eisberge – aus einem sichtbaren und einem unsichtbaren Teil bestehen und dass der sichtbare Teil wesentlich kleiner ist als der unsichtbare Teil.
Zu dem sichtbaren Teil gehören Elemente wie Sprache, Brauchtum, Schrift, Musik, usw. und zu
dem unsichtbaren Teil Philosophie, Riten, Werte, Normen, Regeln, etc. Da die viele Begriffe in
mehreren Kulturen enthalten sind, kommt es außerdem darauf an, ihre jeweilige inhaltliche Füllung, ihre Verbindungen mit anderen Begriffen und ihre Stellung im gesamten System zu kennen.
Vor einer Begegnung sind den TN nicht nur die sichtbaren und unsichtbaren Kulturbestandteile
der anderen Kultur unbekannt, sondern oft auch die eigenen unsichtbaren Teile unbewusst.
Dies kann sich in der Begegnung z.B. dadurch auswirken, dass die TN die ‚sichtbaren Elemente’
der anderen Kultur nach den unbewussten Werten, Normen und Regeln der eigenen Kultur beurteilen. Anders gesagt, die TN werden sich oft erst durch die Konfrontation mit anderen Normen,
Regeln und Wertsystemen bewusst, welchen Normen, Regeln und Werten sie selbst folgen. Die
Begegnung mit anderen bringt sie also zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst und d.h. zu
einer Weiterentwicklung ihrer eigenen Identität durch die reflektierte und (neu) begründete Fortsetzung bisheriger Denk- und Handlungsweisen oder durch die Übernahme von neuen Denk- und
Handlungsformen.
Ein wichtiges Ziel einer Begegnung ist es deshalb, ‚implizites Wissen’ über sich selbst und die
anderen in ‚explizites’ Wissen’ zu transformieren, das auch nach der Begegnung genutzt und
eingesetzt werden kann. Dies erfordert, in der Begegnung über die Wahrnehmung der Unterschiede und Gemeinsamkeiten im sichtbaren Bereich der Kulturen hinaus zu gehen und einige
der unsichtbaren Elemente an die Oberfläche zu holen, und sie gemeinsam zu bearbeiten.
... oder als soziale Grammatiken
Die meisten Regeln, Werte und Normen von Kulturen werden im Laufe der eigenen Sozialisation, die man unter diesem Blickwinkel auch als Enkulturation bezeichnen könnte, erlernt, ohne
dass deren Konstruktionsmechanismen mit gelernt werden. Dieser Prozess ist mit dem Erwerb
der eigenen Sprache vergleichbar, deren Grammatik ebenfalls implizit erlernt
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wird, weshalb manche Autoren Kulturen auch als unsere ‚soziale Grammatiken’ bezeichnen.
Kulturen stellen zudem – wie Grammatiken – eine beschränkte Zahl von Regeln (Normen, Werten, ...) zur Verfügung aus denen die Angehörigen der Kultur aber – situationsabhängig - eine
unendliche Zahl von richtigen Handlungs- und Verhaltensweisen bilden können. Kulturen sind
also keine Charaktereigenschaften, die das Verhalten der Einzelnen vorhersagbar machen, sondern ‚Orientierungssysteme’, die individuelle, situative, geschlechtsbezogene, regionale,.... Unterschiede zu lassen.
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Tragt bitte
- erst alleine für Euch auf diesem Arbeitsblatt,
- dann gemeinsam in Eurer Kleingruppe auf einer Wandzeitung,
in den „Eisberg“ ein, welche sichtbaren und unsichtbaren kulturellen Eigenheiten, Normen,
Regeln, Strukturen Standards, Werte .... Eurer Meinung nach in Deutschland bzw. bei Deutschen besonders häufig anzutreffen sind.
P. S. Es geht um Eure Meinung und Eindrücke und nicht um das Wiederholen von altbekannten
Deutschlandbildern.
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Ergebnisse der Gruppenarbeiten in Stuttgart:
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Als Ergänzung Eurer Meinungen und Einschätzungen
(nicht als Korrektur) folgen dann einige Ergebnisse der
Forschung zu diesen Themen: Zum einen von Alexander Thomas und Sylvia Schroll – Machl und zum anderen von Geert Hofstede.
