Das Ketzel Epitaph - schmidt

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Das Ketzel Epitaph - schmidt
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Das Ketzel Epitaph
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Zusammenfassung
Das Ketzel Epitaph aus dem Jahre 1453 zeigt die Rettung der Seelen aus dem Fegefeuer.
Um diese Darstellung verstehen zu können, ist es erforderlich, sich mit den spätmittelalterlichen Glaubensinhalten vertraut zu machen, die sich mit dem Leben nach dem Tod beschäftigen. Hierzu gehört der Glaube an die Vorhölle, an das Fegefeuer und an die wirkliche Hölle.
Gleichzeitig wird einsichtig, welche Bedeutung Stiftungen, Reliquienkult und Ablasswesen in
der damaligen Zeit besaßen.
1 Die Familie Ketzel und ihr Epitaph
Die Familie Ketzel war eine zunächst nicht ratsfähige Kaufmannsfamilie, die um 1430 aus Augsburg nach Nürnberg zuwanderte. Die Ketzels handelten mit Gewürzen und waren zugleich
im Montanbereich tätig. Sie besaßen eigene Faktoreien in Augsburg, Leipzig und wohl auch in Venedig. Ihr Wappen war ein
Affe oder eine Katze, die in der linken Hand eine silberne Kugel
trägt und um deren Leib sich einen goldenen Gürtel mit einem
Ring schlingt.
Ihr Vermögen half ihnen in ihrem Bemühen, den Patriziern nachzueifern.
Mit Heinrich Ketzel d.J. wurde im Jahre 1438 erstmals ein Mitglied der Familie Genannter im Größeren Rat. Dieser Heinrich Ketzel d.J. war wahrscheinlich
auch der erste in der Familie, der im Jahre 1389 eine Pilgerreise nach Jerusalem unternahm.
Er starb im Jahre 1453.
(Diese Informationen wurden [ 1 ] entnommen.)
Insgesamt sollen 8 Mitglieder der Familie insgesamt neunmal eine Pilgerreise nach Jerusalem
unternommen haben. Von Martin Ketzel aus der nächsten Generation erzählt die Legende,
dass er nach Jerusalem gepilgert sei, um dort die genauen Maße zwischen den einzelnen Leidensstationen Jesu abzuschreiten, die dort jeweils genau markiert waren. In Jerusalem gelobte
er, in Nürnberg die 7 Kreuzwegstationen zwischen dem Tiergärtner Tor und dem Johannisfriedhof zu stiften. Man sagt, dass er auf der Rückreise Schiffbruch erlitten habe und nur das
eigene Leben retten konnte. Alle Habe, insbesondere die Aufzeichnungen mit den Abmessungen gingen dabei verloren. Deswegen machte er sich 4 Jahre später noch einmal auf die Reise,
um die Abmessungen zu wiederholen.
Das Epitaph des Heinrich Ketzel befindet sich an der Nordseite
des Westchores auf der rechten Seite des jetzigen Eingangs. Unter der Darstellung der Rettung der Seelen aus dem Fegefeuer
findet sich die stark verwitterte Inschrift, die sich auf Heinrich
Ketzel d.Ä. bezieht:
Anno domini MCCCCXXXiii iar an Sonntag nach Maria geburt
stab der erber elter Heinrich Ketzell, dem got genad.
Unter dieser Inschrift sieht man das Wappen der Familie. Darunter als Hinweis auf ihre den Patriziern ebenbürtigen Bedeutung
befinden sich 4 Zeichen:
* Ritter des Heiligen Grabes (Kreuz von 4 kleinen Kreuzen umgeben)
* Ritter von der Lilie (Blumenvase)
* Ritter des Ordens der Equituum ensiferorum Cypri (Schwert, von einem S umschlungen)
* Ritter der Heiligen Katharina auf dem Berg Sinai (Das Rad der Heiligen Katharina)
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Von besonderer Bedeutung und besonders prestigeträchtig war sicherlich das Kreuz, das die
Ritter des Heiligen Grabes auszeichnete und das nur hochgestellten Persönlichkeiten in Jerusalem beim Ritterschlag übermittelt wurde.
