mein avatar ist besser als ich
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mein avatar ist besser als ich
Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien Curd Michael Hockel „Mein Avatar ist besser als ich“ Mediale „Mehrfach-Leben“ im Jugendalter als Problem beim Entwickeln einer gesunden, funktionstüchtigen „Patchworkidentität“ Der Brockhaus beschreibt „Avatara“ als „die Verkörperung eines Gottes auf Erden, besonders die Verkörperung des Vishnu. Er nimmt auf der Erde Gestalt an, um die bedrohte Weltordnung (dharma) zu schützen oder wieder herzustellen…. Die Zahl der Avatara schwankt; auch Buddha wird unter die Avatara gerechnet.“ Curd Michael Hockel [email protected] Diplom Psychologe, Studium der Philosophie, eigene psychologische und psychotherapeutische Praxis, Gesprächspsychotherapeut GwG, Gründungspräsident der Europäischen Förderation der Berufsverbände von Psychologen, EFPA, Lehrbeauftragter am Lehrstuhl Klinische Psychologie der LMU-München, Dozent und Supervisor für mehrere staatlich anerkannte Psychotherapieausbildungsinstitute, Herausgeber des Handbuchs der angewandten Psychologie (Ecomed) 16 Als 1992 Neal Stephenson in seinem Science-Fiction-Roman Snow Crash den Begriff auf das Bild eines Avatar reduzierte und diesen Begriff populär machte, konnte er nicht wissen, dass er damit den bündigen Leitbegriff für die inzwischen herangewachsene Konfiguration einer künstlichen „Persönlichkeit/Identität“, einer Rollenspielfigur im Internet, geprägt hatte. Innerhalb der Computerszene wird ein Avatar nicht so „psychologisch“ gesehen. Er kennzeichnet nur ein vom User (Nutzer) selbst geschaffenes und animiertes Profil. Ein Avatar ist also eine künstliche, virtuelle Person oder ein grafischer Stellvertreter einer echten Person in der virtuellen Welt, beispielsweise in einem Computerspiel. Im „Second Life“, einem auch in Deutschland zunehmend populärer werdenden Computerspiel, kann sich jeder Spieler neu erfinden, sich seinen Wunschcharakter verpassen. Ein „Verlierer“ im echten Leben kann im Spiel zum großartigen Gewinner werden, ein Unsportlicher darf sportlich sein, ein Schwarzhaariger blondgelockt… Kurzum, jede/jeder kann die- oder derjenige sein, der er im realen Leben gerne wäre, aber nicht ist. Im Second Life kann man Geschäfte machen, Grundstücke kaufen, lügen und betrügen, lieben und leiden. In Fantasiespielen wie „World of Warcraft“, dem weltweit am meisten gespielten „Massen-Multiplayer-Online-Rollenspiel“, können die Spieler in die mystischen Rollen von Tauren Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 und Trollen, Schamanen oder waschechten Schurken schlüpfen. Sie können alleine oder in „Gilden“ gegeneinander spielen. Nach meinen persönlichen Erfahrungen mit der Vielfalt solcher animierter Profile haben diese den Rang von „Experimentalidentitäten“. Und da ich als personzentrierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut mit Identitätsentwicklung und Identitätssuche stets konfrontiert bin, habe ich einige der Erfahrungen hier zusammengestellt. Eine Leitfrage der kinderpsychotherapeutischen Fachdiskussion war in den letzten Jahren die Frage nach der Genese der Gewalt, dem Thema einer ersten Expertenkonferenz der Hans Seidl Stiftung bereits 19941. Inzwischen wird diese Frage u. a. zentriert auf die (behaupteten/bewiesenen?) Gewalt fördernden Auswirkungen von Medienkonsum. Meine Ausführungen wollen hierzu einen erfahrungsbegründeten Zwischenruf darstellen. 1.Identitätssuche Wenn einst ein Jugendlicher in den Spiegel blickte um zu sehen „aus welchem Holz bin ich geschnitzt?“, so machte er keinen großen Fehler. Noch zu Goethes Zeiten wurde über die Eigenschaften von Werther und anderen Figuren, ja sogar über wirkliche Persönlichkeiten so gedacht: Menschen haben Charakter, und das ist etwas von Gewicht, messbar in seiner Qualität wie andere Substanzen. Selbst die Psychologie hat in den ersten Entwicklungsjahren des Faches noch nach solcher dinghaften Identität geforscht. Ein Holzweg. Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien Später begriffen sich junge Menschen als Teil eines Systems; in das Wurzelwerk ihres Herkommens, auf den trüben Spiegel ihrer „unbewussten“ Konfliktgeschichte blickend versuchten sie zu erkennen, was denn in der Tiefe ihrer Psyche sei. Das „Erkenne Dich selbst!“ wurde zur reflektorisch–analytischen Detektivarbeit. Im System von Es-Ich-Über-Ich seine eigene Systemkonfiguration, seine eigene „Zusammensetzung“, zu ermitteln, war leidvolles oder lustiges Gedankenspielen. Aber auch dieses Systemparadigma, dieser „Glaubenssatz“2 (obwohl heute noch herrschend) wird dem Menschen in seiner Selbsterkenntnis nicht gerecht. Identität als Prozess – Frage nach Mut und Selbstvertrauen Das Struktur-Paradigma, die Grundauffassung, nach der alles Seiende Prozess ist, lässt heute die Frage nach der Identität zur Frage nach der ureigenen „Melodie“ eines Lebens werden. Die Identität einer Melodie bleibt erhalten, wie auch immer sie gespielt wird, ob laut oder leise, mutig oder ängstlich. Hier zeigen sich die Eigenheiten jeweils im Handeln. Identität wird zur Struktur handlungssteuernder Werte. Letztere sind selbst Qualitäten im Prozess : beispielsweise Mut und Selbstvertrauen. Spätestens seit mit der Erforschung des Mutes3 deutlich geworden ist, was Mut ist, gewinnt in der Frage nach der Identität junger Menschen – die Frage nach der Werte-Sozialisation umfassend – Bedeutung. Mut ist gelebte Wertfülle, Selbstvertrauen kennzeichnet solche Fülle als Selbstwahrnehmung. Die Frage nach dem wachsenden Gewaltpotential junger Menschen kann erschreckend sein, wenn die Motive der Gewalt völlig rätselhaft erscheinen. Gehen wir jedoch davon aus, dass jeder Mensch sich selbst vertrauen möchte und sich als wertvoll erleben möchte, so sind Mut und die Fülle der geachteten Werte Ziele im Entwicklungsprozess. Im Rahmen personzentrierter Psychotherapie werden hier die Begriffe „Selbstaktualisierung“ und der „Attraktor“ seelischer Gesundheit, die organismische Selbstregulation wegweisend; authentisch zu handeln meint, mutig und selbstvertrauend zu handeln. Erlebt sich ein junger Mensch kompetent in bestimmten Fertigkeiten („Ballern“ oder „Dichten“), so kann es dazu kommen, dass er seinen neu erworbenen Fertigkeiten mehr vertraut als seinen erlernten Werten. Als Rückseite der Mut – und Selbstvertrauensmedaille wird hier die Frage nach der Selbststeuerungskompetenz zentral, der Fähigkeit eigenes Handeln in Grenzen zu halten, an bewussten, gelernten, geachteten Werten zu orientieren. Moral als Kern einer Identität zu betrachten ist altmodisch – und falsch, solange Moral als Substanz gedacht wird. Moral als System steuernder Über-Ich Einschärfungen zu betrachten ist schädigend, da es die innere Beziehung zu Werten wie eine Knechtschaft gestaltet (insofern ist jedes „Über-Ich“ ein sadistisches Über-Ich, da es die Unfreiheit ins Selbstbild des Menschen zementiert4). Moralisch zu handeln – meint mit dem Mut zu eigenen Werten zu handeln – ist ein Prozess. „Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen darf?