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reich umfasst die noch ak-
Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke
in der Bundesrepublik Deutschland
Kulturen als Orientierungssysteme und Kulturstandards
als deren Bauteile
Alexander Thomas definiert Kulturen als ‚Orientierungssysteme’ und ‚Kulturstandards’ als deren Bauteile. Thomas hat
mit seiner Kultur – Definition die älteren Versuche, ‚Nationalcharaktere’ und ‚nationale Eigenschaften’ zu identifizieren,
abgelöst. Hinter diesen Versuchen, mit Hilfe von Fragebögen
das (Nicht-)Vorhandensein bestimmter Eigenschaften bei verschiedenen Völkern zu entdecken, stand unausgesprochen ein
Kulturverständnis, das von unveränderlichen, quasi angeborenen, d.h. natürlichen und allgemeingültigen Eigenschaften
von Völkern und Nationen ausging. Demgegenüber geht das
Kulturstandard – Konzept zum einen davon aus, dass kulturelle Verhaltensweisen erlernt werden (und deshalb veränderbar sind) und zum anderen, dass Völker und Nationen
auch in sich verschieden sind und aufgrund von Alter, Geschlecht oder regionalen Prägungen auch Differenzen zwischen einzelnen Teilgruppen und Individuen vorhanden sein
können. Aus einem solchen dynamischen Kultur – Verständnis ergibt sich im übrigen auch ein dynamisches Verständnis von kultureller Identität und Identität überhaupt. Kulturen legen das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen
nicht fest, sondern liefern einen Orientierungsrahmen, der
von Gruppen und Einzelnen situationsbezogen ausgefüllt
wird. Dies ermöglicht es ihnen auch, auf Menschen anderer
Kultur zu zu gehen, neue Denk- und Verhaltensweisen aus zu
probieren und evt. sogar in das eigene Verhaltensrepertoire zu
integrieren.
Thomas definiert die Begriffe ‚Kultur’ und ‚Kulturstandards’ folgendermaßen: „Kulturstandards sind die zentralen
Kennzeichen einer Kultur, die als Orientierungssystem des
Wahrnehmens, Denkens und Handelns dienen. Kulturstandards bieten den Mitgliedern einer Kultur Orientierung für
das eigene Verhalten und ermöglichen zu entscheiden, welches Verhalten als normal, typisch, noch akzeptabel anzusehen bzw. welches Verhalten abzulehnen ist. ... Kulturstandards bestehen aus einer zentralen Norm und einem Toleranzbereich. Die Norm gibt den Idealwert an, der Toleranzbe-
zeptierbaren Abweichungen vom Normwert.“
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Nach Meinung von S. Schroll – Machl gibt es einige deutsche Kulturstandards, die in vielen interkulturellen Kontaktsituationen relevant sind. Es lohnt sich deshalb, sich ihrer bewusst zu sein und sich mit ihnen auseinander zu setzen. Es
sind dies insbesondere die:
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Sachorientierung (statt Beziehungs- oder Personenorientierung)
Wertschätzung von Strukturen und Regeln
Regelorientierte, internalisierte Kontrolle
Zeitplanung
Trennung von Persönlichkeits- und Lebensbereichen
Direktheit der Kommunikation
Kultur als mentale Programmierung – das Kulturkonzept
von Geert Hofstede
Hofstede versteht unter Kultur die ‚mentale Programmierung’
des Menschen. Dieses Konzept, das aus dem Bereich des interkulturellen Managements stammt, ist einer der bekanntesten Versuche, Kulturunterschiede systematisch zu beschreiben. Auf der Basis von Umfragen in mehr als 80 verschiedenen Ländern identifizierte Hofstede dafür 5 ‚Kulturdimensionen’:
Individualismus bzw. Kollektivismus
hohe bzw. niedrige Machtdistanz
Maskulinität bzw. Feminität
starke bzw. schwache Unsicherheitsvermeidung und
langfristige bzw. kurzfristige Orientierung.
