Inhalt - Bodensee

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Inhalt - Bodensee
Inhalt
»Tristan und Isolde«: Nachdenken über das »süße Wörtlein: und«
7
Wagners Leben und Werk
11
Ein Leben in mehreren Biografien 11  Historische, biografische
und werkspezifische Daten 14  Das Gesamtwerk als Spiegel von
Wagners Persönlichkeit 17
21
Stoffgeschichte und Werkentstehung
Der vorwagnersche Tristan-Mythos: Vom poetischen Höhenflug
zum Absturz in der Schusterstube 22  Werkentstehung zwi­
schen Treibhaus-Asyl, Lagunen-Aufenthalt und Luzerner Hotel­
zimmer 25  Die Handlung 32  Die Figurenkonstellation 37
38
Die dramaturgische und die musikalische Gestaltung
Der Stil des Librettos und sein sprachphilosophischer Hinter­
grund 39  Die Leitmotivtechnik 42  Spaziergang durch das
Werk 46
Essay: Eine Mitleidstragödie des 19. Jahrhunderts
91
Die Uraufführung und musikalische Nachwirkungen
97
Werkrezeption durch Nichtaufführung 97  Die Münchner Urauf­
führung: Ein kontrovers diskutiertes Großereignis 99  Striche im
»Tristan« und Folgeaufführungen zu Wagners Lebzeiten 100  Die
Auswirkungen des »Tristan« auf Wagners weiteres Schaffen 101 
Wagners Komponistenkollegen und der »Tristan« 102
Die Rezeption in Literatur, Kunst und Film
105
Die Interpretationsgeschichte auf Schallplatte und CD
111
Die Inszenierungsgeschichte
116
Die Frühphase: Loslösung von den szenischen Vorgaben des
­Librettos 116  Die Nachkriegszeit: Von der Entrümpelung zum
theatralen Ritual 119  Um die Jahrtausendwende: Zwischen
De­kon­struktion des Theaterraums, Psychoanalyse und Zeitver­
schiebung 122
126
Anhang
Notenbeispiele *1 bis *34 126  Glossar 131  Zitierte und emp­
fohlene Literatur 133  Abbildungsnachweis 135
»Tristan und Isolde«:
Nachdenken über das
»süße Wörtlein: und«
Elizabeth Taylor und Richard Burton: Zweimal verheiratet und zweimal
geschieden, waren sie das Liebespaar des 20. Jahrhunderts. Eine skandal­
umwitterte Amour fou, aus der es kein Entkommen gab, weshalb die ­Taylor
Jahre nach Burtons Tod resümierte: »Nach Richard waren die Männer
in meinem Leben bloß dazu da, mir den Mantel zu reichen und die
Tür aufzuhalten.« Liebesgeschichten wie diese sind es, die das »und«
bereits im Titel führen. Zu allen Zeiten bewegten sie die Menschen, seit
jeher wurden sie wieder und wieder erzählt, umgeschrieben und ausge­
schmückt. Einige dieser Und-Geschichten entstammen der Wirklichkeit,
wie etwa die Affäre zwischen Caesar und Cleopatra, dann nach ­Caesars
Ermordung das Liebesdrama um Cleopatra und Marcus Antonius, das
nicht zuletzt von William Shakespeare dichterisch verklärt wurde. 1962,
während der Dreharbeiten zu dem kolossalen Sandalenfilm über die stolze
Pharaonin, schienen Kunst und Wirklichkeit sogar ineinander überzu­
gehen, als Cleopatra und Marcus Antonius ihren Filmkuss nicht abbrachen,
obwohl die Kamera schon nicht mehr lief. Dieser sich über die Kamera
hinwegsetzende Kuss markierte öffentlichkeitswirksam das Startsignal
für die private Liaison zwischen Taylor und Burton.
Ein anderer von der Wirklichkeit geschriebener Liebesroman mit
»und« im Titel trägt die Überschrift Abaelard und Heloïse: Dieses Drama
der Leidenschaft zwischen geistlichem
»Wem der Traum der Liebe lacht«: Ian
Herrn und Schülerin nahm zu Beginn des
Storey und Waltraud Meier 2007 als Trisfrühen 12. Jahrhunderts mit der von He­
tan und Isolde in Patrice Chéreaus Inloïses Vormund veranlassten Entman­nung
szenierung an der Mailänder Scala.