“ (Hockel, 1994) war der Titel meines zweiteiligen Rundfunkvortrages zur Genese der Gewalt bei Jugendlichen. Selbstvertrauen eines Jugendlichen muss jenes Zutrauen sein, das der eigenen emotionalen Steuerung zu vertrauen vermag, weil die obersten handlungsleitenden Werte dem entsprechen, was menschlich wertvoll ist. Als Psychotherapeut Nutzerkompetenz entwickeln: Homepage, Spiele, Blogs Als Angehöriger jener Generation, die die Entstehung des Internets auf diesem Planeten mitzuvollziehen hatte, erwarb ich nur sehr langsam eine durchschnittliche „Nutzerkompetenz“ innerhalb dieser neuen Wirklichkeit. Ich war bereits der „Senior“ in der Praxis als mir meine jüngeren Kollegen beibrachten, dass ich einen „elektronischen Briefkasten“ und später eine „Homepage“ benötige. Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut war ich kontinuierlich herausgefordert durch die Veränderungen in den Lebenswelten der Kinder. Und so waren manche meiner ersten Interneterkundungen Dienstleistungen an kleine Kli- enten, die meine Zugangsmöglichkeit ins Netz nutzen wollten, um sich Anregungen für Schularbeiten zu holen oder die mir demonstrierten, welche bedeutsamen Inhalte für sie dort zugänglich waren (von altmodischen Musikstar-FanClubseiten über „Lieblingscomputerspiele“ zu „Blogs“ und „chatrooms“). Inzwischen verwalte ich meine Homepage selbst, nutze das unerschöpfliche (und teils sehr fragwürdige) Wissensmeer des Internets alltäglich und spiele ab und zu mal eine Runde. Was? Verrate ich nicht. Als wer? Verrate ich nicht. Diese Möglichkeit meinen Avatar (oder deren Vielzahl) Abenteuer erleben zu lassen, ist faszinierend und intim. Und in der Begegnung mit meinen jugendlichen Klienten – oder mit Internetbekanntschaften – entfaltet sich ein Kontakt- und Erfahrungsbereich, den es eben einst nicht gab. Und diesen kann und muss ich als Kinder- und Jugendlichentherapeut heute nutzen. Eine andere Erfahrung: In meiner Jugend waren Deutschlehrer noch begeistert, wenn sie hörten, dass der eine oder andere – und ich gehörte zu diesen – eine „Brieffreundschaft“ mit jemandem pflegte, der „bettlägrig“ oder „hinter dem eisernen Vorhang“ lebte. Heute wird in öffentlicher Debatte vor allem gefragt, ob es vielleicht gefährlich sei, wenn Kinder und Jugendliche in der Internetnutzung versinken, ein „Second Life“ leben oder auf virtuellen Kriegsschauplätzen mit ihrem „Clan“ zu siegen versuchen. Konstruktive pubertäre Selbstfindung durch virtuelle Welten? Ich glaube, dass wir gegenwärtig die Vielfalt der konstruktiven Entwicklungen, die sich mit dem Internet und mit den Computerspielen und virtuellen Welten auftun, noch nicht einmal ahnen können. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung stellten Heiner Keupp und Renate Höfer (1998) zusammen; der dort entwickelte Begriff einer „Patchworkidentität“ ist sicher fruchtbar in einer Zeit, in welcher sich immer mehr Menschen als Glieder von Patchworkfamilien begreifen. Noch Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 17 Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien bedeutsamer war mir jedoch die ebendort gegebene Reflexion von Bialas (1998), der Identität im Zeitalter ihrer technischen Simulierbarkeit betrachtete. „Der Erfahrungsgehalt realer Welten, so meine These, bleibt in seiner Wirkmächtigkeit zumindest tendenziell hoffnungslos hinter der kompositorischen Raffinesse simulierter Welten zurück.“ (Bialas, 1998, S.54) Obwohl die dort weiter ausgeführten Überlegungen sehr anregend provozieren möchte ich sie doch nicht zustimmend übernehmen. Ich möchte zwei Seiten dieser Entwicklung beleuchten, eine die unzweifelhaft positiv bereichernd ist und eine die entsprechend den Alarmrufen gefährdend ist. Wieweit die „Spielwiese“ der Identitätsgestaltung, die mit der Möglichkeit, sich als „Avatar“ beliebig zu formen und zu erproben, eine konstruktive Bereicherung der pubertären Selbstfindungswege darstellt, wird vermutlich noch lange umstritten sein. Was mir jedoch heute schon deutlich ist: Sollte diese Diskussion beschränkt bleiben auf die Frage nach der „Gewaltbereitschaft“, so ist sie kurzsichtig und verfehlt das Phänomen. 2. Vom „Schwarzen Auge“5 zum bunten Helden Auf der Suche nach Anregungen zum Stichwort „wofür lohnt es sich zu leben6 „ stieß ich eines Tages auf eine Internetseite (einen „Blog“), die den seltsamen Namen hatte: „Gedanken im Glas“. Das was ich gesucht hatte war dort eine „Schublade“ und in diese hatte der Autor, dessen Blog es war, einige interessante Gedanken zum Thema „wofür es sich zu leben lohnt“ abgelegt. So lernte ich Marc kennen. Ich schrieb diesem Unbekannten eine Mail: Betr.: Gesprächsangebot Lieber Marc, ich schrieb gerade aus gegebenem Anlass den anhängenden Einstieg zu einem Vortrag, den ich demnächst halten werde. Und da kam mir der Gedanke das, was ich denke und sagen möchte, vielleicht vorher mit einem Angehörigen der Generation, über die ich 18 sprechen werde (mit der ich auch arbeite -als Psycho – siehe meine Homepage www.hockel.net ), zu diskutieren. So unterbreite ich Dir erst mal meinen Grundgedanken: Im reichen Norden wissen wir heute (wie einst die Deutschen im Nazireich), dass täglich 30000 Kinder sterben, weil die Menschen ihrer Umgebung entweder kein Interesse oder keine Möglichkeit haben, sie am Leben zu erhalten (das findet eben heute nicht in Auschwitz statt, aber von Auschwitz wusste ja angeblich auch niemand – es findet in Afrika, Indien, Südamerika... und sogar vor unserer Haustüre statt). Und wir haben die Chance, dennoch ein unbeschwertes, glückliches, gebildetes, wohl versorgtes Leben zu entfalten, zu planen, zu realisieren und zu genießen. Dagegen habe ich nichts. Und ich weiß auch, dass Jugendarbeitslosigkeit und andere Macken unser System durchaus nicht rund laufen lassen. Aber ich sehe doch in der Chance allein ein Risiko: dasjenige nämlich seine Ziele zu kurz zu stecken, wie Du so superkritisch Dich anklagend sagst „egomanisch“ zu sein. Ich glaube aber, unsere Chancen können wir nur nutzen, indem wir egomanisch im richtigen Sinne sind: authentisch unseren ganz eigenen jeweiligen Weg als Menschen suchen und finden – denn Menschen brauchen Achtung und Beachtung... Ich stoppe mich mal, denn noch weiß ich nicht, ob Du an solch einem Gespräch-geschreibe interessiert bist. Wenn ja, dann wäre ich für ein Signal und für alle Fragen, die diese Mail bei dir auslöste, herzlich dankbar. Herzlich Curd Michael Hockel Und er antwortete mir mit etwas Verzögerung: Hallo Herr Hockel, entschuldigen sie die späte Antwort, aber ich war bis heute eben auf Studienfahrt. Ihre Mail habe ich mit großem Interesse gelesen und finde mich in dem angehängten Text passend beschrieben wieder. „Egomanisch im richtigen Sinne“, ist eine sehr gute Bezeichnung für das, was man sich als Ziel stecken sollte. Zu einem Gespräch wäre ich bereit und hoffe, dass ich für Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 meine Generation die Fragen so beantworten könnte, wie sie sich das vorstellen. In welcher Form soll dieses Gespräch denn stattfinden? Ich nehme an per E-Mail, oder? Viele Grüße, Marc B. So ermutigt, stellte ich ihm Fragen, die er ebenfalls mit großer Offenheit beantwortete. Da die Fragen in der Antwort aufgegriffen werden, hier nur die Antwort von Marc: Was ist eine