Die einzelnen Dimensionen sind bei Hofstede folgendermaßen definiert:
Individualismus beschreibt Gesellschaften, in denen die Bindung zwischen den Individuen locker sind: man erwartet von
jedem, dass er für sich selbst und seine unmittelbare Familie
sorgt. Kollektivismus beschreibt Gesellschaften, in denen der
Mensch von Geburt an in starke, geschlossene Wir – Gruppen
integriert ist, die ihn ein Leben lang schützen und dafür bedingungslose Loyalität verlangen.
Machtdistanz ist das Ausmaß, bis zu welchem die Mitglieder
von Institutionen bzw. Organisationen eines Landes erwarten
und akzeptieren, dass Macht ungleich verteilt ist.
Maskulinität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der die Rollen der Geschlechter klar gegeneinander abgegrenzt sind:
Männer haben bestimmt, hart und materiell orientiert zu sein,
Frauen müssen bescheidener, sensibler sein und Wert auf
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Lebensqualität legen. Femininität kennzeichnet eine Gesellschaft, in der sich die Rollen der Geschlechter überschneiden:sowohl Frauen als auch Männer sollten bescheiden und
feinfühlig sein und Wert auf Lebensqualität legen.
Unsicherheitsvermeidung ist der Grad, in dem die Mitglieder einer Kultur sich durch ungewisse oder unbekannte Situationen bedroht fühlen.
Gesellschaften mit langfristiger bzw. kurzfristiger Orientierung unterscheiden sich z.B. hinsichtlich des Zeitrahmens
für das Erzielen von Ergebnissen, des Respekts von Traditionen, der Sparquote, etc.
Für Deutschland ergeben Hofstede’s Forschungen z.B. folgendes Bild:
Je nachdem wie groß die Differenzen zwischen den ‚Punktzahlen’ sind, die die einzelnen Länder (z.B. Deutschland und
Frankreich) auf den 5 Skalen erreichen, lassen sich so kritische und weniger kritische Bereiche für die Zusammenarbeit
identifizieren.
Für die interkulturelle Arbeit ist vor allem zu fragen, ob hier
nicht eher vorhandene Bilder vom Anderen bestätigt und neue
Bilder geschaffen werden. Denn das Ergebnis (= eine Durchschnittspunktzahl pro Dimension und Land) suggeriert eine
‚nationale Homogenität’, die zwar leicht handhabbar ist, aber
oft nicht (mehr?) der gesellschaftlichen Vielfalt entspricht.
Welche Auswirkungen diese Kulturstandards auf die Begegnungen beim Weltjugendtag haben können, zeigt das folgende
Fallbeispiel:
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Arbeitsgemeinschaft katholisch-sozialer Bildungswerke
in der Bundesrepublik Deutschland
Fallbeispiel: Das missglückte Stadtspiel – eine erfundene
Geschichte aus dem Jahr 2005
Um die Besichtigung der Heimatstadt attraktiv und motivierend zu gestalten, hat die deutsche Gruppe sich viel
Mühe gegeben, sich zweisprachiges Prospektmaterial
über die eigene Stadt besorgt und in Untergruppen verschiedene thematische Parcours für international gemischte Kleingruppen vorbereitet. Im Programm, das die
Gäste erhalten haben, ist dieser Punkt mit „Wir zeigen
Euch unsere Stadt“ angekündigt und auch die einzelnen
Themen, unter denen die einzelnen Kleingruppen der
Gäste auswählen können, sind bereits benannt.
Bei dem gemeinsamen Treffen zum Start des Stadtspiels stellt die deutsche Leiterin, die das ganze Projekt
initiiert und realisiert hat, die Idee des Stadtspiels mit
Hilfe von zweisprachigen Folien auch in der Sprache der
Gäste vor. Sie beendet ihren Vortrag mit der Vorstellung
der deutschen Kleingruppen, die die Leitung der einzelnen „Themenpfade“ übernehmen werden. Die Kleingruppen sind in einem zeitaufwendigen Prozess unter
Berücksichtigung eines ausgewogenen Verhältnisses
von Männern und Frauen, des thematischen Interesse
und der jeweiligen Sprachkenntnisse zusammen gestellt
worden und stehen neben der Leiterin mit passenden
Symbolen geschmückt (Fahne, Mützen, Schilder, ...)
startbereit. Die Ansprache endet unter Beifall aller mit
der Einladung an die Gastgruppe, doch bitte ebenfalls
eine passende Anzahl von Kleingruppen zu bilden und
sich dem jeweils interessierenden Themenpfad zu zuordnen, damit das gemeinsame Spiel bald gestartet
werden könne.