Unter diesen Ordenszeichen findet sich die Inschrift, die sich auf Heinrich Ketzel d.J. bezieht,
der als erster der Familie zum Heiligen Grab zog:
Dar nach starb sein sun Heinrich Ketzell am Montag nach der heiligen drei kunig dag
MCCCCLiii jar, dem got genad.
(Diese Informationen wurden [ 2 ] entnommen.)
2 Pilgerfahrten, Reliquienkult und Ablasswesen
Pilgerfahrten, Reliquienkult und Ablasswesen gehören zu den bedeutendsten Phänomenen der
mittelalterlichen Religiosität. Sie hängen eng miteinander zusammen.
Pilgerfahrten unternahm man zu Orten, die wichtige Reliquien beherbergten. Von der Verehrung der Reliquien versprach man sich einmal Hilfe bei weltlichen Schwierigkeiten und dann
ganz besonders auch einen Ablass von Sündenstrafen, die im Fegefeuer abzubüßen waren.
Die Bedeutung von Pilgerfahrten, Reliquienkult und Ablasswesen beruht sicherlich zunächst
auf Höllenfurcht und Seelenangst. Weiterhin lebte man im Alltag mit dem Gefühl, seinem
Schicksal, das Unglück, Krankheit und Tod bringen konnte, hilflos ausgeliefert zu sein. Dazu
kam, dass diese Formen der religiösen Äußerung den Glauben sinnlich unmittelbar erfahr- und
erlebbar machten und somit auch den menschlichen Bedürfnissen nach Anschaulichkeit entgegen
kamen
2.1 Pilgerfahrten
Man muss die Bedeutung von Pilgerfahrten im Mittelalter sehr hoch einschätzen. Nahezu
ohne Unterschied von Stand, Herkunft und Bildung ergriffen alle, die sich dazu in der Lage
sahen, den Pilgerstab: Arme und Reiche, Kleriker und Bauern, Könige ebenso wie Gelehrte,
Männer, Frauen und Kinder. Man kann davon ausgehen, dass in Europa etwa 30-50% der erwachsenen Bevölkerung eine Pilgerreise unternahmen.
Für die meisten waren es die nahe gelegenen Wallfahrtsorte, die besucht wurden.
Für die Angehörigen der oberen Stände, die über die erforderlichen Mittel verfügten, waren es
drei Ziele, die besonders erstrebenswert waren. Es waren die drei peregrinationes maiores:
Santiago de Compostella, Rom und Jerusalem.
In Santiago de Compostella konnte man die Reliquien des wundertätigen Apostels Jakobus verehren. Allein die Zahlen der Pilger, die nach Santiago de Compostella im Spätmittelalter reisten,
lassen erstaunen. Etwa 200000 bis 500000 Pilger sollen es jährlich gewesen sein, die Jakobus dort
verehrten. Als geweihtes Andenken konnte man die berühmte Jakobsmuschel mit nach Hause
nehmen.
Rom, traditioneller Sitz des katholischen Oberhauptes, verwies auf die Gräber des Apostels Petrus
und des hl. Paulus. Hier diente ein in Metall gegossener Petersschlüssel als Zeichen und Nachweis
der abgeschlossenen Pilgerfahrt.
Die großartigste, gefährlichste und auch teuerste Pilgerfahrt ging nach Jerusalem. Hier konnte
man auf den Spuren Jesu wandeln und alle Stationen seines Wirkens besuchen. Aus Jerusalem
brachte man einen Palmzweig mit. Als prestigeträchtiges Zeichen konnten Pilgerfahrer, die in
Jerusalem waren, dem Orden vom Heiligen Grab angehören. Das Zeichen der Ritter war das
Kreuz mit den 4 kleinen Kreuzen. Auf dem Epitaph der Familie Ketzel wurde es mit Stolz angebracht, sodass es alle wahrnehmen konnten.
Die Motive, eine Pilgerfahrt zu unternehmen, waren sicherlich nicht nur spiritueller Art. Oft mögen Abenteuerlust und Neugier eine Rolle gespielt haben. Eine Pilgerfahrt war die einzige von der
Kirche und der Gesellschaft sanktionierte Möglichkeit, der Enge des persönlichen Lebensbereiches zu entkommen und um andere Menschen, andere Gegenden und andere Lebensweisen ken-
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nen zu lernen. Außerdem konnte eine derartige Reise auch dazu dienen, Handelsinteressen wahrzunehmen oder neue Kontakte zu knüpfen.