Chance? Eine Chance sehe ich als eine Möglichkeit, die man wahrnehmen kann oder nicht. Das Leben ist voller Chancen, sie warten an jeder Ecke, man muss sie nur sehen. Für die einen ist es eine Chance, für die anderen nicht. Oft denke ich jedoch, merkt man erst im Nachhinein, was für eine Chance man da hatte, denn zum damaligen Zeitpunkt hat man diese Möglichkeit noch gar nicht als eine Chance wahrgenommen, ist aber glücklich darüber, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Welche Chancen und wie wir Chancen wahrnehmen, das bildet mit unsere Persönlichkeit. In gewisser Weise ist unser Weg vorgezeichnet, da wir als bestimmte Persönlichkeit eben auch bestimmte Chancen wahrnehmen. Eine Chance wird erst zu einer Chance, wenn wir sie wahrnehmen. Davor ist es eher ein Angebot, eine Möglichkeit. Es kommt darauf an, wer diese Möglichkeit für sich in Betracht zieht. Chancen sind keine zufälligen Konstellationen, die uns zum Vorteil sind. Für Chancen sind nämlich meine Mitmenschen verantwortlich. Sie geben mir die Chancen und bilden mein Leben. Welches Beispiel für „eine Chance haben“ ist Dir aus Deinem Leben bekannt? Als Christ, ist das die Chance mich für meinen Glauben entschieden zu haben und diesen frei ausleben zu können. Es ist die Chance, eine erstklassige Bildung zu genießen und mich zu einem die Umwelt achtenden und vorausdenkenden Menschen zu entwickeln. Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien Beispiele von Gleichalten, die Chancen hatten, die Du nicht hattest? Das waren wohl hauptsächlich Auslandsaufenthalte, für die bei uns nie das Geld da war. Nach längerer Zeit regte ich mich nicht mehr darüber auf, dass es andere besser hatten, dafür können sie ja nichts und schließlich kann man auch ohne Geld „reich“ sein. Irgendwie muss man nur genügend Geduld haben, dann kommen einem die selben Chancen früher oder später auch zugeflogen. Chancen die Du gar nicht haben möchtest? Viel zu viel Geld, das mir Privilegien eröffnet, aber auch eine große Verantwortung aufladen würde, von der Abgrenzung vom Umfeld mal ganz zu schweigen. Die Chance, skrupellos zu werden oder zu sein, die Chance, Macht über andere Menschen zu erlangen, will ich nicht haben, eher die Chance ihnen mit solcher Macht zu helfen. Was meint Risiko? „Jedes gelöste Problem ist einfach.“ (Thomas Alva Edison) Jedes Risiko ist im Nachhinein kein Risiko mehr. Risiko gegenüber einem selbst ist in Ordnung, Risiko gegenüber anderen Schicksalen sollte gut überlegt sein.Wann ist etwas ein Risiko? Was manche als Risiko sehen, sehen andere als langweilige, schon tausendmal getroffene Entscheidung an. Die meisten Entscheidungen werden erst zu Risikoentscheidungen, wenn man sie als solche wahrnimmt. Gibt es Risiken in Deinem Leben, die Du „bewusst in Kauf nimmst“? Ja, das sind hauptsächlich die typischen jugendlichen Kavaliersdelikte, aber eigentlich bin ich in dieser Hinsicht eher ein Charakter, der ungern alles auf eine Karte setzt sondern lieber alles noch mal im Tresor liegen hat. Wann hast Du begonnen Dich für Computer zu interessieren? Das Interesse an Computern wurde durch meinen Vater sehr früh in mir geweckt. Ich dürfte so acht Jahre alt gewesen sein. Für mich waren dabei sehr früh virtuelle Welten interessant. Als ich damals von so etwas hörte, brann- te in mir die Neugier durch eine virtuelle Stadt zu laufen. Ich weiß nicht woher das kam, aber es könnte daran liegen, dass ich früher schon immer der Typ von Kind war, der hoffte, man könnte auf einem Foto in das Bild hineinschauen, hinter die Personen, wenn man seitlich darauf schaut. Ich glaube, ich habe den Computer immer als eine mystische Maschine gesehen, mit der man alles machen kann. Die Vorstellung von diesem Flug durch die Kabel und Leitungen, vorbei an der Festplatte hinein in den Prozessor, war einfach toll. Allerdings begannen meine ersten Schritte am Computer nicht mit der Zockerei, sondern eher mit dem Versuch Geschichten und Texte zu tippen. Ich war so fasziniert von dem blinkenden Cursor und den erscheinenden und verschwindenden Buchstaben, über die man die totale Kontrolle hatte. Welche Rolle spielen Computerspiele heute in der Selbstentfaltung von Dir und Deinen Mitschülern? Persönlich sehe ich das so: Erstmal wird der Spieldrang befriedigt, der noch aus der Kiste mit Bauklötzen heraus kriecht. Das Knüpfen sozialer Kontakte, quasi das Finden „von deinen Leuten“, deiner „Crew“, deinem „Team“, treibt die soziale Komponente ungemein an. Das Gemeinschaftsgefühl ist einfach toll und es werden unendlich viele Möglichkeiten und Aufgaben dafür angeboten. Ich vermute aber: Die Ur-Intention liegt im Drang zur Selbstprofilierung und in der Neugier – eben typisch menschlich. Ist das dann verflogen, sieht man das Spiel entweder wie den Sonntagnachmittags-Kick mit den Kumpels auf dem Fußballplatz, oder aber als eine Art Business, in dem der Siegeswille seinen Platz findet und der Erfolgs-Durst gestillt werden muss. Man baut sich so sehr schnell und gerne ein „virtuelles Portfolio“ auf. Nicht umsonst steht bei fast allen OnlineProfilen in Spiele-Communities und Ligen in der Selbstbeschreibung eine Historie der bisherigen Clans, bei denen man Mitglied war. Ich habe viel Menschenkenntnis bei meiner damaligen Mitgliedschaft in einem Counter-Strike Clan gesammelt, auch wenn ich diese Menschen fast alle nie in Wirklichkeit, sondern nur über Headset und Chat kennen gelernt habe. Mir war plötzlich klar, dass die Menschen am anderen Ende genauso sind wie ich, auch Eltern haben, die über das unaufgeräumte Zimmer schimpfen, und dass da Menschen sind, die dieselben Sorgen haben wie ich. Ich entdeckte aber auch, wie viele Menschen einem etwas vormachen können und wie wenig Menschlichkeit manchmal in Chat-Nachrichten stecken kann. Dein „Blog“ ist das was man früher ein Tagebuch nannte – wann hast Du mit Tagebuch begonnen? Ist das etwas, was Deiner Auffassung nach viele Gleichalte nutzen? Vorweg: Es ist nicht richtig, ein Blog ausschließlich mit einem persönlichen Tagebuch gleichzusetzen, wie man es von Jugendlichen früher kennt, aber vielleicht mit solchen von Schriftstellern oder Dichtern und Denkern; eine Art Briefwechsel mit der Umwelt. (Von rein informativen und Nachrichtenblogs abgesehen; und sicherlich gibt es auch die von ihnen beschriebenen Blogs). Bei einem persönlichen Tagebuch ist beim Schreiben keine öffentliche Komponente vorhanden. Das habe ich gemerkt, als ich begonnen habe zu bloggen. Persönliche Dinge preiszugeben, macht die Sache für den Leser interessant, da er so sehen kann, dass auch andere gleiche Sorgen und Probleme haben oder sich gleich fühlen wie er selbst, dass er vielleicht gerade nicht der Einzige ist, der gelangweilt vor seinem Rechner sitzt und über den Sinn des Lebens nachgrübelt. Manches ist aber einfach nur nachvollziehbar wenn man den Text selbst verfasst hat. Man ist sein eigener Film, ein Theaterstück, das man aber auch interessant gestalten möchte um eine bestimmte Atmosphäre zu übertragen. In meinem Blog sind natürlich auch tagebuchähnliche Einträge, aber ich sehe dieses Blog eher als eine Art Plakat an der Wand einer Bahnhofsunterführung, an dem die Menschen vorbeistreifen und