Abaelards eine schockierende Wende; zu
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Ende war es deshalb aber noch lange nicht, wie einer der eindrucksvolls­
ten Briefwechsel des Mittelalters beweist. Andere dieser Und-Geschichten
sind frei erfunden, und bei etlichen mischen sich Dichtung und Wahr­
heit. Wer weiß denn wirklich, wie es um den Dichter Petrarca und die
schöne Laura, wie es um Dante und seine engelsgleiche Beatrice bestellt
war? Dante wiederum setzte der unseligen Liebe zwischen Paolo und
Francesca da Rimini in seiner Göttlichen Komödie ein Denkmal: Nachdem
der hässliche und lahme Giovanni Anno 1285 seinen Bruder Paolo in den
Armen seiner Ehefrau Francesca erwischt und beide getötet hat, fliegen
deren Seelen dank Dante nun im Höllenwind Seit an Seit – treu über
den Tod hinaus. So entstehen Mythen. Die Geburt eines modernen UndGeschichten-Mythos war jüngst erst zu erleben, als der ­Filmregisseur Ang
Lee 2005 die Cowboys Ennis und Jack auf jenem Brokeback Mountain,
der dem Film den Namen gab, an ihrer uneingestandenen Liebe leiden
ließ. Umso erstaunlicher, dass bislang noch kein lesbisches Liebes­epos
Kultstatus erlangen konnte, nicht einmal Max Färberböcks zur Nazi-Zeit
spielender und auf einem realen Geschehen basierender Film Aimée &
Jaguar von 1999. Hier findet die Liebe zwischen der deutsch-jüdischen
­Journalistin und Widerstandskämpferin Felice Schragenheim (Jaguar)
und ihrer Gefährtin Lilly Wust (Aimée), einer Mutterkreuzträgerin aus
dem Mitläufermilieu der damaligen Machthaber, ein jähes Ende, als ­Felice
1944 von der Gestapo verschleppt wird.
Die wohl berühmteste Und-Tragödie des Sprechtheaters brachte
aber Shakespeare auf die Bühne, als er die Veroneser Jugendlichen ­Romeo
und Julia traurig auf Nachtigall und Lerche lauschen ließ, weil der anbre­
chende Morgen ihr nächtliches Beisammensein beenden würde. Doch
sind die Paare glückloser Liebe keinesfalls aufs Abendland beschränkt.
Im Orient erzählen die Dichter seit der zweiten Hälfte des siebten Jahr­
hunderts die traurige Geschichte von Laila und dem Madschnun: Weil
Qais und Laila nicht zueinander dürfen, wird Qais zum »Madschnun«,
zum von Laila Besessenen, und verliert den Verstand. Auch reichen die
Mythen über die unglücklich Liebenden weit zurück in die Vergangen­
heit. So weiß Ovid in den Metamorphosen von Pyramus und Thisbe, den
Nachbarskindern verfeindeter Eltern aus Babylon, zu berichten, deren
Blut die ursprünglich weißen Früchte des Maulbeerbaumes rot gefärbt
haben soll. Und wen würde nicht das Ende der vom Troja-Überlebenden
Aeneas verlassenen Karthagerkönigin Dido bewegen, wie es Vergil einst
in solch bewegende Verse gefasst hatte, dass noch viele Jahrhunderte
später zahllose Opern davon zehren sollten? Auch an Hero und Leander
wäre zu erinnern und deren trauriges Sterben, da Leander nicht mehr
8
Stoffgeschichte und Werkentstehung
Zunächst soll also die Geschichte des Tristan-Stoffes im Vordergrund
stehen – mit einem Schwerpunkt auf jenen Quellen, die Wagner ­bekannt
waren. Vorausgeschickt sei außerdem die Beobachtung, dass in ­Wagners
Bühnenschaffen weder das Zeitstück eine Rolle spielt, noch dass er je –
wie bis ins späte 18. Jahrhundert hinein üblich – Sujets der griechischrömischen Antike aufgegriffen hätte. Von den frühen Opern Das Liebes­
verbot und Rienzi einmal abgesehen, gehören lediglich die Meistersinger
dem auf der Opernbühne des 19. Jahrhunderts häufig anzutreffenden
historisierenden Genre an. Alle übrigen Werke behandeln märchen- bzw.
sagenhafte oder mythische Stoffe. Voraussetzung dafür waren die Mittel­
alterverklärung der literarischen Romantik und in ihrem Gefolge die
Bemühungen der damals noch jungen wissenschaftlichen Disziplin der
Germanistik, das zugehörige Quellengut wieder zugänglich zu machen –
durchaus in der Absicht, mit der Erschließung dieses nichtlateinischen
und volkssprachlichen Quellenbestands zur nationalen Identitätsstiftung
beizutragen. Auch Wagner wusste sich einem solchen das National­
gefühl stärkenden Kulturprogramm verpflichtet, wie mancher deutsch­
tümelnde Zungenschlag im Lohengrin oder den Meistersingern verrät.
