Konfusion in der Federwegswelt. Eine neue Gabelklasse macht sich

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Konfusion in der Federwegswelt. Eine neue Gabelklasse macht sich
> Shoot Out
Konfusion in der Federwegswelt. Eine neue Gabelklasse
macht sich breit: 170er-Forken. Sie wollen die ideale Wahl
sein für Leichtfreerider und Enduristen. Marketing-Finte
oder Patentlösung? Wir haben die zwei heißesten Modelle
über die Trails gejagt.
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TEXT Peter Nilges Fotos G. Grießhaber, F. Faltermaier
Frankreich oder usa?
Die Enduro-Welle wogt und langhubige Luftgabeln stehen hoch im
Kurs. Sie müssen verbinden, was nicht zusammen gehört. Einerseits
Toureneinsatz mit selbst erkämpften Höhenmetern bergauf, andererseits heftige Downhills im Mégavalanche-Format. Bislang hatte man
die Wahl: entweder eine straffe 160er-Gabel oder gleich die dicke und
leider auch schwerere 180er. Das wird jetzt anderes, denn eine wachsende Schar an 170er-Gabeln will die Lücke nun endlich schließen.
Patentlösung oder Kompromiss? Wir wollten wissen, was diese neue
Gabel-Generation wirklich kann. Dafür haben wir die zwei heißesten
170er auf dem Markt gegeneinander antreten lassen. Auf der „X-Line“
in Saalbach, den Trails in Sölden und im Labor mussten die zwei
Enduro-Spezialisten zeigen, was sie können. Zweimal 170 Millimeter
Federweg ohne Absenkung, zweimal schlanke Gewichte um zwei Kilo
und mit Preisen von 863 bis 975 Euro auch im ähnlichen Preissegment
angesiedelt. Der Exot kommt aus Frankreich, heißt BOS „Deville“ und
will die Enduro-Herrschaft an sich reißen. Firmenchef und FahrwerksGuru Olivier Bossard präsentierte 2010 mit der „Deville 160“ seine
erste Enduro-Luftgabel. Jetzt rüsteten die Franzosen auf. Das Ergebnis:
die „Deville 170“. Um zu checken, was die Gabel wirklich kann, schickten wir sie gegen RockShox’ Evergreen „Lyrik“ ins Rennen. Die zählt
zu den meistverkauften Enduro-Gabeln überhaupt. Seit 2009 bieten die
Amis sie auch als 170er-Variante an.
„Gestatten, BOS(S)!“
Sobald der Name BOS fällt, geht ein Raunen durch die Menge der Kenner.
Federwegsexperte Olivier Bossard gilt als rennsportbesessen und ist nicht
nur im Downhill, sondern auch im Motocross und Rallye-Sport eine gefragte Größe mit außergewöhnlichen Ideen und Ansätzen. Die DownhillIkonen Nico Vouilloz und Anne-Caro Chausson vertrauten jahrelang auf
sein Know-how und reihten Sieg an Sieg. Die „Deville“ wurde 2010 als
erste Luftgabel von BOS vorgestellt und kostete stolze 1199 Euro. Sie
besaß ein offenes Ölbad mit großem Ölvolumen, hochwertig beschichtete
Standrohre und komplett anodisierte Innereien, wodurch weniger Abrieb
ins Öl gelangt. Geringe Reibung, kaum Schmutz im Öl – das sind Details,
doch die machen im Rennsport bekanntlich den Unterschied. Für Entwicklungs-Input verpflichtete Bossard den technikbegeisterten Nico Vouilloz
und überließ so wenig dem Zufall. Um im Enduro-Markt schneller Fuß zu
fassen, senkte BOS eine Saison später massiv die Preise. Zum Vergleich:
eine 36er-Fox „Float“ kostet 1239 Euro. Ideale Voraussetzungen! Die
„Lyrik“ von US-Gigant RockShox setzt ebenfalls auf ein offenes Ölbad und
verfügt in der langhubigen Version über eine Mission-Control-RC2-DH-
High- und Lowspeed-Druckstufe: BOS und RockShox verfügen über die gleichen Einstellungsmöglichkeiten in Sachen Dämpfung. Da die BOS extrem sensibel und damit aktiv läuft, muss sie
deutlich penibler über die Dämpfung eingebremst werden. Die Rasterung der Knöpfe, vor allem
Highspeed und Rebound, könnte bei der BOS etwas definierter ausfallen.
Kartusche. Im Vergleich zur normalen Mission-Control-Dämpfungs­kartusche
besitzt die „DH“ weniger Features (wie beispielsweise ein Lockout), lässt
sich dafür aber besser auf Abfahrtsperformance trimmen. Durch den
dickeren Zugstufenschaft arbeitet die „DH“ mit einem größeren Ölfluss und
einem größeren Shim-Paket für die Druckstufe, was im Endeffekt für mehr
Leistung bergab sorgt.
Ab ins MessLabor!