Als erster ergreift für die Partnergruppe deren Leiter, ein
bereits etwas älterer Priester, das Wort. Er bedankt sich
wortreich für die interessante Darstellung des Projektes
und wendet sich schließlich an seinen deutschen Mitbruder, der höflichkeitshalber ebenfalls anwesend ist,
mit der Frage, ob es nicht möglich sei, all die schönen
Sachen allen seinen Gruppenmitgliedern zugänglich und
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diese schöne Stadtbesichtigung mit allen gemeinsam zu
machen. Der deutsche Pfarrer, der ob der Anfrage etwas verlegen ist, versucht, die Idee des Stadtspiels
noch einmal mit seinen Worten zu erläutern. Da er aber
an der Vorbereitung nicht beteiligt war, muss er sich zur
Erklärung von einzelnen Punkten immer wieder Rat bei
der verantwortlichen Leiterin einholen. Außerdem muss
sein Beitrag noch übersetzt werden, was die gesamte
Prozedur sehr langwierig werden lässt.
Am Rande der Gruppe beginnen einige deutsche TN,
denen das alles zu lange dauert, einige Mitglieder der
Partnergruppe zunächst mit Mimik und Gestik, dann
auch durch direkte Ansprache an deren Plätzen, nach
ihrer Meinung zu dem Vorschlag zu befragen. Da dies
aber zu keiner Resonanz, sondern eher zur Unzufriedenheit bei dem Leiter der Gästegruppe und den angesprochenen TN führt, beginnen andere deutsche TN,
untereinander zu tuscheln und es fallen Worte wie ‚Betonköpfe’, ‚autoritäre Strukturen’, ‚total unflexibel’ etc. Da
mittlerweile schon vielmehr Zeit vergangen ist als ursprünglich für den Start eingeplant war, steigt die Spannung und eine Lösung ist nicht in Sicht. ...
Fragen zur Diskussion des Fallbeispiels:
1. Was ist hier passiert und mit welchem Titel würden die deutsche bzw. die ausländische Gruppe diese Geschichte wohl versehen? Wie könnte ein möglichst ‚objektiver’ Titel der Geschichte lauten?
2. Warum kommt es zum Konflikt und welche Werte
und Kulturstandards (vgl. Ergebnisse der Arbeitsgruppen zum Thema „Kultur - Eisberg – Analogie am
Beispiel Deutschland und die Thesen von Schroll –
Machl und Hofstede) der beiden Gruppen sind dabei
womöglich im Spiel?
3. Nennt 3 bis 5 verschiedene, in der Praxis vorkommende Lösungsmöglichkeiten für dieses Fallbeispiel (und ihre Vor- und Nachteile)!
4. Wie könnte ein Stadtspiel aussehen, das die Interessen beider Gruppen (besser) respektiert?
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Antwortversuche aus anderen Seminaren:
Interkulturelle politische Bildung will eine rationale Auseinandersetzung mit anderen Kulturen ermöglichen und
für kulturelle Unterschiede sensibilisieren, ohne aber
durch eine Generalisierung und Polarisierung von kulturellen Phänomenen neue Vorurteile zu schaffen oder
alte zu bestätigen. Deshalb sollte im Rahmen einer
Reflxion versucht werden, die kulturellen Hintergründe
für das Verhalten beider Gruppen heraus zu finden, um
so vorschnelle Antworten und eine Bestätigung von
Vorurteilen zu vermeiden. Allerdings gilt auch, dass es
für alle 4 Fragen keine Patentlösungen gibt, weil es
auch kein objektiv ‚richtiges’ oder ‚falsches’ Verhalten
gibt.