an dem sie kleben bleiben. Schlagworte, Aphorismen, Bilder oder SchablonenGrafittis, die da prangen und uns dazu aufrufen, zu denken. Das funktioniert auch, wie mir einige Resonanz Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 19 Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien aus meinem Bekanntenkreis zeigt. Einige finden die Texte ansprechend, einer meinte sogar, er sei geradezu verwirrt und depressiv, wenn er einzelne Einträge gelesen hat. Es regt also wirklich zum Nachdenken an. Da ich nun schon seit einiger Zeit blogge und so viele Kontakte zu anderen Bloggern geknüpft habe, kann ich ziemlich sicher sagen, dass dieses literarische, poetische oder einfach das Mitteilungsbedüfnis gegenüber der Umwelt und der Fremde (eben die im obigen Absatz genannten Gründe), im Durchschnitt erst in einem Alter zwischen 16 und 18 erwacht. Dann beginnt man erst wirklich nachzudenken. Davor ist man noch zu sehr mit sich selbst und kleineren Problemen, dem Entdecken der Welt auf einer niedereren Ebene beschäftigt. Differenziertes aufgeklärtes Denken spielt hier sicher auch eine Rolle. Die ,,jungen Rebellen“ ab 20 und aufwärts bloggen eher in meiner Art, die meisten die so alt wie ich oder jünger sind, nutzen das Medium Blog vorrangiger zur Kommunikation. Aber irgendwann demaskiert sich dann die Welt und man wird zu einer Art jungem Werther. Ja, das sollte die richtige Bezeichnung dafür sein. Man wird emotional und muss diese Emotionalität verarbeiten. Bei manchen tritt diese Phase, habe ich den Eindruck, auch auf, bei anderen nicht. Bloggen ist persönliche Therapie, bei der man seine Eindrücke und Gedanken verarbeitet, neue Ideen oder persönliche Weltbilder entwickelt. Es ist ein Prozess, bei dem jeder Eintrag eine Veränderung oder eine neue Ansicht bringt. Man will damit die Welt mitgestalten oder auch sein eigenes Denken mitteilen. So ich hoffe, ich konnte ihnen zufrieden stellende Antworten geben. Auf bald und viele Grüße, Marc Bereichernde Facetten digitaler Kommunikation Die umfassenden Antworten waren nicht nur zufriedenstellend, sondern gaben mir ein sehr vertieftes Verständnis von der Funktion, die sowohl das Computerspielen als auch das öffentliche Medium Internet im Leben von 20 Jugendlichen haben kann. Die Generation meiner eigenen Kinder, das waren die „Schwarzes Auge“- Spieler, und sie hatten mich natürlich einbezogen, denn ab und zu durfte ich mal „Spielführer“ sein und auf diese Weise das Gruppenerleben, die lang anhaltende Faszination und Vielfalt solchen Rollenspielens kennen lernen. Ich prüfte die durch Marcs Antworten entstandene positive Vision mehrfach durch weitere Gespräche mit Jugendlichen der heutigen Generation. Es wurde mir bestätigt, dass diese Nutzung von Computerspiel und Internet als eine bereichernde Facette der sozialen (Spiel)welt gesehen wird. Vom „Schwarzen Auge“ zum bunten Helden – ansprüchliche jugendliche Selbstgestaltungen nutzen sowohl die „Sims“ als Übungswelten als auch das Internet als Kommunikationsplattform. Und so möchte ich diese Seite der Erfahrung in folgende Thesen zusammenfassen: 2.1 Pädagogische Wirkung abhängig vom Umfeld Wie jede in das Leben von Kindern und Jugendlichen hinein wirkende Wirklichkeit sind Computerspiele und der virtuelle Lebensraum Internet in ihrer pädagogischen Wirksamkeit mehr davon abhängig, wie das Kind, der Jugendliche im Elternhaus „gehalten, gelassen, begleitet“7 wird als von den Eigenarten der Spiele und des Mediums. 2.3Avatar – vertragsfähiges zweites Ich In der Pseudoidentität eines Avatar liegen über die mit „Rollenübernahme“ schon bekannten Spielmöglichkeiten hinausreichende Handlungsmöglichkeiten, da die jeweilige Pseudoidentität von anderen Avataren („Mitspielern“) ernst genommen wird als authentische, innerhalb des Bezugssystems (z.B. second life) verantwortliche und sogar „vertragsfähige“ Person. Ein Avatar ist somit eine künstlich geschaffene Person mit jenen Eigenschaften, die sein Schöpfer ihm mitgibt und/oder die dieser im Spielverlauf erwirbt 2.4 Personzentrierte Unterstützung In personzentrierten Begegnungen können Jugendliche, die die fruchtbare Vielfalt ihrer Patchworkidentität mit einer möglichen Vielfalt von „Persönlichkeiten“ (Avataren) experimentell nutzen, eine Orientierung auf jene authentische Identität erarbeiten, für die sie sich selbst frei entscheiden. Zocken und Persönlichkeitsveränderung 2.2Identität fördernde Rollenspiele Marc schrieb mir, als ich ihn anfragte, ob er mit einer Veröffentlichung seiner Texte einverstanden sei, nicht nur seine Zustimmung, sondern auch noch folgende Ergänzung: Die Möglichkeiten, sich in der Rollenidentität eines „Spielers“ (in Computerspielen) kennen zu lernen und diese so entstandene Spielfigur handeln zu lassen entspricht dem, was Kinder immer schon taten: dem Identität entfaltenden Rollenspiel. Grausamkeiten hinter der „Panzerglasscheibe“ des Bildschirmes sind den Spielenden in jedem Moment als „als ob“-Handlungen bewusst. Die moralische Qualität solchen Rollenhandelns wird der moralischen Qualität des sonstigen Handelns entsprechen. Sind die Spielwelten gewaltverherrlichend so kann der Jugendliche sich solchem Handeln nicht entziehen und benötigt starke moralische Unterstützung in der wirklichen Welt. Als Anregung/These würde ich ihnen noch gerne ein paar Sätze zu der Frage schreiben, ob aus Computerspielen entstehende virtuellen Realitäten Jugendlichen schade oder nicht. Ich bin der Ansicht, dass Computerspiele, auch solche mit expliziter Gewaltdarstellung (Counterstrike, Unreal Tournament, Quake etc.), also die „Ballerspiele“ nicht automatisch einem Jugendlichen Schaden zufügen, wenn er einen gefestigten Charakter, einen guten Draht zu Bezugspersonen und ein intaktes soziales Umfeld, sowie genügend ausgleichende Aktivitäten (Musikinstrument, Sport etc.) zur Verfügung hat. Das wird gerne übersehen und auch von den deutschen Medien in Reportagen nicht beachtet. So Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien konnte ich das zumindest bei mir beobachten. Wenn etwas aggressiver macht, dann ist es das Spielen an sich, dieser erhöhte Adrenalinspiegel, die Nervosität und die Ungeduld – wenn man so will der „Entzug“. Ebenfalls konnte ich beobachten, dass Lernen mit anschließendem intensivem Zocken oft dazu geführt hatte, dass von dem Gelernten am nächsten Morgen nicht mehr viel übrig war. Mit fortgeschrittenem Alter wird dann der „Zocker-Nerd“, der sich von der Umwelt abkapselt, und von dessen Art es in Schulzeit eine ganze Menge gab, als weniger selbstverständlich angesehen. Die meisten haben dann, wenn man das so drastisch formulieren will, „den Sprung geschafft“. In der Schule und frühen Jugend gab es eben die Personen, die am Wochenende nicht weggegangen sind, sondern halt gezockt haben. Das Interessante ist aber, dass es sich bei diesen Personen im mir bekannten Umfeld oft um sehr intelligente, begabte Menschen gehandelt hat, während die ganzen Klassenclowns und Schnellsten in Sport dem „Zocken“ sehr rasch mit fortschreitendem Alter eine sehr geringe oder überhaupt keine Priorität mehr eingeräumt haben. Vielleicht besteht da irgendeine Verbindung. 