Genau wie beim Boxen geht es vor dem Kampf erst einmal auf die
Waage. Mit 35-Millimeter-Standrohren wirkt die „Lyrik“ zwar imposanter
als die filigranere „Deville“ (34 Millimeter), wiegt aber auch 100 Gramm
mehr. 2065 zu 2165 Gramm und damit 1:0 für BOS. Trotz dünnerer
Stelzen punktete die BOS überraschenderweise auch bei der Steifigkeit.
Während die Bremssteifigkeit auf exakt gleichem Niveau liegt, besitzt
die BOS eine um 12 Prozent höhere Verdrehsteifigkeit und damit mehr
Lenkpräzision. Ein Indiz für eine gelungene Konstruktion von Gabelkrone,
Casting und Steckachse. 2:0 für die BOS. Schwächelt die „Lyrik“? Nein,
die dritte Runde – der maximale Federweg – geht an sie. Die „Lyrik“
kommt exakt auf die angegebenen 170 Millimeter Federweg, während
wir der BOS auf dem Prüfstand nur 165 Millimeter entlocken konnten.
Erfahrungsgemäß knausern die Franzosen ein wenig mit dem Federweg
und unterschlagen gerne mal vier bis fünf Millimeter. Das belegen auch
frühere Tests der 160er-Variante der „Deville“. Bei der Einbaulänge jedoch
herrscht mit 555 Millimetern Einigkeit unter den Gabeln. Die 170erVarianten bauen – welch’ Überraschung – 10 Millimeter höher als 160erGabeln und sorgen somit für einen etwa 0,5 Grad flacheren Lenkwinkel.
Die Laborrunde endet mit 2:1 für die BOS. Wir sind gespannt auf die
Fahrtests und läuten Runde vier ein.
Foto: Sven Martin
showdown auf der x-line
Massenkompatibel: Die „Lyrik“ hält die Luftdruckempfehlung abhängig vom Fahrergewicht
direkt auf dem linken Gabelholm parat. Mit dieser Empfehlung gelingt das Grund-Set-up ohne
Probleme. Die Druckstufendämpfung passt auch bei unterschiedlichen Lufdrucken und muss
nicht ständig nachreguliert werden.
Vor dem Fahren kommt das Set-up. Beide Gabeln verfügen über eine einstellbare High- und Lowspeed-Druckstufe, sowie eine obligatorische ReboundEinstellung. Bei der „Lyrik“ sitzt die Druckstufeneinstellung oben, bei der
BOS am unteren Ende des rechten Gabelholms. Um den Luftdruck aufs
Fahrergewicht einzustellen, gibt es bei RockShox eine aufgedruckte Empfehlungstabelle, die recht genau hinkommt. Praktisch! BOS hält Empfehlungen
für Luftdruck und Set-up immerhin im Handbuch bereit. RockShox empfiehlt
vier Klicks High- und Lowspeed-Druckstufe aus der komplett geöffneten
Position. Bei BOS heißt das Grund-Set-up: 15 Klicks aufdrehen (gegen den
Uhrzeigersinn) aus der komplett geschlossenen Position und zwar für alle
drei Dämpfungsknöpfchen. Während die Knöpfe der „Lyrik“ mit Präzision
und gut hörbarem Klick einrasten, fühlt sich der Highspeed- und ReboundFREERIDE 3/12
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Knopf der BOS undefinierter an. Auch die Steckachse der „Lyrik“ lässt sich
dank abgerundeter Kanten und langem Hebel komfortabler und sicherer
bedienen, während sich die Steckachse der „Deville“ nach ein paar Runs
lockerte und hin und wieder nachgezogen werden musste. Ein klarer
Punkt in Sachen Handhabung für die „Lyrik“.
Der Gong zu Runde fünf: das Ansprechverhalten. „Wooooow, wie smooth!“
– uns ist bislang noch keine Luftgabel in die Hände gefallen, die so sahnig
anspricht oder auch nur ansatzweise so gut gleitet wie die BOS. So gut,
man könnte meinen, im Inneren stecke eine Titanfeder. Beeindruckend!
Durch die fehlende Absenkfunktion beider Gabeln sind weniger Dichtungen nötig, dadurch sprechen sie feiner an. Das zeigt sich auf dem
Trail. Die „Deville“ puffert willig jeden noch so kleinen Kiesel ab und
gleicht selbst bei niedriger Geschwindigkeit jede Bodenunebenheit aus.
Im Vergleich dazu arbeitet die „Lyrik“ zwar auf einem hohen Niveau, aber
deutlich zäher als die BOS. Runde fünf geht also an BOS. Ausgleich: 1:1
in der Praxiswertung.
Runde sechs: die Downhillwertung. Jetzt geht es ans Eingemachte: den
maximalen Fahrspaß bergab. Wir waren entsprechend gespannt und
tauschten unentwegt unsere beiden Einheitstestbikes (Trek „Slash“).