Doch greift Wagner auf die alten Stoffe noch aus einem anderen Grund
zurück. In seiner Schrift Oper und Drama gibt er darüber Auskunft,
­indem er sich dem Begriff des Mythos zuwendet und ihn wie folgt de­
finiert: »Das Unvergleichliche des Mythos ist, daß er jederzeit wahr und
sein Inhalt, bei dichtester Gedrängtheit, für alle Zeiten unerschöpflich
ist. Die Aufgabe des Dichters war es nur, ihn zu deuten.« Das heißt
anders gesagt, dass das in den alten Quellen überlieferte mythische
­Geschehen Urbilder menschlicher Erfahrungen vor Augen führt, die der
dichte­rischen Interpretation verfügbar sind. Mehr noch: Um anschaulich
zu werden, bedürfen die mythischen Bilder sogar des künstlerischen Zu­
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griffs. ­Damit drängt sich wiederum die Frage auf, welche Absicht Wag­
ner mit seiner Mythen-Deutung verfolgt. Darauf gab er in seiner 1851
­entstandenen Schrift Eine Mitteilung an meine Freunde eine bündige
Antwort: »Hiernach bestimmt sich ganz von selbst der Inhalt dessen, was
der Wort-Tondichter auszusprechen hat: es ist das von aller Konvention
losgelöste Reinmenschliche.«
Der vorwagnersche Tristan-Mythos: Vom poetischen
Höhenflug zum Absturz in der Schusterstube
Eine Kunst, deren Leitidee das Reinmenschliche ist, indem sie Grund­
strukturen menschlicher Existenz zur Darstellung bringt, lässt freilich
das Anliegen der nationalen Identitätsstiftung hinter sich. Da ist es dann
unerheblich, woher der Mythos stammt, der im Kunstwerk sich konkre­
tisieren soll. Bezeichnenderweise liegen die Ursprünge der wohl bereits
aufs 10. Jahrhundert zurückgehenden Tristan-Sage nicht im deutsch­
sprachigen Bereich. Keltischer Herkunft, wanderte sie über die Bretagne,
vorgetragen von Trobadors und Spielleuten, in den französischen Sprach­
raum, sodass es um 1150 zur ersten schriftlichen, leider verschollenen
­Romanfassung der Estoire de Tristan eines unbekannten Autors gekom­
men ist. Hingegen ist die erste deutsche Fassung, der Tristrant des Eilhart
von Oberge aus den 1190er-Jahren, vollständig erhalten, auch wurde er in
Prosafassung zwischen 1484 und 1604 15-mal nachgedruckt. Im Gegen­
satz dazu sind die beiden französischen Versionen von Béroul (um 1190)
und von Thomas von Britannien (vor 1175) nur fragmentarisch ­erhalten.
Letztere Fassung kann aber inhaltlich durch zwei Versionen ergänzt
werden, die in Abhängigkeit von Thomas’ Werk entstanden sind: die
altnorwegische Tristans Saga ok Isöndar von 1226 und Wagners mittel­
alterliche Hauptquelle, der Tristan Gottfried von Straßburgs (um 1210).
Gottfried, wohl ein Kleriker, schuf in über 19 000 mittelhochdeutschen
Versen einen Roman, »den man innerhalb seiner Zeit und Welt getrost
als eine Ungeheuerlichkeit wird bezeichnen können« (Peter Wapnewski,
2001). Denn nichts weniger schildert Gottfried hier als ein Paar, das zwar
als ein Muster an Schönheit, Vollkommenheit und höfischer Lebensart
beschrieben ist, das jedoch um der Liebe Willen alles außer Kraft setzt,
was die Welt des Hofes zusammenhält. Es würde zu weit führen, die
episoden­reiche Handlung en détail Revue passieren zu lassen. Und so
übergehen wir die Liebesgeschichte von Tristans Vater Riwalin und ­seiner
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Was wir hier im Detail beobachtet haben, ist für die ganze ­TristanPartitur symptomatisch. Die Tonarten werden nicht nur durch ­Chromatik,
sondern auch durch harmonische Tricks verschleiert. Damit werden die
für stabile harmonische Verhältnisse sorgenden Schlussformeln, die Ka­
denzen, herausgezögert oder ganz ver­
»Daß ganz ich heut genese!« In Luc
mieden. Beispielsweise wird mit Blick auf
Per­cevals Stuttgarter Inszenierung von
2004 kommentieren LibrettoeinblendunTakt 17 alsbald deutlich, dass F-Dur im
gen, wie hier zum Schluss des 1. Akts,
weiteren Verlauf nicht trugschlüssig, son­
das Geschehen.
dern subdominantisch zu verstehen ist und
auf C-Dur zielt. Der Hörer ist sich also nie
sicher, auf welchem tonalen Fundament die Musik eigentlich steht oder
welchen tonalen Zielpunkt sie ansteuert, obgleich, wie sich gleich ­zeigen
wird, durchaus tonale Festlegun­gen den Klangverlauf strukturieren.
Innerhalb des Vorspiels kommt dem Takt 17 die Funktion eines
Gelenks zu; mit ihm hat Wagner uns nämlich bereits in den Hauptteil ge­
lotst und damit den Übergang kaschiert. Damit erfolgt nun auf die Fragen
des Prologs im Hauptteil die lang herausgezögerte Antwort. Sie ­bietet sich
im fließenden Melos der Celli als Kantilene dar. Diese sangliche Weise
wird im Bühnengeschehen mit einer stummen Geste in Zusammen­hang
gebracht, mit Tristans liebendem Blick auf Isolde (*6). C-Dur ist hier aber
47
Steckbrief: Tristan
Tristan: ein sprechender Name. Das triste Schicksal dieses traurigen Mannes klingt darin an, wie schon Gottfried von Straßburg in seinem TristanRoman hervorhebt. Ebenso greift Wagner des Dichters Hinweis auf Tristans familiäre Vorprägung zu leidvollem Los auf: Ist doch sein Vater bald
nach Tristans Zeugung gestorben, die trauernde Mutter bei seiner Geburt.