3. Besiegter Zwang wird Zwang zum Sieg? Die Schlussbemerkung von Marc bestätigte mich darin, neben seine Sicht die eines anderen Jugendlichen zu stellen. Diese andere Seite der Erfahrungen mit Computerspielen und Internetnutzung wurde mir in einer Fallgeschichte deutlich. Ein Kind, das ich wegen einer Zwangserkrankung (erfolgreich) behandelt hatte, kam einige Jahre später selbständig als Jugendlicher wieder zu mir: Er hatte Angst in der Schule – beim Abitur – zu versagen. Wieder hatten wir das Glück, erfolgreich miteinander zu arbeiten und der hochbegabte Knabe machte ein gutes Abitur und studiert heute. Seither stehen wir in losem Internetkontakt und es entwickelte sich folgendes: Betr.: update mal wieder Hallo Herr Hockel, Wie gehts ihnen so? Tut mir Leid, dass ich so lang nichts hab hören lassen… Ich mag meine Studienrichtung eigentlich ganz gern mittlerweile und find alles sehr interessant, was wir da lernen, v. a. Programmieren und Modellieren. Ich mach viel mit andern Kommilitonen und hab mich für ein extra Programmierprojekt in den Semesterferien gemeldet um ein bisschen Praxis zu kriegen. Letztendlich möchte ich da soweit kommen, dass ich irgendwo einen kleinen Job als Programmierer annehmen kann, um mir vielleicht ne Wohnung zu finanzieren. In der Uni hängen oft viele Angebote aus für das, was wir so lernen bei uns. Manchmal sind auch Angebote für nen WG Platz dabei. Bei einem hab ich’s schon versucht, war aber leider vergeben... Naja je nachdem wies kommt. Generell hab ich mir das so zurechtgelegt, dass ich nur zur Uni geh weil’s mich interessiert und ich später mal mit netten Leuten interessante Fragestellungen bearbeiten möchte, wobei ich glaube dass der zweite Punkt sehr viel Gewicht hat. Vor allem beim Programmieren wird mir das immer mehr bewusst. Ich hab früher schon versucht mir alle möglichen Sprachen beizubringen aber bin irgendwann immer gescheitert. Es war einfach niemand da, dem ich meine Ergebnisse hätte zeigen können und der sich mit mir daran gefreut oder gemessen hätte. Bei den Programmierpraktika ist das jetzt anders. Ich hab nen Partner mit dem ich alles zusammen machen muss und hab nen recht guten Betreuer bei dem ich auch mein Zusatzprojekt angemeldet hab. In letzter Zeit beobachte ich an mir, dass ich mir zwar weniger Druck mache bei allem, und ich mich auch etwas freier fühle aber dafür bei allem zu spät oder gar nicht komme wo ich nicht zu mindestens 80% hin will... Das ist vor allem bei Vorlesungen in der früh schlimm, weil ich das ewige rumsitzen und zuhören nicht immer aushalten, vor allem wenn ich nicht ausgeschlafen bin. Da verpenn ich dann meistens und ärgere mich danach weil mich das Thema an sich schon interessiert hätte. Außerdem isses immer schlecht für Klausuren wenn man alles zum ersten mal gehört hat. Naja „Alles gut“ ist leider trotzdem noch nicht.. wahrscheinlich wird’s das auch nie werden. Aber manches wird sich bessern denke ich. Ich hab oft noch Rückfälle, heute z.B. haben wir die Noten einer Klausur rausbekommen, für die ich nach dem System gelernt hab, das ich mir ausgedacht hab, also immer das Buch mitgelesen und Folien nachträglich angeschaut. Es ist leider nur ne 2,3 geworden, während ein anderer Kerl, der nie in die Vorlesung geht und sich das Zeug am Abend zwei Stunden vorher angeschaut hat ne 1,7 hat. Ich versteh es einfach nicht, und so was zieht mich immer sehr runter. Nicht das ich ihm seine 1,7 missgönnen würde aber ich hab dafür soviel gemacht und so ein Ergebnis entwertet einfach meine Arbeit. Mittlerweile bin ich auch der Meinung, dass ich gar nicht so intelligent bin wie ich immer dachte. So wies in dem Test, den ich bei ihrer Partneragentur gemacht hab, auch rauskam. Ab und zu ein bisschen über dem Durchschnitt, aber mehr auch nicht. Bei mir im Studiengang sind Leute, die marschieren einfach so durch alles durch. Ich weiß echt nicht wie die das machen. Ich hab mich auch mal ein bisschen mit Lernpsychologie beschäftigt etc. aber dieses Niveau wird, ich glaub, ich nie erreichen. Eine Freundin von mir meinte mal ich zweifle sehr viel. Meinen sie, das hat was damit zu tun? Ich möcht nicht wieder das alte Spiel provozieren, dass sie mir sagen, wie gut ich doch bin, aber mich zieht das im Moment sehr runter. Ich hoffe ich find da irgendwann mal ne befriedigende Lösung. Sei’s nun dass ich mich mit meinen mittelmäßigen bis schlechten Noten abfinde oder dass ich eine gute Lernstrategie finde, die „mit mir im Einklang ist“... vielleicht auch beides. Aber ich denke wenn es soweit ist wird sich vieles ändern. Vielleicht bleibts doch noch spannend mit mir. On my way to freedom ;) Robert Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 21 Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien Betr.: AW Lieber Robert, herzlichen Dank für dieses update. Das klingt wunderbar. „On my way to freedom“ – genau. Ja, ich denke, dass sie mit systematischem Selbstzweifel (und ängstlicher Hemmung und spiegelnder Selbstabwertung und....) ihr eigentliches Potential noch sabotieren. Andererseits: Wie wunderbar sich irgendwann im gehobenen Mittelmaß wahr nehmen zu können und nicht immer überragend sein „zu müssen“? Wie dem auch sei – so optimistisch und entwicklungsoffen wie diese Mail hab ich Sie noch nie schreiben gehabt. Da wird das Lieben eines richtigen Tages in der richtigen Gestalt dann auch noch auftauchen – und bis dahin hätte ich eine Anfrage: Ich bin dabei zwei Themen zu bearbeiten. Ich habe sie auf dem Anlageblatt genannt. Wenn Sie Lust haben könnten wir „concreativ“ Ideen hier zusammentragen? Was fällt ihnen zu den Themen ein? Wenn Sie keine Lust habe über so etwas nachzugrübeln, sagen Sie es einfach. Jedenfalls wünsche ich Ihnen weiter diesen Aufschwung der Verselbständigung, Versachlichung und allen Erfolg den Sie sich wünschen. Herzlich Curd Michael Hockel Und als Anhang sandte ich ihm zwei von mir formulierte Vortragsthemen, an deren Ausarbeitung ich saß. Eines zur Problematik der Computerspiele und eines zur Identitätsentwicklung. Er griff vor allem den ersten Themenvorschlag auf, in welchem ich die Frage gestellt hatte, ob denn „Computerspiele“ wirklich Spiele seien. Er antwortete mir: „Computerspiele sind keine Spiele sondern Trainingsabläufe“. Ich finde sie haben mit dem Standpunkt eigentlich den Sachverhalt fast genauso getroffen, wie ich ihn mittlerweile auch empfinde und an mir selber beobachtet habe: Wenn jemand sagen wir z.B. „World of Warcraft“ spielt, dann tut er im Prinzip nichts anderes als immer wieder dieselben Tasten auf der Tastatur zu drücken um in „belohnende“ Spielsituationen zu gelangen. Deshalb würde ich das ganze eigentlich nicht nur als Trainingsablauf, sondern viel- 22 leicht sogar eher als Konditionierung bezeichnen: Der Spieler führt bestimmte Aktionen aus und wird dafür durch positive Ereignisse wie z.B. Gold, (Erfahrungs-)punkte oder auch einfach nur mit dem Weiterführen der Spielstory durch Zwischensequenzen belohnt. Das Schlimme daran ist, dass man regelrecht verarmt vor seinem Computer. Nicht nur die körperliche Beweglichkeit nimmt ab, sondern auch irgendwo die geistige Beweglichkeit. Sie haben mir mal erzählt, Computerspiele würden vom Einfluss auf die Hirnchemie her wie eine Droge