Zu Frage 1:
Aus deutscher Sicht könnten die Titel lauten. „Die
Betonköpfe“ oder „Wer hat hier das Sagen?“ Aus
ausländischer Sicht könnten die Titel lauten: „Sind die
noch katholisch?“, „Sind wir hier im Kindergarten?“,
„Typisch deutsch!“ oder „Wer ist hier der Boss?“
Ein gemeinsamer bzw. von beiden Seiten benutzbarer
(aber noch nicht ‚objektiver’) Titel könnte sein: „Total
unflexibel (die anderen)“ oder „Wer hat hier das Sagen?“
Zu Frage 2:
Mit Hofstede könnte man z.B. folgende Kulturstandards
identifizieren:
Zeile 3: „sich viel Mühe gegeben“ und Zeile 19 „zeitaufwendigen Prozess“ – Hinweis auf eine Neigung zur Unsicherheitsvermeidung durch Detailplanung
Zeile 13: „deutsche Leiterin“ und Zeile 35 „wendet sich
schließlich an seinen deutschen Mitbruder“ – Hinweis
auf Maskulinität/Feminität bzw. abgegrenzte oder sich
überschneidende Verständnisse der Geschlechterrollen
(hier vermutlich kombiniert mit unterschiedlichen Verhältnisbestimmungen zwischen Priestern und Laien)
Zeile 4 „in Untergruppen“ und Zeile 32 „als erster ergreift
für die Partnergruppe deren Leiter ... das Wort“ –
Hinweis
auf
niedrige
(Untergruppen
können
selbstständig planen) bzw. hohe Machtdistanz
(gemeinsam akzeptierte Vorrangstellung und –
verpflichtung des Leiters)
Seite 2 Zeile 1 „mit allen gemeinsam“ und Seite 2 Zeile
11 „beginnen einige deutsche TN“ – Hinweis auf
Individualismus/Kollektivismus und Bedeutung und
Aufgabe der Gruppe bzw. der Initiative von Einzelnen.
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Mit Schroll – Machl könnte man z.B. folgende deutsche
Kulturstandards benennen:
Zeile 5 „thematische Parcours“ und Zeile 14 „die Idee
des Stadtspiels“ als Hinweis auf eine starke Sach- (hier:
Themen-) Orientierung statt Beziehungs- oder Personenorientierung durch Bildung von Kleingruppen nach
Sympathie oder durch eine persönliche Einladung der
Gäste zu einem Besuch der jeweiligen Lieblingsorte der
Heimatstadt
Zeile 25 „Die Ansprache endet unter Beifall aller mit der
Einladung an die Gastgruppe, doch bitte ebenfalls eine
passende Anzahl von Kleingruppen zu bilden und sich
dem jeweils interessierenden Themenpfad zu zuordnen,
damit das gemeinsame Spiel bald gestartet werden
könne.“ Als Hinweis auf die Wertschätzung von Strukturen und Regeln anstatt die Anzahl der Kleingruppen, die
Themenschwerpunkte des Stadtrundgangs und den
Zeitpunkt des Beginns offen zu lassen und spontan zu
gestalten.
Seite 2 Zeile 20 „Da mittlerweile schon viel mehr Zeit
vergangen ist als ursprünglich für den Start eingeplant
war“ als Hinweis auf die präzise Zeitplanung dieser
Aktion und vermutlich auch der danach folgenden.
Seite 2 Zeile 19 „Betonköpfe“, „autoritäre Strukturen“
und „total unflexibel“ als Hinweis auf die Direktheit der
Kommunikation.
Diese Hinweise können aber nicht als ‚Beweise’ für die
Wirksamkeit
dieser
Kulturstandards
genommen,
sondern wirklich nur als ‚Hinweise’ gelesen werden.