Klangsymbol dieser schicksalhaften Verknüpfung ist in der Oper eine alte
Hirtenweise (*29). Die Weise wird damit in der Art einer Lebensmelodie
ein tönendes Gleichnis für Tristans zum Leiden bestimmtes Dasein. Den
Druck ererbter Vorbelastung verstärkt Wagner aber zum Todestrieb, sodass
jeder Akt der Oper in einem Selbstmordversuch Tristans endet. Rückläufig
deckt Wagner die Vorgeschichte dieses düsteren Schweigers auf, durch
psychoanalytische Tiefenlotung, die den Helden in einem schmerzhaften
Prozess der Selbsterkenntnis sein suizidales Lebensprogramms vor Augen
führt. Tristans Todessucht ist noch ein anderes Streben beigesellt, sein
Bedürfnis nach unverfälschter Wahrheit, die er in seinen Begegnungen mit
Isolde zu finden glaubt, sobald er in ihre Augen blickt. Wagner hat diesen
Blick bereits im Vorspiel in einer weit ausschwingenden, melancholischen
Cello-Melodie (*6) eingefangen. Und so können wir uns Tristans wahnsinniges Unternehmen, Isolde König Marke als Braut zuzuführen, nur aus dem
Zwiespalt zwischen Gefühlsverdrängung und Sehnsucht nach der Geliebten
erklären, um abermals ihrem Blick zu begegnen. Dazu kommt es endlich,
als Tristan und Isolde im Bewusstsein des bevorstehenden Todes auf dem
Schiff gemeinsam den vermeintlichen Giftbecher leeren, sodass auf das
stille Augenspiel zur Cello-Kantilene das wechselseitige Liebesbekenntnis folgt. Die Konsequenz daraus ist die geheime Liebesgemeinschaft mit
Isolde, tatsächlich eine Flucht aus der Realität, die in die Katastrophe der
Entdeckung und in Tristans Selbstmordversuch führt. Danach können wir
Tristans letzte Lebensphase, abermals als eine Suche nach Isoldes Blick
beschreiben, die ihn aus todesähnlichem Schlaf ins Leben zurücktreibt.
Der Trennungsschmerz hält ihn im Spannungszustand eines Sterbens ohne
Ende. Es mag in diesem Zusammenhang verwundern, dass sich Tristan die
Frage nach dem Befinden der fernen Geliebten kein einziges Mal stellt. Es
geht ihm also nicht um Isolde selbst, sondern ausschließlich darum, was
sie für ihn bedeutet. Wenn sich schließlich sein Blick in den Augen der
herbeigeeilten Geliebten bricht, sodass die schöne Cello-Liebesmelodie
abrupt verstummt, findet Tristans stummes Fragen zwar ein vorzeitiges
Ende, aber keine Antwort.
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bloß eine Zwischenstation, sodass sich das Blick-Thema zunächst nach
d-Moll fortspinnt. Ohnehin bietet sich der Hauptteil als pausenloses Klang­
kontinuum dar, in dem die mehrfache Wiederkehr des Blick-­Themas,
bis auf eine Ausnahme in der ­tonartlichen
Grundierung wie beim ersten Erklingen,
Isolde (Petra Maria Schnitzler) mit dem
toten Morold im Reisesarg: In Graham
dem Hörer Orientierung bietet. So nimmt
Vicks Inszenierung (Deutsche Oper Berdie zweite Steigerungswelle mit dem Blicklin 2011) ist Marke (Kristinn SigmundsThema in den Hölzern bei noch reicherer
son) darüber offenbar »not amused«.
Ausharmonisierung ihren Anfang, um in
einem kleingliedrigen Frage-Antwort-Spiel zwischen tiefen Streichern und
Holzbläsern zu münden, wonach es alsbald zu einem weiter ausgreifen­
den hymnischen Aufschwung kommt. Hier fällt außerdem eine Bassfigur
h–c 1–dis ins Ohr, die im ersten Wellendurchgang noch kaum auffällig
gewesen war, und über deren Deutung als Verhängnismotiv (*7) in an­
derem Zusammenhang noch zu reden sein wird.
Die dritte Steigerungswelle besteht, genau genommen, aus zwei
einander sich überlagernden Anfangsphasen: Zunächst hören wir das
Blick-Thema ausnahmsweise nach E-Dur sich ausrichtend in den Geigen
und Celli, dann vier Takte später wieder mit C-Dur-lastigem Einstieg in den
Bläsern. Dieses Mal schließt sich ein weit ausgreifender Fortspinnungsteil
49
Das »Tristan«-Vorspiel im Konzertsaal
Seit jeher ist das Tristan-Vorspiel ein fester Bestandteil des Konzertrepertoires. Oft wird es dort in Kombination mit dem Schluss des Werks ­aufgeführt,
mit Isoldes Verklärung, wobei dann einfach die Singstimme weggelassen
wird. In dieser Form zur Symphonischen Dichtung mutiert, firmiert das
Konzertstück meist unter der Bezeichnung Tristan und Isolde: Vorspiel und
Liebestod. Wagner selbst hat im erwähnten Wiener Konzert von 1863 diese
Tradition gestiftet. Im Januar 1860 jedoch hatte er das Tristan-Vorspiel bereits in einer mit einem Konzertschluss versehenen Version zur Aufführung
gebracht, die heutzutage kaum noch gespielt wird. Kippstelle in den neuen
Schluss ist hier die Parallelstelle des Epilogs, zum oben erwähnten Takt 16
des Prologs, mit dem E-Dur-Dominantseptakkord: Für den ­Konzertschluss
baut Wagner hier eine motivisch sich aus dem Schluss der Oper ­herleitende
Brücke, um schließlich im Schlussteil von Isoldes Verklärung zu landen.