wirken, insbesondere wegen des ständig erhöhten Adrenalinspiegels. Letztens hab ich mit paar Freunden, die vom Computerspielen einfach nicht loskommen (wollen), eine kleine LAN Party veranstaltet, und da seit langer Zeit zum ersten Mal wieder richtig gespielt. Vor allem während der Echtzeitstrategiespiele hatte ich wieder dieses Gefühl von starker Nervosität und Anspannung, eben die Anzeichen für einen hohen Adrenalinspiegel. Das hat auch oft eine erhöhte Reizbarkeit zur Folge, wenn man den Effekt nicht kennt und von vornherein darauf vorbereitet ist. Allerdings liegt hier vielleicht auch einer der ganz wenigen positiven Dinge, die ich der vielen Zeit, die ich mit „Spielen“ verbracht hab, abgewinnen konnte. Ich hab damals nächtelang ein heute immer noch relativ populäres Echtzeitstrategiespiel mit dem Namen „Starcraft“ gezockt. Das ZDF hat damals einen Fernsehbeitrag ausgestrahlt, in dem die populärsten (Online)Spiele nach ihrer pädagogischen Werthaftigkeit beurteilt wurden – auf Platz 1 gelandet ist letztendlich Starcraft, wegen seiner Schulung des Durchhaltevermögens und der psychischen Ausdauer. Begründung war, dass man bei jedem Spiel, ähnlich wie bei Schach, immer wieder von vorn anfangen musste und dadurch auch das verlieren gelernt hat (früher oder später). Ich für meinen Teil hab das Spiel (zwangsweise, ich war ja süchtig) recht intensiv geübt und konnte nach vielen Niederlagen auch irgendwann mal entsprechende Erfolge vorweisen und hab mich auch mal optimistischer an größere Gegner getraut. Aber letztend- Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 lich stellt sich natürlich die Frage, ob das nicht auch mit einem realen Spiel möglich und vielleicht auch besser gewesen wäre... Ich merke auch heute noch immer wieder, wie groß der Unterschied zwischen realer und virtueller Welt bei mir ist. Sie haben’s ja damals schon bemerkt: In meinen E-Mails bin ich immer sehr offen zu ihnen und konnte mich auch einigermaßen artikulieren im Gegensatz zu unsere Sitzungen, wo alles immer Bröckchenweise aus mir herauskam. Der Unterschied ist manchmal sogar so groß, dass Menschen, die mich im Internet kennen gelernt haben, mich bei der ersten Begegnung im realen Leben ablehnen. Weit schlimmer ist allerdings der Realitätsverlust. Ich kann nicht genau sagen ob’s an den Depressionen oder an dem Dauercomputerspielen liegt, aber ich nehme die Realität nicht mehr so wahr wie früher, als ich noch ein Kind war. Damals war alles irgendwie auf seine eigene Weise schön und aufregend. Bis ich 11 oder 12 war, war das Leben noch bunt und voller interessanter Dinge, auch wenn ich damals schon leicht neurotisch war. Irgendwann kamen dann die ganzen psychischen Störungen und ich hab mehr und mehr die Lebenslust verloren. Aber ich hatte ja zum Glück die Computerspiele. Der einzige Lichtblick in meinem Leben voller Schmerzen und Enttäuschungen. Es kam recht schnell der Punkt, wo’s eigentlich nichts gab, was mir noch Spaß gemacht hätte, außer Computerspielen. Meine Mutter war immer furchtbar wütend´, weil ich nur noch vor „dem Kasten“ saß und nichts mehr für die Schule gemacht hab. Aber trotzdem hatte ich noch irgendwo ein Gefühl für die Realität, dafür, dass ich am Leben war und alles um mich rum sich wirklich ereignete. Irgendwann so zwischen 16 und 17 – ich hatte zwischendrin das Spiel gewechselt von „Starcraft“ zu „Warcraft III“ – hatte ich gemerkt, dass die Phasen in denen mir alles unwirklich vorkam immer länger wurden. Ich hab einen meiner damaligen Teamkameraden gefragt, ob er das auch so empfände. Er meinte zwar er würde denselben Effekt beobachen, aber bei ihm wäre das nur temporär und würde Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien sich wieder verflüchtigen; bei mir leider nicht mehr. Mittlerweile hab ich den Eindruck, die jahrelange Überflutung mit Adrenalin und orgasmischen Hochgefühlen ausgelöst durch die Computerspiele, haben mich gefühlsmäßig abstumpfen lassen, ähnlich Leuten die jahrelang Heroin konsumiert haben und denen deshalb jedes alltägliche Glückserlebnis absolut nichts geben kann, weil einfach die Reizschwelle nicht überschritten wird. Vielleicht ist das auch der Grund, warum mir nichts so recht Freude machen will, nachdem ich mir das Computerspielen selbst verleidet habe. Ich bin mir nicht sicher ob sich das jemals wieder reversieren lassen wird, mittlerweile kann ich mich schon auf kleine Sachen freuen, wie schlafen, wenn man sehr müde ist oder auch wenn mal die Sonne scheint und ich rausgehen kann. Was mir zur Zeit am meisten Freude macht ist eigentlich das Programmieren an einem der Winfo Lehrstühle in der Uni. Ich mag die Leute da sehr gern, weil sie z. T. auch ähnliche Werdegänge wie ich haben, aber auch weil es irgendwie schön ist, zusammen etwas Neues zu lernen oder Aufzubauen. Abschließend zu dem Thema möchte ich aber davor warnen Computer- und Videospiele generell zu verteufeln. Es verhält sich da ein bisschen wie mit dem Alkohol denke ich. Computerspiele sind eine Droge, wenn auch eine sehr subtile. Es kommt jedoch immer auf den Umgang mit dieser Droge an und auf die Persönlichkeit des einzelnen. Wer anfällig ist für so was, der wird früher oder später auch drauf reinfallen. In dem Zusammenhang sind Computerspiele vielleicht sogar die „gesündere“ Droge im Vergleich zu Alkohol oder härteren Alternativen. Aus dieser Fallgeschichte und vielen weiteren beunruhigenden Begegnungen destillierte ich für mich die folgenden Thesen: 3.2 Langeweile und Einsamkeit Auch in der virtuellen Welt sind die großen Gefahren für Kinder und Jugendliche Langeweile und Einsamkeit. Langeweile wird als Kernmotiv der Computernutzung und Einsamkeit als Zentralergebnis der „Spielstruktur“ gesehen10. Dagegen allerdings stehen die oben unter eins berichteten positiven Erfahrungen, die nicht vergessen werden dürfen. 3.3Empathie und Moral sinken Computerspieler wollen Sieger sein – ihre Mitmenschlichkeit klammern sie beim Spielen aus11 – und das kann bei einer übermäßigen Zeit vor dem Computer zur Selbstentfremdung in menschlichen Qualitäten (Empathie, Moralität) führen.12 3.4Realitätsverlust Die Entwicklung von virtuellen Identitäten (Avatar) ist dann gefährlich, wenn solche „Selbstspiegelungen“ sich ganz aus der Aufgabenbewältigung in Computerspielen nähren, denn – siehe Fußnoten – der „Dispens von Empathie“ ist gefährdend für die Entwicklung einer reifen Persönlichkeit. 