Eine sehr lebendige, oftmals drastische und wohl auch realitätsnahe Darstellung findet man in
den Canterbury Tales von Geoffry Chaucer vom Ende des 14. Jahrhunderts. 29 Pilger auf der
Reise zum Grab des Heiligen Thomas von Canterbury erzählen viele verschiedene Geschichten. Eine nüchterne Darstellung, die eher einem Reisebericht entspricht, schreibt Hans Tucher
über seine Pilgerfahrt nach Jerusalem im Jahre 1480. (Siehe hiezu [ 3 ] )
So kann man denn davon überzeugt sein, dass sich auch bei der Familie Ketzel bei den von
den Familienmitgliedern durchgeführten Pilgerfahrten nach Jerusalem mehrere Motive unentwirrbar vermischt haben. Sicherlich wird es ein religiöses Bedürfnis gegeben haben. Ähnlich bedeutsam mag des Prestige gewesen sein, dass den Rückkehrer zu Hause erwartete.
2.2 Der Reliquienkult
Die Reliquienverehrung besaß im Mittelalter große Bedeutung. Knochen, Haare oder andere
leibliche Überreste von Heiligen wurden verehrt und in kostbaren Behältnissen aufbewahrt.
Ihnen wurden übernatürliche Kräfte zugeschrieben. Die Berührung oder allein schon der Anblick konnten Wunder bewirken. Dazu kam, dass Reliquien einen Ablass von den im Fegefeuer abzuleistenden Sündenstrafen gewährten. Sie waren häufig der Mittelpunkt einer Wallfahrt.
Im Spätmittelalter entwickelte sich ein eigener Handelszweig für Reliquien. Zu hohen Preisen
waren z.B. Windeln Jesu, Tränen der Gottesmutter oder ein Zahn Johannes des Täufers erwerbbar. Der Nürnberger Nikolaus Muffel besaß 308 Reliquien, deren Kauf ihn letztendlich
zugrunde richtete.
Für Nürnberg waren die Reichskleinodien besonders wichtig. Sie enthielten außerordentlich
wertvolle Reliquien. Hierzu gehörten unter anderem:
Die Heilige Lanze
Das Reichskreuz mit einem Kreuzpartikel im Schaft
Reliquiare mit einem Span von der Krippe Jesu, mit einem Gewandstück vom Evangelisten
Johannes, mit einem Kettenglied Johannes des Täufers oder mit einem Stück vom Tischtuch
des letzten Abendmahles.
Die Reichskleinodien und die Reliquien wurden einmal im Jahr am zweiten Freitag nach
Ostern in der sogenannten Heiltumsweisung der Öffentlichkeit gezeigt („gewiesen“). Hierzu
wurde auf dem Fischmarkt, dem heutigen Hauptmarkt der Heiltumsstuhl, ein ungefähr 7 Meter hohes dreigeschossiges, geschmücktes Balkengerüst errichtet. Ein kolorierter Holzschnitt
von 1487 zeigt den Aufbau. Man sieht, dass die Personen im unteren Drittel des Bildes versuchen, die Heilkraft und Ablasswirkung der gezeigten Gegenstände durch Spiegel für sich einzufangen.
2.3 Das Ablasswesen
Die Verdienste von Jesus Christus und den christlichen Heiligen bilden einen unermesslichen
Gnadenschatz. Diesen kann die Kirche verwalten und austeilen, weil ihr in der in der Nachfolge der Apostel die Schlüsselgewalt gegeben ist Im Ablass gibt nun die Kirche dem Sünder
aus diesem Gnadenschatz das, was ihm fehlt, um vor Gott wieder gerecht dazustehen. Dadurch wird dem Sünder die Strafe erlassen, sowohl die Bußzeit in diesem Leben als auch eine
etwaige Strafe im Fegefeuer.
Die Kirche stellt gewisse Bedingungen, unter denen sie einen solchen Ablass gewährt, z. B.