Wieder und wieder. Schwierige Entscheidung: Beide Gabeln funktionieren hervorragend und zählen ohne Zweifel zu dem Besten, was es in
diesem Segment derzeit zu kaufen gibt. Dennoch zeigten sich spürbare
Unterschiede im Charakter. Zum Beispiel tendiert die „Deville“ schon fast
in Richtung hyperaktiv. Die Tatsache, dass sie so extrem gut läuft, hat
einen Nachteil: Man muss ihre Federbewegung in Ein- wie Ausfederrichtung über die Dämpfung exakt regulieren. Es erfordert Zeit, Erfahrung
und genaue Wahrnehmung, um beim peniblen Set-up der Dämpfung das
gesamte Potenzial herauszukitzeln. Dagegen arbeitet die „Lyrik“ deut-
lich sorgenfreier. Raus aus dem Karton, Luftdruck und Dämpfung nach
Empfehlung einstellen und ab auf den Trail – „Set it an forget it!“, eine
Rundum-sorglos-Gabel für Set-up-Faule. In voller Fahrt: Die BOS spricht
feinfühliger an, schafft es aber auch, schnelle Schläge souverän abzupuffern. Sobald es allerdings steiler wird, taucht die „Deville“ aufgrund der
flacheren Kennlinie stärker weg. Ab etwa 90 Millimetern Federweg steigt
die Kennlinie der „Lyrik“ steiler an und bietet dem Fahrer dadurch schon
unabhängig von der Dämpfung mehr Gegendruck. Um bei der „Deville“
mit passendem SAG ein Abtauchen zu verhindern, erhöhten wir die
Lowspeed-Druckstufe. Fünf Klicks und es wird besser. Die Gabel steht jetzt
stabiler im Federweg. Nachteil: Bei schnellen Schlägen wird sie spürbar
bockiger. Die „Lyrik“ dagegen steht in schnellen, steilen Passagen eine Spur
solider im Federweg und schluckt dennoch fiese Schläge souverän, ohne
zu verhärten. Durchschläge hatten wir an keiner der Gabeln, beide nutzten
den Federweg bis auf wenige Millimeter aus. Die Zugstufendämpfung der
BOS ist auf der schnellen Seite, wodurch bereits unser 85 Kilo schwerer
Tester die Dämpfung fast komplett zudrehen musste. Schwerere Fahrer
könnten mit der Begrenzung der Ausfedergeschwindigkeit daher Probleme
bekommen. Tuningtipp: dickeres Öl verwenden. Wie auch immer, die
„Lyrik“ kann die Downhillwertung mit zartem Vorsprung für sich entscheiden. 2:1 für RockShox. (Tipp: Wer gerne schraubt, kann der BOS mit
wenig Aufwand etwas mehr Progression verpassen. Durch Verkleinern der
Luftkammer wird die Kennlinie angehoben. Einfach etwas Schmieröl in die
Lufkammer füllen, 10 bis 20 Milliliter machen bereits einen Unterschied.)
Der Kampf ist beendet. Es war eng. Sehr eng! Gleichstand nach Punkten.
BOS gewinnt zwar die Laborwertung, RockShox aber die wichtige Praxiswertung. Pragmatisch wie wir sind, gewichten wir die mehr. Der
hauchdünne Sieg geht an RockShox!
Rockshox „Lyrik R2C dh“
Die „Lyrik“ ist mit den 35-Millimeter-Standrohren
geringfügig dicker als die „Deville“ und bringt
100 Gramm mehr auf die Waage. Neben den gut
gerasterten Verstellknöpfen lässt sich die 20-Millimeter-Steckachse einfach und komfortabel
bedienen. Die bedruckten Standrohre erleichtern
das Finden des richtigen SAG. Mit 863 € ist sie
100 € günstiger als die BOS.
bos „deville“
Die „Deville“ wirkt mit 34er-Standrohren etwas
filigraner, ist aber dennoch steifer als die
„Lyrik“. Die Steckachse fällt etwas kantiger aus
und lockerte sich nach mehreren Abfahrten.
Gewicht und Ansprechverhalten sind marktführend für eine 170er-Gabel. Preis: 975 €.
Laborcheck: Die Kennlinien im Vergleich
3000
N
Die Kennlinie der „Deville“ verläuft spür- und sichtbar flacher
und besitzt weniger Endprogression. In steilen Passagen mit viel
Last auf der Gabel taucht die
„Deville“ dadurch stärker ab.
Die „Lyrik“ steht etwas stabiler
im Federweg und bietet auch
ohne starke Dämpfung mehr Reserven bei hoher Last und harten
Schlägen. Obendrein hat sie fünf
Millimeter mehr Federweg.
2400
1800
1200
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20
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120
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180mm
„Die ‚Deville‘ ist eine hervorragende Enduro-Gabel. Extrem
leicht, sehr steif und ultra geschmeidig. Das aufwändige
Set-up ist aber nicht jedermanns
Sache. Die ‚Lyrik‘ begeistert mit
tadelloser Downhill-Performance
und einfacher Handhabung.“
Peter Nilges, FREERIDE-Tester

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