3.1 Suchtfördernde Handlungstrainings 4. Verbieten? Das Wünschenswerte fördern! „Computerspiele“, in welchen der „Spieler“ in einer vorgegebenen Rolle vorgegebene Handlungen reproduziert und in solchem Tun vor allem psychomotorisch gefordert ist („Ballern“), sind keine Spiele8. Es sind Wahrnehmungsund Handlungstrainings9, die in der Gefahr sind, süchtig zu machen und eine „zwanghafte“ Tendenz zu entwickeln, die trainierten Tätigkeiten möglicherweise auch „in echt“ einzusetzen. Sie können somit als Spiel getarnt gerade das hervorrufen, was in der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutischen Praxis als Spielunfähigkeit diagnostiziert werden muss: den Verlust der inneren Souveränität, der Freiwilligkeit des Tuns. Neben der Zustimmung von Marc erhielt ich auch die von Robert. Und auch er ergänzte seine Mitteilungen noch durch einen Text: Also ich könnte ihnen vielleicht noch mehr Fallbeispiele liefern, die ihre Thesen untermauern. Sie kennen ja bestimmt „Counterstrike“, das Killerspiel von Robert Steinhäuser aus Erfurt. Ich hab das auch mal lange Zeit gespielt und folgenden Sachverhalt beobachtet: Es gibt da ein (unter den Gamern ziemlich verpöntes) Scharfschützengewehr, das beim ersten Treffer sofort tötet und deswegen auch dementsprechend unbeliebt ist (man ist sofort tot, Spielspaß = 0). Die Schwierigkeit an der Waffe ist, dass man kein normales Fadenkreuz hat, sondern immer in Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 23 Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien einen speziellen Zoom-Modus schalten muss, um halbwegs zielen zu können, was dann als Ausgleich zur Mächtigkeit der Waffe das Blickfeld einschränkt. Es gibt spezielle Karten auf denen man das Schießen mit dem Gewehr üben kann. Der Handlungsablauf den ich dabei gelernt hatte, war „Gegner gesehen – Zoom – Schuss“. Das hab ich dann auch recht exzessiv betrieben. Als ich dann einmal aus unserm Haus auf die Straße gegangen bin, haben die Straße weiter runter ein paar Kinder gespielt und ich hab eins von denen in Gedanken tatsächlich anvisiert...13 In Gedanken anvisiert klingt ein bisschen abstrakt, ich glaube man kann das so beschreiben, dass einfach das Gehirn die Situation seinen vorherhigen Erfahrungen zugeordnet hat und die entsprechenden motorischen Reflexe auslösen wollte. Mit solchen Erfahrungsberichten werden die meisten Spieler (ich eigentlich auch) aber eher vorsichtig sein, denke ich. Die Sprengkraft von einem „Geständnis“ dieser Art ist schon recht groß, vor allem wenn man das vor dem gegebenen Hintergrund sieht („Alle Amokläufer spielen gerne Doom und Counterstrike“). Wo ihnen Gamer einen Strick draus drehen könnten, ist das Argument mit der Einsamkeit und dem Fehlen von Empathie. Ich hab einen Freund, der recht aktiv World of Warcraft spielt (und zunehmend verwahrlost). Dem hab ich auch mal das vorgeworfen, was ich ihnen schon geschrieben hatte: Er verarmt geistig und körperlich auf allen Ebenen. Allerdings hält er dann dagegen, dass je weiter man im Spiel fortschreitet, desto besser muss man sich organisieren. Fortgeschrittene Instanzen brauchen schon mal mindestens 40 Spieler, damit man überhaupt eine reelle Chance hat, durchzukommen. Da ist dann schon sehr viel Empathie, Verhandlungsgeschick und Autorität nötig um überhaupt die Leute unter der Fuchtel zu halten. Allerdings ist das dann auch kein wirkliches Gespräch, sondern alle sind fokussiert auf das „Lösen der Aufgabe“ und wenn sie miteinander reden, dann halt nur so Insider-Trash-Talk wo es meistens auch nur um Taktik geht („tank pullt aggro auf den boss, priests rezzen wenn einer 24 down geht und immer schön die mobs fearen“). Andererseits hat er in dem Spiel auch eine Gilde gefunden und da tatsächlich ne virtuelle Hochzeit(!) gefeiert (ich hab Screenshots davon...). Generell ist das, denke ich, aber ein Argument bei allen Multiplayer Spielen, wo es nicht um den Kampf „Einer gegen Alle“ geht. Wenn sie in Counterstrike auf Pro-Gamer Niveau Erfolg haben wollen, also an Turnieren und Ligen teilnehmen, wo es z.T. auch um Geld geht, dann müssen sie sich absprechen und wirklich vorher das Team auf eine Strategie einstimmen die dann durchgezogen wird. Das ist aber meistens eher die Ausnahme, zumindest bei Counterstrike auf öffentlich Servern – da redet wirklich niemand mit ihnen (außer wenn er grad tot ist und dementsprechend die Händefrei hat). Also ich hoff ich hab da nix überlesen, aber was sie vielleicht noch reinbringen könnten wenn’s zum Thema passt: So komplexe virtuelle Welten mit vielen Möglichkeiten sind 1A, wenn sie vor irgendwas weglaufen wollen, egal ob sie jetzt ein Jugendlicher sind oder ein berufstätiger Mann. Es ist z. T. sogar besser als Alkohol und Drogen weil sie – ich denke mal um einiges vielschichtiger stimuliert werden. Na ja aber das hatte ich ihnen ja eh schon geschrieben. Wie soll also die Politik reagieren? Ich denke Untersuchungen der Medienwirksamkeitsforschung müssen weiter entfaltet werden. Dieser Beitrag versteht sich als Diskussionsbeitrag im Feld der Therapieszene. Das Spielen zu verbieten ist dann akzeptabel, wenn es dem Kind/Jugendlichen als ein erzieherisches Verbot von Menschen, die für seine Erziehung verantwortlich sind, vermittelt wird. Eltern können und sollten ihren Kindern jene Spiele verbieten, in welchen sie selbst sich unmenschlich und normverletzend wahrnehmen würden. Personzentrierte Begegnungen finden innerhalb dieser Spielwelten nicht statt – umso mehr sind sie in der familialen Umwelt der Kinder und Jugendlichen zu fordern. Dazu müssten Eltern aber mit Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 den Kindern/Jugendlichen und deren Spielen so vertraut sein, dass sie solche begründeten persönlichen Urteile, solche orientierende Wertentscheidungen fällen können. Vorhandene Spiele gesetzlich zu verbieten scheint angesichts dessen, was bereits produziert wurde, fast unvermeidbar. Es sollte daher Einfluss auf die Hersteller genommen werden, um statt einer gnadenlosen Gewaltspirale als Umsatzdynamik eine Dynamik des Qualitätswettbewerbes zu erreichen. Verboten werden müsste die Herstellung von menschenverachtenden Szenarien. Die Österreicher wählen den Weg der „positiven Prädikatisierung“. Dies wäre auch für Deutschland ein gangbarer Weg. Was spräche denn eigentlich dagegen, wenn die Politik Preise für solche Spiele, virtuelle und digitale Welten vergeben würde, in denen Kinder sich mit wünschenswerten Inhalten beschäftigen, wie gewaltfreier Kommunikation, friedliche, kreative und menschliche Problemlösungen u. a. m? Hier wäre ein weites Feld, in dem Psychotherapeuten und Spieleindustrie zusammenwirken könnten. Fußnoten 1 In: Politische Studien, Heft 337, 45. Jahrgang, September/Oktober 1994, ISBN 3928561-36-7 wurde diese Diskussion dokumentiert. Mein Beitrag war damals „Der Zukunft beraubt – Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen darf?