Gebete, Pilgerfahrten, Teilname an Prozessionen, Stiftungen, Spenden und Almosen oder
Kirchenbesuche. Eine Weiterentwicklung war, dass man nicht nur für sich selbst, sondern
auch für Verstorbene als Zeichen der Nächstenliebe und der Fürsorge Ablässe erwerben konnte.
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Als Beispiel sei auf den Ablass hingewiesen, den man z.B. in der Nürnberger Pfarrkirche St.
Sebald erwerben konnte. Der umsichtige und gründliche Kirchenmeister von St. Sebald
Sebald Schreyer hat für St. Sebald
einen Ablasskalender anfertigen
lassen, der verschiedene Anlässe
und die dazugehörigen Ablasstage
zeigt. Ein Beispiel:
Alle, die Spenden und Almosen
nach St. Sebald geben: 4860 Tage
Alle, die in St. Sebald Messe lesen
oder lesen lassen: 800 Tage
Alle, die in St. Sebald die Predigt
hören: 2560 Tage
( In [ 4 ] findet man eine vollständige Übersicht.])
Im Spätmittelalter entstanden aus
dem Ablasswesen bedauerliche
Missbräuche: Einerseits glaubte
man, dass ein Ablassbrief nicht nur
die Befreiung von Sündenstrafen
bewirkte sondern auch die Erlösung von Schuld und Sünde.
Beichte und Buße seien nicht mehr
unbedingt erforderlich. Gläubige
kamen daher zu der Ansicht, dass
sie unbekümmert sündigen könnten, da ihnen die Kirche ja gegen
eine entsprechende Geldspende
den Ablass gewähren würde.
Gleichzeitig entdeckten die Päpste, dass sich der Gnadenschatz der Kirche durch Ablass gegen Bezahlung in einen Schatz von klingender Münze umwandeln ließ, wenn man den Gläubigen nur die Schrecken des Fegefeuers für sich und ihre verstorbenen Angehörigen genügend
dramatisch ausmalte. Besonders bekannt wurde der sog. Petersablass, der zur Zeit Luthers an
die Bevölkerung verkauft wurde, um die Fertigstellung des Baues des Petersdoms in Rom zu
finanzieren. Der Ablassprediger Johannes Tetzel erlangte traurige Berühmtheit. Bekannt ist
sein Ausspruch
Wenn das Geld im Kasten klingt,
die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt.
Als Beispiel seien zwei seiner Preise aufgeführt:
Kirchenraub und Meineid: 9 Dukaten
Mord: 8 Dukaten
Die Missbräuche im Ablasswesen waren einer der Auslöser für die Reformation in Deutschland.
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Ein Ablassbrief Tetzels
3 Die Jenseitsvorstellungen des späten Mittelalters
Der Mensch ist das einzige Wesen, das in der Evolution einen Bewusstseinszustand erreicht
hat, der ihn seinen eigenen Tod wissen lässt. Schon ganz früh in der kulturellen Entwicklung
wurden daher Vorstellungen entwickelt, die sich mit der Frage beschäftigen, welches Schicksal einen Verstorbenen nach seinem Tod erwartet und was nach seinem Ableben mit ihm geschieht. Zahlreiche, sehr unterschiedliche Antworten wurden von den einzelnen Kulturen im
Laufe der Zeit zu diesen Fragen entwickelt.
In den Hochkulturen haben Theologien verschiedene Jenseitsvorstellungen nach dem Tod
ausgearbeitet und sehr detaillierte Riten entwickelt, die dem Gläubigen eine segensreiche Erlösung in Aussicht stellten. Im Buddhismus erlebt der Mensch nach einer Vielzahl von Wiedergeburten die vollständige Auslöschung im Nirwana. Im Hinduismus löst sich die individuelle Seele auf und wird wieder eins mit Brahman, dem Urgrund allen Seins. Das ist so wie
wenn ein Wassertropfen seine Individualität verliert, um nach langer Irrfahrt wieder im großen Meer aufzugehen.
Die christlichen Religionen haben im Gegensatz zu diesen östlichen Religionen am Weiterleben der individuellen Person festgehalten. Der Einzelne löst sich nach dem Tod nicht auf sondern er wird zu neuem Leben wiedererweckt werden.