Freilich sind die von dort stammenden Passagen nun um einen ­Ganzton
nach unter transponiert, sodass diese Konzertversion des Tristan-­Vorspiels –
abweichend vom H-Dur-Schluss der Oper – in A-Dur schließt.
an, der von einem Motiv dominiert wird, das eine schnelle aufwärts zie­
lende Streicherfigur mit akkordisch fallender Abwärtsbewegung kombi­
niert (*8): im ineinandergreifenden Figurenwerk von ersten und zweiten
Violinen zunächst eine Musik aufscheinenden Glücks. Und ­alsbald mischt
sich in den Bläsern das Sehnsuchtsmotiv (*3) aus dem Prolog ­hinein.
Seinen Höhepunkt scheint diese Steigerungswelle mit dem FortissimoWiedereintritt der Blick-Kantilene erreicht zu haben. Freilich kommt es
nun zu einer Art Überhitzung: Der Themenkopf des Blick-Themas (hohe
Hölzer), der Cello-Seufzer des Anfangs (*1) Celli, Hörner, Bassklari­
nette) und das Sehnsuchtsmotiv (Trompete) kommen übereinander zu
stehen, und das Geschehen zerschellt fortissimo im Tristan-Akkord (*2),
während die schnellen Violinenfigurationen von as 3 nach d1 in den Epi­
log abstürzen, dessen Beginn durch den Tristan-Akkord getarnt wurde.
Im Epilog breitet Wagner eine Trümmerlandschaft aus; und gleich­
zeitig ist er, wie nicht zuletzt die tonartlichen Entsprechungen zeigen,
eine verkürzte Reprise des Prologs, freilich von Bruchstücken des BlickThemas durchsetzt. Fast zum Schluss kehrt die Musik, vom Pauken­
grummeln auf G grundiert, im Holzbläsersatz zum unmittelbaren Anfang
zurück, mit dem Seufzermotiv nun im Englischhorn – im Fortgang der
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petensignale der Bühne aufeinandertreffen: trotz allem C-Dur-­Gepränge –
motivisch gesehen – ein offener Akt-Schluss.
Einleitung und 1. Szene des 2. Akts:
Vom verheimlichten Liebesalltag bewusst ins Risikospiel
Mit einem Orchester-Aufschrei setzt der 2. Akt ein: In der scharfen An­
fangsdissonanz der großen Septime führt Wagner das Tagesmotiv ein
(*14 a), das in mannigfachen Abwandlungen (*14 b mit Quartsprung und
sequenziert *14 c) von nun an die Partitur durchzieht. Das in die Augen
stechende Licht scheint im Tagesmotiv, das vom Duktus her eine Ver­
wandtschaft zum Prahlmotiv (*11) aufweist, eingefangen. Doch auch die
anschließende Motivik der B-Dur-Einleitung ist dazu angetan, einen Ein­
druck vom verheimlichten Liebesalltag des Titelpaares am Hofe Korn­
walls zu geben, das als ein nervöses Warten auf die Nacht inszeniert ist.
Die Musik überbrückt damit also die zwischen der Aktpause verstrichene
Zeit der Handlung. Eine mehrfach in der Bassklarinette rastlos nach oben
drängende Figur kommt wiederholt ins Stocken, während Klarinetten
und Hörner, gleich darauf die Fagotte in Triolen erzittern: eine in einem
Akkord-Akzent der hohen Bläser erstarrende Klangchiffre der Ungeduld.
Steckbrief: Melot
Seine akustische Chiffre ist ein deformierter Klang: das Schnarren der
gestopften Hörner; in der Nachtsphäre des 2. Akts darüber hinaus ein
Störgeräusch aus der Tageswelt. Und auch Melot selbst ist im Handlungsgefüge der Oper der Störfaktor, weshalb die Kürze seiner beiden Auftritte
und die Knappheit seiner Äußerungen in umgekehrtem Verhältnis zu seiner
dramaturgischen Bedeutung stehen. Es ist nämlich Melot, dessen fiese
Intrige den Crash der Handlung in der Mitte des Werks verursacht. Melots
Motiv? In zweiter Linie Rivalität um die Gunst des Königs, in erster Linie
wohl Eifersucht. Denn Melot sei, wie Tristan behauptet, den Reizen der
ahnungslosen Isolde verfallen. Nachdem sich Tristan am Ende des 2. Akts
ins Schwert des Verräters gestürzt hat, wird Melot selbst gegen Ende des
3. Akts von Kurwenal erschlagen. Wagner schuf die Gestalt des Melot, ­indem
er aus Gottfried von Straßburgs Tristan-Epos zwei Figuren in eine verschmolz: den neidvoll Tristans heimliche Liebe beobachtenden ­Truchsess
Marjodo und den intriganten Zwerg Melot.