Denn genauso gut können es, im Sinne einer Analyse,
die nicht nur kulturelle Aspekte berücksichtigt, auch
pädagogische Überlegungen (die Gruppe ist speziell für
diese Tour zusammen gestellt und muss sich selbst erst
noch finden), finanzielle Aspekte (da nicht klar ist, ob
bzw. welche Kosten auf die ausländischen TN
zukommen und es nur eine Gruppenkasse mit wenig
Inhalt gibt, aus der alles bezahlt werden muss, möchte
man lieber zusammen bleiben) oder pragmatische
Überlegungen (da man vermutlich nicht so bald wieder
nach Deutschland reisen kann, sollen alle möglichst
alles sehen) sein, die diese Verhaltensweise
(mit)begründen.
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zu Frage 3.
In der Diskussion wurden unter anderem folgende Möglichkeiten angesprochen:
- die Gruppe muss ihr Programm besser und überzeugender präsentieren, dann werden die Gäste
den Vorschlag schon vorbehaltlos akzeptieren
- die Gruppe muss ihre Planung verbessern und
einen Plan B in der Tasche haben.
zu Frage 4.
Auch wenn es uns Deutschen als ‚Organisationsweltmeistern’ schwer fallen könnte, dies um zu setzen,
dürfte ein Weg durch die Formel „weniger Detailplanung,
mehr Begegnung“ beschrieben werden (vgl. die
Hinweise auf dem Arbeitsblatt „Situationen in der
Begegnung, die das interkulturelle Lernen ermöglichen
und erleichtern“)
Wie kann die Leitung Situationen wie in dem beschriebenen „Stadtspiel“ verhindern?
Interkulturelles Lernen lässt sich schlagwortartig zusammen fassen als: Interkulturelles Lernen wird erreicht,
wenn Leitung und Teilnehmende möglichst viel voneinander-, miteinander – und übereinander – Lernen und
wenn es im Programm ein Wechselspiel von ‚Beheimatung und Befremdung’ gibt.
- voneinander - Lernen: durch Gespräche, Austausch,
ausprobieren, sich in den Anderen hinein versetzen z.B.
etwas über das jeweilige Engagement in der Gesellschaft sowie über die Ziele und Methoden der Jugendarbeit oder die Bedürfnisse und Probleme der Jugendlichen lernen
- miteinander - Lernen: etwas über die jeweiligen Probleme und Wünsche lernen und Perspektiven für eine
bessere Zukunft entwickeln
- übereinander - Lernen: sich über das Land, die Region, die Stadt, die allgemeine wirtschaftliche und soziale
Situation, das alltägliche Leben sowie die Probleme und
Chancen der Jugendlichen und der Kirche zu informieren per Internet, Botschaft, Kulturinstitute, ausländische
Studenten, Migranten, etc.
Eine so konzipierte Vorbereitung und ein so gestaltetes
Begegnungsprogramm trägt gleichzeitig dazu bei, die
TN nicht zu überwältigen und ihre Partizipationsmöglichkeiten zu verbessern.
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In der Situation des ‚Kulturschocks’ selbst, sollten Lösungen gesucht werden, die sowohl das Recht auf Verschiedenheit (alle anders) als auch die Idee der Gleichheit aller Menschen (alle gleich) respektieren. Denn bei
einer Ablehnung des Prinzips ‚alle anders’ wird dem
Fremden die Anerkennung seiner Verschiedenheit verweigert und nur noch das Eigene bestehen gelassen.
Konkret kann das z.B. heißen:
-
die deutsche (oder die ausländische) Gruppe geben
ihre eigenen Vorstellungen von der Stadtbesichtigung freiwillig und vollständig auf und einer der beiden Vorschläge wird umgesetzt ( = Assimilation =
Aufnahme, Einfügung des Eigenen in das Fremde
bzw. des Fremden in das Eigene)
-
die deutsche (oder die ausländische) Gruppe setzen
ihre eigenen Vorstellungen von der Stadtbesichtigung vollständig durch und einer der beiden Vorschläge wird rückhaltlos umgesetzt (= Exklusion =
Ausschluss des Anderen) ,
-
die dritte Möglichkeit der „Elimination des Anderen“
(=die (meist gewalttätige) Vernichtung des Anderen),
sei der Vollständigkeit halber genannt, da sie in der
Politik oft praktiziert wird, z.B. bei Vertreibungen oder
in Form einer ‚ethnischen Säuberung’ mit dem Ziel
einen ‚reinen’ Staat zu haben. Am Weltjugendtag
werden voraussichtlich Jugendliche teilnehmen, die
selbst Zeugen oder Opfer solcher Maßnahmen wurden.