Der Himmel steht für Gottesnähe. Nach dem Glauben der katholischen Kirche haben dort
bereits vor dem Jüngsten Gericht Maria und die Heiligen Aufnahme gefunden. Sie können als
Fürsprecher und Vermittler angerufen werden.
Auf der dunklen, dem Himmel abgewandten Seite gibt es die Hölle, das Fegefeuer und die
Vorhölle. Das Ketzel Epitaph zeigt die Rettung der Seligen aus dem Fegefeuer durch die Engel.
Um dieses Epitaph in seinem geistigen Gehalt gänzlich zu verstehen, müssen die mittelalterlichen Vorstellungen der katholischen Kirche zur Hölle, zum Fegefeuer und zur Vorhölle näher
erläutert werden. Hierbei ist zu bedenken, dass an dieser Stelle nur ein ganz grober, oberflächlicher Eindruck vermittelt werden kann, der bewusst alle Feinheiten außer Acht lässt. Dazu
kommt, dass zwischen den kontroversen Spekulationen der Theologen, den volkstümlichen
Jenseitsvorstellungen der einfachen Leute und den offiziellen Glaubenssätzen der mittelalterlichen Kirche nicht immer Übereinstimmung besteht.
Daher soll nur das allgemeine Übersichtswissen, das zum Verständnis mittelalterlicher
Kunstwerke unbedingt erforderlich scheint, dargestellt werden.
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3.1 Die Hölle
Die Hölle ist der Ort ewiger Verdammnis, in dem sich der Teufel, die gefallenen Engel und
die unbußfertigen Sünder aufhalten. Die mittelalterliche Kunst hat im Auftrag der Kirche viel
Phantasie und viel Einfallsreichtum aufgewandt, um diesen Ort so schrecklich wie nur möglich zu schildern. Keine Grausamkeit und keine Quälerei waren abstoßend genug um nicht
dargestellt zu werden. Zahllose Darstellungen haben sich dieses fürchterlichen und damit
auch faszinierenden Themas angenommen, so z.B. Herrad von Landsberg in seinem Hortus
Deliciarum aus dem 12. Jahrhundert.
Die mittelalterliche Kirche hat wenig dazu beigetragen, die Höllenfurcht zu mildern. Vielmehr hat sie diese Höllenfurcht im Ablasswesen für die eigenen weltlichen Zwecke schändlich missbraucht.
Höllendarstellung
3.2. Das Fegefeuer
Seligkeit konnte man nur durch aufrichtige Reue und Buße erlangen. Nun erschien es ungerecht, dass jeder unabhängig von seinem Verhalten auf Erden ein Anrecht auf das Paradies
erlangen sollte. Die Gerechtigkeit verlangte, dass für Missetaten auf Erden die entsprechenden
Sündenstrafen abgebüßt werden sollten.
Es gab somit einen Unterschied zwischen der Sündenschuld, die durch Jesu Tod getilgt werden konnte und den Sündenstrafen, die man zu erleiden hatte, um Untaten zu sühnen, auch
wenn man der endgültigen Erlösung bereits sicher sein konnte.
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Der Ort, in dem die Sündenstrafen abgebüßt werden mussten, war das Fegefeuer oder das
Purgatorium.
Die Sündenstrafen konnte man durch entsprechende gute Werke wie z.B. wohltätige Stiftungen oder auch durch Teilnahme an Prozessionen oder Wallfahrten reduzieren. Die Pilgerfahrten nach Jerusalem waren ein besonders lohnender Weg, um Ablass zu erwirken. Voraussetzung war jedoch immer die vorhergegangene Buße und Reue.
Im späten Mittelalter setzte sich dann die Vorstellung durch, dass die Lebenden auch für die
bereits Gestorbenen einen Ablass und damit eine Verringerung der Strafen im Fegefeuer erreichen konnte. Dazu kam das Verfahren, Ablass mit Hilfe von Ablassbriefen für sich und die
Vorfahren zu erkaufen.
Es gibt zahlreiche Darstellungen, die beschreiben, wie Engel diejenigen, die ihre Sündendstrafe im Fegefeuer abgeleistet haben, aus dem Fegefeuer befreien und zur ewigen Seligkeit führen. Zu diesen Darstellungen gehört auch die Abbildung auf dem Ketzel Epitaph.