63
Nachdem das ruhelose Bassklarinetten-Thema von den Celli übernom­
men wurde, kommt eine Flöten-Figuration sozusagen als Überstimme
hinzu, die sich durch den Themenkopf mit langer Haltenote und fallen­
der chromatischer Linie einprägt: sowohl eine Musik des Verlangens als
auch, wie sich alsbald zeigen wird, ein Motiv, das mit dem Verlöschen der
Fackel in Verbindung steht (*15). Das Sehnsuchtsmotiv (*3) führt dann
in Geigen und Klarinette eine weitere schnelle Figuration (*16 a) herbei,
deren hier so flüchtig scheinende Anfangswendung im weiteren Verlauf
allergrößtes Gewicht zukommen wird, als eine dem Liebesglück zuge­
ordnete melodische Linie. Nach einem zweiten Anlauf, mit Sehnsuchts-,
Verlangens- und Glücksmotiv führt die Einleitung bruchlos in die weit­
gehend von den eben genannten Motiven getragene erste Szene, in die
überdies von der Bühne her die Jagdhörner hereintönen. Wir ­haben bereits
erwähnt (s. S. 44), wie Wagner anhand der Farbwechsel zwischen ­Bühnenund Orchesterinstrumenten Isoldes gestörte ­Außenwahrnehmung insze­
niert. Besonders subtil gestaltet Wagner diesen Wechsel zwischen realer
Welt und Einbildung, wenn die Motivik der von der Bühne her tönenden
Jagdhörner in die mit Dämpfer abgetönten Waldhörner im Orchester­
graben wandert. Im Changieren der Klangfarben stößt Wagner damit
weit das Tor in die Welt des musikalischen Impressionismus auf. ­Darüber
hinaus sind das Rascheln der Sträucher im Wind und Quellengeriesel
seit alters in den Künsten dem so genannten Locus amoenus zugehörig,
also all den von Liebenden aufgesuchten Örtlichkeiten in der Natur. Aus
der Diskrepanz zwischen Realistik und Illusion entwickelt Wagner auch
die Charakteristik der Bühnenfiguren: hier die wachsende Verzweiflung
Brangänes darüber, dass ihre Warnungen insbesondere vor Melot von
Isolde in den Wind geschlagen werden, dort Isoldes Ungeduld über das
vom Schein der Fackel verursachte Fernbleiben Tristans.
Der Handlungsumschlag erfolgt, als Brangäne sich als Urheberin
von Tristans und Isoldes gefahrvoller Situation bezichtigt, weil sie auf
dem Schiff die Tränke vertauscht habe. Doch die Musik weiß es besser:
Es melden sich Tristan-Akkord (*2) und Sehnsuchtsmotiv (*3) in den
Hölzern und dann das Todesmotiv (*10), um Brangänes tragisches Di­
lemma in Erinnerung zu rufen. Somit entlastet die Musik Brangäne von
ihrer eingebildeten Schuld, und Isolde tut dazu ein Übriges, indem sie
im Spannungsfeld von Sehnsuchts- und Todesmotiv in einem grandiosen
Hymnus das Wirken der allmächtigen »Frau Minne« feiert, der »Leben
und Tod« untertan seien, und die allein »des Todes Werk« verhindert habe.
Hierbei kommt der Tristan-Akkord passgenau auf das Stichwort von der
Liebe und »ihres Zaubers Macht« zu stehen. Er wird damit tatsächlich
64
Oben: Im 2. Akt von Barrie Koskys Inszenierung (Aalto-Theater Essen 2006) dreht sich Klaus Grünbergs Guckkasten um die Liebenden (Jeffrey Dowd und Evelyn Herlitzius).  Unten: Jean-Pierre
Ponnelle hingegen setzte 1981 in Bayreuth Akt für Akt archaische Wunderbäume in die Bühnenmitte.