“ (S.50-64). Die Fachdiskussion setzte sich dort fort und wurde erneut im Themenheft 1/2004 belegt: „Aggression und Straffälligkeit – Kinder und Jugendliche brauchen Struktur“, 55. Jahrgang, August 2004, ISBN 0032-3462. Dort reflektierte ich „Krank oder Böse? Wertungskategorien bestimmen Reaktionsmuster, diese bestimmen Maßnahmen“. (S.5272) 2 Mit seiner erkenntnistheoretischen, wissenschaftsgeschichtlichen, philosophischen Arbeit „Substanz, System, Struktur“ hat Heinrich Rombach bereits 1981 Grund gelegt für die später von ihm reich entwickelte Sicht auf einen „Menschlichen Menschen“ (Rombach, 1987). Naiv begreifendes Substanz-Denken, abstrahierend funktionalistisches Systemdenken werden wissenschaftsgeschichtlich beschrieben. Das schließlich entwickelte Struktur Paradigma gemeinsam Schwerpunktthema: Jugend und neue Medien 3 4 5 6 7 8 mit der prozessorientierten Sicht auf die Personen, wie sie mein Rogers-Verständnis mir ermöglicht, ist Hintergrund der folgenden Ausführungen. Die Emotionsforschung der Psychologie hat hier einiges beigetragen, jedoch nenne ich „Mutforschung“ vor allem jene Forschung, die versuchte zu begreifen, welche Qualität es ausmachte und ausmacht, dass in Diktaturen Einzelmenschen solidarisch unter Einsatz ihrer Existenz gegen die Vorschriften der jeweiligen Diktatur handeln. Am Beispiel jener Menschen, die im dritten Reich Verfolgte (vor allem Juden) retteten, ist solche Forschung ausgearbeitet und bei Fogelmann (1995) dokumentiert. „Wir waren keine Helden“ ,sondern Menschen, die eine tragende Wertfülle erlernt hatten und mit dieser inneren Stabilität zu handeln vermochten. Peter Bieri (2001) hat mit seinem „Handwerk der Freiheit“ eine allgemein leserliche Alternative entwickelt, eine gegenwartsnahe Phänomenologie und „handwerkliche“ Nutzbarkeitsanwendung für Freiheit und Selbstverantwortung. Ein seit 1984 entwickeltes Papier und StiftRollenspiel, das sich in einer ausgedachten Welt, vorwiegend im Land „Aventurien“ bewegt. Die Spielanleitungen („Abenteuer“) sind als Textbücher gestaltet und müssen von einem Spielführer zur Vorbereitung durchgearbeitet werden. In kleinen Gruppen kann ein Abenteuer dann Szene um Szene durchgespielt werden und die Gruppe selbst kann das Spielgeschehen mit dem Spielführer jederzeit ändernd aushandeln. So entstehen hier gruppendynamische Interaktionen, die ein „Teamerleben“ auch als zusammenarbeitendes Team, das die Spielregeln zu ändern vermag, umfassen. Es kann wochenlang weitergespielt werden, die Spielenden entwickeln Talente und Erfahrungen und suchen sich gemeinsam neue Abenteuer. F. Wurst, H. Rothbucher, R. Donnenberg, Hrsg. (1991) Wofür lohnt es sich zu leben? Werte und Wertfindung in der Erziehung. Salzburg: Otto Müller Dieser Dreiklang fasst für mich die Kenntnisse der Entwicklungspsychologie in ihrer Anwendung auf Erziehung zusammen. Eine ausgezeichnete Veranschaulichung des damit gemeinten Erziehungsstils gibt die interaktive CD-Rom „Freiheit in Grenzen“ von K.A.Schneewind, 2005 (zu beziehen über www.freiheit-in-grenzen.org). Die von der GwG geforderte Medienbildung statt Medienkompetenz und entsprechende Elternschulung kann nur unterstützt werden. Eine weitere konstruktive Vorgabe ist in dem bestehenden Programm www.familienteam.org zu sehen. Zu spielen ist eine Tätigkeit, die grundsätzlich freiwillig ist, offene Regeln umfasst usw. Die persönlichkeitsförderliche, ja heilsame Wirkung vom Spiel wurde insbesondere im Kontext von spieltherapeutischen 9 10 11 12 13 Prozessen ausführlich dokumentiert (Hockel, 1996, 2003, Weinberger 2001) Als solche Trainings zum Herabsetzen der Hemmschwelle für Tötungshandeln wurden sie zum Teil entwickelt. In einer Darstellung durch Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (www.bpb.de/themen/ YCK0P5,3,0,Virtuelle_Gewalt%3A_Modell_ oder_Spiegel.html#top) wird unter dem Stichwort „Dispens von Empathie“ ausgeführt: „In der virtuellen Welt des Computerspiels ist Empathie unangemessen. Das vom Computer generierte „Gegenüber“ lässt sich nicht empathisch erschließen, sondern nur einschätzen hinsichtlich seiner programmierten Reaktionsmuster. Nicht Empathie wird verlangt, sondern strategisch-taktisches Verhalten im Rahmen eines festgelegten Regelsystems, das für die jeweilige virtuelle Welt Gültigkeit hat. Die Figuren im Computerspiel sind nur Handlungsträger in funktional bestimmten Abläufen und keinesfalls Objekte, denen man emotional getönte Empathie entgegenbringen müsste – obwohl es bei Jüngeren dazu kommen kann, dass sie bestimmte Comic-Figuren im Computerspiel süß und niedlich finden und auf Beeinträchtigungen dieser Figuren empathisch reagieren. Ein virtuelles Gegenüber kann nur Objekt im Rahmen funktionaler Denk- und Handlungsprozesse sein, nie Subjekt.“ Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O.) schreiben auch: „Erfahrene Computerspieler zeigen sich … irritiert und verwundert, wenn man ihre Spiele und damit ihre virtuellen Aufenthaltsorte nach Kriterien der Menschlichkeit und Moralität kritisiert. Sie wollen gewinnen und keine Belege für ihre moralische Integrität schaffen. Darauf weist auch Leu hin, indem er betont, dass Kindern und Jugendlichen die Vorstellung, „bestimmte Darstellungsformen als Ausdruck von Leiden bzw. von ‚gut‘ oder ‚böse‘ in einem moralischen Sinne wahrzunehmen, fremd ist.“ Jürgen Fritz und Wolfgang Fehr (s.O) : Immer längere Aufenthalte in der virtuellen Welt können schädigen, weil sich dadurch die Zeit vermindert, in der sich diese Empathie ausbilden könnte. Hervorhebung durch den Autor. LITERATUR Hockel, C. M. (1994). Der Zukunft beraubt – Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen darf? In Hanns Seidel Stiftung (Hrsg.), Politische Studien (Bd. 45, Sept/Okt, S. 50-63). Grünwald: Atwerb Verlag. Hockel, C. M. (1994). Wie soll ich lieben, wenn ich nicht hassen darf? Sendung des Bayrischen Rundfunks in 2 Teilen: 1. Gewalt Ergebnis der Versachlichung, 2. Gewalt – Antwort auf die Hoffnungslosigkeit. In N. Matern (Hrsg.), Forum der Wissenschaft. München: Manuskript BR. Hockel, C. M. (1996). Das Spielerleben als Entwicklungsraum. In C. Boeck-Singelmann et. (Hrsg.), Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (Bd. 1, S. 155-177). Göttingen Bern Toronto Seattle: Hogrefe. Hockel, C. M. (2002). Kindheit in der virtuellen Welt – Müssen Technikkenntnisse früh vermittelt werden? In Hanns-Seidel-Stiftung und VDE (Hrsg.), Der Mensch und die Zukunftstechnologien (S. 109-122). München: Hanns-Seidel-Stiftung. Hockel, C. M. (2003). Angstbewältigung und ein Fall von Zwangserkrankung im Jugendalter. In C. Boeck-Singelmann et. (Hrsg.), Personzentrierte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen (Bd. 3, S. 202-236). Göttingen Bern Toronto Seattle: Hogrefe. Hockel, C. M. (2004). Krank oder Böse? Wertungskategorien bestimmen Reaktionsmuster, diese bestimmen Maßnahmen. In Hanns Seidl Stiftung (Hrsg.), Politische Studien Themenheft 1/2004 (Bd. 55/1, S. 5272). München: Atwerb Verlag. Keupp, H., Höfer, R. (Hrsg). (1998). Identitätsarbeit heute – Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rombach, H. (1981). Substanz, System, Struktur, Zwei Bände (Bde. 1-2). Freiburg München: Karl Alber. Rombach, H. (1987). Strukturanthropologie. Der menschliche Mensch. Freiburg München: Karl Alber. Schneewind, K. A. (2003). Freiheit in Grenzen – eine interaktive CD-ROM. München: Ludwig Maximilians Universität. Weinberger, S. (2001). Kindern spielend helfen – Eine personzentrierte Lern- und Praxisanleitung. Weinheim und Basel: Beltz Verlag. Wurst, F., Rothbucher, H, Donnenberg, R. (Hrsg.). (1991). Wofür lohnt es sich zu leben? Salzburg: Otto Müller. Bialas, W. (1998). Kommunitarismus und neue Kommunikationsweise. Versuch einer Kontextualisierung neuerer philosophischer Diskussionen um das Identitätsproblem. In Heiner Keupp, Renate Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute- Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung (S. 4065). Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bieri, P. (2001). Das Handwerk der Freiheit. München: Hanser. Fogelmann, E. (1995). ‚Wir waren keine Helden‘ – Lebensretter im Angesicht des Holocaust. Frankfurt/Main New York: Campus Verlag. Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung 1/08 25