Erlösung aus dem Fegefeuer
3.3 Die Vorhölle
Theologische Spekulationen standen vor der Frage, was mit den Menschen zu geschehen hat,
die vor Jesus gestorben waren und daher von dessen Erlösungswerk noch nichts gewusst haben können. Desgleichen musste man eine Lösung für die ungetauften Kinder finden, die sicherlich noch ohne eigene Schuld waren. Grundlage war die Überzeugung, dass das Sakrament der Taufe Voraussetzung für die ewige Seligkeit war und niemand ungetauft in den
Himmel kommen konnte. Die theologische Konstruktion, die hier gefunden wurde, war die
Vorhölle oder Limbus. In diesem Randbereich müssen die Alten und die ungetauften Kinder
ohne Schmerzen auf die Erlösung warten. Die Erlösung wird ihnen durch die Anastasis Jesu
zuteil, der in der Zeit zwischen Kreuzigung und Auferstehung zur Hölle niederfährt.
In einem Lied des Syrers Ephraim aus dem 4. Jahrhundert heißt es:
Lob sei dir, der du hinab gestiegen und eingetaucht bist, um Adam zu suchen.
Du hast ihn aus den Tiefen des Hades herausgezogen und nach Eden geführt.
Die Anastasis wird besonders in der byzantinischen Kunst immer wieder sehr eindrucksvoll
und dramatisch dargestellt, so z.B. in der berühmten Darstellung in der Chora Kirche in Istan-
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bul. Jesus bricht die Tore der Hölle auf und zieht Adam und Eva als Vertreter der Menschheit
aus ihren Gräbern zur Erlösung.
Anastasis
4 Die Bedeutung des Ketzel Epitaphs heute
Was kann einem Betrachter der Gegenwart das Ketzel Epitaph bedeuten? Warum soll er sich
der Mühe unterziehen, sich ausführlich mit dem Epitaph und seinem kulturellen und religiösen Hintergrund beschäftigen?
Zunächst erhellt die Beschäftigung mit dem Ketzel Epitaph die geistige Atmosphäre des
Spätmittelalters. Gleichzeitig werden dadurch die Irrungen und Wirrungen deutlich, die der
abendländische Geist durchlaufen musste, bevor er sich zu einer aberglaubenfreien Vorstellung des Jenseitsglaubens durchkämpfen konnte. Sowohl das Paradies wie auch die Höllen in
ihren drei Erscheinungsformen haben ihre damalige, unmittelbare, anschauliche Bedeutung
verloren und werden nur noch bildlich und metaphorisch verstanden.
Weiterhin nötigt das Epitaph zu einer eigenen, ganz persönlichen Auseinandersetzung mit
dem Tod und den Jenseitsvorstellungen. Ein moderner Betrachter mag über die naiv gläubige
Darstellung auf dem Ketzel Epitaph überlegen lächeln. Dies sei ihm nur gestattet, wenn er
sich dem Verdrängungsprozess von Tod und Jenseitsvorstellungen nicht verweigert und er
sich eine persönliche Einstellung zu eigen gemacht hat.
So lohnt es sich allemal, vor dem Ketzel Epitaph zu verweilen und den Gedanken zu Tod und
Leben nach dem Tod nachzugehen.
Literatur
[ 1 ] Stadtlexikon Nürnberg; Hrsg. Diefenbacher M., Endres R.; W. Tümmels Verlag, 2000
Nürnberg
[ 2 ] Hoffmann, F., W.; Die Sebalduskirche in Nürnberg; Verlag Gerlach & Wiedling, Wien
1912
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[ 3 ] Dorninger,, H.; Topografie des Heiligen Landes zu den Pilgerreisen des Mittelalters am
Beispiel von Hans Tucher; www.sbg.ac.at/ger/samson/rvws2002-03/dorninger2002.pdf
[ 4 ] Schlemmer, K.; Gottesdienst und Frömmigkeit in der Reichsstadt Nürnberg am Vorabend der Reformation; Echter Verlag, Würzburg, 1980

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