65
Heiner Müller – 1993
Marke zum toten Tristan
Du liegst und träumst deinen letzten Schlaf
Unter dem Mantel der tödlich Geliebten
Aber ich muß zurück in den mondlosen Tag
Der mir das Herz verbrennt zu Goldstroh
am Nachmittag von 1957 einen amüsanten Kontrapunkt. In der in Paris
spielenden Komödie entdeckt Ariane (Audrey Hepburn), als sie ­während
einer Konzertaufführung des Tristan-Vorspiels durchs Opernglas schaut,
ihren Schwarm, den amerikanischen Playboy Frank Flannagan (Gary
Cooper) in Begleitung einer anderen Frau. In dem Fantasy-Film Excalibur
von 1981 hingegen werden durch denselben Musikeinsatz ­Lancelot und
Guinevere auch akustisch als Liebespaar erkennbar. Und nicht anders
setzen Helmut Käutner in seinem Film Ludwig II.: Glanz und Elend eines
Königs (1954) und Luchino Visconti 1972 in Ludwig II die Tristan-­Musik
als Soundtrack ein, wenn der Liebessehnsucht des sich einsam und
un­verstanden wissenden Königs Ausdruck verliehen werden soll. Den
spektakulärsten Film-Einsatz des Tristan-Vorspiels gibt es aber in Lars
von Triers Weltuntergangsopus Melancholia von 2011 zu bestaunen. Dort
wird bereits im Vorspann das Ende der Welt vorweggenommen, wenn
just zum Höhepunkt der Musik der Riesenplanet Melancholia die Erde
verschlingt. Mit diesem herausragenden Werk der Filmkunst kann die bis­
lang einzige als Opernfilm angelegte Produktion des Tristan leider nicht
mithalten: die von Pierre Chevreuille wohl um 1968 fürs belgische Fern­
sehen gedrehte Schwarzweiß-Version der Oper im Mono-Sound und mit
Außenaufnahmen. Die pseudo-mittelalterliche Aufmachung, vor ­allem
der Kopfputz Isoldes (Jaqueline Van Quaile) und die unbeholfene Perso­
nenregie bergen manchen unfreiwillig komischen Effekt. Doch mit Claude
Heater – dem Publikum als Jesus in Ben Hur (1959) wahrscheinlich eher
in Erinnerung – ist die männliche Titelrolle trefflich besetzt. Von hel­
discher Gestalt und mit bronzen-baritonalem Timbre begabt, firmierte
Heater einige Jahre lang unter den führenden Heldentenören der Zeit.
110
Die Interpretationsgeschichte
auf Schallplatte und CD
Indessen war im 20. Jahrhundert das Hauptmedium der Tristan-Rezep­
tion jenseits der Opernbühne die Schallplatte. Kleinere Werkausschnitte
wurden bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts aufge­
nommen. So hat beispielsweise Lilli Lehmann, 1876 Wagners Bayreuther
Uraufführungs-Woglinde, anno 1907 Isoldes Schlussgesang in den Gram­
mophontrichter gesungen, freilich mit bereits abgenutzter Stimme und
seltsam jaulenden Portamenti. Die Geschichte möglichst vollständiger
Aufzeichnungen der Oper setzt dann 1928 ein, als eine Bayreuther LiveAufführung (musikalische Leitung: Karl Elmendorff) auf 40 Schellack­
seiten gepresst wurde, ohne deshalb komplett zu sein. Soweit ­erkennbar,
gelang eine lyrische, flüssige Aufführung mit einem hellstimmigen Titel­
paar (Gunnar Graarud, Nanny Larsén-Todsen), in der gemäß ­altbayreuther
Tradition die Partie der Brangäne mit einem Sopran (Anny Helm) und
nicht, wie später üblich, mit einem Mezzo besetzt war. Gleich 56‑mal
mussten im ersten ungekürzten, allerdings nicht vollständig erhaltenen
Schellackplatten-Tristan aus dem Jahr 1938 (Chor und Orchester des
Reichssenders Leipzig unter der Leitung von Hans Weisbach) die ­Seiten
gewechselt werden. Die erstaunlich zahlreichen Mitschnitte aus der
ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – insbesondere aus der New Yorker
MET – sind interessante historische Dokumente hinsichtlich der dama­
ligen Wagnerpflege und Aufführungspraxis, die keine Scheu vor Strichen
hatte. Auch ist in ihnen die Gesangskunst berühmter Interpreten wie etwa
Kirsten Flagstads und Lauritz Melchiors überliefert – ein dunkelgetön­
tes und großstimmiges Titelpaar, damals beide im Zenit ihres Könnens
(Fritz Reiner 1936 und Thomas Beecham 1937, jeweils am Royal Opera
House Covent Garden in London, auch 1941 an der MET unter der Leitung
von Erich Leinsdorf). Auch wäre hier der heller timbrierte Max Lorenz,
111
»der extravertierteste aller Tristane«, so Kurt Malisch, zu ­nennen (1943
Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Robert Heger). Die frühen
Aufnahmen sind allerdings aufgrund der unzureichen­den ­technischen
Möglichkeiten der damaligen Zeit durchweg Klangruinen, die vor allem
vom Orchesterpart keinen authentischen Eindruck vermitteln.
Erst aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts existieren Aufnah­
men auf Langspielplatte, zunächst in den 1950er-Jahren von akzeptabler
Mono-, dann seit den 1960er-Jahren von hervorragender Stereoqualität.