Die Ablehnung des Prinzips ‚alle gleich’ lässt zwar die
Verschiedenheit zu, akzeptiert aber nicht die Gleichheit
der unterschiedlichen Kulturen, in dem die eine als besser und die andere als schlechter bewertet wird.
-
In der Regel wird zwar die eigene Kultur höher bewertet und die fremde Kultur als ‚barbarische
Fremde’ diskriminiert, (Stichwort: Die sind halt pädagogisch, theologisch, politisch, kulturell, .... noch
nicht so weit wie wir) doch gibt es auch
-
die Diskriminierung des Eigenen und die Überbewertung der ‚exotischen Fremde’ nach dem Motto: Hier
bei uns ist alles schlecht, und dort ist alles paradiesisch!
Im Ergebnis werden durch solche Reaktionsweisen die
Vorurteile bestätigt und verstärkt. Da jetzt selbst erlebte
„Beweise“ für die eigenen Vorurteile über die Anderen
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(„Betonköpfe“, „autoritäre Strukturen“) vorliegen, wird es
in Zukunft noch schwerer sein, diese zu widerlegen.’
Um konstruktive Lösungen eines interkulturellen
Konflikts finden zu können, empfehlen sich folgende
Schritte
- Dialog, das im Gespräch bleiben über das gemeinsame Programm, die gemeinsamen Erlebnisse und die
gelungenen wie die schwierigen Situationen, aber auch
die kulturellen Hintergründe der beiden Gruppen (= nicht
– sichtbarer Bereich des Eisberges)
- Empathie + Perspektivenwechsel, die auf einer
Sachkenntnis der anderen Gesellschaft, Politik, Kultur
etc. aufbauen und nicht nur bereits vorhandene Bilder
und Vorurteile wieder holen
- Ambiguitätstoleranz, das gegenseitige Anerkennen
von unterschiedlichen Meinungen, Einschätzungen und
Verhaltensweisen in Kirche, Politik, etc.
- Integration von Eigenem und Fremdem in das Programm oder in einzelne Programmelemente, wodurch
etwas Neues geschaffen wird, an dem sich alle beteiligen können, ohne sich aufgeben zu müssen und das so
alle bereichert.
Bildlich lässt sich der zugrunde liegende Lernprozess so darstellen:
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Die Leitung hat in der Begegnung die Aufgabe, Situationen zu schaffen, die ein voneinander-, miteinanderund übereinander – Lernen ermöglichen und erleichtern:
•
Besichtigungen und Ausflüge bieten gute Möglichkeiten, wenn die Elemente „Fahrzeit“, „Sachen anschauen“, „Ausruhen“ und „Aktionen/Bewegung“ in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen;
wenn möglich, sind gemischte Kleingruppen einer
Großgruppe vorzuziehen
Spiele können eine lockere Atmosphäre schaffen,
wenn sie das miteinander stärken und Konkurrenzsituationen sowie bewusste oder unbewusste Peinlichkeiten
vermieden werden
alle Situationen, die Gespräche in entspannter
Atmosphäre ermöglichen: Spaziergänge, Stadtbummel,
Pausen in gemütlicher Runde
-
Fahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln oder
Fußwege durch die Stadt ermöglichen den Gästen eine
eigenständige Wahrnehmung des Wohnortes
gemeinsam zubereitete Mahlzeiten, incl. Auswahl
und Einkauf der Zutaten, benötigen eine gemeinsame
Entscheidung und ermöglichen einen konkreten Einblick
in einen wichtigen Bereich des Lebens
Außerdem sollte die Leitung:
-
den Dialog unter den TN durch eine kommunikative
Atmosphäre und dialogische Strukturen anregen und
unterstützen
-
den Wechsel zwischen den Perspektiven der TN und
Gruppen durch Angebote von Spielen und Übungen
sowie das Formulieren entsprechender Reflexionsfragen erleichtern und üben
-
die positiven Seiten der Ambiguitätstoleranz für die
TN und die beiden Gruppen aufzeigen
-
eine Integration durch Partizipation ermöglichen, indem sie Zeiten, Räume und Foren schafft , die eine
Beteiligung aller ermöglichen, stärken und befördern.
-
die Integration der Gruppen fördern, indem sie Positives, Gelungenes und das gemeinsam Geleistete
würdigt und zu weiteren Schritten ermuntert
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Was bedeutet das für die Vorbereitung auf den Weltjugendtag 2005 ?
• Interkulturelle politische Bildung berücksichtigt interkulturelle und politische Aspekte der Zusammenarbeit
(Macht, Etablierte/Außenseiter, Geld, wirtschaftliche,
soziale, rechtliche Ungleichheit der TN, etc.) und achtet
auf mögliche Verschränkungen von Ungleichheits- und
Fremdheitserfahrungen. Sie vermeidet so eine kulturalistische Analyse der evt. auftretenden Probleme.
• Es geht in den Begegnungen beim WJT 2005 nicht
nur um ein distanziertes, neutrales ‚Kennen - Lernen’
des Anderen, sondern um seine Anerkennung hinsichtlich seiner Person, seiner Kultur und seiner religiösen
Ausdrucksformen sowie seines Engagements in Kirche
und Gesellschaft als gleich. Eine solche Art von Begegnung ermöglicht und erfordert auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Person und den eigenen Werten und Zielen. Somit trägt die Begegnung mit dem Anderen wesentlich zur Entwicklung der eigenen Identität
der Jugendlichen bei.
• Interkulturelle politische Bildung kann keine ‚interkulturelle Spielwiese’ sein, deren Teppich am
11.8.2005 ausgelegt und am 21.8.2005 wieder eingerollt
wird. Da es sich um einen langfristigen Lernprozess
handelt, muss es zum einen eine Vorbereitung geben,
die die TN für den gesamten Lernprozess qualifiziert
und die notwendigen Informationen und Kenntnisse über
den Anderen vermittelt. Da es im Rahmen der Begegnungen auf dem WJT vielleicht nicht möglich sein wird,
den kompletten Durchlauf durch die „interkulturelle Spirale“ zu erleben, ist es zum anderen wichtig, den Jugendlichen auch nach dem WJT noch Angebote zu unterbreiten, die eine Fortführung des Lernprozesses und
eine Übertragung der dabei gemachten Erfahrungen auf
ihren Lebensalltag ermöglichen.
• Das Projekt ‚Interkulturelle politische Bildung’ will
eine solche nachhaltige Veränderung ermöglichen
und verknüpft deshalb die Vorbereitung auf den WJT
2005 mit zwei Themen, die über den WJT 2005 hinaus
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für die Jugend(bil-dungs)arbeit und Jugendpastoral von
Bedeutung sind:
o die ‚Europäische Bürgerschaft’ und das
o ‚Zusammenleben in der Zuwanderungsgesellschaft’.
Konkret heißt das, im Rahmen der „Tage der Begegnung in den Diözesen“ in möglichst vielen Gemeinden
(mindestens) einen Akzent zu setzen, der über die Tage
selbst hinaus weist und weiteres Engagement ermöglicht.
Die angestrebte Gastfreundlichkeit unserer Gemeinden
und Verbände, darf nicht auf die Jugendlichen beschränkt werden, die anlässlich des Weltjugendtages
nach Deutschland kommen werden. Es gilt vielmehr ein
weltoffenes Deutschland zu schaffen, das die Zuwanderer in Kirche und Gesellschaft ‚integriert’ und dessen
BürgerInnen sich im neuen Europa freiwillig engagieren.
Dies erfordert, die Vorbereitung auf den Weltjugendtag
und die einzelnen Programmelemente der „Tage der
Begegnung in den Diözesen“ so zu konzipieren, dass
die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die Ermutigung zum Engagement, die sie durch den WJT 2005
erfahren, anschließend in der Gemeinde, im Dekanat ,
im Verband oder in anderen Arbeitsfeldern der kirchlichen Jugendarbeit bruchlos fort setzen können.