Von Wilhelm Furtwänglers mythischer Auffassung des Werks gibt die in
enorm breiten Tempi sich vollziehende farbenprächtige Studioeinspie­
lung von 1952 mit dem Covent-Garden-Ensemble einen Eindruck. Kirsten
Flagstad ist dort freilich eine ziemlich in die Jahre gekommene, eher
­mütterliche und überdies monochrome Isolde, deren beide hohe c im
2. Akt Elisabeth Schwarzkopf beisteuerte. Ludwig Suthaus, dem es mit­
unter an Legatokultur mangelt, liefert zu Max Lorenz’ Gestaltung »das
­introvertierte Gegenporträt« (abermals Kurt Malisch) des Tristan, wäh­
rend Josef Greindl sein eher raues Timbre für die Partie des Marke zu
bändigen wusste – ein stiller und sensibler König. Blanche Thebom als
Brangäne bleibt blass, während der junge Dietrich Fischer-Dieskau dem
Kurwenal ein einfühlsam-lyrisches Naturell verleiht. Ist es hier also die
Dominanz des Dirigats, die dieser Produktion den Stempel aufdrückt, so
ist es in der Bayreuther Einspielung unter Leitung von Herbert von ­Karajan
aus dem gleichen Jahr die Ensemble-Leistung. In straffen Tempi, gewürzt
mit scharfen Akzenten hebt Karajan die Schauspiel-Qualitäten des Stücks
hervor, während seine spätere Aufnahme von 1971/1972 in ihrer Schön­
klangverliebtheit sich dem Weichzeichner verschrieben hat. Doch 1952
befand er sich ganz im Einklang mit Martha Mödl und Ramón ­Vinay in
den Titelpartien, dem wohl dunkelstimmigsten Paar der Aufführungsge­
schichte. Die außerordentliche Intensität von Mödl / Vinay macht manche
nicht ganz astrein angesungene Phrase vergessen. Ira Malaniuk konnte
dem hinreißenden Titelpaar als Brangäne durchaus Paroli bieten, eben­
falls Hans Hotter, der – ein heldischer Kurwenal – als Tristans Mentor
auftritt, während Ludwig Weber einen mild-resignierenden Marke gibt.
Enormes dramatisches Profil verleiht der Heldenbariton Hermann Uhde
der kleinen Tenorpartie Melots, und so wundert man sich bei diesem
spannenden Live-Mitschnitt letztlich nur darüber, warum nicht auch der
immer wieder zu hörende Souffleur auf der Personenliste erscheint.
Darüber hinaus erweist sich bereits in dieser Aufnahme das enorme
Verdienst Wieland Wagners um die Verlebendigung des Musiktheaters
seines Großvaters (s. S. 119 f.): nämlich mit Blick auf die Sprachbehand­
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lung. Wieland Wagners Sänger sind darin
deutlich flexibler als ihre Vorgänger. Das
lässt auch Astrid Varnays analytisch ange­
legtes Bayreuther Porträt Isoldes (Eugen
Jochum 1953) erkennen, das gewisser­
maßen einen Gegenpol zu Martha Mödls
impulsiver Rollengestaltung darstellt. Und
nicht zuletzt zieht die Bayreuther Kultauf­
nahme aus dem Jahr 1966 unter der Lei­
tung von Karl Böhm mit der legendären
schwedischen Sopranistin Birgit Nilsson
und Wolfgang Windgassen in den Titel­
rollen aus der deklamatorischen Finesse
ihre Spannung. Sie begeistert eben nicht
nur durch die Opulenz des Orchestersat­
zes, sondern ebenso durch die ­intelligente
Gestaltung der Partien. Welch tödlichen Spott legt etwa die Nilsson in den
Satz »Da du so sittsam, mein Herr Tristan«! An derlei Details zeigt sich,
dass diese Wagner-Diva-Assoluta des 20. Jahrhunderts weit mehr war
als eine mit leuchtendem und unverwüstlichem Sopran protzende NurSängerin. In der Bayreuther Produktion kann ihr ­Lieblings-Partner Wolf­
gang Windgassen durchaus neben ihr bestehen. Obgleich kein stimm­
licher Schwerathlet, erweist sich sein Tenor aufgrund der eher hellen
Stimmfärbung als robust genug, um übers
Orchester zu kommen, sodass Windgas­
Martha Mödl und Ramón Vinay schrieben
in den 1950er-Jahren als Idealbesetsens psychoanalytische Rollengestaltung
zung des Titelpaars InterpretationsgeTristan aus der brütenden Verschlossen­
schichte, nicht zuletzt aufgrund ihrer
schauspielerischen Intensität.
heit des 1. Akts, über die Emphase des
2. Akts in eine Phase schmerzlich durch­
littener Selbsterkenntnis im 3. Akt führt:
eine Meisterleistung kontinuierlich schlussstrebiger Rollen­interpretation.
Christa Ludwig wiederum darf nicht zuletzt wegen des volltönend ausge­
sungenen Nachtgesangs als die großartigste Brangäne des letzten Jahrhun­
derts gelten. Und dabei hielt die Ludwig selbst von Brangäne gar nichts;
die würde sich während der ganzen Oper »äußerst dumm« verhalten.
Eberhard Wächter zeichnet den Kurwenal recht kraftvoll und männlich,
während Martti Talvela König Markes Selbstmitleid herauskehrt. Peter
Schreier aber singt den schönsten jungen Seemann aller Zeiten.
Ein Faszinosum anderer Art bietet Carlos Kleibers Studio-Produk­
tion von 1980/1981 mit der Dresdner Staatskapelle. Kleiber, wie in ­Bayreuth
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